Die Stunden nach Mitternacht - Joseph Hayes - E-Book

Die Stunden nach Mitternacht E-Book

Joseph Hayes

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Beschreibung

Alles beginnt mit einem eigentlich alltäglichen Kriminalfall. Ein junges Mädchen wird entführt. Und was nur ein dummer Streich sein sollte, wird unter dem Zwang der Ereignisse fast zum Verbrechen. Nur zwei Stunden und fünfzehn Minuten währt die Handlung dieses psychologischen Kriminalromans; von Minute zu Minute aber verschärft sich die Situation; durch verhängnisvolle Zufälle und Mißverständnisse geschieht beinahe ein Mord. Die Schuld liegt nicht nur bei dem jugendlichen Täter. Die Gleichgültigkeit der Erwachsenen, Verantwortungslosigkeit und Egoismus ergänzen sich mit dem entwurzelten Tatendurst eines Halbstarken zum Drama. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 188

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Joseph Hayes

Die Stunden nach Mitternacht

Roman

Aus dem Amerikanischen von Peter Fischer

FISCHER Digital

Inhalt

2.132.162.212.252.362.382.392.432.532.552.562.572.593.013.023.043.053.073.113.133.183.203.213.243.253.263.323.353.363.493.523.554.014.044.054.104.134.154.164.174.184.194.28

2.13

In der Dunkelheit schrillte das Telephon. Noch nicht recht wach, wälzte Charles Elgin sich herum, griff danach, sprach. Dann, als er hellwach war, blieb ihm die Stimme im Halse stecken, und er horchte, ohne dazwischenreden zu können, bis er das trennende Einrasten am andern Ende der Leitung hörte. In der Hand hielt er einen summenden Hörer.

Helen, seine Frau, knipste die Nachttischlampe an, murmelte blinzelnd seinen Namen. Dann sah sie das erstarrte Gesicht ihres Mannes, das auf einmal ganz fremd wirkte. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war jene stille Stunde der Nacht, da die Geräusche der Straße völlig verebbt sind, da die Häuser an der Straßenbiegung dunkel und schweigend dastehen, da die Welt ihren stillsten Augenblick erreicht hat.

Charles war jetzt auf den Beinen. Seine Frau warf die Decken beiseite, stand auf, wobei ein Frösteln über sie kam, und ging ihm nach in den oberen Hausflur und sah seine breite aber nicht große Gestalt aufrecht in der Tür von Julies Zimmer stehen. Dahinter flammte plötzlich Licht auf und gab das übliche aufreizende Durcheinander in dem Zimmer dem Blick preis. Helen wollte etwas sagen, doch die Stimme stockte ihr, als sie Charles gegen den Türrahmen sinken sah, und nun erst traf sie wie ein Schlag die Erkenntnis: das Zimmer war leer. Die Mitternachtskühle des Hauses drang Helen bereits ins Mark; da drehte Charles sich um, und als sie nun die Erregung und Hilflosigkeit und den Schrecken im starren Blick seiner braunen Augen sah, kämpfte Helen die Töne nieder, die ihr aus der Brust emporzubrechen drohten.

»Charles!« Es war ein Wunder, daß sie nicht aufgeschrien hatte.

»Sag’s mir doch, Charles! Julie …«

Da sagte er es ihr – schnell, einfach, mit einer Stimme, die vor Schrecken stumpf und leer war. Er hatte die Stimme am Telephon nicht erkannt. Der Mann – vielleicht war es auch ein Junge, nach der jugendlichen Klangfarbe zu urteilen – hatte ein bißchen gestottert. Er hatte gesagt, Julie sei bei ihm. Er hatte gesagt, es sei Julie nichts geschehen. Er hatte gesagt, solange Charles und Helen nichts unternähmen, würde Julie nichts geschehen.

