Eine lange dunkle Nacht - Joseph Hayes - E-Book

Eine lange dunkle Nacht E-Book

Joseph Hayes

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Beschreibung

Boyd Ritchie war noch Student, als er zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde für eine Tat, die er nicht begangen hat. Nach acht Jahren kommt er wegen guter Führung frühzeitig frei. Jetzt folgt der Rachefeldzug gegen die Menschen, die sein Unglück verschuldet haben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Joseph Hayes

Eine lange dunkle Nacht

Roman

Aus dem Amerikanischen von Jo Klein

FISCHER Digital

Inhalt

»Rache ist eine Art [...]»Vergeltet nicht Böses mit [...]»Die Rache ist mein, [...]»Rache, zuerst so süß, [...]Erster TeilZweiter TeilDritter TeilVierter TeilFünfter TeilSechster Teil

»Rache ist eine Art verwegener Gerechtigkeit;

je mehr die Natur des Menschen dazu neigt,

desto entschlossener sollte das Gesetz sie ausmerzen.«

Francis Bacon

»Vergeltet nicht Böses mit Bösem.«

Altes Testament

»Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.«

Neues Testament

»Rache, zuerst so süß, wird bitter und schaudert vor

sich selbst zurück.«

Milton: Das verlorene Paradies

Erster Teil

Es dämmerte bereits, als er zwischen den beiden Granitpfosten des Friedhof-Eingangs hervortrat: eine jungenhaft schlanke Gestalt, nicht sehr groß; er bewegte sich geschmeidig und schnell, ohne Hast, mit etwas seitwärts geneigtem Kopf. Er wirkte selbstsicher und wachsam. Auf dem schmalen, halbgeschorenen Schädel saß eine schwarze, gestrickte Skimütze. Seine Kleidung bestand aus einem schwarzen Rollkragenpullover, einer engen, ebenfalls schwarzen Hose und dunklen Tennisschuhen. Er stieg in den metallisch-silbernen, nicht mehr ganz neuen Chevy-Vega, der am Bordstein geparkt war, und schaltete die Zündung ein, nicht aber die Scheinwerfer, obgleich keine Häuser an dieser verlassenen, baumgesäumten Landstraße am Rand der Stadt standen. Der Motor brummte einmal kurz auf, obwohl er behutsam Gas gab, und der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Erst hinter der ersten Kurve wurden die Scheinwerfer aufgeblendet. Das Fahrzeug fuhr schnell den Hügel hinab auf den Lichterglanz der Stadt zu. In den Häusern gingen die ersten Lampen an.

 

Boyd Ritchie am Steuer wunderte sich, daß die ungeheure Beherrschung der vergangenen Jahre – die ihn endlich und kaum faßbar zu diesem Zeitpunkt an diesen Ort geführt hatte – noch immer nicht automatisch, noch immer nicht Teil seiner selbst war, sondern daß es ihn nach wie vor eine große Willensanstrengung kostete, kühlen Kopf zu bewahren. Disziplin, eiserne und unnachgiebige Selbstkontrolle, das allein hatte ihn bis hierher gebracht, und nur mit der gleichen Unterdrückung jeden Gefühls würde diese Nacht ein Erfolg werden. Es war eine lange Zeit bis zum Morgen, und in diese kostbaren Stunden würde er die Genugtuung, den Inhalt eines ganzen Lebens packen. Dieser Gedanke allein – das Träumen und Pläneschmieden – hatte ihm die zähflüssigen Tage und die endlosen Nächte erträglich gemacht. Genau zweitausend vierhundert zweiundneunzig in dieser tristen, stinkenden, tosenden Hölle; dann weitere zweihundertundeinundfünfzig seit der Begnadigung, während derer er tagsüber im zwanzig Meilen entfernten Londonford dahinvegetiert und geschuftet, die Abende jedoch in Tarkington verbracht hatte. Diese Abende waren seinem Schritt um Schritt sorgfältig vorbereiteten Plan vorbehalten, dessen Durchführung ihn heute, bald, jetzt wieder zum Leben erwecken würde. Eine kalte Erregung kreiste durch seine Adern, pulsierte gedämpft, während er weiterfuhr. Fast acht Jahre – er würde sie wettmachen, Stück um Stück doppelt und dreifach vergelten, in dieser einen Nacht, die sich wild und verlockend vor ihm erstreckte.

Es war die ruhigste Zeit des Abends. Zwielicht, kaum Verkehr auf den Straßen, viele Fenster bereits erleuchtet. Die Kleinstadt Tarkington, behaglich und sicher eingebettet zwischen zwei Berkshire-Hügeln, im Norden durch die Arme eines buchtenreichen Sees geschützt, holte zwischen des Tages Arbeit und des Abends Entspannung und Vergnügen Atem. Sogar jetzt noch empfand er einen Anklang neidischen Heimwehs in seinem Haß: auch darum hatten sie ihn betrogen, um dieses Gefühl der Geborgenheit, das sie schon nicht mehr bewußt wahrnahmen, so selbstverständlich war es ihnen. Er rollte an der Wharton-Mühle vorüber, die sich zur Fabrik entwickelt hatte, abweisend klotzig und düster, graue Fabrikhallen hinter hohen Maschendrahtzäunen. Na, in ein paar Stunden würde nicht mehr viel von ihnen übrig sein. Am Morgen wird sich die ganze verdammte Stadt nicht mehr wiedererkennen. Und nicht mehr so behaglich sein, so sicher, niemals wieder.

Wie Richter T.H. Stuttaford – auch er hatte seine Schuld begleichen müssen, als Toter.

Der Wagen fuhr unauffällig und mit normaler Geschwindigkeit, nicht zu schnell, nicht zu langsam, vorbei an dem von vier Straßen eingerahmten Platz, ein von Wegen durchzogenes Rechteck mit Bäumen und Rasen, in den Neuengland-Staaten traditionsbewußt ›Common‹, in kleineren Orten ›Green‹ genannt, dem Mittelpunkt der Stadt. In seinem schäbigen Heimatort im südlichen Illinois hieß das Ganze Marktplatz und sah mit dem rauchgeschwärzten Gerichtsgebäude an der Längsseite weniger ordentlich aus. Hier dagegen erhob sich ein dreistöckiger, imposanter Justizpalast aus weißem Granit, efeuumrankt, dessen klassizistische Fassade in scharfem Kontrast zu den chromblitzenden Schaufenstern der Geschäfte, den behäbigen Wohnhäusern im Kolonialstil und den imitierten dorischen Säulen der Kirche stand. Als er am Justizpalast vorüberfuhr, in dem auch das Gefängnis untergebracht war, rief er sich zur Ordnung. Es war noch zu früh, sich Theron Diehl vorzuknöpfen. Die Zeit war noch nicht gekommen, sich an die angeknacksten Rippen zu erinnern, an das steife Genick, die geschwollenen, entzündeten Hoden oder an den kalten Revolverlauf an seiner Wange und die sanfte Stimme, die in breitem Texanisch auf ihn einredete: »Weiter, Junge, sperr den Mund weiter auf, wenn dir die Kugel nicht noch ein paar Zähne zerschmettern soll. Wenn du natürlich jetzt endlich ein Geständnis ablegen willst …« Theron Diehl, inzwischen Polizeichef Diehl, kam später an die Reihe. Alle kamen sie heute noch an die Reihe.

Er reckte sich und schaltete das Radio ein. Nach einem kurzen Rauschen ertönte eine Stimme, unverwechselbar ein Yankee, der Anweisungen an einen Streifenwagen in jenem nasalen Tonfall erteilte, der Boyd Ritchie vor acht Jahren das Fürchten lehrte. In einer so kleinen Stadt ersparte sich die Polizei die Mühe, sich per Code zu verständigen; so hatte er sich auch nicht damit befassen müssen. Er brauchte lediglich einen Empfänger mit der Polizeifrequenz einzubauen, und schon konnte er die ganze Nacht verfolgen, zu welchen Aktionen sich die Provinzschweine entschlossen.

Vorsichtig gab er mehr Gas, um nicht zu verraten, welch starker Motor sich hinter der alltäglichen Karosserie verbarg. Es reichte, daß die Pferdestärken vorhanden waren, für den Notfall. Er hatte den Z-28-Kurztaktmotor selbst eingebaut und frisiert und entsprechend im Differential die Getriebeübersetzung ausgewechselt. Mit voller Pulle kam er nun auf neuntausend Umdrehungen, keiner ihrer Streifenwagen konnte es damit aufnehmen, geschweige denn auf Schußweite aufrücken. Sollte es tatsächlich einem gelingen, so konnte keine Kugel das Glas durchdringen, das er persönlich an allen Seiten eingesetzt hatte. Der Witz dabei war, daß sie ihm das alles selbst beigebracht hatten. Die Sträflinge sollten doch ein nützliches Handwerk erlernen, während sie ihre Schuld gegenüber der Gesellschaft abbüßten. Er hatte gut aufgepaßt.

