Der Schatten des Anderen - Joseph Hayes - E-Book

Der Schatten des Anderen E-Book

Joseph Hayes

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Beschreibung

Eigentlich war der Treibstoffmangel im falschen Augenblick an allem schuld. Cyrus Greer, ein anständiger amerikanischer Bürger, stürzt aus eben diesem Grund an der Ostküste von Florida ins Meer. Als er sich schwimmend an den Strand rettet, hat er ein Problem: Er sieht sich einsam, nackt und ohne einen Penny. Wer wird da nicht zum Dieb, wenn er einen herrenlosen Anzug findet, noch dazu ein Cardin-Modell? Als Cyrus Greer in das fremde gute Stück hineinschlüpft und dabei eine Kreditkarte ertastet, hat er bereits seine Integrität und nach blitzschneller Überlegung auch seine Identität verloren. Er läßt seinen Namen, seine larmoyante Ehefrau und seinen miesen Geschäftspartner am leeren Strand zurück, fliegt per Kreditkarte nach Kanada und kauft sich im finstersten Viertel von Montreal die Papiere eines Toten. Schon hat er das Flugbillet nach Shannon in der Tasche, um auf der grünen Insel ein neues Leben zu beginnen, als er einen Haufen übler Scherereien bekommt. Denn der Tote, dessen Namen er nun trägt, ist leider gar nicht tot, sondern als sadistischer Boß einer internationalen Killer-Organisation noch sehr lebendig ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 413

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Joseph Hayes

Der Schatten des Anderen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner

FISCHER Digital

Inhalt

PrologIIIIIIIVVDanach

Prolog

»May Day«

Die Maschine spuckte. Er sah das Leuchten der Kontrollampe und wußte Bescheid. Während er darauf wartete, daß die Maschine abermals aussetzte, tat er automatisch alles Notwendige. Er bereitete eine Notlandung auf der dunklen Wasseroberfläche tausend Meter tiefer vor.

Ein übler Geschmack war in seinem Mund, sein Herzschlag setzte nicht aus, das bittere Gefühl von Ekel und Abscheu war noch in ihm. Zu benommen und wütend und leichtsinnig war er in Palm Beach gewesen und hatte es versäumt, vor dem Start noch aufzutanken. Jetzt erinnerte er sich vage und verschwommen daran, daß er irgendwo über den Everglades auf Reserve umgeschaltet hatte. Und das war schon ziemlich lange her. Dennoch besaß er noch immer kein Zeitgefühl. Noch hatte er eine Vorstellung, wie lange er im Kreis geflogen war, welche Richtung er schließlich eingeschlagen hatte. Es gab andere Dinge, die ihm durch den Kopf gingen, die er aus seinem Sinn zu verdrängen suchte. Zur Hölle mit ihr. Zur Hölle mit alledem.

 

»May Day.« Er war überrascht vom Klang seiner eigenen Stimme. Tatsächlich, er hatte ins Mikrofon gesprochen. Nur vergessen, es vorher anzuschalten.

Der Motor setzte endgültig aus. So endete also die Welt. Nicht mit einem leisen Winseln, sondern mit einem lauten Platsch.

Er schaltete den Bordfunk ein und wiederholte die Wörter. »May Day.«

Wieder hörte er der eigenen Stimme mit einem leichten Erstaunen zu: Keine Verzweiflung, keine wilde Panik, keine Furcht. Wenn überhaupt irgend etwas, dann höchstens eine Art Heiterkeit. Erleichterung vielleicht. Er hatte nicht mal seine Position angegeben, aber es kümmerte ihn nicht.

Das Meer, schwarz und bodenlos, kam ihm entgegen, und es scherte ihn nicht.

Mochte man es als Schock bezeichnen. Irrsinn. Verzweiflung. ›May Day‹, und zur Hölle damit.

 

Später, viel später, als er sich an das Flugzeug klammerte, das bald als Wrack versinken würde, sah er eine Lichterreihe sehr schwach am Horizont. Gott weiß, wie viele Meilen entfernt. Oder in welcher Richtung. Warum hatte er nicht noch einen Blick auf den Kompaß geworfen, solange er sich im Flugzeug befand? Aber wenn er die Everglades überquert hatte – und dessen konnte er sich einigermaßen sicher sein, denn mit benommenem Sinn hatte er die Inseln der Florida Keys mit Key West am Ende wahrgenommen, und dann hatte er aus irgendeinem Grund, an den er sich nicht mehr erinnern konnte, nördlichen Kurs eingeschlagen – also mußte er sich irgendwo unten im Golf von Mexiko befinden. Das hieße, jene Lichter dort mußten sich östlich befinden. Aber was machte das alles jetzt noch aus. Wo zum Teufel hatte er eigentlich hinfliegen wollen – nach Texas, oder nach Mexiko? Und das in dieser alten Beechcraft Bonanza, die jetzt nur noch ein Wrack war? Ein flottes, kleines Flugzeug, aber bestimmt nicht eingerichtet, ohne Treibstoff zu fliegen.

Er hörte ein Geräusch, welches das Plätschern des Wassers übertönte. Und trotzdem, er fürchtete sich nicht, kümmerte sich um keine Gefahr. Keine panische Angst – denn wenn es einem egal ist, ob man lebt oder stirbt, warum sollte man sich bekümmern, was geschah? Schließlich war es ja ›May Day‹, nicht wahr?

Und doch, zugegeben: den Haien als Mitternachtsschmaus zu dienen, war eine verdammt dumme Art zu sterben. Aber schließlich war er vierzig Jahre alt, und trotz seiner ziemlich guten körperlichen Verfassung konnte er niemals zu jenen schwach in der Ferne flackernden Lichtern schwimmen, wie sehr sie auch zu locken schienen. Niemals, niemals würde er die Entfernung schaffen. Ein Versuch jedoch konnte nichts schaden, so hatte es ihn ein Lehrer in der Sonntagsschule oder vielleicht sein Football-Trainer wohl einmal gelehrt. Mit einiger Mühe und vorsichtig darauf bedacht, nicht zuviel Bewegung ins Wasser zu bringen, konnte er sich seiner Schwimmweste entledigen – wann zum Teufel hatte er die überhaupt angelegt? – und es gelang ihm, die Kleider abzustreifen. Dann schwamm er los, bedächtig, langsam. Er würde es niemals schaffen, aber das machte nichts, wirklich, das war egal.

Ein Jahrtausend oder so später – nun, wenigstens Jahrhunderte später – entstieg er dem Wasser und fühlte Luft um sich, kalte Luft. Naß und fast nackt schleppte er sich dem Strand entgegen. Aus stummer Ungläubigkeit erwuchs in ihm die Gewißheit: Er hatte es geschafft. Irgendwie. Durch ein Wunder. Jemand schien zu wollen, daß er am Leben blieb. War er es vielleicht selbst?

Am Rand des weißen Sandstrandes – ja, dies war die Westküste Floridas, denn der Sand der Ostküste war dunkler und nicht so fein – erkannte er trotz des Salzwassers in den Augen Strandpalmen und Fächerpalmen sowie im Schatten hier und dort jene Zypressen mit ihren waagerechten Ästen, zart und exotisch. Er hatte sie schon immer malen wollen, es jedoch nie getan. Er vermochte die schattenhaften Strandhütten und Häuser auszumachen, und weiter in der Ferne erblickte er mehrere Hochhäuser, deren erleuchtete Fenster sich in einem vielfarbigen Muster auf der Wasseroberfläche widerspiegelten. Himmel, war das schön. Wirklich wunderschön. Klar – zum Teufel, wie alle anderen hatte auch er beklagt, daß die Hochhäuser die Strände ruinierten, aber wenn man dies sah … Aus der Ferne klang Musik herüber. Er stand da, das Wasser umspülte leise plätschernd seine Knöchel, seine Brust schien zerspringen zu wollen bei jedem Atemzug, und er hörte den Klang von Stimmen und Gelächter. Vielleicht bildete er es sich nur ein.

Er fühlte sich sehr lebendig.

Widersinnig, ja. Und mehr als das: er war froh, am Leben zu sein. Er wollte leben.

