Sonntag bis Mittwoch - Joseph Hayes - E-Book

Sonntag bis Mittwoch E-Book

Joseph Hayes

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Beschreibung

Als der New Yorker Anwalt Adam Wyatt am Sonntagabend in seine Wohnung heimkehrt, findet er dort zwei junge Leute vor: das verführerische Mädchen Jenny und den vergammelten, bärtigen Wilby. Die beiden führen provozierende Reden und sind nicht hinauszukriegen, vor allem nicht, als der verheiratete Adam den Reizen Jennys erlegen ist. Im Gegenteil, sie richten sich häuslich ein, und Wilby beginnt ein marterndes Verhör. In den drei Tagen, von Sonntag bis Mittwoch, zerfällt der Anwalt Adam, von Erpressung, Zweifeln und Verzweiflung an den Rand des Wahnsinns gebracht. Doch schließlich kommt unerwartet Hilfe. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Joseph Hayes

Sonntag bis Mittwoch

Roman

Aus dem Amerikanischen von Jo Klein

FISCHER Digital

Inhalt

Für Marrijane, die weiß,Jetzt erwiderte er Hohn [...]SonntagMontagDienstagMittwochPostskriptum

Für Marrijane, die weiß,

daß die Ewigkeit im Heute liegt,

und für Joseph Donelly

zum Andenken

Jetzt erwiderte er Hohn mit Hohn und schmähte die Affen, die ihn hänselten. Mit der Seele eines Gottlosen schrieb er die göttlichsten Dinge nieder; mit dem Gefühl des Elends und des Todes in sich schuf er Vorbilder der Freude und des Lebens.

 

Herman Melville, Pierre oder Im Kampf mit der Sphinx

Sonntag

Es war ein völlig normaler Sonntag. Ich hatte den größten Teil des Tages auf dem Lande verbracht, in unserem kleinen rustikalen Blockhaus, das bis zur Heirat unserer Tochter Anne vor einem Jahr Lydias und mein Wochenend-Refugium gewesen war. Doch nun kam ich mir dort, besonders, da Lydia in London weilte, wie ein Eindringling vor, obgleich Anne und Glenn es nur so lange bewohnen wollten, bis Glenn mit seinen Geschäften in der Gegend von Newton Fuß gefaßt hatte. Obwohl sie in ihrer Art forscher, ihr blondes Haar um einen Schein dunkler und ihre Sonnenbräune nicht mit Lydias Blässe zu vergleichen war, erinnerte Anne mich zu sehr an ihre Mutter. Dazu kam, daß ich mich in der Atmosphäre neckender Zärtlichkeit und spielerischer Andeutungen ihrer Intimität, wie sie immer zwischen Anne und Glenn herrschte, doppelt einsam und ausgeschlossen fühlte. Um fünf Uhr war ich so ruhelos und ungeduldig geworden, daß ich einfach gehen mußte.

Ich war in einem nur träg dahinfließenden Verkehrsstrom auf der Ausfallstraße in die Stadt zurückgefahren, und nun lag ein endlos leerer Abend vor mir. In den vier Wochen, die Lydia nun fort war, hatte mich die Konzentration auf meine Arbeit mehr oder weniger durch die Tage getragen, aber die Abende und Wochenenden bedrückten mich zunehmend. Ein merkwürdiger Zustand, denn obgleich ich wußte, daß mir Lydia fehlen würde, hatte ich mir doch vorgestellt, daß uns eine kurze Unterbrechung der üblichen Routine gut tun würde. Mit einem solchen Gefühl des Verlorenseins hatte ich nicht gerechnet.

