Insel auf dem Vulkan - Joseph Hayes - E-Book

Insel auf dem Vulkan E-Book

Joseph Hayes

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Beschreibung

Die Bilder gingen um die Welt. Zeitungen und Fernsehen berichteten über den Vulkanausbruch auf der isländischen Insel Heimaey und die Bedrohung für den kleinen Küstenort Vestmannaeyjar. Aber das eigentliche Drama blieb unerzählt. Joseph Hayes, einer der bekanntesten amerikanischen Thriller-Autoren, hat den Roman dieser Katastrophe geschrieben. Spannend und voller Dramatik schildert er den Ausbruch des Vulkans und den Kampf der Menschen gegen die Urgewalten der Natur – und gegen die eigenen Schwächen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 424

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Joseph Hayes

Insel auf dem Vulkan

Roman

Aus dem Amerikanischen von Matthias und Jo Klein

FISCHER Digital

Inhalt

Dieser Roman ist, ebenso [...]Dieser Roman beruht auf [...]Gegen Ende der letzten [...]

Dieser Roman ist, ebenso wie alle meine anderen Bücher, meiner Frau Marijane gewidmet voller Liebe und Dankbarkeit für ihre Geduld und Ergebenheit, die ich oftmals kaum verdient habe.

Und mit einer dankbaren kleinen Verbeugung James Oliver Brown sowie Martha und Foster Harmon, die mir in mancher Hinsicht geholfen haben.

Dieser Roman beruht auf Tatsachen. Die Eruption hat wirklich stattgefunden ebenso wie der Kampf um die Rettung der Stadt. Die Mittel, die in diesem Kampf eingesetzt wurden, sind in diesem Buch wahrheitsgetreu beschrieben.

In anderer Hinsicht habe ich mir Freiheiten gestattet, da dies kein Dokumentarbericht ist, sondern ein Roman über Menschen, die Opfer einer Katastrophe werden. Es geht darin um menschliche Reaktionen, charakterliche Veränderungen und die miteinander verketteten Schicksale von Ortsansässigen und Fremden.

Die Personen sind frei erfunden und sollen niemand Bestimmtes darstellen.

Gegen Ende der letzten Eiszeit, vor ungefähr fünfzehntausend Jahren, brach südlich der Hauptinsel Island im Nordatlantik, wo ein Ausläufer des Golfstroms auf die subarktischen Gewässer des Nordens trifft, auf dem Meeresboden ein Vulkan aus und gebar eine Reihe von Inseln, Urweltungeheuern gleich, dunkel und zerklüftet, umsäumt von der weißen Gischt der Brandung.

Die Inseln bestehen aus Tuff, aus zu Fels gewordener Vulkanasche, Staub und in der Kälte erstarrter Lava. Sie wirken majestätisch und nackt zugleich, herb und großartig mit ihren steilen, tief eingeschnittenen Klippen, gekrönt von smaragdgrünen, blumenübersäten Wiesen. Wie auf diesen Hochplateaus hat sich auch in den Tälern eine dünne Humusschicht gebildet, wenn auch nicht tief genug, um Bäumen Halt zu bieten oder Ackerbau zu betreiben.

So friedlich und idyllisch die Inseln heute wirken, so barbarisch und blutig war ihre Geschichte. Die Überlieferung berichtet, daß, vor der Besiedlung Islands durch die Wikinger, etwa im Jahr 900 zwei Wikinger – die Blutsbrüder Ingólfur Arnarson und Leifur Hródmarsson – nach einem blutigen Raubzug durch irische Dörfer zehn Iren auf die Hauptinsel Island verschleppt hatten. Aber die Iren leisteten Widerstand und töteten Leifur mitsamt seinen Männern und entführten alle Frauen sowie eines der hochmastigen Drachenschiffe auf eine Insel, die sie vor der Küste liegen sahen. Ingólfur verfolgte sie mit seinen Männern, stöberte sie in ihren Verstecken und Höhlen auf und brachte sie gnadenlos um. Im Europa der damaligen Zeit nannte man alle westlich von Norwegen wohnenden Menschen, so auch die Iren, Westmänner, und daher erhielten die Inseln ihren Namen: die Westmännerinseln.

Die folgenden Jahrhunderte standen unter dem Fluch von Invasionen, Piratenüberfällen, Plünderungen und Brandschatzungen. Im Jahr 1402 fielen zwei Drittel der Bevölkerung Islands der Pest zum Opfer. In jüngerer Zeit allerdings kann man sich kaum eine ruhigere Gegend und friedfertigere Menschen vorstellen.

Da die anderen Inseln kaum Täler und tiefliegende Gelände haben, ist nur Heimaey bewohnt: ein vulkanischer Landbrocken mit sechseinhalb Kilometer Ausdehnung von Norden nach Süden und einer Breite von etwa drei Kilometern. Heimaey selbst entstand vor fünftausend Jahren bei einem letzten Vulkanausbruch, der zwei kleinere Inseln verband. Seitdem erhebt sich der elegante Kegel des Vulkans Helgafell mit der zierlich grauen Lavasteinspitze über den blumenbedeckten Hügeln von Heimaey, verhalten drohend.

Anfang 1973 erstreckte sich das stille Fischerdorf Vestmannaeyjar an der Nordspitze Heimaeys bis an die unbedeckte Flanke des alten Vulkans. Die Häuser scheinen in der erstarrten Lavakruste feste Wurzeln geschlagen zu haben, als stünden sie auf grünen Weiden oder fruchtbaren Ebenen. Der Hafen ist durch bogenförmig aus dem Wasser ragende Felsformationen gegen die Gewalt des Ozeans abgeschirmt. Von den höhergelegenen Lagerhäusern und den Fischfabriken am Ufer führen Straßen aus grauen Lavapflastersteinen und Wege aus rotem Lavakies in den Ort. Die Häuser stehen aneinandergekuschelt, grau und rot die Dächer, die Fassaden in Weiß und Gelb, Schokoladenbraun und verschiedenen Blau- und Grüntönen, in zartem Rosa und kräftigem Orange; sie wirken sauber und solide, unangreifbar, als seien sie für ewig mit dem basaltfelsigen Untergrund verhaftet. Gleichzeitig strahlen sie eine spielerische Fröhlichkeit aus, als hätten die Menschen beschlossen, der Düsterheit der Natur während der kargen und endlosen Winternacht die Farben entgegenzusetzen. Am Rande des tiefen Meeres, dessen Oberfläche, ob in leuchtendem Blau oder abgrundtiefem Schwarz, nie so ruhig ist, daß sie nicht von silbernem Wellengekräusel überflimmert wird, wirkt Vestmannaeyjar so lebendig und vital wie eine sonnenverwöhnte Stadt am Mittelmeer. In den zwölfhundert Häusern dachte keiner der fünftausend Inselbewohner, die den Anbruch des neuen Jahres 1973 feierten, an den düsteren Kegel über den Dächern im Osten, dessen Anblick ihnen zeit ihres Lebens vertraut war. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß die beste Kabeljausaison dieses Jahrzehnts bevorstand.

Ende Januar, normalerweise der erfolgreichste Fangmonat, sollten sich nur noch dreihundertelf Menschen, darunter viele Fremde, auf der Insel befinden. Und keiner hatte die Gewißheit, daß jemals wieder eine Stadt voller Leben an der alten Stelle erstehen würde.

Margret Magnusdottir, die Frau von Arni Loftsson, dem Schullehrer, hatte eine helle Haut wie die meisten anderen Frauen, aber im Gegensatz zu ihnen war ihr Gesicht zart und fein geschnitten und ihr üppiges Haar von einem schillernden Schwarz. Diese Unterschiede hatten sie früher immer gestört. Als junges Mädchen will man nicht anders als die anderen sein. Doch nun, mit vierundzwanzig Jahren, hatte sie sich nicht nur mit ihrem Aussehen ausgesöhnt, sondern erkannt, daß es ihr den Rang einer exotischen Schönheit verlieh, was sie mit einem gewissen Stolz erfüllte.

Trotzdem fragte sie sich manchmal, ob Arni sie mehr geliebt hätte, wäre sie blond wie die anderen oder wenigstens rothaarig wie einige gewesen. Immer wenn ihr solche Gedanken durch den Kopf gingen, wie gerade jetzt, während sie eine Platte mit inzwischen erkalteten Kringeln von der Kommode hob, um sie in den Schrank zu stellen, mußte sie sich selbst versichern, daß Arni sie wirklich sehr liebte.