Wenn es eine verdammt dumme Art zu sterben war, von den Haien verspeist zu werden, so waren Abscheu, Enttäuschung und Haß verdammt dumme Gründe, das Leben fortzuwerfen.

Er schleppte sich auf den trockenen Sand. Sein Atem ging noch immer schwer.

Großer Gott, der Abscheu und die Wut – und zum Teufel, ja, der Haß – hatten ihn so übermannt, daß er beinahe umgekommen wäre.

Statt dessen hätte er dankbar sein sollen. Ihr dankbar. Daß sie so hemmungslos und leichtfertig gewesen war, endlich, endlich die Wahrheit hinauszuschreien. Oder zumindest ihre Version der Wahrheit. Du wirst die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird dich befreien.

Befreien.

Jetzt war er frei. Frei von allem. Nicht nur befreit von ihr, sondern auch von dem verdammten Geschäft und der Langeweile und den zehrenden Sorgen über Geld und die Zukunft und –

Frei von alledem.

Da kam ihm der Einfall. Ganz plötzlich. Wie ein Schlag auf den Hinterkopf. Nein – wie eine Explosion in seinem Kopf, wie ein überwältigender Vulkanausbruch.

Dies war seine Chance.

Wie auch immer es dazu gekommen sein mochte, dies war die Chance, nach der sich ein jeder Mensch irgendwann in seinem Leben sehnt.

Die Möglichkeit zu entfliehen. Alles hinter sich zu lassen. Von neuem zu beginnen.

Dort draußen lag das Flugzeugwrack: Teile davon würden wahrscheinlich gesichtet oder an Land gespült werden.

Einfach zu verschwinden. In ein neues Leben zu schlüpfen, die alte Haut abzustreifen, sich ein neues Leben aufzubauen – die Person zu werden, die man zu sein sich entschloß.

Der herausfordernde Gedanke brannte in seinem Innern, und er vergaß die Kälte, die seine nackte Haut umwehte. Die Ahnungen rasten in seinem Sinn, ihm wurde schwindlig vor Überschwang, den er nie zuvor in dieser Stärke erfahren hatte, und dann gab er dem Schmerz in seinen Beinen nach und ließ sich einfach fallen. Er streckte sich aus im feinen weißen Sand und starrte in den Himmel.

Er stellte sich nicht mal mehr die Frage, ob möglich sein würde, was er plante. Alles war möglich.

Ein Linienflugzeug flog dort oben, legte sich leicht in die Kurve, verlor langsam an Höhe und verschwand schließlich hinter den Palmen. Und jetzt erst nahm er den Lichtkegel wahr, der suchend über den Himmel strich, die Wolken zum Glitzern brachte, wenn er sie erfaßte: das Warnlicht von einem Flughafen, nicht weit entfernt.

›May Day‹, zum Teufel.

›Sesam, Öffne Dich‹.

I

Auf dem Schild über den Schaufenstern stand nur zu lesen: PATISSERIE. Von der engen gepflasterten Straße trat er in den Laden, in dem es nach dem typischen französischen Brot roch. Er fragte nach ›tartelettes aux poires‹, wie ihm der Mann hinter dem Tresen des kleinen Cafés am Hafen aufgetragen hatte. Die behäbige dunkelhäutige Frau reagierte darauf mit einem Achselzucken, blickte mit ihren pfiffigen hellen Augen hinaus in den Himmel und zeigte dann auf eine Tür im Hintergrund bei den Schaukästen.

Das Hinterzimmer war eng, schäbig und düster. Eine Gestalt tauchte auf und trat hinter einen kleinen abgerundeten Tresen. Der Mann hielt den Kopf geneigt, und sein kleines Gesicht verzog sich zu einem leeren, beinahe argwöhnischen Lächeln. »Sie mögen also gerne Pfirsichtörtchen, Monsieur?«

»Wenn sie mit dem richtigen Papier eingewickelt sind«, sagte er weisungsgemäß und kam sich einen Augenblick lang etwas albern vor. Dennoch war er ziemlich aufgeregt. Und erstaunt dazu, über sich selbst. Hier befand er sich in einer Nebenstraße in Montreal – und versuchte, sich gefälschte Papiere zu verschaffen, mit denen er nach Europa reisen wollte. Er hatte sich für Europa entschlossen, während er im Flugzeug von Sarasota, Florida, nach New York saß, und hatte dann ein einfaches Ticket nach Montreal gelöst, weil er einmal gelesen hatte, daß man dort leicht illegal Ausweispapiere bekommen konnte. Und soweit ging ja bis jetzt alles gut.

»Mit besonderem Einwickelpapier können wir immer dienen, Monsieur. Was möchten Sie denn?«

»Einen Paß. Und einen internationalen Führerschein.« Dann fügte er hinzu. »Kommt auf den Preis drauf an.«

Der kleine Mann zog die dunklen Brauen in die Höhe. Er zuckte mit den Achseln. »Pierre läßt nicht mit sich handeln. Kein Feilschen. Solche Papiere kosten fünfhundert kanadische Dollars.«

Er hatte weniger als dreihundertundfünfzig in seiner Tasche. Und es war nicht mal seine eigene Jackettasche. Den Anzug hatte er nämlich aus einem Strandhaus am Longboat Key gestohlen. Dort hatte er außerdem die Kreditkarte gefunden, mit deren Hilfe er die Flugtickets gekauft hatte, und die Reisetasche, die sich als nützlich erwiesen hatte, als er ein Zimmer in dem kleinen Hotel in einer Nebenstraße nahm.

»Ich nehme nicht an, daß Sie American Express Kreditkarten akzeptieren?« hörte er sich fragen.

Nun schien Pierre verblüfft. Seine braunen Augen drohten ihm aus dem Kopf zu fallen, aber dann faßte er sich, und sein Lächeln wurde breiter. »Für euch Leute aus den Staaten ist wohl alles immer nur ein Scherz, n’est ce pas?«

»Ist doch lustig«, sagte Cyrus Greer, denn es war etwas Wahres daran, was Pierre gesagt hatte. Wenn man es schaffte, die Dinge als Scherz zu betrachten, wurde erträglich, was auch geschah. Sogar wenn man zum Dieb wurde – die eigene Arglist und Skrupellosigkeit entdeckte. Seltsam, unerhört, wie er die Haut des Cyrus Greer abgestreift hatte und dann, wenn auch nicht die Identität, so doch den Namen eines Paul Dewey zu dem seinen gemacht hatte. Paul Dewey, dessen Kreditkarte er, ohne zu zögern oder ein Schuldgefühl zu empfinden, entwendet hatte. Der aufrichtige Cyrus Greer, der insgeheim stolz gewesen war auf seine Rechtschaffenheit, auf sein Ehrgefühl, sein Gefühl für Anstand. Aber wieso zum Teufel sollte er die Regeln respektieren, denen sich alle anderen – ja, alle anderen – widersetzten? Die alle anderen nur zu verspotten schienen? »Pierre«, sagte er, »Pierre, es tut mir leid, aber wir können nicht ins Geschäft kommen. Ich kann nämlich höchstens zweihundert bezahlen, aber auf den Führerschein können wir verzichten.«

Und jetzt verdrehte Pierre die Augen und blickte an die Decke. Das Grinsen verlor sich aus seinem Gesicht. »Monsieur, es gibt immer Möglichkeiten, die notwendigen Geldmittel aufzubringen.« Wieder das Achselzucken, als er sich eine Zigarette anzündete, die ihm von den Lippen baumelte. »Immer Möglichkeiten, n’est ce pas?«

»Meinen Sie«, sagte Cy, und es wurde ihm bewußt, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis Mr. Paul Dewey seinen Pierre-Cardin-Anzug, seine Kreditkarte und sein Geld vermißte, den Verlust bei der Polizei meldete und damit die Mühlen des Gesetzes in Gang setzte. Man würde seine Spur von Flughafen zu Flughafen verfolgen. Und bis dahin mußte er, Cyrus Greer, in Europa sein. In Frankreich, am liebsten. Oder vielleicht in Italien. »Andererseits«, sagte Pierre, und seine Augen blitzten, als habe er das Problem gelöst. Mit den Händen wühlte er unter dem Tisch in Papieren.