Auf dem Hügel zum College hinauf ließ er seine Pferdchen laufen. Während er in seinem Vega saß, amüsierte ihn der Gedanke, daß nur wenige Professoren und noch weniger Studenten wußten, wer Lope de Vega war. Sonst hatte wahrscheinlich noch keiner aus der Stadt von dem spanischen Dichter und Dramatiker gehört, nach dem nun unverständlicherweise ein amerikanischer Autotyp benannt worden war. Und wer seinen Namen je gehört hatte, der hatte ihn wieder vergessen. Ihm ging es auch nicht anders. Der ganze schöngeistige Scheiß hatte für ihn die Bedeutung verloren. Dafür hatten sie schon gesorgt. Das College war in Wirklichkeit eine Universität, doch der Name blieb: Tarkington College. Dem Messingschild am Fundament des Verwaltungsgebäudes nach, das er im Lauf seiner Erkundungen inspiziert hatte, war das Institut 1879 gegründet worden. Während er nun zwischen den weißen, mächtigen Gebäuden hindurchfuhr, fragte er sich wieder, was aus ihm geworden wäre – als Mensch und als Berufstätiger –, wenn er vier der acht vergangenen Jahre dort hätte verbringen können; wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, den Plan auszuführen, der ihn damals in diese Stadt geführt hatte. Vom Hügel aus sah er in der Ferne die letzten roten Strahlen des Sonnenuntergangs: ein schwaches Schimmern in der einsetzenden Dunkelheit. Nach dem Mond brauchte er nicht zu suchen: heute war Neumond. In diesem Breitengrad ging am heutigen Tag die Sonne um fünf Uhr vierundzwanzig unter. Nach einer Stunde und dreiunddreißig Minuten Zwielichts setzte die Dunkelheit ein; um sechs Uhr vierundfünfzig. Die Turmuhr des College schlug die Viertelstunde. In neun Minuten würde es dunkel sein.

Er bog um eine ihm inzwischen sehr vertraute Ecke in die Howells Street ein und verlangsamte das Tempo. Howells Street – eine gepflegte Wohngegend. Seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. Howells – schon wieder ein literarischer Name. Howells Street 1127. Und siehe da, Herr Professor Fletcher Briggs persönlich. Alles lief genau nach Plan, wie vorhergesehen. Wie ein Uhrwerk. Beim bloßen Anblick von Briggs wurde ihm übel. Er brauchte nur an diesen Kerl zu denken, und schon setzte es bei ihm aus. Sein Gehirn war wie weggeblasen. Im Mund ein metallener Geschmack.

Die hochgewachsene, knochige Gestalt ging von der Eingangstür des geräumigen, etwas verwitterten viktorianischen Hauses auf einen blauen MG-Sportwagen zu, der wie üblich in der Garageneinfahrt hinter einem beige-braunen Kombi-Wagen stand. Fletcher Briggs hätte er auf jeden Fall allein an seinem Gang erkannt: fast provozierend lässig und sorglos die Haltung, die mächtigen Schultern etwas vornüberhängend, latschende Schritte. Die Lässigkeit würde ihm schon noch vergehen. Doch noch nicht gleich, Fletcher Briggs stand als letzter auf der Liste. Am Ende, denn er verdiente die härteste Strafe. Die war ihm gewiß! Fletcher Briggs hatte ihm am schlimmsten mitgespielt. Er, der als einziger vorgab, auf seiner Seite zu stehen, der vom Gericht ernannte Verteidiger, er hatte gelogen, das Blaue vom Himmel herunter gelogen, ihm einen fairen Vergleich angeboten, während er die ganze Zeit mit der anderen Partei unter einer Decke steckte.

Fletcher Briggs zögerte neben dem Schlag des MG. Stieg nicht ein. Schaute zu dem frischen Laubwerk, dem dunklen Himmel empor, und setzte sich dann mit langen, schlaksigen Schritten auf dem Bürgersteig in Richtung Campus in Bewegung.

Eine kleine Fehlkalkulation. Unwesentlich. Sonst war Professor Fletcher Briggs immer zum Campus gefahren. Mit geringfügigen Abweichungen mußte man eben rechnen. Ob der Professor nun zum Campus ging oder fuhr, das beeinträchtigte den Gesamtplan nicht. Trotzdem, dies war erst der Anfang, und wenn andere seiner Opfer spontan irgendwelchen Launen nachgaben … Mit zusammengebissenen Zähnen gab Boyd Ritchie Gas und ließ den Motor dumpf aufheulen. Der Bastard. Der Arsch. Er fuhr doch immer. Immer. Nicht, daß Boyd Ritchie auf unvorhergesehene Zufälligkeiten unvorbereitet war. Trotzdem fluchte er laut vor sich hin. Heute hatte alles so zu laufen, wie er wollte. Alles. Und niemand hinderte ihn daran. Nichts und niemand. Heute war seine große Nacht.

Jedenfalls mußte er seine Karten kühl ausspielen. Er wettete, um jeden Betrag, daß Fletcher Briggs keine Ahnung hatte, wo sich seine Tochter Peggy im Augenblick herumtrieb. Oder wo sein Sohn David steckte. Er aber wußte es. Und deshalb hatte er die Zügel in der Hand. Er wußte Bescheid. Genauso wußte er auch, warum Fletcher Briggs nun auf dem Weg in sein Büro war. Ein braver, solider Bürger, Ehemann, Vater, Hochschullehrer für Jurisprudenz, achtbar und geachtet – ein Heuchler, wie sie alle. Aufgeblasen und unecht. Er wußte, wo der verlogene Arsch hin wollte, und warum; er kannte sogar ihren Namen, alles. Er hatte über alles und jeden hier in dem verdammten Kaff Informationen. Daher seine Macht. Heute war er Gott, alleiniger Gott. Und am Morgen – Beginn der Dämmerung war um vier Uhr zehn, Sonnenaufgang um fünf Uhr dreiundvierzig – würden sie alle begriffen haben, wer hier Befehle gab.

 

Er hätte doch lieber fahren sollen, dachte Fletcher Briggs, als er durch raschelndes Laub schlurfte. Einer momentanen Laune nachgebend, hatte er sich zum Spaziergang entschlossen, um mehr Zeit zum Überlegen zu haben, aber genau das wollte er in Wirklichkeit gerade nicht. Auch die Hoffnung trog, ihm würde die körperliche Anstrengung nach der Auseinandersetzung mit Willa gut tun. Eine Auseinandersetzung war es eigentlich nicht gewesen. Willa war kein Mensch, der Szenen machte. Obwohl er sich manchmal einen handfesten Krach verzweifelt herbeiwünschte. Wenn sie doch einmal explodieren, ihn anschreien, ihn bestürmen würde. Wenn sie doch einmal ausspuckte, was sie wirklich beschäftigt. Das würde ihm die Möglichkeit geben, zu reagieren, vielleicht sogar es zu verarbeiten, auf jeden Fall aber dahinterzukommen. Meistens war sie sanft und weiblich, aufgeschlossen und lebhaft wie früher, munter wie die bäuerlichen Kasacks, die sie gern trug, seit sie vor ein paar Jahren auf dem College einen Kurs in Bildhauerei belegt hatte. Im Schein der Kerzen, wenn sie abends zusammen speisten, sah sie noch immer gut aus: dunkle, tiefliegende, leuchtende Augen in einem ovalen, blassen Gesicht, nur wenige Strähnen von Grau im schwarzen Haar, das sie in der Mitte gescheitelt und zu zwei Zöpfen geflochten hatte. Doch was lag dahinter? Unvermittelt und ohne ersichtlichen Grund konnte eine Kälte und Härte zum Vorschein kommen, die zu verbergen ihr nicht mehr gelang, selbst wenn sie es wollte.

»David braucht etwas«, hatte sie heute gesagt, »etwas, was du –«

»Ja?«

»Etwas, was du ihm leider nicht geben kannst.«

Damit war sie vom Tisch aufgestanden und in der Küche verschwunden, während er über David nachgrübelte und überlegte, was er tun sollte, und ob es überhaupt erforderlich war, etwas zu tun. Zum Teufel, David war immerhin schon sechzehn. Wenn sie Hasch damit meinte, das rauchten inzwischen alle. Wenn nicht gar Stärkeres. Und er war verdammt sicher, daß David auf keine härteren Drogen umgestiegen war. Allerdings hatte sich David in letzter Zeit mehr und mehr in sich zurückgezogen, war ihm ausgewichen, und seine dunklen Augen, wie Willas, waren unstet, verwaschen. Ein weiterer Fremdling. Abweisend. Immer mehr hatte Fletcher Briggs das Gefühl, sein Haus mit drei Fremdlingen zu teilen. Und es war Willa auf ihre stille Art gelungen, die Schuld daran ihm zuzuschieben, in kleinen Dosen Zweifel und Minderwertigkeitsgefühle in ihm zu säen. Ihrer Meinung nach – und wenn Willa eine Meinung vertrat, dann war es die einzig richtige und gültige – tat es seiner Männlichkeit Abbruch, daß er sein tatenloses Zusehen weder rechtfertigen wollte noch konnte. Die gleiche kastrierende Wirkung hatte er in den vergangenen Monaten – oder waren es schon Jahre? – des öfteren bei ihren sexuellen Begegnungen gespürt. Nicht immer: manchmal war sie noch genauso gelöst und sanft und hingebend, so erregt und befriedigend wie in all den früheren Jahren. Doch dann lag sie wieder passiv und hölzern da, abwesend und distanziert, mit geschlossenen Augen, so daß er sich hinterher ausgehöhlt und elend fühlte, auf sie böse war, auf sich selbst, auf das ganze Leben. Worauf besonders? Kam es darauf an?

Er schritt schneller aus. Ein kühler, beißender Wind strich über den Hügel. Er dachte an Annette. Er dachte an die halbvolle Flasche Scotch in seiner Schreibtischschublade.

Was war zwischen ihm und Willa in den langen Jahren geschehen? Wie war es so gekommen? Irgendwo wurden Blätter verbrannt. Diesen Geruch hatte er immer besonders gemocht, nichts sonst roch wie verbranntes Laub. Jetzt stieg er ihm ätzend in die Nase und erinnerte ihn nur daran, daß der Winter vor der Tür stand. Wieder ein Winter. Wohin waren die Jahre verschwunden? Die Aufregungen und Verheißungen, die Hoffnungen und das Herzklopfen, an denen man erkannte, daß man lebendig war … war all das vorbei? Seit wann hat das Leben seinen Reiz, seinen Duft verloren? Empfand Willa es ebenso?