Es lag nur am Trinken. Ja.

Sie hatte sich mit den Kringeln viel Mühe gegeben. Die Küche war hell erleuchtet und verbannte die Dunkelheit nach draußen, wo in der Straße die Laternen seit der Dämmerung um halb vier Uhr am vergangenen Tag brannten und in dem auffrischenden Wind hin und her schwankten. Während sie Mehl, Zucker und Kardamom abwog, den Teig ausrollte und in Streifen schnitt, die sie in heißem Fett ausbuk, pfiff der Wind noch heftiger ums Haus und sie kannte nur eine Freude: Arnis Lieblingsfrühstück zu bereiten. Aber er hatte nichts gegessen. Schon wieder. Er war ohne einen Schluck schwarzen Kaffee, den er sonst so mochte, in der Dunkelheit verschwunden. Und sie hatte Angst bekommen.

Noch hatte sie sie nicht abgeschüttelt. Vor den Fenstern wich die Schwärze allmählich einem schwachen Grau. Margret störte die Dunkelheit nicht. Im Gegensatz zu vielen ihrer Bekannten hatte sie von Kind an mit ihr leben gelernt. Aber andere konnten es nicht. Und sie begannen wie Arni zu trinken.

In der vergangenen Woche war er drei Tage nicht in der Schule erschienen. Nahm er an, sie wüßte es nicht? Kümmerte es ihn überhaupt?

Inzwischen war die Morgenstunde herangerückt, in der normalerweise eine Nachbarin auf eine Tasse Kaffee herüberkam oder sie ihre Schwester oder eine Freundin besuchte. Eine Gelegenheit, die Eintönigkeit zu unterbrechen und die wenigen Stunden Tageslicht auszunützen.

Margret spürte einen leichten Anflug von Panik und unterdrückte ihn. Ihr war wirklich nicht nach einem Gespräch zumute. Besonders nicht mit ihrer Schwester. Seltsam, überlegte sie häufig, daß Hana und sie – die Eltern waren schon lange tot – kein engeres Verhältnis hatten. Das Gefühl der Einsamkeit überfiel sie und auch Angst. War Arni in der Schule und unterrichtete? Und sollte sie ihm, wenn er heimkam – er kam immer heim – ihr Geheimnis verraten?

Sicher konnte sie es ihm nur sagen, wenn er nüchtern war. Aber mittlerweile fragte sie sich bereits, welches sein wahres Ich war: der ungestüme, grausame und vorwurfsvolle Fremde mit dem von Mißtrauen und Qual getrübten, flackernden Blick oder der stattliche und vitale junge Mann, in den sie sich vor drei Jahren beim Sommerfest verliebt hatte?

Sie zog ihren Wollpullover an, weiß mit braunen und schwarzen Mustern, locker fallend mit einem raffiniert gestrickten Kragen, und darüber den dunkelbraunen Lammfellmantel. Sie stülpte eine weiße Pudelmütze mit einer Bommel auf und streifte passende Handschuhe über; so gerüstet trat sie in das Dämmerlicht hinaus, das von Reihen erleuchteter Fenster und Straßenlaternen auf beiden Seiten der rötlichen Schotterstraße und an den Straßenecken von den kreuzenden Lichterreihen der Querstraßen durchbrochen wurde. Der Wind überraschte sie: Sie hatte sein Brausen im Haus vernommen, aber jetzt war er stärker geworden und peitschte ihr ins Gesicht.

Da dachte man lieber an den Sommer, an die nie endenden Tage, die vierundzwanzig Stunden währende Helligkeit, an die Sonne.

Und an das Fest, das jedes Jahr in Herjolfsdalur gefeiert wurde, einem nach dem ersten Siedler benannten üppig bewachsenen Talkessel in einiger Entfernung von der Stadt, früher ein Vulkankrater, aber nun ein wogendes Meer von grünem Gras unter dem gewölbten Abhang des Aegisdyr. Dort wuchs Anfang August eine Zeltstadt aus dem Boden, weil sich die meisten aus der Stadt und viele von der Hauptinsel für die drei Tage andauernden Festlichkeiten häuslich niederließen, um Spiele und Musik, Tanz und Fröhlichkeit zu genießen.

Selbst die Gesichter sahen dann anders aus: strahlend, sorglos mit leuchtenden Augen, nicht so ernst und abweisend wie im Winter. Und die Lieder und das Sonnwendfeuer um Mitternacht des ersten Tages mit dem Flammengeflacker und dem fröhlichen Stimmengewirr. Der Kampf mit der stürmischen See war für kurze Zeit vergessen.

Und Arni, der von Reykjavik gekommen war, um hierzubleiben. Sie hatte vorher nicht gewußt, was Liebe ist. Es war mehr seine Herzlichkeit gewesen als seine blonde und wikingerhafte Männlichkeit, sein hochgewachsener, drahtiger Körper, seine geröteten Wangen, das intensive, brennende Blau seiner Augen und sein breiter Mund, der immer zu lächeln schien – seine Heiterkeit hatte sie zu einem neuen Leben erweckt.

Und nun?

Margret merkte erst jetzt, wohin sie ging. Es war ein Ort, an den sie sich seit ihrer Kindheit zurückgezogen hatte, wenn sie Ruhe brauchte. Sie lief eine leichte Senke hinab, am Hotel vorbei, und die Lichter des Hafens schimmerten am Ende der Straße. Zu ihrer Linken gleich hinter dem Feuerwehrhaus stand ein flaches Gebäude mit einer Wandmalerei von Vögeln und Fischen an der Vorderfront: das Aquarium. Und innen der vertraute Anblick: viele Fische und die ausgestopften Vögel und Kleintiere der Gegend, die in ihren Glaskäfigen noch wie lebendig wirkten. Schon beim Näherkommen fühlte sie sich weniger angespannt. Nicht eins mit sich selbst, aber mit der Hoffnung, ein paar Minuten still zu werden. Und für eine Weile die Fragen verdrängen zu können, die sie verfolgten. Warum zögerte sie, Arni von dem Kind zu erzählen? Fröstelnd schritt sie durch die altbekannten Türen, und die Wärme umfing sie tröstend.

Im Jahre 1627 gab es dreizehn Monde statt zwölf. Es war das Jahr der Türken.

Tatsächlich kamen die Piraten, die in jenem Jahr die Insel überfielen und ausplünderten, aus vielen Nationen. Das Schiff stammte aus Marokko, der Anführer aus den Niederlanden; er war ein religiöser Fanatiker und nannte sich Rais Murad. Zuvor hatte er die Hauptinsel in einem Raubzug verwüstet. Die Heimaeyer waren wehrlos. Die Eindringlinge, dreihundert Mann stark, hausten fürchterlich: Sie schnitten die Älteren in Stücke oder verbrannten sie bei lebendigem Leibe, sie brachen kleinen Kindern das Genick, machten Farmen, Häuser und Kirchen dem Erdboden gleich, vergewaltigten die Frauen und durchkämmten dann die Insel nach Flüchtlingen, die sich in Höhlen versteckt hatten. Die trieben sie zu den drei Schiffen und metzelten alle nieder, die sich nicht schnell genug bewegten. Als sie wieder abzogen, hatten sie sechsunddreißig Menschen umgebracht, und zweihundertzweiundvierzig Männer, Frauen und Kinder verschleppten sie, um sie auf dem Sklavenmarkt zu verkaufen.

Es war ein vernichtender Schlag: Von dem Dorf war nichts übriggeblieben als Ruinen, verbrannte und geschändete Leichen und eine Handvoll Überlebender, die auf die Klippen entkommen konnten.

Jeder Inselbewohner kennt die Geschichte, und selbst heute noch drohen die Eltern manchmal ihren ungezogenen Kindern mit den »Türken«.