»Andererseits fällt mir vielleicht etwas ein. Wieviel wiegen Sie?«

»Wiegen? Ungefähr einhundertundsiebzig. Und Sie?«

»Das tut nichts zur Sache.« Pierre war jetzt konzentriert. »Und Ihre Größe bitte?«

»Haargenau einsvierundachtzig.« Er sparte sich eine Anspielung auf Pierres Größe – ungefähr einssechzig. Das tat nichts zur Sache. Zudem spürte er die wachsende Anspannung des anderen Mannes, der jetzt zurücktrat und so intensiv Cys Gesicht betrachtete, daß er unwillkürlich seinen Kopf ins Profil wenden wollte.

»Sie sollten größer sein«, sagte Pierre schließlich und schaltete eine niedrig hängende Lampe ein. Er legte ein Foto auf die Tischplatte und studierte es aufmerksam. »Monsieur, vielleicht können wir dies Geschäft doch machen.«

»In dem Fall«, sagte Cyrus, »werde ich mich bemühen, über Nacht ein paar Zentimeter zu wachsen.«

»Es wird zwei Tage dauern.« Er lehnte sich zurück, und seine Augen blitzten. »Und Sie werden nicht nur einen Paß bekommen, sondern einen gültigen Paß. Keine Fälschung!« Er drehte das Foto auf der Tischplatte. »Wenn Sie genau das tun, was ich Ihnen sage, dann sind Sie in zwei Tagen dieser Mann. Und jetzt hören Sie mir gut zu, s’il vous plait. Pierre wird Sie verwandeln!«

Cy hörte zu und starrte dabei unverwandt auf das Gesicht, das ihn von dem Foto auf der Tischplatte ansah. Der Mann schien ungefähr in seinem Alter; um die vierzig herum. Seine Haare waren dunkel und sehr kurz, verglichen mit seinen, die von einem sehr hellen Braun waren, beinahe blond, und die er lang und füllig trug. Das Gesicht jedoch hatte eine gewisse Ähnlichkeit, besonders in den Konturen, obwohl es fleischiger war. Die Nase war gerade und schmal, verglichen mit der seinen, die er bei einem Boxkampf im College gebrochen hatte und die dadurch seinem hageren und fast etwas feinen Gesicht etwas Kampflustiges gab. Und der andere Mann war glatt rasiert, während er einen hellen Schnurrbart trug. Doch die Ähnlichkeit war vorhanden.

»Haben Sie gut zugehört, Monsieur? Wenn Sie tun, was ich sage, und am Freitag nachmittag um 17 Uhr wiederkommen, dann haben Sie Ihre Papiere, beide, zu dem vereinbarten Preis von zweihundert kanadischen Dollars.«

»Pierre«, sagte er, und er hatte sich das Gesicht eingeprägt, denn es war ihm schon immer leichtgefallen, sich Dinge, die er einmal gesehen hatte, bis ins kleinste Detail zu merken. »Pierre, wenn ich alles tue, was Sie mir gerade gesagt haben, kann ich am Freitag nachmittag um 17 Uhr keine zweihundert Dollar mehr haben.«

»Pierre feilscht nicht.«

»Pierre, Sie haben schon einmal mit sich handeln lassen. Und jetzt sagen Sie mir: Wer ist dieser Mann, und wo befindet er sich jetzt?«

»Pierre beantwortet auch keine Fragen.«

»Dann« – und er ging das Risiko ein – »dann macht Pierre auch kein Geschäft. N’est ce pas?«

Pierre drehte das Foto um, und das Lächeln kehrte langsam in sein Gesicht zurück. Doch sein Blick blieb kühl und gerissen, obwohl es ihm nicht gelang, die eigene Geldgier zu verbergen, auf die Cy setzte. »Dieser Mann, Monsieur, ist tot. Und das ist der Grund, warum sein Paß noch gültig ist. Daher konnte ich in seinen Besitz gelangen. Und die Lebensgeschichte erfahren. Also, bis Freitag dann.«

»Nachmittags um fünf.«

»Genau.«

»Vielleicht wissen Sie bis dahin seinen Namen. Genau.«

»Es wird alles in Ordnung gehen.«

»Ich verlasse mich auf Sie, Pierre.«

Zum Teufel. Als er durch den Laden ging, nickte er der gewichtigen Frau zu, die er für Pierres Ehefrau hielt. Nur eine Sekunde lang stellte er sich vor, wie das Verhältnis zwischen den beiden sein mochte. Auf der Straße, der fremden Straße, schritt er selbstbewußt aus. Und er dachte darüber nach, wie lange er nicht mehr so kraftvoll gegangen war, so erwartungsfroh. Keine Reue, keine Gewissensbisse – nicht das geringste Schuldgefühl. Nur eine Vorahnung von Abenteuer. Wie viele verdammte Jahre hatte er es nicht mehr genossen, am Leben zu sein?

Er hielt einen Augenblick inne, verlangsamte seinen Schritt. Fühlte den brennenden Haß in sich, schmeckte bitteren Geschmack, und seine Muskeln verkrampften sich. Er hörte ihre Stimme, stumpf vor Trunkenheit und dennoch schrill, wie sie ihm im Hotelflur nachklang, als er sich umgewandt hatte und hinausgegangen war: Und er ist nicht der einzige! Glaub’ das ja nicht! Er ist nur einer von vielen, einer von vielen, einer von vielen, vielen, vielen –

Himmel. Es kam wie eine Flutwelle über ihn, und er stand da, auf zitternden Beinen, die Leute gingen an ihm vorüber, die Sonne blendete, er war allein und weit entfernt von Zuhause, hatte kein Zuhause mehr, Himmel, wie sollte ein Mann –

Dann war es vorüber. Er dachte an die Instruktionen des kleinen Pierre. Sie werden ein Flugticket zum Schannon Airport kaufen. Von dort aus können Sie gehen, wohin Sie wollen. Sie sind frei.

Irland.

Gut, warum auch nicht? Er war noch nie in Irland gewesen. Und wenn das Teil des Handels war –

Aber warum? Warum sollte das Teil des Handels sein?

Nun, er würde es schon herausfinden.

Aber er konnte sein Bargeld nicht ausgeben. Er mußte wieder die Kreditkarte benutzen. Paul Dewey – wer immer das sein mochte. Und am Freitag würde er jemand anders sein. Jemand, der tot war.

Würde er jemals herausfinden, wer er selbst wirklich war oder was er sein wollte, wenn er gezwungen bliebe, die Identität anderer zu der seinen zu machen?

Von dort aus können Sie gehen, wohin Sie wollen. Sie sind frei – –

Er ging wieder. Mit ausholenden Schritten. Die Sonne schien, und ihre Wärme tat wohl. Und die fremdartige Straße gewann plötzlich einen Reiz, an dem er sich erfreute.

Irland. Ausgerechnet. Vielleicht konnte er ein wenig malen. Wie lange war es her, daß er überhaupt an Malen hatte denken können?

 

Obwohl es ihm schwerfiel, denn seine Erregung war zu stark, und noch konnte er kaum glauben, daß er soviel Glück hatte, ließ Pierre einige Minuten verstreichen, nachdem der hochgewachsene Mann seinen Laden verlassen hatte, bevor er das Telefongespräch führte. Er sagte nur, und er mußte auch nur sagen: »Eric Hepburn hat soeben meinen Laden verlassen. Ich brauche den Paß.« Dann legte er den Hörer wieder auf. Nur schwer vermochte er sich wieder zu fassen, und er hoffte inständig, daß keiner der anderen in der Stadt das große Glück vor ihm gehabt hatte. Denn er wußte, daß jenes Foto wahrscheinlich an Fälscher auf der ganzen Welt verteilt worden war. Aber er hatte das Glück gehabt. Heute. Als er es am allerwenigsten erwartet hatte. Er ging in den Laden und wartete, lächelnd und rauchend, bis der einzige Kunde gegangen war.