»Und sonst nichts? Das ist doch nicht möglich, Charles. Das glaub ich nicht!«

Charles sah, wie ihr ovales, noch immer hübsches Gesicht sich spannte. Helen hatte ihren Entschluß gefaßt. Rasch. Fest. Endgültig. Wie immer. Und in dieser Lage war Charles einen Augenblick lang ganz froh darüber – weil ihm nun irgendwie die Entscheidung abgenommen war.

»Wenn nicht du etwas …«, sagte Helen, indem sie kehrtmachte und ins Elternschlafzimmer schritt.

Charles hatte sich noch nicht gerührt, da hörte er, wie sie den Hörer abhob, hörte das Schnarren und Schnappen der Wählscheibe. Dann war auch er im Schlafzimmer, neben ihr, wand ihr den Hörer aus der Hand, legte ihn auf die Gabel, sah in ihr erstauntes Gesicht, hörte sich selber sagen: »Es kann doch sein, daß er noch einmal anruft. Wenn die Nummer besetzt ist, weiß er, daß wir mit der Polizei telephonieren.« Dann plötzlich reizte Helens verdutzte Miene ihn zur Wut. »Er hat gesagt, wir sollten niemandem was sagen und wir sollten nach unten gehen, die Gardinen vorm Aussichtsfenster aufziehen und uns dort hinsetzen.« Seine Stimme war hart und nüchtern. »Und das werden wir auch tun.«

Helen blinzelte. Es war nicht Charles’ Art, in diesem Tone mit ihr zu sprechen, und es war gewiß nicht seine Art, so zu kommandieren. Zugleich war ein merkwürdiges, unnachgiebiges Glitzern in seinen Augen, das sie selten gesehen hatte; und als wenn sie, die so viele Jahre lang die Entscheidungen in der Familie getroffen hatte, jetzt keinen eigenen Willen hätte, raffte sie ihren Morgenrock auf und ging die halbe Treppe ins Wohnzimmer hinunter. Weit weg von den unmittelbaren Sinneseindrücken – dem kräftigen Fichtenduft, dem trübseligen Anblick des geschmückten, aber nicht brennenden Weihnachtsbaumes in der Ecke neben ihrem Mann, der das Licht anmachte, die von der Decke bis zum Fußboden reichenden Vorhänge aufzog, so daß von der Straße aus das gesamte Zimmer zu sehen war –, weit weg von all dem drohte ihr Wille durch die Betäubung des Schocks emporzubrechen. Es war ihr klar, daß ihr erster Impuls richtig gewesen war; Charles hatte unrecht. Und doch durchzuckte sie ein Gefühl warmer Dankbarkeit. Charles hatte das Telephongespräch geführt, Charles mußte es ja wissen, Charles hatte die Sache in der Hand. Zugleich kämpfte sie gegen die Schreckensbilder an, die jeder Mutter und jedem Vater eines Kindes beinahe täglich in irgendeiner Weise zu schaffen machen. »Er hat gesagt, in zehn Minuten würde er wieder anrufen und weitere Anweisungen geben«, hörte sie Charles sagen, »wenn wir bis dahin nichts unternommen hätten. Sonst …« Und er ließ den Satz ungesprochen in der Luft hängen.

Helen wehrte sich, krampfte die Nägel ins Fleisch ihrer Hand, damit nicht jene furchtbaren Schreckensbilder – wie es freilich kommen mußte – die Form und Gestalt der tiefsten und geheimsten Ängste jeder Mutter und jeden Vaters annähmen, wenn das Kind ein Mädchen ist. Ihre Augen suchten Charles. Sein Blick ruhte voll auf ihr.

In diesem Augenblick war es Helen, als habe sie eben diesen Augenblick schon einmal erlebt, irgendwo, in einem anderen Leben oder einem Traume oder einer Fieberphantasie. Sie merkte, daß sie mit allen Nerven das freudige Erwachen herbeisehnte, das sie wieder in die Alltagswirklichkeit entlassen würde.