Mehr als andere Leute in Vestmannaeyjar war Hulda Palmadottir sich der Geschichte und all ihrer Schrecken bewußt. Als sie hörte, wie sich der Wind vom Pfeifen zum lauten Heulen um die Mauern des Altenheims steigerte, mußte sie an die Türken denken, weil sie wußte, daß die Türken nicht nur Piraten waren. Die Türken waren gleichbedeutend mit Vernichtung und Katastrophen jeder Art. Das konnte ein Sturm sein, einer der Orkane über dem Nordatlantik, von denen sie viele überlebt hatte. Große Windstärken waren zwar für Heimaey nichts Ungewöhnliches, aber da dieses Jahr ein Vollmond am Anfang und am Ende des Monats Juli bevorstand, war es wieder ein Jahr mit dreizehn Monden. Und außerdem hatte sich die Stadt über jenen Felsbrocken hinaus ausgedehnt, den die Natur als ihre Grenze gesetzt hatte, und überdies war der Pfarrer des Kirchspiels der Sohn eines Bischofs. War nicht prophezeit worden, daß die Türken wiederkämen, wenn all dies zusammenträfe? Hulda hatte mit niemand darüber gesprochen; sie wußte, daß die Leute wenig von den Voraussagen alter Weiber hielten.

Hulda Palmadottir war eine große, grobknochige Frau mit breiten Schultern, vollem weißem Haar und einem kleinen, faltendurchfurchten Gesicht mit einem vorspringenden Kinn. Die einst klaren, blauen Augen saßen tief in den Höhlen und hatten ein wäßriges Blaßblau angenommen. So hockte sie in ihrem Lieblingssessel im Gemeinschaftsraum, lauschte dem tobenden Wind und beobachtete, wie draußen auf der engen gewundenen Straße der Staub in Böen aufgewirbelt wurde.

Stürme. Tod. Sie gehörten zusammen. Zuerst ihr Mann: sein Schiff an Felsen zerschellt, sein Leichnam nie gefunden. Dann, Jahre später, ihr Sohn: über Bord gespült in die arktischen Gewässer. Viele Jahre war das her. Wie viele? Wie alt war sie eigentlich? Sie mußte scharf nachdenken, um sich zu erinnern. Aber die Leiche ihres Sohnes konnten sie bergen. Er war an die Insel getrieben worden und wurde auf dem Friedhof neben der Kirche begraben. Die Nacht vor der Beerdigung, als sie allein bei ihm wachte, würde sie nie vergessen, und auch wenn ihr niemand glaubte, es war wirklich geschehen: Er hatte sich bewegt, sich aufgerichtet und ihr prophezeit, daß sie lange leben würde, ehe sie dorthin kam, wo er nun war.

Wie viele hatte sie gekannt, die die unendlich lange, dunkle Winternacht nicht ertragen konnten und in die See gegangen waren. Sogar einige aus diesem Haus. Wie oft war sie selbst in Versuchung geraten? Einsamkeit ist eine schwere Last, eine schwere. Ihre verwitwete Schwiegertochter hatte einen Isländer geheiratet und war nach Reykjavik gezogen. Wie hieß das Mädchen noch? Zu Besuch auf die Insel war es nicht mehr gekommen. Aber jetzt war sie auch kein Mädchen mehr, hatte vielleicht Kinder und sogar schon Enkel. Welches Jahr schrieb man? Es war Januar, das wußte sie. Oh, sie konnte vielleicht ihre Gedanken nicht mehr recht zusammenhalten, aber sie wußte noch einiges. In jüngeren Jahren war sie scharfsinnig gewesen, eigenwillig und ein wenig unnachgiebig, mit einer ziemlich spitzen Zunge.

Doch nun, in diesem gottverlassenen Heim, vom Wind umtost und noch so lange hin bis zur Aprilsonne und der farbenfrohen Klarheit des Junis, überließ sie sich dem Gefühl, absolut wertlos und nutzlos zu sein, nur noch warten zu können bis … Warum ging sie dann nicht ins Meer? Gehen konnte sie noch, gerade und aufrecht. Ja, das wäre ein würdiger Abschied.

 

Da Agnar Ivarsson wegen des Wetters nicht mit seinem nach dem alten Seefahrergott Njord benannten Boot hinausfahren konnte, hatte seine Frau Ruth die Suppe aus gesalzenem Lammfleisch und gelben Bohnen gekocht, auf die sich Agnar in den zwanzig Jahren ihrer Ehe immer freute, wenn er einen Tag nicht beim Fischen war. Die Arbeiten – Zwiebel hacken, Rutabagarüben und Karotten klein schneiden – gingen ihr leicht von der Hand, und mit Vergnügen betrachtete sie Agnars volles, zerfurchtes und ledergegerbtes Gesicht, als er mit einer muskulösen Hand zufrieden die Suppe löffelte.

Der Wind wurde heftiger, es regnete wie aus Kübeln. Ruth putzte und polierte, leise summend. Agnar war im Nebenzimmer, und so hatte der Sturm keine Schrecken für sie. An anderen Tagen, wenn er nicht zu Hause war, dann sah es anders in ihr aus. Sie hörte, wie er aufstand, und dann erschien er und zog seinen schweren Mantel mit dem abgeschabten Schaffellkragen an. Ein würziger Tabakgeruch begleitete ihn, als er leicht gebückt durch die Tür ging.

»Da willst du hinaus?« fragte sie und strich eine Strähne aus der hohen Stirn. Ihr Haar schien mit den Jahren immer spröder zu werden.

»Ich hab’ schon Schlimmeres erlebt«, antwortete Agnar und setzte die speckige schwarze Kapitänsmütze auf sein dichtes braunes Haar. »Wenn es sich beruhigt, und das tut es wohl, fahre ich mit der Njord um Mitternacht aus. In der Zwischenzeit schaue ich bei Axel rein auf eine Tasse Kaffee.«

»Zum Abendessen gibt es Lammbraten.« Es gab fast immer Lamm. Kann man sich einen Fischer vorstellen, der keinen Fisch mag? »Rosa arbeitet heute nicht, sie ißt mit uns.«

Agnar lächelte im Gedanken an seine blonde, braunäugige Tochter, die in dem kleinen Büro der Icelandic Airlines angestellt war und mit ihren neunzehn Jahren noch immer wie ein unternehmungslustiges Kind wirkte. Dabei war sie hochgeschossen, einen Kopf größer als die Mutter und fast so groß wie ihr Vater. Plötzlich verdüsterte sich Agnars Miene.

»Und Rolf?« fragte er und schob die Pfeife in die Tasche.

Was sollte sie sagen? »Ich hoffe, daß er auch kommt.«

Agnar nickte. Dann trat er näher, und sein Gesicht leuchtete auf. »Und nach dem Lammbraten«, sagte er in ganz anderem Ton, »ein Nachtisch für uns zwei, ehe ich wieder mit der Mannschaft auslaufe.« Er grinste.

Ruth durchschoß es warm und heiß, und gleich darauf spürte sie die vertraute und immer wieder erregende Leere in allen Gliedern. So wirkte ihr Mann noch immer auf sie. »Du hast recht«, sagte sie heiser und wünschte, es wäre schon Nacht.

Und Agnar lachte, tief aus der Kehle und voller Vorfreude. Er beugte sich herab und küßte sie auf die Stirn. Dann ging er hinaus. Ein Windstoß fuhr in die Küche, ehe sie die Tür gewaltsam schloß.

Agnar würde gegen den Wind gestemmt durch die Stadt stapfen und einen Kaffee mit Axel trinken. Axel, ein Mann aus seiner Crew, war drei Jahre zuvor von Bord gespült und gegen die gezackten Felsen von Geirfuglasker geschleudert worden. Dr. Pall, dem auch Rolf während der zweiten Lungenentzündung sein Leben verdankte, hatte Axel das Bein oberhalb des Knies amputiert, und so überlebte der arme Mann und unterhielt die anderen bei Festen mit einem Tänzchen auf seinem Holzbein. Typisch Agnar, dachte Ruth, ihm so oft wie möglich ein Päckchen Tabak zu bringen und vermutlich auch eine Flasche Branntwein, um die Stimmung zu heben. Agnar trank gern ein Glas, wie andere auch, aber er war vom Alkohol nicht abhängig.

Nach der Kaffeepause bei Axel würde Agnar in die Buchhandlung am Heidarvegur etwas oberhalb des Hafens gehen, wo Rolf heute wahrscheinlich arbeitete. Falls er nicht dort war und Kristrun Egilsdottir aushalf, war er bestimmt um die Ecke im Baubedarf-Geschäft von Kristruns Mann Rudolph anzutreffen.

Rolf.