»Na … was hast du jetzt wieder auf dem Kerbholz?« fragte Colette auf französisch und betrachtete ihn mit ihren dunklen Augen. »Irgend etwas Großartiges? So siehst du jedenfalls aus. Als hättest du die Katze verschluckt.«

»Nein, nein, Colette – wie die Katze, die den Goldfisch verschluckt hat.«

»Jedenfalls solltest du dich selbst mal ansehen.«

»Es ist passiert.«

»Was ist passiert?«

»Das Unmögliche. Das Unglaubliche. Meine Glücksstunde hat geschlagen?«

»Wieviel?«

Augenblicklich wurde er vorsichtig. Er zuckte die Achseln. »Zweitausend vielleicht.« Warum sollte er ihr sagen, daß es fünftausend waren? Was eine Frau nicht wußte, konnte ihrem Mann nur zugute kommen.

»Zweitausend? Aber wofür denn, Pierre? Wofür denn? Was mußt du dafür tun?«

»Nichts, mein Schnuckelchen – – das ist ja das Schöne. Fast nichts.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Und … und mir tut es leid, aber ich kann es dir nicht erklären. Wenn ich es jemandem erzählen würde, sogar dir, würde es vielleicht nicht klappen.«

Sie fluchte auf französisch. Durch ihren kanadischen Akzent klang es noch obszöner. »Wenn du so clever bist und so schlau, warum muß ich dann so hart arbeiten?«

»Zweitausend«, log er nochmals und schlenderte zur Tür. »Da ist ein Brandy fällig.«

»Wann ist mal kein Brandy fällig?«

Nun war es an ihm zu fluchen, aber er flüsterte, denn heute wollte er ganz bestimmt keinen Krach mit ihr. Außerdem war sie gut hundert Pfund schwerer als er.

»Säufst wie deine Mutter!« rief sie ihm hinterher.

Pierre hatte keine Ahnung, darum er tat, was er im Augenblick zu tun hatte. Er folgte nur den Anweisungen. Er wußte nur, wie er sich verhalten sollte. Sie hatten es wahrscheinlich geplant, wollten es so – wer immer sie sein mochten. An dem Warum und Weshalb hatte er sowieso geringes Interesse. Vielleicht, sicher sogar, war es besser, nichts zu wissen. Wenn man nichts wußte, war man unschuldig. Und man überlebte.

Und man wurde bezahlt. Wenn man clever genug war, konnte man sogar dreitausend Dollar für sich selbst behalten.

Inzwischen trank man einen Brandy. Oder zwei. Oder drei.

 

Ungefähr sechs Stunden später – kurz vor vier Uhr nachmittags in Montreal, beinahe elf Uhr abends jedoch in Istanbul – standen zwei Polizeibeamte auf dem Kopfsteinpflaster einer gewundenen Seitenstraße nahe der Hagia Sophia zwischen der Galata Brücke und der alten Seraglio Mauer. Sie starrten auf die häßlichen und abstoßenden Überreste eines Ägypters, der zu ihren Füßen lag. Ohne auf die blitzenden Warnlampen der Polizeiwagen und den Lärm der neugierigen Menge zu achten, sagte der uniformierte Beamte, dessen schmales Gesicht verbissen und bläßlich aussah: »Es ist möglich, daß er verblutete.« Es war die ziemlich unbeteiligte Bemerkung eines Mannes, der den Tod aus mitleidlosen Augen anzusehen gewohnt war. »Oder vielleicht war es der Schock.«

Einen Moment lang beneidete Benedict den hochgewachsenen Mann. »Jedenfalls ist er tot«, sagte er, und er hoffte, sich nicht übergeben zu müssen. Er hatte schon mehrere Menschen gesehen, die diese besondere Art der körperlichen Marter überlebt hatten, alle wahrscheinlich Opfer derselben Henkersknechte, sicherlich alle Opfer derselben Befehle – Befehle eines Mannes, dessen Namen dieser tote Ägypter der Polizei vor ein paar Stunden erst genannt hatte. Wenn man sich vorstellte, daß ein Mensch sterben mußte – und zudem auf diese grausame Weise – weil er für ein paar Münzen der Polizei eine Information verkauft hatte, für ein paar Münzen, die er nicht mal mehr hatte ausgeben können.

»Es ist wohl offensichtlich, Monsieur, daß die Tat nicht hier, sondern an einem anderen Ort ausgeführt wurde.«

»Es kommt kaum darauf an, wo es geschah«, sagte Benedict und wandte sich ab. »Sie wollten nur sichergehen, daß er … auch gefunden würde.« Wenn er seine Abscheu oder sein Mitleid einem Beamten wie diesem eingestand, würde es als Zeichen von Schwäche gewertet werden. Typisch europäisch – und verachtenswert unmännlich. Er sah nicht nochmal auf die zusammengekrümmte und blutverschmierte Leiche. »Es war sehr freundlich von Ihnen, mich zu informieren, Colonel.« Und er wandte sich zu seinem wartenden Fiat.

»Anordnungen von der Geheimpolizei werden ausnahmslos genau beachtet, Monsieur.« Seinem Tonfall war anzumerken, daß er Benedicts Ekel bemerkt hatte und kaum seine Verachtung verbergen konnte. »Ich hatte außerdem gehofft, daß Sie vielleicht eine Identifikation – –«

»Sein Dossier ist in unserem Büro. Er wurde vor ein paar Stunden noch von uns verhört.« Benedict nahm auf dem Rücksitz seines Wagens Platz.

»Danke Ihnen. Einem Leichnam ohne Hände kann man keine Fingerabdrücke abnehmen.« Er machte eine knappe militärische Verbeugung, in der durchaus Spott sein konnte.

Benedict tippte mit einem Finger auf die Schulter seines Fahrers, und der Wagen bewegte sich vorwärts. Die Hupe tönte ständig gegen den lauten Straßenlärm. Er drehte das Fenster zu, aber der üble Geruch blieb – jener ewig gleiche Geruch, der manchmal mehr mit seiner Arbeit zu tun zu haben schien als mit dem Ort, an den sie ihn führte. Benedict preßte sich ein Taschentuch gegen die Nase und lehnte sich zurück. Die Leute draußen gingen direkt auf das Auto zu, als sei es Luft für sie. Wie war er nur in dies schmutzige Geschäft geraten? Jedes Jahr schien es schlimmer zu werden, und jedes Jahr fragte er sich öfter, ob nicht alle Polizeikräfte der Welt gegen eine Welle des Verbrechens ankämpften, die weder aufzuhalten noch zurückzudrängen war. Aber wenn niemand dagegen kämpfte …

Der Name, den der Tote gegen Bezahlung ausgeplaudert hatte, war Benedict seit mehr als einem Monat bekannt. Eric Hepburn. Es war derselbe Name, den ein anderer Spitzel der Sureté in Paris verraten hatte – zwei Tage, bevor er am Kai in Marseille auf ähnliche Weise hingerichtet wurde. Der Zwischenfall heute abend – im Laufe der Zeit wurden diese gräßlichen Morde zu Zwischenfällen – bestätigte nur den Wert der früheren Informationen. Oder etwa nicht?

Es war seine Aufgabe, den Mord und dessen mögliche Implikationen – die Bestätigung des Namens Eric Hepburn – an das Generalsekretariat in Saint Cloud zu melden. Dann würde in kürzester Zeit über Interpol das Londoner Büro informiert werden. Und Duncan Mackenzie würde Benedict direkt anrufen. Alle Entwicklungen in diesem besonderen Fall verfolgte Duncan persönlich. Tatsächlich hatte Benedict den Eindruck gewonnen, daß es sich dabei um eine Art persönlicher Rache Duncan Mackenzies an dem Mann handelte, dessen Name eventuell Eric Hepburn war, der jedoch von Benedict und Duncan Mackenzie bisher nur als Mr. Q. bezeichnet wurde. Benedict wußte nicht, warum der Schotte den Buchstaben Q ausgewählt hatte, ebensowenig wie er bisher persönlich davon überzeugt war, daß dieser Mr. Q. tatsächlich Eric Hepburn hieß. Er wußte nur, daß dieser Name nicht mal als Alias in den gigantischen, wenn auch nicht vollständigen Identifizierungsarchiven aufgetaucht war, in denen sich über zwei Millionen Karteikarten, Fingerabdrücke und Fotos von Verbrechern der ganzen Welt befanden.