Das Wort ›Sonst …‹ klang noch in Charles nach, während er durch das beschlagene Fenster in die Dunkelheit hinausstarrte, ohne wirklich zu sehen. Auf dem Rasenplatz waren Schneeflecken, schon etwas verrußt und angefressen. In der Stille hörte er – außer seinem eigenen Atem – einen schwachen Wind, der durch die spröden Zweige der Bäume auf dem Bürgersteig raschelte. Aber so sehr er sich auch Mühe gab, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, die Stimme am Telephon kam immer wieder: ›Sie ist eine süße P-p-puppe, Mr. Elgin. Sie wollen doch nicht, daß ihr was p-p-passiert. Mucksen Sie sich nicht!‹ Und hinter der Stimme wand sich ein Lied durch Charles’ Gehirn – eine von diesen schluchzigen Melodien – wenn man sie so nennen konnte –, die einem im Ohr hängenblieben und die heutzutage so beliebt waren bei den jungen Leuten. Es war eins von Julies Lieblingsliedern. An den Text konnte er sich nicht erinnern …

2.16

›Hab mich lieb bitte, bitte hab mich lieb …‹ Julie wußte den Text. Immer wühlte das schmerzvolle Schluchzen hinter der Stimme eine seltsame Sehnsucht in ihr auf, rührte an irgendeinen bloßliegenden Nerv in der Tiefe ihres Wesens und brachte sie durcheinander. Sie saß zusammengekauert auf dem Vordersitz des warmen Wagens, der neben einer Imbißhalle mit Nachtbetrieb parkte, und die Musik aus dem Plattenautomaten drang durch die geschlossenen, angelaufenen Fenster zu ihr hindurch. Sie beobachtete, wie die beschlagene Glastür aufging, und sah Nolan herauskommen. Er ging ein bißchen schief und schlurfend, doch mit flottem Schritt und riß eine neue Packung Zigaretten auf, während er in den Wagen einstieg. Ein Hauch kalter Luft kam mit ihm hereingeweht. Sie zog sich den Abendumhang um die nackten Schultern, während er die Flamme seines Feuerzeuges an die Zigarette zwischen seinen Lippen hielt und dabei ein wenig grinste, in seiner eigentümlichen, beinahe verächtlichen Art. Wieder fiel ihr die lächerliche Ungereimtheit der ganzen Situation auf, und ihr Gesicht verdüsterte sich, als sie im Licht der Flamme plötzlich die leicht schmollend vorgeschobenen Lippen sah, die schmalen, verkniffenen Augen, das lange, schwere dunkle Haar, die Koteletten und den allgemeinen Ausdruck von Hochnäsigkeit, der seinem siebzehnjährigen Gesicht fest aufgeprägt schien. Ohne ein Wort zu sagen und ohne ihr eine Zigarette anzubieten, zog er den Reißverschluß seiner Lederjacke zu und ließ den Motor des Wagens seines Vaters an.

Sie empfand eine eigenartige Verlegenheit und zog den Umhang um ihr langfließendes Abendkleid. Wenn man sich’s überlegte, war der ganze Abend unsinnig gewesen. Schlimmer noch, ein schlechter Scherz. Wie überhaupt die ganzen Weihnachtsferien. Überhaupt – was war denn kein schlechter Scherz? Nun konnte sie wohl das Spiel auch noch zu Ende spielen und es dann vergessen.

»Sehr höflich finde ich das nicht, Nolan«, sagte Julie. »Mich so im Kalten sitzen zu lassen, während du eine von deinen Freundinnen anrufst!«

Nolan ließ den Wagen auf die Landstraße schießen. Er fuhr so, wie es Julie bei Jungen gern sah – schnell, unbekümmert, doch mit Sicherheit und Hingabe. »Höflich b-b-bin ich wohl nicht«, sagte Nolan mit blubbernder Aussprache. »Nee, höflich nicht.« Dann lachte er – es war ein plötzlicher, kurzer Ausbruch eines freudlosen Geräusches, so als dächte er an einen Witz, den er nicht erzählen wollte, und ließe durchblicken, daß es ein boshafter Witz sei, wobei es ihm darauf anzukommen schien, daß sie, daß jedermann begriffe: er brauchte niemanden, der über seine Witze lachte. Dann wandte er sich um und sah sie an, und seine Augen verengten sich und strichen über ihr Gesicht und dann, dreist spekulierend, über ihren Körper hinab bis zu ihren Schuhen. Julie zog den Mantel fester um sich und hob das Kinn. »Bring mich nach Hause, Nolan! Mir ist kalt.«

»Der Abend hat doch grade erst angefangen«, sagte Nolan und schob die Schultern über dem Steuerrad vor und trat auf den Gashebel.