Sie unterbrach ihre Arbeit, ging ins Wohnzimmer und setzte sich ans Klavier. Das Problem überschattete nicht gerade ihr Leben, aber es gab ihr Rätsel auf. Sie nahm es jedenfalls nicht so schwer wie Agnar. Trotz seiner Größe und Zähigkeit war Agnar ein sanfter und gütiger Mann. Aber wenn es um Rolf ging, war er leicht verletzbar. Zweifellos wünschte, nein ersehnte er, daß Rolf eines Tages die Njord übernehmen würde. Aber es steckte noch mehr dahinter, viel mehr. Rolfs Motorrad störte ihn, sein Fernbleiben bis in die frühen Morgenstunden, seine Widerspenstigkeit, und Agnar reagierte darauf mit einem Zornausbruch und verließ ratlos das Zimmer. Ruth erkannte, daß etwas in ihrer Natur, eine angeborene Fröhlichkeit, sie daran hinderte, die Dinge so schwarz zu sehen wie Agnar. Schließlich war der Junge erst siebzehn. Aber es schmerzte sie, wie Agnar – und auch Rolf – litten.

War der Junge nicht mindestens ebenso verwirrt wie Agnar? Rolf schaute sich jeden Film an, der im einzigen Kino gezeigt wurde: all die fremden Länder, die schönen Menschen, Gewalt, Grausamkeit. Woher sollte sie wissen, welche Sehnsüchte er hatte, welche Nöte ihm zusetzten? Einmal war ihm herausgefahren, daß die Insel die traurigste und langweiligste Hölle auf Erden sei. Weshalb empfand er so?

Arni Loftsson, der Lehrer, hatte damals beim Sommerfest in Herjolfsdalur, als sie zusammen getanzt hatten, gemeint, daß Vestmannaeyjar für Rolf nicht das Richtige sei. Und wie hatte Agnar reagiert, als sie mit ihm darüber sprach? Daß der gute Arni Loftsson, der sich für Odin halte, den superklugen Gott und Patron der Dichtkunst, sich bald nach einer neuen Stelle umsehen könne, wenn er mit seiner Sauferei so weitermache.

Ruth ließ die Finger über die Tasten gleiten und erhob sich. Es war Zeit, mit den Vorbereitungen für das Abendessen zu beginnen. Der Lammrücken brauchte ungefähr eine Stunde; dazu sollte es gebackene Kartoffeln, grüne Bohnen und süßsauren Rotkohl geben. Hoffentlich kam Rolf rechtzeitig heim.

 

Die Einwohner von Vestmannaeyjar sind sehr freundliche Menschen. Sie gebrauchen keine Worte, die verletzen. Ausdrücke wie zurückgeblieben, verrückt oder wahnsinnig vermeiden sie. Wenn ein Mensch anders ist, dann ist er eben so: nicht wie andere Menschen. Die Isländer behandeln ihn nicht mit Herablassung, sondern mit Güte und Nachsicht. Er gehört ebenso zum Leben wie die silbernen Sommertage nach der schwarzen Winternacht. Und so kommt man ihm eher mit Verständnis als mit Mitleid entgegen: Er wird akzeptiert.

Josef Gunnarsson war nicht wie andere Menschen. Er lebte auf einer Farm so nahe der Südwestküste der Insel, daß er vom Fenster seines Schlafzimmers selbst in der dunkelsten Nacht die Lichtblitze des Leuchtturms sehen konnte. Er war sechzehn Jahre, obgleich ihm sein Alter und die Jahre wenig besagten, und er war glücklich. Josef besaß einen Hund namens Odin, und zusammen hüteten sie die Schafe seines Vaters. Im Sommer erfreute er sich am farbenprächtigen Nordlicht, dem Feuer des Lebens am Ende der Welt. Die Farben flammten hoch und ebbten ab, pulsierten und flackerten wieder hoch. Sein Vater hatte ihm einmal erzählt, daß dort die Walküren aus den eisigen Flammen tauchten, um einen Helden nach Walhall zu geleiten, aber das begriff Josef nicht. Er verbrachte viele Stunden bei der Betrachtung des Nordlichts, bis der Schein schwächer wurde und schließlich einen leeren, schwarzen Himmel zurückließ.

Er hatte Freude am Schnee, wenn er in dicken Flocken fiel und alles bedeckte, wenn er vor Kälte knirschte und im Mondschein funkelte, wenn er die verdorrten Grasnarben und aufragenden Felsen in Weiß hüllte, das im Morgenlicht silbern aufblitzte.

Jetzt war es Winter, das wußte er, obgleich kein Schnee lag. Es regnete nur stark. Es schneite überhaupt nicht oft. Er war in seiner Höhle, seinem Lieblingsversteck an einem Sims oben in den Felsen und schaute auf die Regenschwaden über dem Meer; er hörte, wie unter ihm die Brecher an die zerklüfteten Felsen donnerten. Aber bei dem Regen und der Dunkelheit konnte er seine Robben im Wasser nicht sehen, und im Winter vermißte er seine Vögel: das nie endende Krächzen und Rufen, Zwitschern und Kreischen am Himmel und in den Klippen. Er wurde nie müde, diesen Vögeln zuzusehen, vom Wind gezaust und getragen, mit ausgebreiteten Schwingen dahingleitend, im Kreis flatternd auf der Suche nach Nahrung, auf dem Weg zu ihren an den Felsen klebenden Nestern. Ihr Anblick erfüllte ihn mit einer verhaltenen Freude und tiefen Ruhe. Am liebsten mochte er den Papageientaucher mit seiner clownähnlich weißen Brust, dem weißen Federbusch am Kopf und dem roten Papageienschnabel. Vor langer Zeit hatte er mitansehen müssen, wie die Männer die Papageientaucher von den Klippen aus in Netzen fingen und sie den Männern in den Booten zuwarfen, aber jetzt sammelten sie nur noch die Eier, wie er auch – ein wagemutiges Unternehmen. Die Papageientaucher kehrten erst wieder, wenn die Tage länger wurden. Sein zweiter Freund war der Strandläufer mit seinen lauten, seltsam knarrenden Rufen, und dann kam der Regenbrachvogel, der so lustige Melodien pfiff. Seine Vögel gehörten ebenso zu seinem Leben wie Vater und Mutter und die drei Schwestern. Oh, er wußte wohl, daß Menschen etwas anderes waren als Vögel, genauso wie auch Kühe anders waren als Schafe, oder Hunde anders als Katzen, aber der Unterschied war nicht groß und hatte auch wenig zu bedeuten.

Heute hatten sogar die Möwen Schutz gesucht. Nur die Möwen und die Kragenenten mit ihrem farbenprächtigen Gefieder in Weiß, Schwarz, Rostrot und Blaugrau blieben im Winter hier. Aber jetzt sah und hörte man nichts von ihnen.

Plötzlich hatte auch er ein ungutes Gefühl und legte eine Hand auf Odins zottiges Fell, der neben ihm ausgestreckt war. Der Hund zitterte und zuckte. Und Josef fiel unvermittelt ein, daß auch die Kühe das Heu nicht fressen wollten und im Stall gemuht hatten und daß das Pony wiehernd und stampfend fast die Tür des Gatters eingetreten hätte und wie sich die Schafe vor dem Ansturm des Windes aneinandergeschoben hatten, mit blanken gelben Augen und hängenden Ohren, als wollten sie von der Hochweide in den Pferch. Er spürte eine seltsame Unruhe. Die Tiere waren manchmal klüger als die Menschen.

Josef beschloß, in der Höhle zu bleiben. Nicht daß er ungern nach Hause gegangen wäre. Die scharfen Blicke und die spitzen Bemerkungen seiner Mutter betrafen niemals ihn, sondern nur seine Schwestern und seinen Vater. Er war ein riesenhafter Mann mit einem flachen Gesicht und einem eckigen Kinn und wurde nie zornig, und seine Schwestern wagten es nicht. Josef blieb aus einem anderen Grund. Was ihn zurückhielt, wußte er nicht. Er neigte seinen mageren, kräftigen Körper über den Hund und stieß beschwichtigende und tröstende Laute aus. Aber der Hund hörte nicht auf zu zittern.

Nach einer Weile, während die Regenschwaden den Eingang der Höhle wie ein Vorhang verhüllten, wand Odin sich aus der Umarmung, stellte sich hin und begann zu jaulen.