Das heute abend war eines von Q.’s Verbrechen gewesen, daran bestand kein Zweifel. Man hatte dem Opfer die Hände an den Gelenken abgetrennt, die Zunge herausgeschnitten, beide Ohren abgeschnitten, da die modernen Identifikationsmethoden immer häufiger benutzt wurden. Schließlich hatte man ihm noch den Penis abgehackt – das obszöne Zeichen dafür, daß Q. an dieser Sache beteiligt war. Q.’s Warnung an andere Spitzel und sein Markenzeichen zugleich, damit die Polizei in aller Welt wußte, daß sie es mit ihm zu tun hatte. Ja, der Araber konnte glücklich sein, daß er daran gestorben war.

Und Benedicts Magengeschwür schmerzte, es war unvermeidlich, während sich der Fiat langsam durch die Straßen bewegte. Seit zehn Jahren war er Witwer und sagte oft, Hotelzimmer seien sein Zuhause. Er hoffte nur, daß die Entwicklung dieses Falles und die Entscheidungen seiner Vorgesetzten ihn irgendwann in ein Land führen würden, wo ein Mann frische Luft atmen konnte.

 

Dank seines visuellen Gedächtnisses und eines Kurzstudiums der Fälscherkunst im Flugzeug von New York nach Montreal – und dank einer Fähigkeit zum Diebstahl, die er bei sich nie vermutet hättet – war er jetzt an dieser Stelle, er, Cyrus Greer, bis dahin angesehener Bürger und Sklave gesellschaftlicher Konventionen, und unterschrieb mit dem Namen eines anderen Mannes die Kreditbestätigung dieses anderen Mannes. Dafür wurde ihm lächelnd ein Air Lingus Ticket Montreal–Schannon ausgehändigt, das auf den Namen Paul Dewey ausgestellt war. In vier Stunden und fünfzehn Minuten startete die Maschine. Es war ihm in den Sinn gekommen, eines Tages irgendwie Mr. Dewey den Schaden zurückzuzahlen, aber er wußte, daß es anonym geschehen mußte, wenn überhaupt. Es sei denn, man verhaftete ihn. Bemüht darum, sein Bargeld zusammenzuhalten, hatte er dennoch den Bus zum Flughafen bezahlt, statt die Fahrkarte bei einem kleinen Reisebüro mit der Kreditkarte zu kaufen. Vielleicht hätte man sich später dort an ihn erinnert.

Auf dem Weg zurück in die Stadt bedachte er nochmals die anderen Instruktionen des kleinen Bäckers Pierre – dem er nicht vertraute. Seine Haare waren schon kurzgeschnitten und dunkelbraun gefärbt, fast schwarz, so daß ein Blick auf sein Spiegelbild im Busfenster ihn leicht verwirrte: Überraschung, nicht Schock, und ein gewisses Vergnügen.

Nach einiger Zeit würde Lucy ihn natürlich als vermißt melden, aber so wie er Lucy einschätzte, würde sie solange wie irgendmöglich warten, bis sie zuzugeben bereit wäre, daß ihr Mann sie vielleicht verlassen hatte. Himmel, sie würde es nie zugeben, nein, Lucy nicht. Er vermochte jetzt mit einer eigenartigen Distanz an sie zu denken, die ihn erstaunte. Wrackteile des Flugzeuges würden ans Ufer treiben, vielleicht von einem Fischer oder der Küstenwache entdeckt werden, und dies würde sie überzeugen, daß er umgekommen war. Es mußte ein Unfall sein, darauf würde sie bestehen, und sich selbst gegenüber würde sie vielleicht in Erwägung ziehen – mit ebensowenig Gewissensbissen, wie er sie jetzt empfand? – daß er Selbstmord begangen haben mochte. Aus Liebe zu ihr. Und früher oder später würden eventuell der Diebstahl im Strandhaus und das Verschwinden von Cyrus Greer in einen Zusammenhang gebracht werden – kein Corpus Deliciti, leider – aber dann befand er sich schon in Irland. Oder sonstwo, je nachdem, ob er sich entschieden hatte, woanders hinzugehen.

Mit der Kreditkarte wurden die neuen Schuhe mit den höheren Absätzen bezahlt, die den Anschein jener zusätzlichen Zentimeter Körpergröße gaben, die Pierre für notwendig hielt, und während American Express auch die Augenuntersuchung zahlte und die Kontaktlinsen – braune, die seine blauen Augen veränderten und ihm nicht nur das Aussehen eines Fremden gaben, sondern überraschenderweise auch den Ausdruck. Aber die Kreditkarte konnte er nicht benutzen, um den Nadelkünstler in seinem schmutzigen kleinen Geschäft am Hafen zu bezahlen, der ein Ahornblatt auf Cys rechten Bizeps tätowierte: Kanadas Wahrzeichen, was möglicherweise bedeutete, so schloß Cy, daß der Mann, dessen Foto er eingehend studiert und später auch gezeichnet hatte, kanadischer Abstammung war, wie auch immer er geheißen haben mochte und wo er gelebt hatte, als er noch am Leben war.

Während der vergangenen beiden Tage war ihm in den Sinn gekommen, daß er all diesen Anstrengungen entkommen könnte, indem er einfach nach dem Telefonhörer griff, ein Gespräch mit den Breakers in Palm Beach anmeldete und dann Lucy sagte, daß er eine Scheidung wünschte. Hätte das nicht jeder andere Mann unter diesen Umständen getan? Zum Teufel, ja! Aber diese Vorstellung widerstrebte ihm innerlich und ordnete ihn, zumindest zeitweilig, wieder in das verabscheute Verhaltensmuster des Normalen – brachte ihn zurück in die Gepflogenheit jenes Lebensstils, der ihn, wie er jetzt erst erkannt hatte, jahrelang mit einer stumpfen und trüben Traurigkeit erfüllt hatte, die sich selbst einzugestehen er nie den Mumm aufgebracht hatte. Bis Lucy, in einigen wenigen Stundentrunkener Wahrhaftigkeit, in vielleicht den einzigen Stunden echter Wahrhaftigkeit in ihrer dreizehnjährigen Ehe, sich nicht nur selbst bloßgestellt hatte, sondern auch ihn. Cyrus Greer, Esquire. Du wirst die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird …

Aber Scheidung war nicht genug. Nicht endgültig genug. Nicht absolut genug.

Rache also?

Vielleicht.

Und warum nicht?

Lucy würde es schaffen. Lucy schaffte es immer.

Sie konnte sich Arbeit suchen. Wieviel Verachtung sie auch für jene Frauen ihres Alters empfand, die arbeiteten. Du machst zuviel her mit dem Geld, Cy. Ich habe die Schlagzeilen gelesen über Rezession, ich weiß das alles, aber wenn du nicht genug Geld hast, dann solltest du dich bemühen. Wenn du mich liebst, dann willst du auch, daß ich nur das Beste habe. Jene pure Gedankenlosigkeit, ihre kindische Selbstbezogenheit drohten auch jetzt noch den Abscheu wiederaufleben zu lassen, jene Frustration, die er empfunden hatte, da er niemals in der Lage gewesen war, ihr klarzumachen, daß sie sich nicht mehr länger jene Extravaganzen leisten konnten, die für sie immer selbstverständlich gewesen waren. Hiram hat immer Geld. Nun, sollte Hiram jetzt für ihren Unterhalt aufkommen. Eine schwache Hoffnung. Ihr Vater hatte Geld, das stimmte, aber Cy hatte ihr nie erzählt, wie jener flotte Herr an die Summen gekommen war, die es ihm erlaubten, durch die Welt zu reisen und ihr großzügige Geschenke zu machen. Vielleicht, dachte Cy jetzt, hätte er es ihr sagen sollen: warum sie verschonen, warum so dumm sein und sich von jenen Regeln des Anstands einschränken lassen, die niemand sonst respektierte? Nach denen niemand sonst sein Leben einrichtete?