Es waren ihre eigenen Worte: ›Der Abend hat doch grade erst angefangen.‹ Wären nicht, vor einer Stunde etwa, diese Worte gesprochen worden, sie wäre jetzt vielleicht nicht hier gewesen, in dieser lächerlichen Situation. Nicht, daß sie etwa Angst hatte vor Nolan; mit Typen wie dem wußte sie schon umzugehen. Genauso wie sie mit Typen wie Phil umzugehen wußte. Phil hatte sie nach Hause bringen wollen, da war es erst ein Uhr gewesen. Vorher hatten sie getanzt, hatten danach eine Weile im parkenden Wagen gesessen und waren dann in einem Restaurant östlich der Stadt eingekehrt – eigentlich war es eher ein Rasthaus, aber Julie hatte unbedingt hineingehen wollen, ohne jeden Grund eigentlich, vielleicht bloß weil sie wußte, daß Phil keine Lust dazu haben würde –, und beim Kaffee war der dumme Streit entstanden. Phil hatte sie daran erinnert, daß ihre Eltern es nicht gern sahen, wenn sie länger als bis eins ausblieb, auch freitagabends und auch, wenn sie mit ihm zusammen war. An dieser Stelle hatte Julie gesagt, der Abend habe doch grade erst angefangen und sie denke ja noch gar nicht ans Gehen.

Dabei wußte sie recht gut, wie froh ihre Eltern gewesen waren, als Phil vor einer Woche vom College nach Hause gekommen war. Ihr war es gar nicht mal so lieb gewesen, daß sie so große Stücke von Phil hielten. Von da an – einfach weil das, verflixt noch mal, so ihre Art war – hatte sie Phil genau beobachtet, hatte ihn mit den Augen ihrer Eltern gesehen, und irgendwie hatte er aus diesem Blickwinkel etwas von seiner Glorie und seinem Glanz und Reiz eingebüßt, war ein wenig langweiliger, gewöhnlicher geworden.

Natürlich hatte sie das nicht gesagt oder auch nur angedeutet, denn es hätte Phil nur vor den Kopf gestoßen und ihm weh getan, ebensosehr wie es sie selbst vor den Kopf stieß und ihr weh tat. Sie hatte statt dessen aus kühler Höhe erklärt, sie stehe nicht unter der Fuchtel ihrer Eltern, so wie er unter der Fuchtel seines Vaters, und wenn er, Phil, nicht so dumm wäre – oder hatte sie gesagt: wenn er etwas mehr Pfiff besäße? –, so würde er es sich nicht gefallen lassen, daß sein Vater ihn so völlig mit Beschlag belegte und in den kurzen zwei Wochen, ehe Phil zur Universität zurück mußte, all seine Zeit ganz und gar in Anspruch nahm.

Phil hatte nur den Kopf geschüttelt, in der aufreizenden, plötzlich bevormundenden Art, die er sich angewöhnt hatte, und mit der Lieblingsredewendung ihrer Mutter geantwortet: ›Julie, ich versteh dich einfach nicht.‹

Da hatte die wohlbekannte Anwandlung des Aufbegehrens sie durchzuckt, der würgende, böse Trotz, von dem aus sie stets in einen Zustand zwischen Wut und Tränen und völliger Verzweiflung hineingeriet. Das Entsetzliche daran aber – bei ihren Eltern so wie nun bei Phil – war, wie ihr dabei innerlich zumute war, wie sie danach verlangte, aufhören zu können. Und so sehnte sie sich auch diesmal danach, Phils schmales Gesicht zwischen ihre Hände zu nehmen und aufzuhören damit – Schluß, Schluß!