 

Die Navigations-Funkstation im Postgebäude war das Kommunikationszentrum, das Herz von Vestmannaeyjar. Hier arbeiteten zwei Funker schichtweise rund um die Uhr und gaben Nachrichten der siebenundsiebzig Kutter der Fischereiflotte an die Gefrier- und Konservenfabriken am Hafen weiter: ihre Fangergebnisse, den Standort ihrer Schiffe und die ungefähre Zeit ihrer Rückkunft. Doch die Station hatte noch viel mehr Funktionen. Sie unterhielt einen ständigen Funkkontakt mit dem meteorologischen Institut der Universität Reykjavik und den Wetterstationen des internationalen Flughafens und der NATO-Basis in Keflavik sowie mit verschiedenen Schiffen der Küstenwache und anderer Länder, die das Gebiet beobachteten. Außerdem diente es als Telegraphenamt und Kabelrelaisstation. Im großen Nebenraum der Funkstation ratterten zwei Fernschreiber fast unaufhörlich. Und durch die Telefonzentrale hatten die Besatzungen der Schiffe über Radio und Telefon Kontakt zu ihren Häusern.

Da an diesem Montag wegen der rauhen See und dem Südweststurm mit Windstärke 12 kein Boot ausgelaufen war, ging es in der Station ruhig zu. Am Nachmittag kam die Meldung durch, daß der Sturm Orkanstärke erreicht hatte.

Jonas Vigfusson, ein untersetzter, dunkelhaariger Mann Mitte Dreißig, der heute Dienst hatte, scherte sich nicht um das Unwetter. Wie immer bediente er die Fernschreiber, drei Telefone, die Schreibmaschine und die riesige Telefonzentrale. Seine Frau Jonina sagte ihren vier Söhnen nach einem Besuch bei ihrem Mann oft, er scheine sieben Hände und zwei Gehirne zu haben – obgleich sie und die Jungen wußten, daß es mit dem Denken bei ihm nicht weit her war. Die Jungen lächelten oder kreischten dann immer, und Jonas grinste. Wenn er mit seiner Frau und seinen Kindern zusammen sein konnte, war er entspannt und glücklich. Bei der Arbeit war er oft insgeheim besorgt und nervös, aber äußerlich wirkte er gelassen und schien alles unter Kontrolle zu haben. Heute hatte er von Mittag bis Mitternacht Dienst, morgen von Mittag bis sechs Uhr am Nachmittag. Die Stärke des Sturmes über dem Nordatlantik beunruhigte ihn nicht.

Sie beunruhigte ihn nicht, weil die Fischereiflotte im Hafen lag, sicher vertäut, mit leicht stampfenden Hecks und schwankenden Antennenmasten. Die Straßen lagen verlassen da.

Die Fischereischutzfahrzeuge, alle nach alten Göttern benannt, waren ebenfalls nicht ausgelaufen, das wußte Jonas. Er ärgerte sich immer, wenn die ausländische Presse so herablassend und amüsiert über den sogenannten Kabeljaukrieg berichtete, als wäre es ein Kasperletheater. Aber wenn Rammen, Kappen von Fangnetztauen und Warnschüsse isländischer Kanonenboote vor den Bug größerer englischer Kriegsschiffe ein Theater war, dann verstand Jonas die Welt nicht mehr. Die Ausbeute von Hering, Rotbarsch und Kabeljau in diesen Gewässern betrug ein Sechstel des gesamten Fangs, und Islands Außenhandelsbilanz hing zur Hälfte von den Fangergebnissen ab. Mochten die Journalisten spotten – für die Menschen hier war es eine Überlebensfrage.

Jonas lehnte sich in seinem Sessel zurück und überlegte, ob er seine Frau anrufen sollte. In knapp zehn Stunden erst hatte er frei, und nach all den harten Männerstimmen wäre ihr sanfter und neckender Ton eine willkommene Abwechslung.

Aber ehe er den Gedanken in die Tat umsetzen konnte, trat Arni Loftsson ein. Arni sollte eigentlich um diese Tageszeit in der Schule sein. Seine Augen glänzten verdächtig, die Krawatte hing schief, sein breiter Mund wirkte schlaff, und er triefte vor Nässe. Jonas drückte auf einen Knopf und rief eine Vertretung.

Dann ging er mit Arni in einen kleinen Nebenraum. Sie setzten sich an den Tisch, und Jonas wußte, daß es keinen Sinn hatte, Fragen zu stellen oder Ratschläge zu erteilen. Arni sprach wenig, trank drei Tassen Kaffee, erwähnte den Sturm draußen und verglich ihn mit der Totenklage nach einem Seemannstod. Höflich erkundigte er sich nach Jonas’ Frau und Jungen und stand dann unvermittelt auf. Mit einem ratlosen Ausdruck in den Augen schlurfte er durch den engen Gang in die Schalterhalle der Post und hinaus ins Freie, als wüßte er nicht wohin.

Jonas blieb einen Moment nachdenklich sitzen. Arni war sein Freund geworden, seit er vor drei oder vier Jahren von Reykjavik übergesiedelt war. Obgleich Arni niemals Erklärungen abgegeben hatte, war einigen Bemerkungen während der Saufgelage zu entnehmen, daß er vor seiner verwitweten Mutter auf die Insel ausgerissen war. Wenn er sie ab und zu spöttisch erwähnte, konnte man aus dem Tonfall Zuneigung herauslesen, aber auch Verbitterung. In letzter Zeit war Jonas in Arnis Gegenwart immer hilflos und verwirrt. Viele Männer soffen, besonders im Winter, aber jetzt auch Arni …

Jonas stieß einen Fluch aus und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Vierzig Minuten später fing er den Funkspruch eines Fischerbootes auf, das nicht zur Flotte von Vestmannaeyjar gehörte und das in der schweren See beschädigt worden war. Der Kapitän gab seine Position durch, aber forderte keine Hilfe an. Er wollte versuchen, das Schiff mit eigener Kraft in den Hafen von Heimaey zu bringen. Jonas informierte die Station der Küstenwache in Reykjavik und den Hafenmeister von Vestmannaeyjar, der laut und ausgiebig fluchte. Nicht, weil er gefährliche Arbeit für sich und seine Männer fürchtete, sondern weil er sich ebenso wie Jonas vorstellen konnte, wie das einsame Boot durch Sturm und Wellen zweiundzwanzig Seemeilen vor der Küste stampfte und hin und her geworfen wurde. Eine gottverlassenere, verzweifeltere Lage konnte man sich nicht denken.

Jonas schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel und machte sich wieder an die Arbeit.

Das Sturmgebraus und die Regenböen, die gegen das Schaufenster der Buchhandlung peitschten, waren nicht dazu angetan, die Depressionen zu lindern, gegen die Kristrun Egilsdottir ankämpfte. Sollte sie den Laden schließen, da kaum noch mit Kunden zu rechnen war, und Gudrid abholen, oder sollte Gudrid in der Schule auf sie warten? Auf keinen Fall durfte das Kind mit seinen elf Jahren an so einem Tag allein nach Hause laufen. Wenn sie es sich aber in den Kopf gesetzt hatte?

Bei dem Gedanken an Gudrid überfiel sie eine an Furcht grenzende Unruhe. Aber es war ja absurd, den Phantasien oder Träumen eines elfjährigen Kindes Glauben zu schenken, als hätte es tatsächlich die Gabe, in die Zukunft zu schauen. Unsinn und Narretei – in der heutigen Welt gab es keine Sibyllen!

Was sollte sie zum Abendessen kochen? Lieber Gott, wollte der Winter nie enden? Rotbarsch mit Rogen und Leber, das hatte sie am Morgen beschlossen. Wenn sie keinen Rotbarsch mehr in der Gefriertruhe hatte, dann eben Kabeljau.

Woher kam nur dieses innere Zittern?

Die Türglocke bimmelte, und Kapitän Agnar Ivarsson betrat das Geschäft. Er begrüßte sie wie üblich, schaute sie mit blauen Augen an und nannte ihren Namen mit einer gewissen Schüchternheit. Dann schlenderte er zu den Regalen. Er kam nur an Tagen wie heute, sonst war er mit seinem Schiff draußen, und kaufte gewöhnlich ein oder zwei Bücher, darunter immer einen Roman für seine Frau Ruth, die Kristrun nur dem Namen nach kannte.