Lee Usher zum Beispiel. Der beste Freund. Partner. Hände hoch, Kumpel – dein Geld oder deine Frau! Und Lee hatte beides genommen. Auf die ihm eigene unnachahmliche Weise. Nun, sollte Lee sich doch um sie kümmern. Um sie und um seine Frau und um den Sohn in Exeter und die Tochter in Vassar und um seine Spielschulden – sollte er doch etwas von dem Geld verbrauchen, das er aus der Firma Usher and Greer, Werbedesign, genommen hatte. Sollte er doch mit den Schulden fertigwerden – war nicht vereinbart worden, daß er sich um die geschäftliche Seite kümmerte, während Cy die Designs machte? Während er Cy immer leidgetan hatte, weil dieser sich sagte, sein Partner sei dem Glücksspiel verfallen wie andere Leute dem Alkohol. Während sein Partner ihn ständig ausgeplündert hatte. Nun, sollte Lee doch auslöffeln, was er allein sich eingebrockt hatte.

Während Cyrus Greer, Esquire, seine Verwandlung vollendete, zumindest äußerlich. Als er an diesem Morgen den dichten, englisch aussehenden Schnurrbart geschnitten und abrasiert hatte, fiel es ihm anfangs schwer, sich selbst im Spiegel wiederzuerkennen. Und als er sein Gesicht mit dem des namenlosen Toten verglichen hatte, dessen Züge er in allen Einzelheiten aus dem Gedächtnis skizziert hatte, war sein Erstaunen groß wie nie: wie viele Jahre war es her, daß er mit einer solchen wilden, schwindelerregenden Erwartungsfreude in die Zukunft gesehen hatte?

 

Zur Hölle mit den Erinnerungen, auf nach Irland!

Zuerst Irland, und dann wohin er auch wollte!

Und Geld? Nun, schließlich besaß er ja einen Namen, wenn auch nicht mehr seinen eigenen, und vielleicht bekäme er ja Arbeit. Und was für welche? Wie zum Teufel sollte er es wissen? Doch darum brauchte er sich heute noch keine Gedanken zu machen. – Abwarten!

 

Benedicts Wunsch erfüllte sich viel früher, als er erhofft hatte: er durfte frischere Luft atmen. Sein Bericht aus Istanbul setzte Polizeiaktivitäten in ganz Europa und dem Mittleren Osten in Gang. Alle erdenklichen Stellen wurden alarmiert, auf den Namen Eric Hepburn zu achten – vielleicht trug er sich in irgendeinem Hotel ein, kaufte irgendwo ein Flug- oder Schiffsticket. Zu Benedicts Überraschung und Duncan Mackenzies Verblüffung stellte sich der Erfolg weit schneller ein als erwartet: eine Mrs. Hepburn flog ohne Begleitung von Zürich nach Montreal, Kanada. Ausgerechnet! Das Zentralbüro in Paris hatte daraufhin, wahrscheinlich auf Mackenzies Vorschlag, Benedict mit der Verfolgung beauftragt. Er sollte Mackenzie sofort informieren, wenn es ihm gelungen war, sie aufzuspüren. Er war von Instanbul nach Frankfurt geflogen und dann Non-Stop nach Montreal. Im kleinen, aber eleganten Foyer eines kleinen, aber eleganten Hotels kam er jetzt seinem Auftrag nach.

»Sie trug sich mit Mr. und Mrs. Hepburn ein und erklärte, so sagt jedenfalls die Concierge, daß ihr Mann heute abend nachkommen würde. Ihr Name ist Karen, und sie wirkt wie ein kühler Longdrink nordischen Eiswassers.«

»Schön«, hörte Benedict Mackenzies Stimme, »ersparen Sie mir die Einzelheiten, wie sexy sie auch sein mögen, und beschaffen Sie ein Foto, verstanden. Von beiden!«

Benedict lächelte sein düsteres schmales Lächeln und stellte sich Mackenzie in seinem Londoner Büro vor: beinahe bedrohlich groß, wie er Benedict immer vorkam, der klein und dünn war. Am Schreibtisch sitzend, die grobknöchigen, breiten Schultern ein wenig zur Seite geneigt, das zerfurchte Gesicht beinahe häßlich, aber irgendwie freundlich im Ausdruck, ständig rote Flecken auf den Wangenknochen. »Ich werde die Bilder sofort funken lassen, wenn sie mit dem sogenannten Ehemann zusammentrifft und ich Aufnahmen machen kann.«

»Sogenannten?« Es war Duncan Mackenzies Eigenart, ein Wort aufzugreifen und es mit schwerer Betonung zu wiederholen, vorzugsweise mit einem dumpfen Grollen, wenn ein R darinnen war.

»Sogenannten sagten Sie, Benny?«

Nur Duncan Mackenzie nannte ihn jemals Benny, doch er selbst hätte nicht im Traum daran gedacht, den Schotten anders als mit Mister anzusprechen. »Wenn dieser Eric Hepburn Ihr Mr. Q. ist, wird er dann hier auftauchen und unter seinem eigenen Namen mit seiner Angetrauten zusammentreffen? – Wenn er den Araber und den Franzosen hat hinrichten lassen, weil sie uns informiert haben? Es sei denn, er hat etwas anderes in seinem verbrecherischen Sinn.«

»Schön. Sie betrachten die Dinge aber sehr argwöhnisch, Benny.«

Und dann merkte Benedict, was los war: Duncan Mackenzie machte seinen kleinen Scherz mit ihm. Benedict war schon des öfteren darauf hereingefallen. Es gab einfach keinen Hinweis und keine Überlegung, die Duncan Mackenzie nicht schon erwogen hatte.

Dennoch sprach er in das Telefon: »Wenn das Ganze nur ein Trick ist, warum soviel Aufhebens?«

»Genau. Warum soviel Aufhebens? Um das zu erfahren, sind Sie dort drüben. Ich hier werde ein Wochenende mit Fischen am Loch Tay verbringen. Sie haben meine Nummer. Sie fangen Ihren Fisch, und ich bringe Ihnen dafür einen Lachs mit, so groß wie das Monster von Loch Ness. Ist das eine faire Abmachung, Benny? Viel Glück!«

Duncan Mackenzie legte in London auf, und Benedict konnte sich im selben Augenblick beglückwünschen, daß er den Anruf vom Foyer aus gemacht hatte, denn Mrs. Hepburn trat aus dem kleinen vergitterten Fahrstuhl und durchschritt die Halle mit sportlicher Anmut und bewundernswerter Selbstsicherheit. Sie blickte kühl geradeaus.

Sie nahm ein Taxi, und er folgte ihr in einem anderen: Es war schon erstaunlich, eine Frau zu sehen, die sich so als Dame gab, und doch zu wissen, daß sie auf irgendeine Weise Kontakt hatte zu einem Mann, der mit Waffen und Bomben handelte, die dann irgendwo auf der Welt Kinder töteten und ganze Dörfer zerstörten. Zu wissen, daß sie in Verbindung stehen mußte mit einem Mann, der mit Drogen handelte, die das Leben vieler Menschen zerstörten, ihm jedoch Reichtum brachten. Diese sich so würdig gebende Dame war Teil einer weitverzweigten Verbrecherorganisation, die zu jedem Terror fähig war, einschließlich Mädchenhandel.

Sie fuhren in eine Gegend mit gepflasterten Straßen und steinernen Mauern, und ihr Taxi hielt vor einem kleinen Laden, dessen Adresse er automatisch registrierte, während er seinen Wagen vorbeifahren ließ. Am Eingang des Ladens war kein Name zu lesen, und über dem Schaufenster stand nur ein Wort:

PATISSERIE.