Er brauchte einen Drink. In der letzten Zeit hatte er oft das Bedürfnis danach. Nur hier und da einen kleinen Schluck, damit sein Kopf besser funktionierte. Zugegeben, die Schlucke wurden häufiger. Richtig betrunken war er nie, jedenfalls nicht seit seinen Studententagen, seit seiner Heirat. Nicht einmal bei Parties. Willa ahnte nichts von seinem Trinken, das wußte er mit Bestimmtheit. Ebenso bestimmt wußte er, daß er eines Tages in der Öffentlichkeit betrunken sein würde, nicht nur bei Parties, und dann wüßte Willa Bescheid.

Hilflosigkeit überfiel ihn wieder, Unzufriedenheit. Gedämpft. Keine so heftigen Emotionen wie Verzweiflung oder Mutlosigkeit, nur so eine Art Melancholie, eine Depression, gegen die er noch kein Mittel gefunden hatte.

Als die Turmuhr sieben Uhr schlug, ging er auf dem Campus von einem schwankenden Lichterkreis der soeben angezündeten Lampen zum nächsten. Hell, dunkel, hell. Auf einem entfernten Weg sah er ein Mädchen Arm in Arm mit einem Jungen. Einen schmerzlichen Herzschlag lang dachte er, es sei Peggy, doch dann sah er, daß er sich geirrt hatte. Das Mädchen hatte ebenso lange, rötliche Haare, einen Schein heller als seine, die ihr seitlich ins Gesicht hingen, und es war ebenso groß und schlank wie Willa, aber …

»Woher soll ich wissen, wo sie steckt?« hatte Willa in einem herausfordernd neckenden Ton gefragt, dem jede Wärme fehlte.

»Ich habe mich nur erkundigt, warum die beiden nicht zum Abendessen kommen, wenigstens eines der Kinder, gelegentlich mal.«

»Frag sie doch. Bin ich meiner Tochter Hüter?«

Ihr Tonfall war ihm auf die Nerven gefallen. »Ja, zum Teufel, das bist du!«

»Ach, und du nicht? Bist du etwa als Vater in den Ruhestand getreten?«

Eine berechtigte Frage und so deutlich, daß er in Schweigen versunken war. Er hatte nur noch den Gedanken, wegzukommen, und so war er ohne einen Gruß aus dem Haus gegangen.

Das Gebäude der Juristischen Fakultät lag nun vor ihm, und er entdeckte, daß das Fenster seines Büros im zweiten Stock erleuchtet war. Annette. Das schlummernde Schuldgefühl regte sich wieder: ahnte oder wußte Willa etwas davon? Lag darin die Erklärung für ihre Launen? Nein, beschwichtigte er sich, nein, denn wegen dieser Launen hatte er sich ja nach zwanzig Ehejahren die Freiheit genommen, sich für eine andere zu interessieren. Also, erst die Launen, dann der Seitensprung, konstatierte er mit Selbstironie. Also. Doch hundertprozentig sicher war er nicht.

Er beschleunigte seine Schritte. Willa hatte trotz seiner langen Erklärungen nie begriffen, warum er vor sechs Jahren seine florierende Rechtsanwaltspraxis wegen einer außerordentlichen Professur aufgegeben hatte. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen betrachtete sie es als Rückschritt. Zugegeben, in gewisser Weise war es das. Ein Rückzug in die Welt der Theorie und Wissenschaft über das Gesetz, wo es für Idealismus, wenigstens in der Theorie, noch Raum gab. Eine Auflehnung gegen Eitelkeit und Bösartigkeit, Intrigen und Ränkespiel, gegen den Zynismus, mit dem die Rechtsprechung in stillschweigender, allgemeiner Übereinstimmung betrieben wurde. Zum Henker, ja, er hatte die Nase voll von Absprachen und vom Ausverkauf des Rechts; von all denen, die geschworen hatten, das Recht hochzuhalten, und die es aus persönlichen, finanziellen, politischen oder egoistischen Gründen verdrehten und umgingen, wo immer sie konnten. Kein Rückschritt, sondern ein Rückzug in stillere Gefilde.

Ein Schatten bewegte sich hinter dem erleuchteten Bürofenster. Er hatte seinen Entschluß nur mit Willa besprochen – und viel später erst mit Annette. Sie war Studentin im letzten Semester und seine Assistentin und hatte ihn sofort verstanden. Sie hatten oft darüber gesprochen, sie konnten miteinander reden, und sie taten es. Diese Gespräche, dieses gegenseitige Verständnis für grundlegende Probleme hatte, wenigstens zum Teil, zu ihrer jetzigen Beziehung geführt, über die nachzudenken sie beide vermieden. Wie sollte es weitergehen? Konnte es weitergehen?

Er betrat das dunkle Gebäude und stieg mit hallenden Schritten die Treppe hinauf. Die Ironie dabei – wie bei eigentlich allem – war, daß er sich im Kreis bewegte, daß sich der Kreis wieder geschlossen hatte. Idealismus wird zum Skeptizismus, ja inzwischen fast zum Zynismus. Die schlichte und bedrückende Wahrheit war, daß er keinerlei gültigen Wertmaßstab mehr hatte, auch nicht in bezug auf sich selbst. Er war unfähig, Beziehungen zu einer ihm sinnlos erscheinenden Gesellschaftsstruktur herzustellen; sein Privatleben war so durcheinandergeraten, daß er befürchtete, nie mehr eine klare Linie zu finden, auch nicht durch größte Willensanstrengung; er zeeifelte an seiner Fähigkeit, vernünftige Entscheidungen zu treffen und durchzuführen, um sein Schicksal oder auch nur sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen – verdammt, er schwankte und schleuderte und hatte Angst, genau wie alle anderen, und manchmal meinte er, es komme schon nicht mehr darauf an. Und doch, wenn er von Annette oder einem eifrigen Studenten in die Enge getrieben wurde, behauptete er immer noch, daß der Mensch in jedem Augenblick selbst entscheidet, was er ist und was aus ihm wird. Ohne diese Entscheidungsfreiheit gäbe es ja keine Rechtfertigung für das Recht selbst.

Er öffnete die Tür zu seinem Büro. Annette hatte ihm einen Drink gemacht; er stand auf seinem Schreibtisch. Sie lächelte nicht. Sie saß auf der Couch und betrachtete ihn ernsthaft, als er den Papierbecher an die Lippen hob.

Dann sagte sie: »Ich war neugierig, wer von uns zuerst hier ist.«

 

Der untersetzte Mann Mitte Dreißig, den Hut in den Nacken geschoben, anstatt ihn abzunehmen, schaute nach jedem Schluck von seinem Rye-und-Gingerale über den Tisch zu ihr hin, doch kein Mal wandte sie ihm ihr schmales hübsches Gesicht zu, sondern sie ließ ihre Blicke durch die fast leere Bar schweifen. Ein besonders gepflegtes Lokal war es nicht, nicht wie sie es gewohnt war, aber, zum Teufel, das war ja der Grund, warum sie hier mit ihm saß. Sie wollte einmal von dem ganzen gesellschaftlichen Kram fortkommen. Das hatte sie jedenfalls gesagt, und zwar mehr als einmal.

»Beruhige dich, Baby«, sagte er. »Niemand von deinen Bekannten kommt in so eine Kneipe. Du bist in Londonford, Baby, über zwanzig Meilen von zu Hause. Und außerdem verkehrt niemand aus deinen Kreisen in so finsteren Kaschemmen, wenn sie sich bei uns Arbeitern nicht gerade anbiedern wollen. Stimmts?«

»Hör doch auf, mich immer daran zu erinnern«, protestierte sie mit dünnen Lippen und blies Rauch aus. »Warum mußt du immer darauf herumreiten?«

»Schon gut. Dann reite ich eben auf etwas anderem herum …«

»Bitte, fang nicht wieder damit an.«

»Warum zum Teufel, soll ich die Polizei nicht anrufen?«

»Ich möchte nicht …«

»Wir haben doch beide die Explosionen gehört. Das hast du selbst zugegeben.«

»Auf der ganzen Fahrt von Tarkington hierher habe ich dir erklärt, daß es Fehlzündungen waren.«

»Und der Lichterschein zwischen den Bäumen? Das war wohl ein Gespenst, was?«

»Ich verstehe nicht, warum du ausgerechnet beim Friedhof parken mußt, wenn wir schon wie zwei Schulkinder im Auto miteinander schlafen. Ich finde das schon reichlich makaber.«

»Ich leide eben nicht unter Einbildungen. Wenn auf dem Friedhof nichts passiert, warum dann nicht …?«

»Und wenn du schon mit mir schläfst, dann könntest du wenigstens ganz bei der Sache sein.«

Er schüttete den Rest seines Drinks hinunter. Das Gezänk ging ihm auf die Nerven. »Verdammt, Baby, ich will nur meine Pflicht tun. Ich muß der Polizei ja nicht meinen Namen nennen. Oder deinen.«

Ihre Augen blitzten ihn eiskalt an. »Wenn du das tust, dann sind wir fertig miteinander.«

»Ich laß mich von keiner Frau herumkommandieren«, entgegnete er sehr ruhig.

Mit dem gleichen Ausdruck erklärte sie kühl und beherrscht und leise: »Du weißt, was mit mir passiert, wenn mein Mann jemals dahinterkommt.«

»Ich hab schließlich auch eine Frau.«

Sie drückte die Zigarette aus und machte achselzuckend mit der Hand eine wegwerfende Geste. »Die Polizei unternimmt ohnehin nichts auf einen anonymen Anruf.«

Aber er kannte die Geste nur zu gut und wußte, daß das Achselzucken ihm und nicht dem Anruf bei der Polizei galt. Er erhob sich. Ihre Augen weiteten sich. Er nahm das Wechselgeld vom Tisch, wortlos.

»Es war mir ernst. Was dort auch los war, uns geht es nichts an. Warum sollen wir uns da einmischen?« Es klang weder beschwichtigend noch bittend.