Statt dessen hatte sie, wie immer, nach weiteren Beleidigungen gesucht und sich dabei verheddert, hatte natürlich den Beweis liefern müssen, daß alles, was Phil ihr vorhielt, durchaus zutraf. Hatte er nicht gesagt, sie handle immer nur impulsiv? Hatte er nicht gesagt, sie selber sei ihr schlimmster Feind? Sie handle immer nur aus Trotz? ›Du mußt doch mal erwachsen werden!‹ hatte er schließlich gesagt.

Als sie Nolan allein an der Theke stehen sah, wie er Bier trank und seine Zehnerstücke in den Plattenautomaten steckte, da war sie aufgesprungen, um sich ihm anzuschließen. Zu Phil gewandt hatte sie noch gesagt, sie habe jemand anderen gefunden, der sie nach Hause bringen könne – danke schön.

Sie sah in der Erinnerung nun wieder den Ausdruck des Erstaunens hinter Nolans geschmeicheltem Lächeln vor sich und die Empörung in Phils Gesicht, als er mit zusammengekniffenen Lippen ihr den Rücken kehrte und steif hinausging. Sie hatte instinktiv gewußt, daß es Phil am meisten weh tun würde, daß sie sich einen Jungen wie Nolan aussuchte, mit den langen Haaren, den Koteletten, der Zigarre im Mundwinkel und den Blue Jeans. Und sie hatte dagestanden und gelächelt und hätte doch am liebsten losschreien mögen, hatte einen Vorwand gesucht, um hinter Phil herzurennen; doch sie hatte sich nicht vom Fleck rühren können und nur noch seinen Rücken gesehen. Nun kehrte also auch er ihr den Rücken. Früher oder später kehrten sie ihr alle den Rücken, einer wie der andere. Früher oder später trieb sie sie alle von sich weg. Warum? Warum tat sie das? Und warum konnte sie nicht aufhören damit?

Nolan summte das Lied: »Hab mich lieb bitte, bitte hab mich lieb!« Der Wagen näherte sich dem Viertel, in dem sie zu Hause war. Keine Aussicht auf Ruhe! Es würde wieder eine schlaflose, ermüdende Nacht werden mit zerwühltem Kissen, und morgen würde sie sich vor der Tatsache dieser verpfuschten Weihnachtsferien sehen, dieser Ferien, von denen sie sich so viel erhofft hatte.

»Hab mich lieb bitte …«

»Mein Lieblingslied«, hörte sie sich sagen.

»Ja? ’ne Wucht.«

Liebe – auch das war wohl ein Witz? Denn sie liebte doch Phil und empfand nichts weiter als schwache Neugier und leisen Abscheu gegenüber Nolan, diesem Jungen, dessen Gedanken jetzt ganz allein irgendeinem fernen Traum nachzuschweifen schienen. Und doch war sie hier – bei Nolan, nicht bei Phil. Das reimte sich ebensogut und ebensowenig zusammen wie alles übrige …

2.21

Phil Reynolds konnte nicht schlafen. Zu der Fahrt nach Hause hatte er nahezu eine Stunde gebraucht; die Straßen hatten ihre Tücken gehabt, waren an unerwarteten Stellen vereist gewesen. Nun lag er in seinem Bett in dem großen, stillen Farmhaus. Ob er Julie vielleicht anrufen sollte, bloß um sich zu erkundigen? Wonach zu erkundigen? Ob sie zu Hause sei? Selbstverständlich war sie zu Hause! Aber was zum Teufel konnte er denn sonst zu ihr sagen? Du könntest ihr sagen, es tut dir leid, sagte er sich streng. Du könntest ihr sagen, daß du ihr alle diese Worte, diese Vorwürfe eigentlich gar nicht ins Gesicht hast schleudern wollen. Jemandem wie Julie zu sagen, sie sollte endlich mal erwachsen werden, das ist doch genauso gut, wie wenn man ein Streichholz in einen Benzintank schmeißt … Wenn er sich bloß erkundigen könnte …