 

Paul Dewey zog aus seinem Hotel aus, einem weit weniger luxuriösen auf der anderen Seite der Stadt. Jedenfalls unterschrieb der hochgewachsene Mann die American-Express-Kreditbestätigung mit diesem Namen, und er stimmte überein mit dem auf der Karte, die er schon etwas übereilig in seiner Tasche hatte verschwinden lassen. Wohlgemerkt: Nicht in seiner Brieftasche, wo die meisten Reisenden ihre Kreditkarten aufbewahrten. Zudem hatte sich während seines Aufenthaltes im Hotel, zwei Nächte und fast drei Tage, sein Aussehen so beträchtlich verändert, daß der Argwohn, zumindest jedoch die Neugier der Angestellten erregt worden war. Das Zimmermädchen hatte auf Anfragen mitgeteilt, daß seine Reisetasche nicht mehr enthielt als ein paar Oberhemden zum Wechseln, Unterwäsche und Rasiersachen. Und, ach ja, noch eine Schere – mit der er sich wohl seinen Schnurrbart abgeschnitten hatte. Obwohl man all das bemerkt hatte, gleichsam routinemäßig, war nicht in Erwägung gezogen worden, die kanadische Polizei zu informieren. Es war schließlich kein Verbrechen geschehen, und die Geschäftsleitung des Hotels arbeitete zwar grundsätzlich mit der Polizei zusammen, ergriff aber von sich aus keine Initiative zu Nachforschungen. Denn das kostete Zeit, bezahlte Zeit von Angestellten, und schadete zudem eventuell dem Ruf des Hotels. Es gehörte nicht zu den Aufgaben eines Hotels, seine Gäste zu überwachen oder gar deren Handlungen zu kontrollieren. Die American-Express-Kreditkarte schien in Ordnung zu sein; trotzdem machte sich der diensthabende Geschäftsführer die Mühe nachzuprüfen, erfuhr jedoch, daß Paul Dewey, Einwohner von Cleveland, Ohio, seinen Kreditausgleich vorbildlich wahrgenommen hatte. »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt, Sir.«

Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen Hotelaufenthalt mehr genossen zu haben. Höchstens vor vielen Jahren. Als er noch Cyrus Greer gewesen war. »Der Etagenservice«, sagte er, »war ausgezeichnet, und nur das Omelett war ein bißchen zu trocken.« Zum Teufel, seine Worte klangen nicht mal wie die Cyrus Greers.

Um so besser – denn schon begann er seine ehemalige Existenz als die eines leicht verklemmten Narren anzusehen, eines Opfers der eigenen moralischen Wertvorstellungen. Wieviel aufregender war es doch, ein Verbrecher zu sein. Und doch waren die Gedanken des Cyrus Greer in ihm und erinnerten ihn daran, daß Paul Dewey nur für die ersten fünfzig Dollar aufkommen mußte, die auf seinen Namen ausgegeben wurden, wenn er den Verlust oder Diebstahl seiner Karte sofort anmeldete. Aber wer hatte jene Karte gestohlen? Wie war der Name des Diebes? Nun, das würde er bald wissen.

Auf seinem Weg zur Patisserie – er ging zu Fuß, denn er mußte mit dem Bargeld haushalten, das sowieso schon ziemlich zusammenschrumpfte – erinnerte er sich an etwas, das Cyrus oft gesagt hatte: Verbrecher würden wahrscheinlich in Anbetracht ihres Arbeitseinsatzes, ihrer Energie und ihrer Risikobereitschaft ebensoviel Geld machen, wenn sie ihre Talente für ein legitimes Geschäft einsetzten. Jetzt, da er sein Blut durch die Adern pulsieren fühlte und Erwartungsfreude Sinn und Körper erregte, fragte er sich, ob Cyrus Greer in jenen vergessenen Tagen vor langer Zeit seine eigenen Neigungen unterdrückt hatte. Hatte er die angenehme, ja befriedigende Erregung einfach übersehen, die eben diese Risiken einbrachten? War er unfähig gewesen, sie zu erkennen? Jetzt freute er sich schon beinahe darauf, den guten alten Knirps Pierre wiederzusehen – den er wirklich nicht mochte und dem er ganz bestimmt nicht traute, aber auf den er sich verlassen mußte, wenn er an den Ort gelangen wollte, den er sich frei auszusuchen in der Lage sein mußte. Über den Shannon-Flughafen, Irland, hinaus war sein Ziel noch unbestimmt. Pierres Frau hinter dem Tresen, die noch immer nicht die ›tartelettes aux poires‹ zum Verkauf anbieten konnte, sah aus unerfindlichem Grunde mißmutig und vorwurfsvoll drein, aber Pierre war offensichtlich so aufgeräumter Stimmung, daß er beinahe freundlich erschien. Der Paß war, natürlich, fertig, Monsieur, in bestem Zustand und so gültig wie am Tag seiner Ausstellung – sehen Sie mal hier: vor achtzehn Monaten in Ottawa – und dazu als Dreingabe, beides zusammen zum vereinbarten Preis von zweihundert Dollar, der internationale Führerschein. Parfait, Monsieur – makellos, n’est ce pas?

Makellos, Pierre, wirklich perfekt. Aber ein Mann möchte wirklich seinen Namen wissen. Und dort stand er, gegenüber der Seite mit einem kleineren Abzug des Fotos, das er schon gesehen hatte: Eric Hepburn.

»Pierre, sind Sie sicher, daß dieser Mann nicht mehr am Leben ist?«

»Monsieur, meinen Sie, ich würde Ihnen den Paß eines Mannes geben, der noch lebt?«

»Es war nur so ein Gedanke«, hörte er sich selbst sagen.

»Wenn ich so sagen darf, Monsieur, es wird keinen Zollbeamten auf der ganzen Welt geben, der Ihre Ähnlichkeit mit diesem Mann Eric Hepburn in Zweifel ziehen könnte. Aber Sie müssen noch lernen, seine Unterschrift nachzumachen – dort, sehen Sie, unter dem Bild.«

»Pierre … jemand, der Paul Deweys Namenszug fälschen kann, wird in der Lage sein, auch den von Eric Hepburn nachzuahmen.«

Mit diesen Worten ließ er einen verwirrten und heftig an seiner Zigarette paffenden Pierre zurück, und bei seinem Weg durch den Laden konnte er sich nicht zurückhalten, der gewichtigen Madame zu sagen, wie köstlich ihre Törtchen waren. »Parfait«, sagte er und küßte sich dabei die Fingerspitzen, »tres parfait, le plus parfait!«

»Fou«, schäumte sie. »Fou, Sie –« Aber dann dachte sie an die zweitausend Dollar, und obwohl Pierre ihr wahrscheinlich die genaue Summe verschwiegen hatte und außerdem sicherlich nicht wußte, warum man ihm soviel bezahlte, verging ihr Zorn. Sie hoffte, dem Verrückten, der gerade gegangen war, würde nichts Schreckliches geschehen, denn bei einer solchen Summe – aber nun, c’est la vie. Oder c’est la mort. Ihr war es einerlei.

Ohne daß es ihm die Stimmung verdarb, hatte eben jener Verrückte gemerkt, daß ihm einige Schwierigkeiten bevorstanden, obwohl es ihm ein Leichtes sein würde, die Unterschrift von Eric Hepburn zu fälschen. Eine wesentliche Schwierigkeit: er hatte das Flugticket auf den Namen Paul Dewey gelöst, weil er die Kreditkarte benutzen mußte, aber wenn er später auf dem Flughafen eincheckte, würde man seinen Paß verlangen. Der war auf den Namen Eric Hepburn ausgestellt. Nun, er hatte noch gut vier Stunden, um sich etwas zu überlegen. Und bis jetzt war er sich noch unschlüssig, wie er die Zeit bis dahin totschlagen sollte.

In New York – ebenso wie in Florida und an anderen unsäglichen und exotischen Orten in der westlichen Hemisphäre – war jetzt die Cocktailstunde. Die Cocktailstunde, und er hatte noch keinen Alkohol getrunken, seit er die Wildnis des sonnigen Florida hinter sich gelassen hatte. Hatte nicht das Verlangen danach verspürt. Er wußte, was das Teufelszeug mit den Menschen anrichten konnte, hatte seine eigene Erfahrung vor nicht eben langer Zeit auf diesem Gebiet – zum Teufel mit alledem. Er betrat eine sogenannte Lounge, klein und überfüllt, voll Rauch und lauter Stimmen, und er setzte sich an die Bar, noch unschlüssig, was er bestellen sollte. Nun, Cyrus Greer würde einen Martini nehmen, aber was trank Eric Hepburn? Paul Dewey gab einen aus, natürlich. Eric Hepburns Paß zu Ehren, ausgestellt in Ottawa, ließ er sich kanadischen Whiskey bringen.