Die Entscheidung war ihr aus der Hand genommen: Nun konnte sie den Laden nicht schließen. Viel Erleichterung brachte das nicht. Jedes Jahr im Januar versank sie in einem Sumpf von Melancholie, so daß sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Ausgerechnet sie, die so stolz auf ihren logischen und disziplinierten Geist war, die mit Auszeichnung an der Universität abgeschlossen hatte – vor vielen Jahren, vor vielen trüben Wintern. Würde sie lieber in Reykjavik leben? Ja, o ja, überall anders lieber als hier.

Agnar Ivarsson kaufte wie üblich seine zwei Bücher, einen neuen Roman und einen bebilderten Reiseführer über die Karibik, und erkundigte sich dann, ob sein Sohn heute im Geschäft arbeite. Während sie sich fragte, ob dieser Schrank von einem Mann mit dem wettergegerbten Gesicht auch von warmen Orten träumte – von Palmen und strahlender Sonne und weißen Stränden und salziger Hitze auf der Haut –, antwortete sie, daß Rolf im Lager eine neue Sendung auspacke. Er nickte, bedankte sich mit seiner tiefen Stimme und ging nach hinten in den kleinen Lagerraum.

Als sie die Bücher einwickelte, dachte Kristrun weiter nach. Rolf war ein seltsamer und unberechenbarer junger Mann oder eigentlich noch ein Junge, den sie liebgewonnen hatte. Kleiner als sein Vater und dunkler, wirkte er meistens zurückhaltend, wobei manchmal eine gewisse Bitterkeit aus seinen Blicken sprach. Als sie einmal das Schiff seines Vaters erwähnt hatte, hatte Rolf mit einem verkrampften Lächeln etwas erwidert, was sie erstaunte und ihr Interesse weckte: Es ist seines. Nicht meines. Seines. Nicht mehr. Sie glaubte, ihn zu verstehen, wenigstens teilweise. Obwohl Rolf wenig sprach, während er hier und im Geschäft ihres Mannes um die Ecke am Strandvegur arbeitete, hatte er auch noch andere Andeutungen gemacht. Und Kristrun hatte daraus gefolgert, daß Rolf die Insel und die Stadt ebenso haßte wie sie, vielleicht sogar noch mehr, weil er jünger war.

Aber das stimmte nicht: Sie haßte Vestmannaeyjar nicht. Nur im Winter. Schließlich war Reykjavik im Winter auch dunkel, und die Winternacht dauerte so lang. Aber dort konnte man etwas unternehmen, in Ausstellungen oder Museen oder in viele Geschäfte gehen.

In dieser düsteren Stimmung dachte sie an den Sommer. Die goldene Sonne, die tagelang schien und oft erst um Mitternacht unterging, die dunkelroten Klippen, die wie von innen heraus leuchteten. Und die schimmernde Wasserfläche, in der sich der blaue Himmel spiegelte, jadegrün an manchen Stellen, von kleinen weißen Wellenkämmen gesprenkelt. Und die weiche Luft, die duftenden, grünen Gräser, die silbernen Federwölkchen am Himmel. Und die Blumen draußen, in den Gärten und Kästen, ein farbiges Feuerwerk von Rosen, Tulpen und Narzissen. Und das Leben in den Straßen, hüpfende Mädchen auf dem Pflaster, Jungen, die sich balgten und verfolgten und die sich an den gelben Felsen abseilten, um die Eier der Papageientaucher einzusammeln. Im Hafen ein emsiger Schiffsverkehr. Selbst nachts spiegelte sich eine rote Sonne in den Fenstern der Geschäfte und Häuser, und dann stand ein voller Mond wie eine zweite Sonne im klaren Himmel über dem Meer.

Sie überlegte, wie sie in den Augen der anderen aussah: eine hochgewachsene, schlanke Frau mit fein geschnittenem Gesicht, das ausgebleichte Haar streng zurückgekämmt und zu einem Knoten geschlungen. Sie wußte, daß sie kühl und selbstsicher und zufrieden wirkte, was ihre ruhevollen Bewegungen und ihre Stimme noch unterstrichen. Wie es hinter dieser Fassade aussah, wußte niemand, würde niemand erfahren. Nicht einmal Rudolf und Gudrid …

Gudrid. Unweigerlich drängte sich Kristrun die Erinnerung an jenen Sonntagnachmittag Ende August auf, als Rudolf beschlossen hatte, zum letzten Mal in diesem Jahr zu picknicken, und mit ihnen zu einer Wiese am Fuße des Helgafell gefahren war, einer grünen Matte, übersät mit Strandwicken, weißen und gelben Bergastern, Gänseblümchen, Butterblumen und Silberwurz. Sie kletterten über lockeres Lavageröll empor, stolperten und rutschten in den Aschenresten, die bei der leichtesten Berührung zu rieseln begannen, ihnen voraus ein Goldregenpfeifer mit seinen Rufen, bis sie oben angelangt waren. Im flachen Krater wuchs Gras, ein hellrosa Polster von Lichtnelken, eine lebhafte weißschwarze Schneeammer nistete dort und ließ ihren süßen Ruf ertönen. Ein leichter Wind wehte. Von oben hatten sie eine herrliche Aussicht über die Insel, auf bestellte Felder, eingebettet in verwittertes Eruptionsgeröll ähnlich dem, auf dem sie standen, und in der Ferne auf andere Inseln, die massiv aus der weißen Brandung emporragten. Surtsey im Süden war zu erkennen, rauchend noch und von Schwaden umwallt. Im Norden zeichnete sich jenseits einer neun Meilen breiten glitzernden Wasserfläche die langgezogene Küste der isländischen Hauptinsel ab, braun und grün, mit aufragenden Bergen im Schein der Sonne. Es war ein Anblick, der Kristrun immer mit einem Gefühl der Dankbarkeit und der Lebensfreude erfüllte. Hatte ihr Rudolf als Mittel gegen ihre winterliche Niedergeschlagenheit dieses Erlebnis beschert? Das sähe ihm ähnlich.

Aber Gudrid war im Verlauf des Tages immer ernster geworden und hatte zu weinen angefangen, als sie die Sandwiches mit den scharf gewürzten Fleischrouladen verspeist hatten. Betroffen und dann besorgt versuchten Kristrun und Rudolf, sie zu trösten, aber erst, als sie am Abend zu Hause angelangt waren, hatte Gudrid gestanden, was sie so bedrückte.

Es wird dort einen Vulkan geben, hatte sie gesagt.

Aber, war der Einwand ihres Vaters mit einem liebevollen Lächeln gewesen, aber Helgafell ist doch ein Vulkan. Oder war einer, vor langer Zeit.

Gudrid hatte den Kopf geschüttelt, daß die langen blonden Haare um die Schultern flogen. Ich meine nicht Helgafell. Ich meine einen anderen Vulkan, dort, wo wir waren. Und dann hatte sie sehr ernst und sanft hinzugefügt: Ich habe Angst.

Gudrid, erkundigte sich Kristrun, hast du geträumt?

Wieder eine Bewegung der hellen Haare. Nein.

Woher weißt du es dann, wollte Kristrun mit einem Auflachen wissen.

Das weiß ich nicht, antwortete Gudrid mit fast tonloser Stimme. Aber es ist wahr.

Auf Rudolfs Gesicht stand ein nüchtern abwägender Ausdruck, was Kristrun noch mehr erschreckte. Sie sagte: Es ist Zeit zum Schlafen. Hoffentlich träumst du etwas Schönes.

Ich habe es nicht geträumt, beharrte Gudrid. Es war kein Traum.

In jener Nacht war sie zornig ins Bett gegangen, erinnerte sich Kristrun gerade, als Agnar Ivarsson mit ernster Miene und vorgeschobenem Kinn aus dem Lagerraum kam und sich mit einem Nicken verabschiedete. Er marschierte in den Sturm hinaus, der nicht mehr ganz so machtvoll rauschte. Nein, eigentlich zornig war sie damals nicht gewesen, eher perplex und einfach fassungslos. Rudolf hatte nämlich im Laufe des Abends zu bedenken gegeben, daß Gudrids Vorstellungen vielleicht gar nicht so weit hergeholt seien. Seine Großmutter väterlicherseits hätte die Gabe gehabt, Dinge vorherzusehen. Kristrun war trotz ihrer sommerlichen Hochstimmung schokiert. Wahrsagen, Omen deuten, Prophezeiungen … wie konnte ein so belesener und intelligenter Mann wie Rudolf solche Dinge denken und sie gar glauben? Es war ein seltsamer und rätselhafter Tag und ein beunruhigender Abend gewesen, aber als sie am nächsten Morgen erwachten, verloren sie kein Wort mehr darüber, auch später nicht. In ihrer düsteren Winterstimmung mußte Kristrun jetzt daran denken, und ihre Depressionen verstärkten sich.