Er wandte sich ab und ging mit steifen, schweren Schritten zum Telefon. Während er mit der Vermittlung und dann mit der Polizei von Tarkington sprach, stand sie auf – schlank, sehr elegant und begehrenswert –, sammelte ihre Sachen zusammen und verließ mit hoch erhobenem Kinn und ohne einen Blick zurück das Lokal. Schwerfällig setzte er sich wieder an den Tisch und bestellte mit Fingerzeichen einen Doppelten. Der Anflug von Bedauern war schnell vorüber. Sie hatte eine Ausrede gesucht, und nicht erst heute. Nach dem ersten Schluck merkte er, daß er nicht mehr nervös war, eher erleichtert. Er schaute sich um: das war eine Kneipe, wie sie ihm gefiel. Er hob das Glas zu einem schweigenden Toast auf den leeren Platz gegenüber. Vielleicht hatte auch er einen Anlaß gesucht.

 

Abends saß Vincent Stegner nach dem selbst zubereiteten Essen gern auf der Veranda seines Holzhäuschens und lauschte in die Wälder hinaus. Sommer war natürlich die beste Jahreszeit, aber auch im Herbst gab es in der Natur vieles Schöne zu entdecken und zu beobachten, wenn man nur wollte, wenn man nicht ständig vor dieser Höllenmaschine saß, diesem flackernden Bildschirm, der in den letzten Jahren die ganze Menschheit vergiftete oder betäubte. Als alter, wenn auch noch aktiver und kräftiger Mann entsann sich Vincent Stegner sehr wohl noch der Zeit, als sich das Interesse am Mitmenschen in der persönlichen Begegnung ausdrückte, anstatt durch die Beobachtung erfundener und oft verzerrter Bilder. Außerdem schenkte die Natur Frieden. Sie folgte zwar ihren eigenen Gesetzen der Gewalt und der Grausamkeit – die mußte der Mensch akzeptieren –, aber sie kannte nicht dieses Ausmaß niederträchtiger Brutalität, das angeblich und allgemein akzeptiert die Handlungen des Menschen auf dem Bildschirm bestimmte.

Es überraschte ihn, als sich Scheinwerfer näherten, aber er hatte keinen Grund, beunruhigt zu sein. Vielleicht kam Coralie Wharton früher als sonst; heute war ihr Besuchsabend. Aber der Wagen in der Dämmerung sah fremd aus: ein kleiner Chevy oder Ford, dunkel oder grau lackiert. Er hielt und die Scheinwerfer erloschen. Vincent Stegner blieb sitzen.

»Mr. Stegner, Sir?« rief eine Stimme, die jung klang, angenehm und freundlich. »Mr. Stegner?«

»Ja, der bin ich.«

»Dann bin ich hier am richtigen Ort!« Das klang erfreut. »Sie kennen mich nicht, und ich möchte Ihre kostbare Zeit auch nur kurz in Anspruch nehmen, wenn Sie gestatten. Da Sie kein Telefon haben, bin ich hergefahren.«

»Zeit hab ich schon, junger Mann, aber wenn Sie etwas verkaufen wollen, ich brauche nichts.«

Der junge Mann lachte beim Näherkommen einmal herzhaft auf. »Das können Sie nicht wissen, ehe ich Ihnen nicht gesagt habe, was ich vielleicht zu verkaufen habe, Sir.«

Vincent Stegner erhob sich aus seinem hölzernen Schaukelstuhl, ging mit arthritisch steifen Beinen durch die offene Tür in den Wohnraum und schaltete das Licht im Zimmer wie auch auf der Veranda an. Der junge Mann stand mittlerweile auf den Verandastufen; er war wirklich jung, schlank, elastisch in der Bewegung, hatte den Kopf etwas seitlich geneigt und trug einen dunklen Rollkragenpullover und eine Strickmütze, wie sie früher die Seeleute hatten. Seine blitzblauen Augen schauten fröhlich drein, fast übermütig.

»Darf ich eintreten, Sir?«

»Sie können reinkommen, aber ich kaufe nichts.«

Als er den anderen hereinführte, wurde Vincent Stegner etwas unsicher. Der Mann hatte einen Aktenkoffer bei sich – für einen Vertreter ganz natürlich –, aber er trug Handschuhe. An einem warmen Herbstabend wie heute.

»Sind noch recht spät auf Tour, was?« erkundigte sich Vincent Stegner mit dem ersten Mißtrauen, während er sein Gegenüber genauer beobachtete. Die Handschuhe waren aus dünnem, fleischfarbenem Gummi, wie Hausfrauen sie für Küchenarbeiten benutzen.

»Sie wissen ja, wie man so sagt – Morgenstunde hat Gold im Munde, aber je später der Abend, desto besser die Gäste.« Nun grinste er breit. »Ich bin wegen Ihrer Lebensversicherung hergekommen.«

Vincent Stegner lachte erleichtert. »Lebensversicherung? Junger Mann, ich bin vierundsiebzig, meine Frau ist vor Jahren gestorben, ich habe keine Haushilfe und keine Kinder – wozu brauch ich eine Lebensversicherung? Ich fürchte, Sie sind umsonst herausgefahren.«

Der junge Mann hörte nicht hin; er schlenderte durch den großen, hohen Raum. Er trug dunkle Tennisschuhe – seltsam für einen Vertreter. »Mr. Stegner, Sie haben es hier wirklich hübsch. Eine echte Holzbalkendecke. Eichenverkleidung. Und die modernsten elektrischen Geräte. Und mir hat man gesagt, Sie wohnten in einer Hütte …«

»Es war wohl mal eine Skihütte. Aber hören Sie …«

»Sie müssen reich sein, wenn Sie sich so was leisten können, Mr. Stegner.« Der junge Mann stand ganz ruhig da und fixierte ihn mit blanken Augen.

Vincent Stegner wurde allmählich ärgerlich. »Das geht Sie nichts an, wer Sie auch sind.«

»Kein Grund zur Aufregung, Sir. Ich meine nur, daß ein Mann in Ihrer … finanziellen Lage sehr wohl eine Lebensversicherung braucht.« Nach einer knappen Pause fuhr er fort: »Weil er nicht weiß, wie lang er noch leben wird.«

Bevor Vincent Stegner etwas entgegnen konnte, stand der fremde junge Mann am Fensterbrett und nahm ein Fernglas in die Hand. Unvermittelt schleuderte er es durch das Zimmer, so daß Vincent Stegner es gerade noch fangen konnte. Nun legte der junge Mann seinen Koffer auf den langen, gescheuerten Holztisch und ließ ihn aufschnappen. »Schauen Sie durch den Feldstecher, Mr. Stegner. Vielleicht brauchen Sie ihn, um mich wiederzuerkennen.«

Blitzschnell, ehe der Alte sich rühren konnte, hatte er die Kappe vom Kopf gerissen und stand nun mit kahlem Schädel vor ihm. Mit einem dünnen Lächeln warf er die Mütze in den Koffer. »Nehmen Sie den Feldstecher, Sir.« Und mit einer schnellen Bewegung hatte er sich eine lockige, blonde Perücke über den Kopf gezogen.

In diesem Moment, viel zu spät, erkannte Vincent Stegner ihn wieder, und alles fiel ihm ein. Das übermütige Funkeln erlosch in den Augen, und ehe Vincent Stegner sich versah, traf ihn ein harter Faustschlag an der Wange, so heftig, daß sein Gebiß aus dem Mund fiel und er trotz seines Gewichts ein paar unbeholfene Schritte seitwärts torkelte.

»Ach, Mr. Stegner«, sagte Boyd Ritchie im Tonfall rührender Besorgnis, »was habe ich Ihnen angetan? Das muß wieder mein Jähzorn gewesen sein, Mr. Stegner. Sie kennen doch meinen Jähzorn, oder? Damals haben Sie doch gesehen, wie ich durchgedreht bin, oder?« Und als Vincent Stegner wegen der Schmerzen am Kiefer und dem Blut in seinem Mund nicht sofort antwortete: »Oder?!«

»Ich weiß nur … was ich gesehen habe … mit eigenen Augen.«

Boyd Ritchie trat einen Schritt vor, auf das Gebiß, das knirschend zerbrach. Er zog den Fuß zurück und schaute mit gespielter Reue auf den Boden. »Sehen Sie nur, was mir mit Ihren teuren Zähnen passiert ist, Mr. Stegner. Und sie bluten nicht einmal.«

Vincent Stegner spuckte ihm trotzig Blut vor die Füße. »Was haben Sie gemacht? Sind Sie ausgebrochen?«

»Die behalten keinen Menschen für immer hinter Gittern.« Wieder ein gutmütiges Lächeln. »Nicht einmal den alten Whitey. So haben sie mich genannt, auch die Wärter. Old Whitey. Deshalb habe ich Bewährung bekommen, Mr. Stegner.« Das alles in einem singenden Tonfall. »Weil ich zu allen freundlich gewesen bin. So brav wie ein Musterknabe. Das nennen die gute Führung.« Er zuckte die Achseln. »Wenn sie Sex wollten, hab ich mich hingebückt. Für Knastbrüder und Wärter. Whitey hat es allen recht gemacht. Und deshalb hab ichs überlebt. Hab mitgespielt. Nach ihren Regeln.« Er setzte die blonde Perücke ab und nickte. »Aber jetzt wird nach meinen Regeln gespielt.«

Das Lächeln erlosch. Vincent Stegner, elend und fröstelnd, starrte unwillkürlich den blanken Schädel an. Einen Augenblick lang erwog er, durch die Tür zu fliehen. Was dann? Er würde es nicht einmal bis zum Wagen schaffen. Also in den Wald, pechschwarz …