Wenn er vielleicht vorsichtig die Treppe hinunterschliche, zum Telephon unten im Hausflur

Dann hörte er auf dem oberen Flur den Schritt seines Vaters, der in Pantoffeln die teppichbelegte Treppe hinunterging. Phil kannte das Geräusch. Das Herz drehte sich ihm um. Bei seinem Vater hatte sich eine Arthritis eingestellt, und in kalten Nächten nagte der Schmerz wie Feuer an seinen Gelenken. Er würde in einem Sessel sitzen und über sein schneebedecktes Land hinstarren, unter Umständen bis zum nächsten Morgen. Und Phil konnte also nicht telephonieren, ohne auf hartnäckige Fragen Rede und Antwort stehen zu müssen. Und wie konnte er denn erklären, was sich abgespielt hatte? Wie konnte er Julies Wesen seinem Vater richtig darstellen, der in ihr nur ein hübsches, reichlich selbstsicheres Mädchen sah, das sich voraussichtlich zu einer eigenwilligen, leichtsinnigen Frau entwickeln würde? Wie konnte er ihr Wesen erklären, wenn doch so vieles daran ihm selber nicht verständlich war?

Phil setzte sich auf und zündete sich eine Zigarette an. Vielleicht war es Zeit, sich Julie einmal ganz kühl und sachlich zu betrachten. Sich selbst und Julie. Da war zunächst Julies beinahe rührendes Bedürfnis nach Liebe – ein Hunger geradezu. Und beim Gedanken daran wurde Phil innerlich weich und hohl. Warum richtete sie da fortwährend Hindernisse auf? Warum forderte sie einen dauernd heraus, einzugestehen, daß man sie liebte, und es zu beweisen? Vielleicht weil sie aus irgendeinem Grunde auf die Idee gekommen war, man könne sie ja gar nicht lieben. So ein Blödsinn! Psych 2, dienstags und donnerstags, fünfte Stunde. Phil drückte ärgerlich seine Zigarette aus. Was es auch sein mochte, was auch immer die Wurzel von Julies Hunger sein mochte, er liebte sie jedenfalls. Und damit hatte sich’s. Wenn ihn auch das alberne Ding wurmte, das sie sich heute abend geleistet hatte, deswegen liebte er sie doch immer noch. Spielte doch alles keine Rolle. Das war schließlich Liebe, nicht wahr? Ohne Bedingungen, ohne Vorbehalt. Jedenfalls für ihn.

Warum hast du sie dann heute abend enttäuscht und zu diesem verrückten, kindischen Ding mit dem Kotelettenknaben gereizt? Und warum rufst du sie jetzt nicht an und sagst ihr, daß es dir leid tut? Erkundige dich wenigstens mal, ob sie auch gut nach Hause gekommen ist.

2.25

Das Telephon im Hause Elgin war stumm. Charles und Helen saßen in steifer Haltung, ohne zu sprechen, mitten vor dem Aussichtsfenster und spähten nur manchmal mit einem Seitenblick auf die matterleuchtete, menschenleere Straße hinaus. Der Wind, der durch die winterlichen Bäume gestrichen war, hatte sich mittlerweile gelegt, und Charles war sich dieses Umstandes ganz deutlich bewußt, ohne jeden Grund freilich, nur daß ihm die Konzentration auf belanglose Einzelheiten vielleicht helfen mochte, seine Gedanken so lange von dem Telephon abzulenken, bis es endlich klingelte.

»Wieviel Zeit ist denn schon um?« fragte Helen schließlich.