Mit schnellen Handgriffen räumte sie den Laden auf und schob etwas planlos Verkaufshilfen und Regale im Schaufenster beiseite. Dabei sagte sie sich immer wieder, daß es sich bei Gudrid um eine Reaktion auf frühe Kindheitserlebnisse handele, als sie wie alle anderen Inselbewohner dreieinhalb Jahre lang Tag und Nacht nur zum Fenster hinauszuschauen brauchten, um die Feuersäule und die rot durchzogenen, schwarzen Rauchwolken von dem Vulkan zu sehen, der nur dreizehn Kilometer weiter südwestlich ausgebrochen war, eine Szene zum Fürchten, an die sich alle mit der Zeit gewöhnten. Während des Ausbruchs waren auf Heimaey zwei Erdstöße zu spüren gewesen. An keinem Kind – obwohl Gudrid beim Ausbruch erst ein Jahr alt war – konnte ein so erschreckender Anblick spurlos vorübergehen.

Kristrun blieb an der Lagerraumtür stehen und sagte Rolf, der wie üblich eifrig und ohne Pause arbeitete, daß sie den Laden schließen würde, damit Gudrid nicht im Regen nach Hause laufen müsse. Rolf nickte und erklärte, er würde dann um die Ecke in das Baumaterialgeschäft gehen.

Die Glocke bimmelte, als Kristrun zur Ladentür hinausging. Der Sturm war etwas abgeflaut. Sie ließ den Motor ihres schwedischen Autos an, schaltete die Scheibenwischer ein und merkte nun erst, daß der Regen aufgehört hatte.

 

Für Baldvin Einarsson, den Maler, war Helgafell ein heiliger Berg – eine der vielen heiligen Stätten Islands. Zusammen mit Gleichdenkenden hatte er dagegen protestiert, daß Geröll und erkaltetes Lavagestein zum Bauen verwendet wurde. Baldvin Einarsson teilte mit anderen Inselbewohnern die Meinung, daß es eine Entweihung und noch dazu eine gefährliche war, an Helgafell zu rühren. Warum gefährlich? Baldvin hatte es bisher nur seiner Frau Inga und seinen Freunden Dr. Pall und Pfarrer Petur gegenüber erwähnt. Er glaubte daran, daß Helgafell sich für den Übergriff des Menschen rächen würde. In Peturs Augen war Baldvin eher ein Romantiker als ein Ketzer: Du sprichst leblosen Dingen eine Seele zu. Pall, der solchen Diskussionen mit amüsierter Skepsis zuhörte, hielt von der Vorstellung geweihter Stätten ebensoviel wie von Hexenglauben und wandelnden Toten: Alles verkümmerte Reste einer überlebten Mythologie, blanker Aberglauben. Die drei Männer, der Künstler, der Arzt und der Geistliche, debattierten oft auf lockere und undogmatische Weise über ernste Themen, denn sie waren Freunde.

Nachmittags um halb fünf unterbrach Baldvin für gewöhnlich seine Arbeit und trank mit Inga Kaffee. Inga stammte aus Kopenhagen, hatte sich aber dem Inselleben nach ihrer Heirat mit Baldvin, den sie vor fünfzehn Jahren bei einer Skulpturenausstellung in Reykjavik kennengelernt hatte, angepaßt – und Heimaey immer mehr lieben gelernt. Sie war schlank, kleiner und zierlicher als die meisten einheimischen Frauen, mit hellbraunem statt blondem Haar. Dr. Palls Eröffnung, daß sie keine Kinder bekommen könnte, hatte sie Baldvin noch näher gebracht; er hatte fast noch mehr als sie darunter gelitten.

Der Sturm hatte nachgelassen. Nachdem Inga ihre Einkäufe erledigt hatte, eilte sie nach Hause, wo sie den Kaffee aufbrühte und papierdünne Pfannkuchen mit Heidelbeermarmelade buk, Baldvins Lieblingsspeise seit seiner Kindheit. Das Tablett auf einer Hand balancierend, öffnete sie die Studiotür.

Baldvin vertrat ihr zu ihrem Erstaunen den Weg. Sein massiger und völlig kahler Kopf schimmerte in der weißen Deckenbeleuchtung, bei der er im Winter arbeitete. Seine braunen Augen leuchteten vor innerer Erregung und einer sonst ungewohnten Hochstimmung.

»Wir trinken heute im Wohnzimmer Kaffee«, sagte er und ging auf sie zu, so daß sie zurückweichen mußte. Er schloß die Tür. »Ich zeige es dir, wenn ich fertig bin. Ich werde dich zur Enthüllung einladen, nur dich.«

Er folgte ihr den kurzen Gang entlang. Das Haus war alt und solide, geräumig und gemütlich. Wie andere Maler – aber auch Schriftsteller, Bildhauer und andere Künstler – erhielt er von der Regierung ein Stipendium, um ungestört arbeiten zu können. Vielleicht war er kein großer Künstler, aber sein Schaffen befriedigte ihn. Und darauf kam es Inga an.

Der Wind war nur noch ein gedämpftes Rauschen, und nach halb fünf nahm die Temperatur draußen immer empfindlich ab. Hier drinnen aber war es warm.

»Köstlich!« rief Baldvin und leerte die Tasse. Er erhob sich.

»Es kann heute spät werden. Hast du etwas dagegen?«

»Warum sollte ich? Wollen wir dann das Abendessen ausfallen lassen? Du weißt, was Dr. Pall gesagt hat.«

»Zum Teufel mit Pall! Warum kann ein Mann nicht in Frieden dick werden? Mein Blutdruck ist auch nicht höher als seiner. Nicht alle Menschen können so gertenschlank sein wie du.«

»Gefällt dir meine Schlankheit nicht?«

»Wie sie mir gefällt, das zeige ich dir später, aber jetzt muß ich arbeiten!« In seiner Stimme lag die gleiche überschwengliche Intensität wie in seinem Blick. »Mit etwas Glück werde ich heute noch fertig.«

Nachdem er sie allein gelassen hatte, stellte sich Inga an das Fenster und sah in die Dunkelheit. Baldvins Wunsch war schon lange, die großen Gemälde der Welt zu sehen, in London, Paris und New York. Er hatte sich nie ganz damit abgefunden, daß er sich niemals Reisen würde leisten können, auch wenn die Regierung großzügig für seinen Lebensunterhalt sorgte.

Es sei denn, eines seiner Gemälde würde auf einen der Sammler Eindruck machen, die manchmal auf dem Weg von Europa nach Amerika in Reykjavik Zwischenstation machten. Sie hegte diese Hoffnung insgeheim. Nur ein solcher Glücksfall konnte Baldvins Sehnsucht erfüllen, die er nur im Scherz erwähnte oder manchmal in den traumschweren Minuten, wenn sie ineinander verschlungen auf den Schlaf warteten.

 

Nach einigen Stunden der Entspannung im Aquarium, während der tobende Sturm draußen zu einem leiseren Klagen abebbte, spazierte Margret nach Hause. Und während sie die Abendmahlzeit zubereitete, überfiel sie wieder die Angst. Sie erinnerte sich, wie Arni am Morgen das Haus ohne Frühstück verlassen hatte. Ob er wohl in die Schule gegangen war?

Und der Gedanke an jene Szene drängte sich ihr auf, als Arni zum ersten Mal handgreiflich geworden war, ihre Benommenheit und Fassungslosigkeit, als er sie mit der Handfläche geschlagen hatte, so daß sie fast zu Boden gefallen wäre. Wie war es nur soweit gekommen? Vestmannaeyjar war nicht Europa oder Amerika oder Reykjavik; wie kam er, selbst in seinen wildesten Eifersuchtsanfällen, auf die Idee, sie könne einen Liebhaber – oder mehrere, wie er ihr manchmal vorwarf – haben, ohne daß die anderen es merkten oder vermuteten? Doch das gehörte zu seiner Selbstquälerei: daß jeder es wußte, nur er nicht. Die Situation machte sie völlig ratlos. Aber sie konnte seine Ängste nachempfinden, sah sie in seinen Augen und hinter seinen späteren Entschuldigungen und Selbstvorwürfen. Und sie spürte, wie sehr er sie brauchte.