»Und jetzt will ich Ihnen meine Waren vorführen.« Schwungvoll drehte Boyd Ritchie den Koffer um, so daß Vincent Stegner den Inhalt erkennen konnte. »Na, was haben wir denn da? Schöne Spielsachen. Was? Ein richtiger Zauberkasten …«

Vincent Stegner spürte die Schmerzen im ganzen Kopf; er dachte an das Jagdgewehr, nie benutzt, weil er es nicht übers Herz brachte, ein Lebewesen zu töten. Er spuckte wieder Blut und merkte, daß sein Kiefer bereits heftig angeschwollen war. Boyd Ritchie kam ihm wie ein Schauspieler vor, ja, wie ein Schauspieler, der mit Genuß eine neue Rolle spielt. Und damit packte ihn die Wut, trotz aller Furcht. Vincent Stegner beschloß, daß er Boyd Ritchie irgendwie zur Strecke bringen mußte, ehe er …

»Schau-schau, ein Schießgewehr. Ganz kurz. Aber nicht für Sie, Sir. Für einen anderen, jemand, den Sie gut kennen. Und da, Leukoplast, dünner Draht, ein Seil. Und Cowboystiefel für einen Cowboy, den ich kenne. Und draußen im Wagen habe ich eine Falle, Mann, eine Raubtierfalle, für ein Raubtier, das ich kenne. Nicht für Sie, für ein anderes Vieh.« Er holte eine kleine Flasche mit einer wasserhellen Flüssigkeit heraus. »Säure. Für das Gesicht, die Augen.« Unvermittelt erstarrten seine Züge. »Ruhe im Gerichtssaal! Mr. Stegner bitte in den Zeugenstand.«

»Es gab keine Verhandlung, das wissen Sie genau.« Er nuschelte die Worte, weil ihm jede Bewegung wie ein Stich durch den Schädel fuhr. »Sie haben zugegeben, daß …«

»Mr. Stegner«, donnerte Boyd Ritchie, »betreten Sie den Zeugenstand!«

Da wurde Vincent Stegner die Hoffnungslosigkeit seiner Lage klar. Das Gift der Verzweiflung verbreitete sich langsam im ganzen Körper. Er war einfach hilflos. Trotzdem sagte er: »Ich kann Ihnen auch nichts anderes sagen als damals der Polizei und dem Staatsanwalt. Ich habe Mr. Heckmann erklärt, was ich sah, und ich weiß, was ich sah.« Es kam nicht mehr darauf an, welche Worte er wählte. Das spielte keine Rolle mehr.

Boyd Ritchie beugte sich über ihn. »Und was haben Sie gesehen?« Er schnurrte wie eine Katze vor einem feisten Kanarienvogel. »Bitte, erzählen Sie dem Gericht, was Sie tatsächlich gesehen haben.«

»Ich habe gesehen, wie Sie zum Boot hinausgeschwommen sind.« Trotz der Schwellung fühlte sich seine Wange wie eingefallen an; aber das war jetzt nicht der Rede wert. »Auf dem See. Ich habe gesehen, wie das Mädchen Anker warf, und dann sind Sie hinausgeschwommen.«

»Coralie Powell – so hieß das Mädchen doch, Mr. Stegner?«

»Ich weiß nicht mehr.« Da sprang ein böser Funke in die Augen des Jungen, und er hätte die Worte gern wieder zurückgenommen. »Ich habe gesehen, wie Sie hinausgeschwommen sind und sie an Deck verprügelt haben.«

»Durch Ihren Feldstecher.«

»Ich hab’s dem Staatsanwalt gesagt, und der Polizei und sogar Ihrem Verteidiger, und ich hätte es beeidet, wenn …«

»Warum habe ich sie an Deck verprügelt, Mr. Stegner?«

»Na, wie sie gesagt hat, weil sie nicht mit Ihnen nach unten in die Kabine gehen wollte.«

»Warum, Sir? War es an Deck nicht kühler?«

»An Deck konnten Sie sie nicht vergewaltigen.«

Boyd Ritchie nickte ernsthaft. »Oder sie ficken, Sir, während Sie zugeschaut haben. Wie kam es eigentlich, daß Sie zufällig Coralie Powell auf dem Boot ihres Verlobten beobachtet haben? Durch einen Feldstecher?«

Der Teufel sollte ihn holen, wenn er jetzt zu flehen und jammern anfing! Er wußte nicht, warum er das alles wiederholen sollte und warum er auch jetzt noch bei seiner Version blieb, aber in aller Benommenheit war ihm klar, daß er keine Wahl hatte. »Sie war das schönste Mädchen im Umkreis von fünfzig Meilen, und sie hatte auf dem Boot praktisch nichts an, deshalb.«

Boyd Ritchie blickte mit einem Mal betrübt und enttäuscht. Er hob die Plastikflasche in die Höhe. »Mr. Stegner, in diesem Gerichtshof setze ich die Richtlinien fest. Und falls Sie mir nicht sagen, warum Sie der Polizei und dem Staatsanwalt diese Geschichte erzählt haben, dann werde ich Ihnen das hier in die Kehle rammen. Oder vielleicht über Ihre … Geschlechtsteile gießen. Oder in Ihren verlogenen Arsch kippen.«

Vincent Stegner hielt den Atem an und starrte auf Flasche. Er gab es auf. Es war vorüber … warum sollte er sich länger quälen? Eine bleierne Lethargie überkam ihn und beschwerte jeden Muskel im ganzen Körper. Er schaute die Totenmaske unter dem kahlgeschorenen Schädel an. Kein Laut, keine Bewegung war im Zimmer, und anscheinend auch in der Umgebung nicht.

»Mr. Stegner, Sir, ich weiß, was Sie der Polizei gesagt haben. Und meinem Anwalt. Sie haben behauptet, Augenzeuge gewesen zu sein. Und jetzt will ich die Wahrheit hören. Was Sie wirklich gesehen haben. Wenn Sie mir jetzt, hier und jetzt die Wahrheit sagen, nichts als die Wahrheit, dann werden Sie nicht sterben. Möchten Sie weiterleben, Mr. Stegner … Sir?«

Es war nicht eigentlich ein Hoffnungsschimmer, der seinen Entschluß bestimmte; er rechnete weder mit einem Ausweg noch mit Gnade. Aber wenn seine Stunde sowieso geschlagen hatte …

»Wie Sie erwähnten, ich sah, daß sie den Anker auswarf, vom Boot des jungen Wharton, und Ihnen zuwinkte. Und Sie hinausgeschwommen und an Deck geklettert sind. Als wäre das abgemacht gewesen. Sie haben an Deck herumgesessen und mit ihr herumgemacht …«

»Ich habe sie nicht vermöbelt?«

»Dann sind Sie zusammen unter Deck gegangen. In die kleine Kabine hinunter.«

»Nur keine Eile, lassen Sie sich Zeit. Die Wahrheit braucht ihre Zeit. Und dann …?«

»Er kam vom anderen Ufer herüber, vom Club her, in seinem Motorboot.«

»Er?« Es war eine flehentliche Frage, unheimlich ruhig. »Er?«

»Paul Wharton. Der Junge, mit dem sie verlobt war. Und dann sind Sie an Deck heraufgerannt, vielleicht haben Sie oder das Mädchen ihn gesehen, und Sie sind ins Wasser gesprungen und zu den Wäldern hinübergeschwommen.«

»Und er hat mich verfolgt …«

»Sah so aus. Als wollte er Sie mit dem Außenborder überrennen.«

»Und ist mir in den Wald nachgelaufen …«

Vincent Stegner zögerte. Ein bißchen Hoffnung blitzte in seiner lähmenden Angst auf. Er schüttelte also den Kopf.

»Er hat abgedreht und ist zu seiner Yacht zurückgefahren.«

»Er ist mir also nicht in den Wald nachgegangen und hat mich nicht nach Strich und Faden zusammengeschlagen?«

»Sie wissen doch, daß er es nicht tat, oder?«

»Ich weiß nur, was alle Leute gesagt haben. Was alle geglaubt haben. Und was Sie bezeugen wollten, unter Eid … Sir.«

»Wharton ist zur Yacht gefahren und an Bord gestiegen und hat sie grün und blau geschlagen, auf dem Deck, hat ihr den Bikini vom Leib gerissen und sie in die Kabine gestoßen; dann ist er ihr nach.«

»An Deck vertrimmt und in der Kabine vergewaltigt …«

»Schon möglich. Ich weiß nur, was ich gerade erzählt habe, was ich gesehen habe. Das ist die Wahrheit.«

»Als sie mich geschnappt und eingeliefert haben, sah ich ziemlich mitgenommen aus. Wenn Wharton mich nicht verprügelt hat, wer dann?«

»Ich weiß nicht.« Viel ertrug er nicht mehr. Er war alt. Das ganze war ein Alptraum. »Ich weiß nicht. Bitte, gehen Sie weg. Ich habe alles gesagt …«

»Nur noch eine Kleinigkeit. Mr. Stegner … Sir. Bitte. Warum sind Sie mit all den Lügen zur Polizei gegangen?«

Im Wald schrie ein Käuzchen, und aus der Ferne hörte man in der Stille Frösche quaken.