Ohne noch einmal auf seine Uhr zu blicken, sagte Charles: »Zwölf Minuten.«

»Der Mann hat doch zehn gesagt. Du hast gesagt, daß er zehn Minuten gesagt hat.«

»Ja, allerdings.«

»Dann …«

Auf einmal stand Charles aufrecht da, hieb eine Faust in den Teller der anderen Hand und hörte mit Erstaunen und mit Erleichterung das gewehrschußartige Krachen, als Fleisch auf Fleisch knallte. »Was willst du denn, daß ich tun soll? Was kann ich denn machen? Vielleicht guckt er nicht ganz so genau auf die Uhr! Vielleicht will er uns quälen damit! Wer weiß?« Er stand mit gespreizten Beinen vor ihr. »Was willst du denn, daß ich tun soll?«

»Wir können doch hier nicht sitzen und gar nichts tun.«

»Wir werden beobachtet. In diesem Augemblick!« Er machte kehrt und schritt auf das Fenster zu, und dabei kam ihn ein wildes Gelüst an, einen Stuhl zu packen, ihn durch die Scheibe zu schleudern, hinauszutreten und zu schreien … Doch er unterdrückte das Gelüst und lehnte sich schwer atmend an den Fensterrahmen, und seine Stimme war noch voll Zorn, als et sprach: »Wer könnte uns denn überhaupt beobachten, verdammt noch mal! Unsere Nachbarn doch nicht. Und es ist auch kein einziger Wagen da draußen vorbeigefahren, seit wir nach unten gekommen sind. Das Ganze ist bloß ein dummer Streich – irgendein Dummerjungenstreich.«

In der dunklen Scheibe des Aussichtsfensters sah er Helens Spiegelbild. Sie stand hinter ihm auf, hob das Kinn – und das erinnerte ihn sofort an Julie; die Erinnerung war wie ein kalter Wind.

»Ein Dummerjungenstreich? Was meinst du damit, Charles?«

»Es reimt sich nicht zusammen«, sagte er, sein Gefühl endlich in Worte fassend. »Das reimt sich alles nicht zusammen.«

»Du hast vorhin gesagt, es könnte die Stimme von einem Jungen gewesen sein. Phil war’s bestimmt nicht. Phil macht bei so was nicht mit. Aber jemand anders vielleicht. Erkannt hast du die Stimme nicht, Charles, wie? Ein anderer Freund von Julie?«

Und ganz langsam drehte Charles sich um, die Stirn gerunzelt. Helen stand mit geneigtem Kopf da, und Hoffnung und Erleichterung blinkten in ihren Augen.

»Ziemlich durcheinander und wütend ist sie ja gewesen, als sie weggegangen ist heute abend«, sagte Helen – Worte, die aber Charles in seiner Verblüffung und seiner steigenden Wut nur undeutlich vernahm. »Es sähe doch Julie ganz ähnlich, sich so was auszudenken, stimmt’s nicht? Ach, warum hab ich nur nicht schon selber daran gedacht?«

Charles trat auf sie zu und ergriff sie bei den Armen. »Hör mal!« sagte er. »Hör mal zu! Julie hat sich das nicht ausgedacht. Julie ist in Gefahr, Helen. Du kannst ihr nicht die Schuld daran geben. Das willst du doch – weiß der Himmel, warum. Du tust das ja immer. Aber jetzt braucht sie uns. Sie macht keine Scherze. Und jetzt handelt sich’s auch um keinen Scherz. Verstehst du mich, Helen?«

Helens Augen blickten ihn fest an. Sie rührte sich nicht. »Warum rufst du dann nicht die Polizei an? Wenn es sich um eine Verbrecherbande handelt, was können wir da ohne Hilfe gegen die Kerle tun?«

»Darauf können wir’s nicht ankommen lassen, Helen. Das könnte Julies Tod bedeuten.«

Doch Helen schüttelte darüber langsam den Kopf. »Du glaubst ja gar nicht, daß es ein Verbrecher ist, Charles. Wenn du’s auch nicht eingestehen willst, du fürchtest doch in tiefster Seele schon immerzu, daß es wieder so ein verrücktes Stückchen ist, wie Julie sie sich leistet.«