»Trinken Sie allein?« Eine weibliche Stimme mit einem Akzent, den er zuerst nicht erkannt, und die Besitzerin der Stimme saß auf dem Barhocker neben ihm, obwohl sie noch nicht dagewesen war, als er Platz genommen hatte. Sie lächelte, wenn auch zögernd und gleichsam verletzlich. Doch das wirkte um so aufregender in ihrem blassen, ziemlich schmalen Gesicht, das von blonden Haaren eingerahmt war und sehr natürlich wirkte.

»Nun, trinken Sie allein oder nicht?«

»Jetzt nicht mehr«, sagte er.

»Danke.« Ihr Akzent, entschied er sich, war deutsch. »Ich möchte bitte einen holländischen Genever.« Ihr Tonfall war reserviert und selbstsicher, und der Blick ihrer blauen Augen war direkt auf sein Gesicht gerichtet. Was sollte das bedeuten? Wollte sie ihn aufgabeln? Sie wirkte nicht wie eine Prostituierte, aber er dachte daran, daß in diesen Tagen die Straßenmädchen eher wie miniberockte Collegemädchen aussahen und nicht mehr wie jene aufgedonnerten Nutten in Satinkleidern von früher. »Ich bin keine Holländerin«, sagte sie, »aber holländischen Genever trinke ich sehr gern.«

Er nickte der Bardame zu, die ihr Gespräch mit angehört hatte, und nahm einen Schluck von seinem Whiskey. Wenn sie eine Nutte war – er konnte sie sich nicht leisten. Sollte er es ihr gleich sagen? Und wenn er es sich hätte leisten können, was dann? Er fühlte einen Anflug von Haß, aber es war schnell vorüber. Und dann wurde ihm bewußt, daß Cyrus Greer niemals daran gedacht hätte, mit einer Nutte ins Bett zu gehen. Aber er war nicht mehr Cyrus Greer, oder? Und sie war eine schlanke, modisch gekleidete junge Dame, wahrscheinlich sehr jung, und jetzt schien sie amüsiert, denn sie lächelte wieder.

»Ich bin nicht das, was Sie vielleicht denken«, seufzte sie.

»Nein.« Ihr Genever kam, in einem kleinen Glas, und sie trank ihn sehr, sehr langsam. »Sagen wir mal … ich komme mir ein bißchen verloren vor. Und Ihnen scheint es ebenso zu gehen, nicht wahr? Allein in einer Stadt, die ich nicht kenne.« Ihre Augen ließen die seinen nicht los, als erwarte sie eine Beleidigung oder Zurückweisung. Sie nahm noch einen Schluck und sagte: »Einsam.«

War er wirklich einsam? Er hatte noch nicht mal daran gedacht. »Dann wollen wir zusammen einsam sein.« Es klang wie ein Satz aus einem alten Film, aber was machte das. »Ich habe nur noch knapp vier Stunden Zeit, bevor mein Flugzeug startet.«

»Oh?« Wieder das Lächeln, diesmal fast nur ein Zittern der Lippen. »Ich habe nicht im Sinn, was Sie, glaube ich, im Sinn haben. Aber wenn ich es hätte, vier Stunden würden doch genug sein.« Dann fügte sie hinzu: »Oder nicht?«

Ganz bestimmt war es nicht Cyrus Greer, der antwortete. »Da bin ich nicht so sicher.« Und ihm wurde bewußt, daß er sich sehr verändert hatte, männlicher geworden war: er spürte ein Verlangen in seinem Körper aufsteigen, das ihn angenehm erregte.

Sie wandte den Kopf und sah weg. Einen Augenblick hatte er den Eindruck, er könnte sie in Verlegenheit gebracht haben. Dann hörte er sie sagen: »Ich habe nur im Sinn … vielleicht essen zu gehen. Eine angenehme Unterhaltung, Wein …« Sie sah ihn an. »Rheinwein!« Sie ließ das Wort wie eine Beschwörung klingen – eine kostspielige. »Nur ein paar Stunden nicht einsam sein. Aber ohne Fragen – und als Antworten nur Lügen.«

»Möchten Sie noch einen Genever?«

»Danke, ja.« Ihre Stimme war leise, klang fast schüchtern und sehr mädchenhaft – und erfreut. »Um die Ecke, bei meinem Hotel ist ein Restaurant.« Und dann, als sei ihr klargeworden, was er ihren Worten entnehmen könnte, fügte sie hastig hinzu: »Mein Hotel … in das Sie nicht eingeladen sind.«

»Können Sie sich vorstellen«, sagte er, »daß ich noch niemals holländischen Genever getrunken habe? Bitte zwei«, sagte er zu der Bardame und tippte dabei auf das leere Glas des Mädchens. Dann sagte er: »Ich kann Sie in das Restaurant einladen, wenn man dort meine Kreditkarte akzeptiert.«

Sie schien verwirrt. »Aber nein, ich werde bezahlen. Ich habe Sie schließlich eingeladen. Und ich gehe nicht, wenn Sie damit nicht einverstanden sind.« Und dann wieder der beinahe geflüsterte Wortstrom. »Wenn ich etwas habe, dann ist es Geld. Viel, viel Geld.« Und wieder sah sie weg. »Vielleicht das einzige, was ich habe.«

Nun, wenn sie eine Prostituierte war, hatte sie sich jedenfalls eine ganz neue Art ausgedacht – offensichtlich die Ökonomie auf den Kopf gestellt. »Ich wünschte, ich hätte Ihr Problem«, sagte er, und dann hörte er sie zum ersten Mal lachen: ein kühles Lachen wie das Klirren von Gläsern.

»Ich heiße Karen«, sagte sie.

Und damit hatte sie sein Problem angesprochen – wie zum Teufel war sein Name? Warum sollte er sich nicht daran gewöhnen: »Ich heiße Eric.«

»Oh?«

Nach den ›Tournedos au Poivre‹ mit ›Châteauneuf-du-Pape‹, den ›fromage‹ auslassend, vor der ›Crème Renversée‹ und dazu Château de Malle – sie hatte den Weinkellner schockiert, als sie deutschen Wein verlangte – sagte sie über den Tisch hinweg zu ihm, als hätte sie schon eine Zeitlang darüber nachgedacht: »Mir gefallen Ihre Zähne.«

»Danke«, erwiderte er, schon lange nicht mehr überrascht. »Mir gefallen Ihre ebenfalls.«

Sie kicherte, legte ihre feingliedrige Hand auf den Mund und blickte ihn amüsiert an. »Nun, wenigstens reden wir nicht mehr von Geographie, nicht wahr?«

Er hörte sein Lachen. »Ich habe noch nie mit einer Frau gegessen, die in Wien geboren ist, in München gelebt hat und dann fast immer in der Schweiz, zudem aber in der ganzen Welt herumgekommen ist.«

»Habe ich Ihnen das alles enthüllt?« Sie bot ihm noch eine von ihren Zigaretten an, von denen sie sagte, sie kämen aus Persien und seien nicht nur appetitanregend, sondern intensivierten auch das Geschmacksempfinden. Er nahm an und gab ihr Feuer. Er betrachtete sie unverwandt. Was für ein wirklich attraktives Mädchen. Aufregend. In jeder Beziehung. Beinahe zu aufregend. Aber warum sollte etwas, irgend etwas oder irgend jemand, zu aufregend sein?

»… in New York leben, jedes Jahr ein paar Wochen in Florida verbringen, in Ohio aufgewachsen sind und Eric nicht Ihr richtiger Name ist –«

»Wie bitte?«

»Das habe ich über Sie herausgefunden.«

»Eric hießen mein Vater, sein Vater und auch schon dessen Vater.«

»Das mag schon sein, aber Sie heißen nicht so.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Sie hielt ihr Glas anmutig zwischen den schlanken Fingern. »Es … paßt nicht zu Ihnen.«

»So? Wie sollte ein Eric denn sein?«