»Warum? Ich habe acht Jahre lang darüber nachgedacht. Ich habe mir alles mögliche zusammengereimt. Wer hat Sie bezahlt, damit Sie zur Polizei gehen?«

»Niemand.«

Er sah, wie der junge Mann erstarrte, wie dann die Plastikflasche näherkam. »Bitte, Sir …«

»Sie hat mich nicht bezahlt. Nicht eigentlich.«

»Das Mädchen?«

»Coralie Wharton … sie ist jetzt Mrs. Wharton.« Und da der junge Mann nicht nickte, hatte Vincent Stegner den Verdacht, daß er über die Whartons und die anderen besser Bescheid wußte, als irgendwer sonst. »Sie hat gemerkt, daß ich sie beobachtet habe, und dann … dann kam sie zu mir. Sie wollte von jemand bestätigt haben, daß sie vergewaltigt worden ist.«

»Also ein Zeuge, der einen Sachverhalt bestätigt, Mr. Stegner. Wissen Sie, ohne Sie und Ihre Bestätigung hätte, im Falle einer Gerichtsverhandlung, ihre Aussage gegen meine gestanden. Wenn also Sie nicht gewesen wären, Mann … dann wären wir beide heute nicht hier, was?« Er verlor etwas die Beherrschung. Mit dunkel funkelnden Augen und verzerrten Lippen rief er: Sie verlogenes Schwein, raus damit, wer hat Sie bezahlt?«

»Damals niemand. Aber später, nachdem sie verheiratet waren …«

Boyd Ritchie wischte diesen Satz mit einer ungeduldigen Geste weg. »Daß sie dir was gezahlt hat, das weiß ich. Aber damals, da hat sie keinen Pfennig gehabt, nicht vor ihrer Heirat.«

Vincent Stegner wollte es wagen, damit es ein Ende nahm. »Es gibt für Frauen andere Arten, einen Mann zu bezahlen.«

Das brachte ein kaltes Lächeln bei Boyd Ritchie hervor. Er nickte. Es war, als hätte er eine Bestätigung seines Verdachtes gebraucht, um weitermachen zu können. »Danke. Der Zeuge kann Platz nehmen. Das Verfahren wird eingestellt. Der Angeklagte ist nicht schuldig.«

Boyd Ritchie wirkte gefährlich, wie er sprungbereit dastand, mit glitzernden Augen.

»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt«, entgegnete Vincent Stegner und merkte, wie jämmerlich seine Stimme klang. »Ich habe Ihnen ehrlich gesagt, was ich wirklich sah.«

»Sie sehen zuviel, Mr. Stegner.« Gespannt und mit seitlich geneigtem, kahlem Schädel betrachtete er den alten Mann. »Das ist Ihr Fehler, Sir. Sie sehen zuviel, sogar Dinge, die gar nicht existieren.«

Doch Stegner wußte nun, daß er hereingelegt worden war: der junge Mann hatte gar nicht die Absicht, ihn lebend davonkommen zu lassen. »Bringen wir’s hinter uns!« schrie er unbeherrscht. »Bringen Sie mich doch um!«

Doch Boyd Ritchie schüttelte den Kopf, mit einem aufflackernden Lächeln. »Mann, da, wo ich herkomme, gibt es reihenweise Killer. Alle Sorten. Was nützt ein Mord? Ich will niemand töten. Das wäre ein zu leichter Ausweg. Für mich wie für die anderen. Wenn ein Mensch gestorben ist, dann büßt er nicht mehr für seine Übeltaten.« Er hob das Fläschchen wieder hoch und führte es bis dicht vor das Gesicht des Alten. »Es gibt viel bessere Möglichkeiten als Töten. Jeder bekommt, was er verdient … Auge um Auge. Sperren Sie den Mund auf, bitte, Mr. Stegner. Machen Sie das Maul auf, damit ich Ihre verlogene Zunge sehen kann.«

Er wollte nicht. Er biß die Zähne zusammen. Lieber ließ er sich umbringen. Er fixierte Boyd Ritchie mit den Augen und wartete.

»Ich werde niemand töten, Mr. Stegner.«

Dann schien er es sich anders zu überlegen. Er schraubte die Flasche zu und legte sie in den Aktenkoffer. Statt dessen holte er eine Rolle dünnen Kupferdraht heraus, der im Licht aufblitzte. Er zeigte mit einem Finger auf das Fernglas, das Vincent Stegner mit kraftloser Hand noch immer umklammerte. Der Alte reichte es ihm mit Mühe.

»Ist das dasselbe, Stegner? Durch das Sie alles so genau gesehen haben?«

Stegner nickte, benommen von den steten Schmerzen im Mund und am Kiefer; er schmeckte Blut.

Boyd Ritchie schmetterte den Feldstecher gegen die Tischkante. Es schepperte metallisch, und das Glas zersprang klirrend. Boyd Ritchie hob einen der spitzen Glassplitter auf.

Dann sagte er sanft: »Es macht nichts, wenn Sie brüllen, Mr. Stegner. Wenn es zu weh tut, können Sie ruhig schreien, mich stört das nicht … Sir.«

 

Ehe Theron Diehl den Hörer auflegte, wartete er noch einen Moment auf das Klicken, das unweigerliche Klicken vom Anschluß im Schlafzimmer. Er blieb noch eine Weile an dem Schreibtisch in dem kleinen Zimmer sitzen, das er sich vor einem halben Jahr als Arbeitsraum hergerichtet hatte, nachdem sein Entschluß gefallen war, ein Buch zu schreiben. Die handgeschriebenen Manuskriptseiten wuchsen allmählich zu einem ganz hübschen Stapel an; sie lagen ordentlich, aber noch nicht abgeschrieben in einem hölzernen Aktenkorb. Überhaupt spiegelte der ganze Raum Theron Diehls pedantischen Sinn für Ordnung und Genauigkeit wider. Er trank den letzten Schluck seines zweiten Bourbon aus – drei war das Limit pro Abend, das er sich gesetzt hatte, und daran hielt er sich. Dann ging er durch den engen Korridor in das Schlafzimmer seiner Frau.

Nell Diehl war eine zierliche, zarte Frau. Sie lag im Bett. Ihre Konturen wirkten fast wie eine längliche Falte. Wie üblich starrte sie mit ihren dunklen Augen abwesend auf den Bildschirm, wie üblich mit gekrauster Stirn. Ohne den Kopf zu drehen, sagte sie im gedehnten texanischen Tonfall: »Du gehst wieder weg, was?« Es klang rührend und bettelnd und zänkisch in einem.

»Ben hat gesagt, es ist wichtig, Nell.« Er sprach mit tiefer und warmer, besänftigender Stimme. »Sonst würde er auch nicht wagen, mich zu stören.« Er ignorierte wie immer den plärrenden Fernseher, ebenso wie die Tatsache, daß sie vom Nebenanschluß aus jedes Wort des Anrufs mitgehört hatte. »So gewaltig wird’s wohl nicht sein. Aber wenn er meint …«

»Du läßt mich wieder allein. Wie immer.«

Theron Diehl, Polizeichef von Tarkington, war schon seit Monaten nicht mehr nachts in sein Büro im Gerichtsgebäude gerufen worden, und deshalb ging ihm das ›wie immer‹ gegen den Strich. »Ich könnte ja nebenan vorbeigehen und Mrs. Emmett herüberbitten.«

»Mrs. Emmett ist nicht zu Hause. Sie hat einen Babysitter, und die hat ihren Freund dabei.« Es verblüffte Theron Diehl immer wieder, wie gut seine Frau über alle Vorkommnisse in der Nachbarschaft unterrichtet war, obwohl den ganzen Tag der Fernseher lief und sie die Nase in der Bibel hatte. »Und du könntest doch inzwischen wissen, daß ich die Frau nicht in meinem Haus haben will. Sie ist wie die anderen. Du weißt, ich kann Mitleid nicht ausstehen, Theron. Das weißt du doch!«

»Es ist nur ein Schabernack im Friedhof. Es wird nicht lang dauern.«

»Wenn das stimmt, ist es auch nicht wichtig. Und mir paßt die Art gar nicht, wie dir Mrs. Emmett schöne Augen macht. Sie denkt wohl, ich wüßte nicht, was für schmutzige Gedanken so in den Köpfen herumspuken. Auch in deinem. Als wüßte ich nicht, wie dir die Weiber im Ort nachlaufen.«

Theron Diehl beugte sich zu ihr hinab und gab ihr wortlos einen Kuß auf die trockene, faltige Stirn. Dann ging er in die Diele und holte das Halfter mit seinem Colt von dem Hutständer, den er eigens vom Süden hatte kommen lassen. Er schnallte das Halfter um seine straffe, schmale Taille, so daß der perlmutterne Griff an der linken Hüfte herausragte; so konnte er den Colt .45 überkreuz ziehen, wie er es sein Leben lang gewohnt war.

Ihre Stimme verfolgte ihn wie das Klagen des Windes: »… du willst mich verlassen … läßt mich schon wieder allein im Haus … nicht genug, daß du mich in den kalten Norden verschleppt hast … keine freundlichen Leute, alle so abweisend …«

Und während er in das blaue Uniform-Jackett schlüpfte, erstand vor seinen offenen Augen eine bedrückende Vision: Nell, wie sie als Mädchen gewesen war; leuchtende Augen in einem geröteten, munteren Gesicht, während die Geigen weinten und die Banjos schrummten; gertenschlank und verführerisch drehte sie sich im Reigen, und ihr weiter Bauernrock wirbelte.

»… Friedhof, Unsinn. Ihr Männer haltet doch zusammen, mit euren Ausreden, um uns Frauen anzuführen … Frauen und Pokern oder beides …«

Ausgehfertig und in Gedanken bei dem dritten Bourbon, den er sich erst bei seiner Rückkehr genehmigen wollte, ging er noch einmal in das Schlafzimmer, den Kopf eingezogen in der für ihn typischen Haltung. »Nell, mach dir keine so dummen Gedanken, hörst du! Ich bin, so schnell ich kann, wieder da. Aber wenn du es unbedingt willst, kann ich mich noch ein bißchen zu dir setzen.«

Nun schaute sie ihn an, aus traurigen, resignierten und glanzlosen Augen. »Nein, Theron. Ich möchte dir nicht den Spaß verderben, auch wenn es Sünde ist. Geh nur fort. Ich hab meine Bibel. Ich laufe dir in der Zwischenzeit nicht weg.« Der eingefallene Strich von einem Mund kräuselte sich zu einem blassen, selbstironischen Lächeln. »Ich bin dir sicher.«

Er wandte sich ab und marschierte zu dem schwarzen Streifenwagen hinaus, der in der Auffahrt parkte. Oakwood Drive gehörte zu einer älteren Vorortsiedlung mit mehr oder weniger gleich aussehenden, dicht aneinandergerückten Holzhäusern. Abgesehen von einigen Häusern im Kolonialstil, hätte die Straße ebensogut in eine der kleinen texanischen Ortschaften gepaßt, in denen er bis vor neun Jahren gelebt hatte. Er hatte dieses Haus ausgesucht, weil dahinter ein Bach plätscherte, ein erfrischendes, beruhigendes Geräusch für seine Ohren. Er fand den Auftrag nicht der Mühe wert, um die Sirene und das Blaulicht einzuschalten. Als er an dem Schild BROOKFIELD KNOLLS vorbeifuhr, drehte er das Funksprechgerät aus, damit er ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte.