Stunden waren vergangen, seitdem sie den Tisch gedeckt hatte. Sie hockte noch immer da. Das Essen war kalt geworden. Sie hatte ein paar Bissen gegessen und an Dr. Palls Ermahnung gedacht, jetzt besonders auf die Ernährung zu achten.

Sie versuchte aufzustehen, sank aber wieder auf den Stuhl.

Wie wird sich Arni verhalten, wenn er von dem Baby erfährt?

Mit einem Mal war ihr sonnenklar, warum sie nicht mit der Sprache hatte herausrücken können.

Was war, wenn Arni in seinem alkoholisierten und vom Mißtrauen vergifteten Hirn sich einbildete, das Kind wäre nicht von ihm?

Ich habe mich noch nie von einem anderen Mann berühren lassen! Seine Vorwürfe hatten sie dazu getrieben, ihm diesen Satz entgegenzuschreien in der vergeblichen Hoffnung, zu ihm durchzudringen – zu jenem Arni Loftsson, den sie liebte, dem gutaussehenden, blonden Wikinger vom Sommernachtsfest mit seiner Fröhlichkeit und seinem Humor.

Sie riß sich zusammen und stand auf. Schluß damit. Wenn er jetzt heimkam, würde er betrunken sein, ohne Zweifel.

Sie faßte einen Entschluß. Sie wollte zu ihrer Schwester gehen. Ihre Schwester und ihr Mann verstanden sie. In letzter Zeit hatte Hana für Arni nur noch Verachtung gehabt. Und Hanas Mann Einar hatte ihn auf seine verständnisvolle Art mit kühler Höflichkeit behandelt. Sie schlüpfte in ihren Lammfellmantel.

Ob Arni sich änderte? Wenn sie es ihm sagte – er hatte sich so einen Sohn gewünscht –, würde er sich besinnen und sein Schicksal und ihres wieder in die Hand nehmen?

Sie ging nach draußen. Es wehte nur noch eine frische Brise.

Die Straßenlaternen beleuchteten die Wände und Dächer der Häuser, und hinter einigen Fenstern erlosch bereits das Licht. Morgen war ein neuer Tag, die Wolken würden aufreißen und die Flotte auslaufen. Morgen war ein Arbeitstag, und die Menschen brauchten ihren Schlaf. Hinter einigen Fenstern schimmerte es bläulich vom Bildschirm; das Programm des amerikanischen Senders in Keflavik war bald zu Ende. Über den Dächern war der Umriß des Helgafell zu erkennen, aber Margret hatte keinen Blick dafür.

Wenn Arni heimkam, würde er dann vermuten, daß sie zu Hana gegangen war? Oder würde sein Mißtrauen in Wut umschlagen und ihm vorspiegeln, sie wäre mit einem Liebhaber zusammen?

Lieber Gott, wie hatte es soweit kommen können? Wie lange noch hielten ihr Verständnis, ihr Mitleid, ihre Liebe stand? Denn manchmal empfand sie bereits Haß …

Während Owen Llewellyn die Fotos einzeln aus dem Entwickler nahm, empfand er Erleichterung und Dankbarkeit. Er hatte befürchtet, vom seltsamen Licht der Winternächte im nördlichen Island genarrt worden zu sein und die schwere Arbeit der vergangenen drei Wochen umsonst gemacht zu haben. Statt dessen hatte die Beleuchtung den Bildern etwas Gespenstisches verliehen, so daß die Inlandgletscher, die gefrorenen Wasserfälle, die bizarren Berge ihre groteske Schönheit in mystischer Großartigkeit enthüllten. Er betrachtete sie nacheinander mit der Befriedigung und dem unpersönlichen Stolz des Fachmanns. Da war der eisblaue, blubbernde Askja-See, von dem durchscheinende Schwefelschwaden emporstiegen, und die Lavawüste um den braunen Krater des Viti, eine Mondlandschaft mit schwarzen Dünen. Ein Bild nach dem anderen nahm Form und Farbe an: rote, weiße und gelbe Ablagerungen, kristallartig und urwüchsig; die mörderische Einsamkeit der sogenannten »Lebenden Wüste«, mit üppigen grünen Moospolstern bedeckt; die brodelnden Schlamm- und Schwefelquellen und die hochschießenden Geysire. Sogar auf dem matten Fotopapier blendete die Helligkeit der Schneefelder. Ja, er hatte gute Arbeit geleistet.

»Jetzt bist du bestimmt froh, daß du gekommen bist«, sagte Todd.

Das verdankte er genaugenommen einem glücklichen Zufall. Er hatte einige Bücher in einer Buchhandlung auf der Fifth Avenue in New York durchgeblättert und war dabei auf einige Fotos von Island gestoßen, bei denen er sich fragte, ob der Fotograf den Motiven gerecht geworden war. Da er gerade keine Aufträge hatte, war er schnell entschlossen nach Island aufgebrochen, hatte den Norden der Insel allein durchstreift und war dann nach Reykjavik zurückgekehrt. Dort hatte er spontan Todd Squier angerufen, den einzigen Menschen, den er in Island kannte. Er hatte sich nach menschlicher Gesellschaft gesehnt, was nur selten geschah, und Todds Einladung angenommen, zumal er erst am nächsten Morgen zurückfliegen konnte. Auf der dreißig Kilometer langen Fahrt von der Hauptstadt zu Todds Bauernhof durch eine eintönige, aber dennoch fesselnde Landschaft, hatte Owen entdeckt, daß Todd, vermutlich weil er Island zu seiner neuen Heimat gemacht hatte, mehr über das Land wußte als mancher Einheimische und daß er mit Begeisterung und einem Anflug von Prahlerei von den Verhältnissen berichtete: der unglaublich geringen Kriminalität – weniger als ein Mord pro Jahr, nur hundert Gesetzeshüter auf der ganzen Insel, die meisten Verhaftungen wegen Trunkenheit. Und keine Elendsviertel, keine Arbeitslosigkeit, keine Wasser- und Luftverschmutzung! Todd wirkte fröhlicher, als Owen ihn in Erinnerung hatte, und während der Landrover durch den mit Schnee vermischten Regen rollte, entspannte sich Owen und dachte daran, daß Todd in New York ihm recht ähnlich gewesen war: ein Einzelgänger, immer auf Distanz. Mit einem Unterschied, wie Todd einmal erklärt hatte: Mein Fluch sind eine kleine Erbschaft und zu viele kostspielige Interessen. Owen hatte nichts geerbt, und wenn er die Fotos nicht verkaufen konnte, war er wieder einmal pleite. Zum Teufel damit. Er hatte es auch früher überlebt.

Die gemächliche Abendmahlzeit wurde vom Gelächter von Todds halbwüchsigem Sohn und der fast gleichaltrigen Tochter begleitet.

Nach dem Essen meinte Todd: »Hättest du nicht Lust, deine Bilder noch heute abend zu entwickeln?«

Owen war überrascht. Er fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes, rotes Haar. »Heute? Wo?«

»Hier! Ich habe alles da. Eine Töpferscheibe und einen Ofen für die Keramik; Ton und Lava für Skulpturen, altertümliche Werkzeuge, wie du sie noch nie gesehen hast. Komm mit!«

Nun hingen also da die Bilder an Schnüre geklammert, und Owen sah, was er in den letzten Wochen geschafft hatte. Auf dem Rückweg ins Wohnzimmer rief Todd etwas auf isländisch in einen der Räume und übersetzte dann: »Der Junge läßt das Radio die ganze Nacht laufen, wenn ich nicht jeden Abend schimpfe. Aber das hilft wahrscheinlich auch nichts.«

Todds Frau Malfrour, die Mal gerufen wurde, eine große, breitschultrige Person mit strohblondem, zurückgekämmtem Haar, hatte sie kommen hören und goß Kaffee ein, der aromatisch und angenehm bitter duftete. Todd drückte ihr einen Kuß auf die Wange, und sie wandte sich lächelnd ab wie ein verlegenes junges Mädchen.