Die Straßen in der Stadt dampften vor Hitze und Luftfeuchtigkeit. Anstatt den Wagen dem Portier unseres Appartementhauses zu überlassen, fuhr ich ihn selbst in die Garage. Dann beschloß ich, um den vor mir liegenden öden Stunden bis zum Schlafengehen zu entrinnen, einmal zu sehen, was für ein Film in dem Kino um die Ecke lief. Es war, wie sich herausstellte, ein schwedischer Import, Lieber John, eine zarte und schlichte Liebesgeschichte, die sich zwischen zwei einsamen Menschen anbahnte – das Alleinsein führte zuerst zu sexuellen, dann zu zärtlicheren und differenzierteren Beziehungen und Erkenntnissen. Trotzdem wurden einige ziemlich deutliche Liebesszenen und unverhüllte Nacktheit gezeigt, so daß sich in mir eine quälende Begierde regte. Wäre Lydia nicht schon so lange in so weiter Ferne, sondern bei mir gewesen, hätte ich anders reagiert. Die Kommentare im Foyer hätten sie amüsiert. Ich konnte mir auch deutlich vorstellen, was sie auf dem Heimweg, locker eingehängt, gesagt haben würde: Aber sie haben den Sinn völlig mißverstanden. Diese Idioten rennen aus dem falschen Grund in den Film. Ich weiß nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll.

Weil ich ihren sanften englischen Akzent in Gedanken auslöschen und mich nicht der Erinnerung an einige unserer eigenen Liebesszenen überlassen wollte, war ich auf einen Sprung in Pats Pub gegangen, eine etwas düstere Kneipe in der Nachbarschaft, die einem Italiener namens Pat gehörte. Ich hatte einige doppelte Scotches getrunken und mir dabei Zeit gelassen, die ich im Überfluß besaß. Ich war nie ein großer Trinker gewesen: einen vor dem Abendessen zu Hause, höchstens zwei bei Einladungen, gelegentlich ein Glas Wein zum Essen, weil Lydia gern Wein trank, vielleicht noch einen Kognak danach. In letzter Zeit trank ich etwas mehr und hatte es mir angewöhnt, ungefähr jeden zweiten Tag kurz zu Pat zu gehen – Gewohnheiten, die ich natürlich nicht beibehalten würde, wenn Lydia zurückkam.

Der Whisky übte eine angenehm entspannende Wirkung aus, und als ich dann zu meiner Wohnung schlenderte, kramte ich ohne ersichtlichen Grund in meinem Gedächtnis nach einem Gedicht, von dem mir nur zwei Zeilen einfielen: »Wir waren sehr lustig, wir waren sehr heiter und fuhren gegen Abend auf der Fähre weiter.« Lydia hätte es wie aus der Pistole geschossen gewußt, nicht nur die anderen Zeilen, sondern auch, von wem es stammte. Irgendwie erinnerte es mich an unsere ersten Jahre in New York nach dem Krieg, als wir an Sommerabenden gern mit der Fähre nach Staten Island und zurück getuckert waren. Wie lange lag das zurück? Zwanzig Jahre. Unmöglich.

Ich nickte dem Portier zu – Terence, der Ire, hatte Dienst, nicht Geoffrey, der Engländer, über den sich Lydia immer amüsierte –, und er nickte mir ebenfalls freundlich zu. Ich fuhr allein in dem engen Selbstbedienungsaufzug nach oben und schloß die Wohnungstür auf, leicht angeheitert, noch immer mit dem Gefühl einer gewissen Verlorenheit und ein wenig sinnlich erregt, aber in der Gewißheit, nach einem weiteren starken Drink schnell einzuschlafen, zumal ich seit dem Mittag in Connecticut nichts mehr gegessen hatte. So war also wieder ein Wochenende überstanden. Ich goß mir an der kleinen, in einer Ecke des Wohnzimmers eingebauten Bar, die selten für etwas anderes als Blumenvasen oder als Zeitschriftenablage benutzt wurde, einen Whisky ein.

»Na, wird ja Zeit –«

Als ich die Stimme vernahm, glaubte ich, ich hätte das Fernsehgerät in der Bibliothek abzuschalten vergessen. Aber dieser Eindruck verflüchtigte sich.

Eine junge Frau – eigentlich ein Mädchen – stand im Türrahmen der Bibliothek: lässig auf einem Bein, die Hüfte seitlich vorgeschoben, in einem dünnen, ärmellosen Kleid, das ein gutes Stück oberhalb der Knie aufhörte und eng an ihrem schlanken Körper anlag. Den Kopf zur Seite geneigt schien sie meinen überraschten Blick zu erwidern, aber gleichzeitig wirkten ihre Augen – ich konnte die Farbe nicht erkennen, aber sie waren dunkel – wie auf ein hinter mir liegendes Ziel gerichtet und ausdruckslos. Sie blinzelte nicht, als sich die Stille zwischen uns ausdehnte.