Obwohl keiner heute abend etwas nennenswert anderes gesagt hatte, als er in tausend Variationen in den fast vierzig Jahren ihrer Ehe gehört hatte, konnte er Nell heute nicht so leicht wie sonst vergessen. Er hatte ihr die Diagnose erspart, die damals ein Facharzt in Boston gemacht hatte. Und manchmal glaubte er, das sei ein Fehler gewesen. Wir können mit einer gewissen Sicherheit nur so viel sagen, daß Ihre Frau organisch gesund ist. Sie wollen von mir wissen, ob sie wieder laufen können wird. Darauf kann ich nur antworten: nicht, solange sie glaubt, es nicht zu können. Als nächstes hatte der Arzt eine psychiatrische Behandlung vorgeschlagen, aber auch das hatte Theron Diehl seiner Frau gegenüber nie erwähnt. Er konnte sich Nells Reaktion genau ausmalen. Sie stand nach wie vor auf dem Standpunkt, ihr Glaube würde sie gesund machen, aber davon war kein Anzeichen zu erblicken.

Also hatte er sich, so gut er konnte, in die Lage gefügt und sich ihr angepaßt. Viel hielt er sowieso nicht von diesen Seelendoktoren. Wenn sie eigentlich gehen konnte und es nicht wollte, dann gab es in seinen Augen dafür keine Entschuldigung. Keine. Mochten ihre Muskeln verkümmern – Atrophie hatte der Doktor es genannt.

Verärgert durch diese Gedankengänge, fuhr er unlustig weiter. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß der Vorfall, um dessentwillen man ihn herausgescheucht hatte, auch nur ein Zehntel seiner Tatkraft und seines Könnens beanspruchen würde. Manchmal hatte er das Gefühl, daß er als Polizist auch der Atrophie verfallen sei. Es war eine langweilige Stadt, ehrlich; bis auf wenige Ausnahmen – im Abstand von ein bis zwei Jahren – handelte es sich immer nur um Routine-Verbrechen, harmlose Täter, leicht zu überführen, ohne Gewalttätigkeiten. Aus diesem Grund hatte er sich auch zu seinem Buch entschlossen: MEMOIREN EINES TEXAS RANGERS. Das war das einzig Aufregende in seinem Leben, auf dem Papier die Verbrechen und Verbrecher und besonders die Polizeiarbeit darzustellen, durch die die Fälle gelöst und die Bösewichte der Gerechtigkeit ausgeliefert wurden. Gerade heute abend hatte er wieder geschrieben:

Wir leben noch immer wie zur Zeit der Pioniere, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Bei den Pionieren wurde alles schnell geregelt, und so war es richtig. Schnell und brutal, wenn nötig. In jenen Tagen schnappten wir uns einen Verbrecher, von dem wir genau wußten, daß er schuldig war, ehe sich ein Geschworenengericht einmischen konnte, und schoben ihn quer durch das ganze Land von einem Gefängnis in das andere, damit sein Anwalt mit den Schriftsätzen nicht mehr nachkam. Manchmal brachten wir ihn in ein altes Bauernhaus im Dickicht, inmitten eines verlassenen Landstrichs. Unser Lieblingsort bei Houston war die Windmühle, die werden einige von ihnen ihr Leben lang nicht vergessen! Jeder Mensch kann nur ein gewisses Maß ertragen, je nach seinem Mumm und Schneid, und dann kommt er an einen Punkt, wo ihm alles egal ist, wo er nicht mehr kann. Dann bricht er zusammen und legt ein Geständnis ab. Wenn seine Augen zugeschwollen und seine Trommelfelle geplatzt sind, wenn seine Leistengegend dick wie ein Fußball ist, wenn er verrenkte und gebrochene und zertretene Finger hat und einen Nacken, den er nicht mehr rühren kann – dann gesteht jeder. Doch heute, mit all den mitleidtriefenden Herzen, mit all dem Gelaber und dem Geschwätz, wenn es um nichts als Recht oder Unrecht geht …

Da hatte ihn das Telefon herausgerissen. Diese Gedanken auszudrücken hatte ihn erregt; noch gehörte er lange nicht zum alten Eisen. Noch war er sich allerdings nicht schlüssig, ob er offen zugeben sollte – sich deshalb zu schämen lag ihm fern –, weshalb man ihm den Abschied von den Rangers nahegelegt hatte; weshalb es ihn in den Norden, als Polizist in dieses Kaff, verschlagen hatte, wo sie beide nie richtig heimisch geworden waren. Nie im Leben würde er sich an die überdeutliche Aussprache, die Arroganz und die Zurückhaltung der Leute gewöhnen. In tausend Jahren nicht. Doch hatte er auch einen gewissen Ausgleich gefunden: die Bewunderung im Blick der jungen Mädchen, den Respekt und die Anerkennung bei den älteren, neidische Seitenblicke von den Männern wegen seiner hohen, schlanken Figur und seines blendenden Aussehens mit dem silberweißen Haar und dem Schnurrbart. Ein Vaterbild für die einen, und für die Frauen noch immer begehrenswert. Das genoß er, wenn er durch die Stadt spazierte oder fuhr und den Bürgern kühl, aber freundlich zunickte. Nell hatte da nicht so unrecht. Es war nicht übertrieben, wenn er fand, daß die Stadt verdammt stolz darauf sein konnte, einen ehemaligen Texas Ranger als Polizeichef zu haben. Zum Teufel, es machte den Leuten sogar Spaß, daß er noch immer einen breitkrempigen Stetson und hochhackige Cowboystiefel zur Uniform trug. Er mußte jetzt seine persönliche Rechtfertigung abwägen gegen die schwer zu berechnende Reaktion der Leute, wenn er die Geschichte veröffentlichte, die dazu geführt hatte, daß er von der Truppe der Texas Ranger seinen Abschied nehmen mußte. Einige von diesen selbstgerechten, gesetzestreuen sogenannten Staatsbürgern, zu deren Schutz all das ja geschehen war – nur, daß sie das einfach nicht begriffen –, stellten sich möglicherweise auf den gleichen bornierten Standpunkt wie damals seine Vorgesetzten. Wollte er das riskieren? Er hatte nichts anderes getan als seine Pflicht, so wie er sie sah. Er hatte den Verdächtigen nicht anders behandelt als viele andere vor ihm, mit offizieller Duldung oder Genehmigung. Woher sollte er denn wissen, daß der Kerl einen Herzfehler hatte? Aber selbst dann hätten sie ihm seinen Abschied nicht nahegelegt, wenn er nicht ein bißchen unüberlegt gehandelt hätte. Sie haben von falschen Voraussetzungen ausgehend voreilig gehandelt, Diehl. Und nicht etwa zum ersten Mal, wir wissen Bescheid. Wir haben Beweise, daß der tote Mann unschuldig war. Sie haben zu schnell eingegriffen, und zu hart. Na ja, jedem unterlief einmal ein Fehler, und wer sagte, daß ihm das noch noch einmal passieren würde? Doch ehe er einen zweiten Fehler machen würde – nämlich alles zu erzählen und dafür dem Verleger in Chicago auch noch die verlangten ersparten dreitausend Dollar zu zahlen, damit das Ganze gedruckt wird –, müßte er sich genau überlegen, wie das Buch ausgehen sollte.

Er bog jetzt in Richtung auf den Friedhof ab und schaltete das Sprechfunkgerät ein. »Hier spricht Inspektor Diehl. Ich bin jetzt zu erreichen. Wollte meine Frau nicht beunruhigen, falls sie mithören sollte. So, und jetzt klärt einen alten, unwissenden Mann einmal auf und rückt mit der Sprache heraus, warum der Quatsch im Friedhof mehr als ein Lausbubenstreich ist.«

»Chef, ich bin auch noch nicht dort gewesen, aber es soll ziemlich scheußlich sein. Ben wartet dort auf Sie. Er hat alle Informationen.«

»Ein paar Einzelheiten könnten Sie sich schon abringen, zum Teufel.«

»Es geht um Richter T.H. Stuttafords Grab. Irgend jemand hat es entweiht. Ehrlich, mehr weiß ich im Augenblick auch nicht, Chef.«

Richter Stuttaford – warum, zum Henker, hatte das noch niemand erwähnt? Er seufzte und schaltete Martinshorn und Blaulicht ein. Er war noch immer überzeugt, daß sich junge Leute einen – wenn auch makabren – Spaß erlaubt hatten, denn die Jugend heute war doch darauf aus, alles zu entweihen. Da es sich jedoch um das Grab von Richter Stuttaford handelte, war seine Anwesenheit durchaus erforderlich und angemessen. Was in Teufels Namen sollte der Ausdruck ›entweihen‹ eigentlich genau bedeuten?

 

Im Polizeifunk konnte Boyd Ritchie nur die Anweisungen des Beamten in der Zentrale mithören, nicht aber die Antworten der verschiedenen Streifenwagen. Die Geschichte mit Richter Stuttafords Grab war durch einen unerklärlichen Zufall viel früher entdeckt worden, als er erwartet hatte. Doch war das nebensächlich und würde den weiteren Ablauf seines Planes kaum beeinträchtigen. Es gab keinen Hinweis, der ihn mit der Tat in Verbindung bringen könnte, darauf hatte er geachtet. Um die Kerle auf eine falsche Fährte zu locken, hatte er überdies das Etikett in dem auf dem Friedhof zurückgelassenen Overall nicht herausgetrennt – es stammte aus einem Laden in Iowa. Er wollte diese Geschichte durchaus in Bezug zu seiner Person gesetzt wissen – dafür würde allein schon der alte Stegner sorgen, wenn man ihn entdeckte –, denn das war Teil seiner Aufregung und Genugtuung. Nur sollte das nicht zu früh geschehen, sonst könnte er mit der weiteren Durchführung seines exakt berechneten Plans in Schwierigkeiten geraten. Trotzdem, wie hatte es passieren können, daß jemand davon Wind bekommen hatte, von diesem für ihn so amüsanten Auftakt der heutigen Nacht. Wieder eine jener kleinen Zufälligkeiten, die möglicherweise den Erfolg seines Planes beeinträchtigten, andrerseits aber seinen sportlichen Ehrgeiz nur um so mehr anstachelten. Er hatte sich gegen die Gesellschaft gestellt, gegen alle, und er würde trotz aller Behinderungen als Sieger hervorgehen.

Junger Mann, Ihr Anwalt, Mr. Briggs, plädiert auf böswillige Körperverletzung zweiten Grades. (Er entsann sich noch der funkelnden Augen des Richters, seines Geiferns.) Ein unschuldiges, junges Mädchen brutal zu mißhandeln – nicht nur körperlich, sondern auch sexuell, ist das Brutalste, was es überhaupt gibt, brutaler noch als Mord … Ein solches Verbrechen ist das Gemeinste und Verwerflichste, was ein Mensch einem anderen antun kann. (Dabei verzog sich sein verkniffener Mund zu einer Kurve von Ekel und Verachtung.) Ich neige dazu, die Meinung des Staatsanwalts Mr. Heckmann zu teilen, daß ein solcher Übergriff eine Perversion alles Menschlichen ist und daß Sie pervers sind. (Das ganze Gebaren dieses Richters erinnerte ihn an die Hexenverbrennungen vergangener Zeiten, als Frauen noch geteert und gefedert wurden.) Unaufgefordert und als Fremdling sind Sie in unsere zivilisierte Gemeinde eingedrungen und haben das Leben eines unserer anständigsten Mädchen für immer zerstört. (Eiskalt blickten die wäßrig blauen Augen, rachsüchtig, und er erhob die Stimme.) Boyd Ritchie, dieses Gericht verurteilt Sie zu zehn Jahren Zuchthaus und empfiehlt weder Bewährung noch Gnade. Das Gericht bedauert, daß dies für ein Vergehen, dessen Sie sich als schuldig bekannt haben, die gesetzlich erlaubte Höchststrafe ist.

Boyd Ritchie war der Schock noch heute gegenwärtig – niederschmetternd und absolut. Er drehte sich im Gerichtssaal um und sah das gleiche Entsetzen in Fletcher Briggs Gesicht: der vom Gericht bestellte Verteidiger wirkte ebenso ungläubig und fassungslos. Sogar der Staatsanwalt, Wallace Heckmann, runzelte erstaunt die Stirn. Plötzlich war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen: sie steckten alle unter einer Decke. Als der Richter ihn gefragt hatte, ob ihm für den Fall, daß er ein Schuldbekenntnis ablegte, Versprechungen gemacht worden wären, hatte er vereinbarungsgemäß gelogen, genau wie die anderen, und so war er an der Verschwörung mitschuldig geworden. Und jetzt, nachdem die Höchststrafe anstatt der Mindeststrafe verhängt worden war, spielten die beiden Anwälte ihre abgekarteten Rollen weiter. Diese heuchlerischen Schweine.

Zuvor hatte Fletcher Briggs gesagt: Ich kann Ihnen keinen Rat geben. Ich kann Ihnen nur sagen, daß sie uns einen Vergleich, einen Kompromiß angeboten haben. Es ist ein allgemein üblicher Kuhhandel, man verzichtet auf einen Einspruch. Man trifft eine Abmachung zwischen der Verteidigung und der Anklage, von der der Richter vorgibt, nichts zu wissen. Wenn Sie sich der Körperverletzung zweiten Grades für schuldig bekennen, dann wird das von Ihnen – angeblich unter Druck, den wir aber kaum werden beweisen können – abgelegte Geständnis nicht gegen Sie verwandt. Die Anklage auf Vergewaltigung wird fallengelassen, und Ihnen stehen nur achtzehn Monate oder zwei Jahre Gefängnis als Mindeststrafe bevor. Mit etwas Glück setzt der Richter die Strafe vielleicht auf Bewährung aus. Wenn wir die Sache vor Gericht anfechten, dann spricht nicht nur Ihr Geständnis gegen Sie, sondern es steht auch Ihr Wort gegen das des Mädchens, und dazu hoch die Tatsache, daß Sie ein Außenseiter in einer kleinew, verschworenen Gemeinde sind und daß inzwischen ein Augenzeuge gegen Sie aussagen will, ein Mann namens Stegner, der schwört, Sie und das Mädchen auf dem Boot durch ein Fernglas beobachtet zu haben. Er behauptet nicht, die Vergewaltigung gesehen zu haben, aber die Geschworenen werden das als gegeben annehmen.

So einfach ist das! Keine sensationelle Gerichtsverhandlung; keine Unkosten für den Staat; der Verteidiger aus der Klemme; der Staatsanwalt sammelt Pluspunkte für eine weitere Verurteilung; das Mädchen und ihr reicher Verlobter, auf dessen Boot das Verbrechen angeblich begangen wurde, kommen nicht in Verlegenheit. Im Gefängnis nannten sie es ›einen Reinfall erleben‹ anstatt ›keinen Einspruch erheben‹. Eine, wie Briggs beteuerte, alltägliche Methode. Eine einmalige Art, aufs Kreuz gelegt zu werden. Ein Schwindel, eine Machenschaft, ein Komplott. Und er war der Dumme. Sie steckten alle unter einer Decke: der Richter (inzwischen verstorben), der Staatsanwalt (Abgeordneter im Kongreß, auf dem Weg nach oben) und der Verteidiger (inzwischen Jura-Professor). Die alles verschlingende, heiße Wut, die ihn damals ergriffen und sein ganzes Leben verändert hatte, war im Lauf der Jahre zu kalter, grimmiger Berechnung geworden. Und heute war er der Rächer, er stand am Hebel und ließ die Puppen tanzen, heute saß er zu Gericht.

Mit zotteliger, roter Perücke, einem buschigen, rötlichen Schnurrbart, einem abgeschabten Tweed-Jackett mit Lederflecken an den Ellbogen, dem Rollkragenpullover und in Straßenschuhen mit verdickter Sohle, die ihn um mindestens acht Zentimeter größer erscheinen ließen, saß er im Vega in der Emerson Terrace. Daß in dieser gepflegten Straße so viele Wagen am Bordstein parkten, war ein unerwarteter Glückszufall, den er nicht mit hatte einplanen können. Ein paar Häuser weiter, schräg gegenüber vom Haus der Heckmanns, fand eine Dinner-Party statt. Die weiße Heckmannsche Villa, nachgemachter Kolonialstil, war ein amerikanisches Musterhaus für gepflegte Bürgerlichkeit. Schrilles Gelächter tönte von der Party herüber, und er fragte sich, ob er heute wohl in einem ähnlichen Haus, in einer ähnlichen Straße wohnen würde, wäre seine Lebenskurve vor acht Jahren, als er zwanzig war, anders verlaufen. Sein Feldzug versetzte ihn zunehmend in Erregung, und er meinte, vor Spannung und Triumph fast zu zerspringen. Er krallte sich an das Lenkrad und starrte gebannt zum Heckmannschen Haus hinüber. Zwischen den Zähnen klemmte eine Pfeife, genau die gleiche, die Fletcher Briggs gewöhnlich rauchte.

Pervers, abartig. Wallace Heckmann hatte diese Worte mit bitterer Verachtung verschiedene Male in seiner Anklagerede wiederholt. Das hatte ihn zunächst kaum gestört, denn im Protokoll sollte ja zur Deckung des Vergleichs, um jeden Verdacht in dieser Richtung auszuschalten, eine vehemente Anklage und die Forderung nach der Höchststrafe erhoben werden; so jedenfalls hatte Fletcher Briggs es ihm auseinandergesetzt. Im Namen der Gerechtigkeit. Der Mißbrauch dieser Formulierung hatte ihn schon während der Verhandlung amüsiert. In den ersten, besonders harten Wochen hinter Gittern hatte er immer erbitterter dagegen aufbegehrt. Bis er sich anzupassen begann, das Spielchen unter größten Schwierigkeiten ihren Regeln entsprechend lernte, bis er es schließlich beherrschte und die Regeln zum eigenen Nutzen anwandte. Er heuchelte und simulierte, stellte sich einfältig oder dumm, tat alles, was von ihm erwartet wurde, prägte sich sogar den Gefängnisjargon ein – ohne seine Bereitwilligkeit wäre er unter Garantie jetzt noch nicht draußen. Wegen guter Führung. Musterhafter Sträfling. Was für ein Scheiß. Deshalb war er auf Bewährung freigelassen worden, trotz der gegenteiligen Empfehlung des Richters. Diesen alten Hurensohn hatte er ausgetrickst. Doch damals war er noch nicht pervers gewesen – wenn das kein Witz war!

 

»Dennis, du bist erst elf.«