»Kennst du mich nicht?« Die Stimme klang durchaus nicht heiser, aber merkwürdig tief und trotz einer gewissen Reserviertheit eindringlich, und um ihre vollen Lippen spielte ein Lächeln.

»Ich habe Sie noch nie gesehen«, sagte ich und kam mir dabei wie ein Narr vor.

Da lächelte sie wie ein übermütiges Kind, das sich über einen gelungenen Scherz freut, und stieß einen Laut aus, der fast einem Kichern gleichkam. »Doch, du hast mich gesehen«, stellte sie fest.

»Ich fürchte, Sie sind in der falschen Wohnung.«

»So? Sind die Wohnungen alle gleich?«

»Wie sind Sie hereingekommen?« fragte ich brüsk; ich war stolz auf meinen herrischen Ton, erkannte aber nur zu deutlich das Motiv hinter meiner barschen Haltung: die Stellung des Mädchens, ihre nackten Arme und ihr steter, direkter Blick sprachen von Intimität. »Wer sind Sie, und was wollen Sie?«

»Du kennst mich«, sagte das Mädchen und legte den Kopf auf die andere Seite, blies einen perfekten Rauchkringel in die Luft und schaute ihm mit geöffneten Lippen in kindlicher Faszination nach. Ich beschloß, nicht zu reagieren, Zeit zu gewinnen. »Ich habe dich jedenfalls bemerkt.« Sie setzte sich mit anmutigen, sorglos lässigen Schritten in Bewegung, schaute mich berechnend von Kopf bis Fuß an, und ihr leichtes Kleid raschelte in der Stille.

»Vielen Dank.«

Meine dick aufgetragene Ironie fruchtete nicht. Sie blieb stehen und zog eine Schnute. »Du bist nicht so, wie ich mir vorgestellt habe, obgleich –«

»Warum machen Sie sich überhaupt Gedanken um mich?«

»Ach, sei doch nicht so häßlich –« Sie warf sich in einen schweren Sessel, schwang die Beine über die Armlehne und lachte zur Decke hinauf. »Warum verstellst du dich? Was soll der Zauber?«

In mir stieg ein prickelndes Gefühl des Überdrusses auf, das von Ärger nicht weit entfernt war. Ich nahm einen tiefen Schluck aus meinem Glas und erkundigte mich: »Wo soll denn dieses Zusammentreffen stattgefunden haben?«

»In Pats Pub, Mann. Wo sonst?«

Ich mußte fast lachen, als ich an Pats anzügliches, lüsternes Grinsen dachte: Machen sich gute Zeit, Mr. Wyatt, solange Missis weg ist, was? Das kommt davon, wenn man einem Kneipenwirt anvertraut, daß die englische Mutter der englischen Ehefrau alt und krank ist und nach ihrer Tochter verlangt hat.

»Nichts zu machen«, erklärte ich dem Mädchen. »Und richten Sie Pat aus, daß er ein Schuft ist.«

Da lachte sie. »Sag’s ihm doch selbst.« In ihrem Ton lag ein Anflug von Neckerei – eigentlich schon Spott –, als sie sich vorbeugte und die Zigarette ausdrückte. Dann schlüpfte sie aus den Stiefeln, rollte sich wie eine Katze in eine wollüstig anmutende Ruhelage und schaute mich aus halbgeschlossenen Augen mit einem seltsam persönlichen, sinnlichen Ausdruck und dem Anflug eines Lächelns an.

»Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«, sagte ich und war mir im gleichen Moment der Wirkungslosigkeit meiner Ironie bewußt.

»Danke.«

Ich spürte ihre körperliche Nähe, und als mich ihr abschätzender Blick traf, wandte ich mich ab und goß einen tiefen Schluck in mich hinein, der mir schier die Eingeweide verbrannte. Mein Ärger wuchs, aber ich suchte ihn zu beherrschen, eingedenk der Ermahnungen, die mir mein Leben lang zuteil geworden waren: von meinem sanftmütigen Vater, den am Ende eine unnatürliche Wut zerfressen hatte, die ich nicht begriff; von meinen Lehrern, die ihn Jähzorn genannt hatten; von meinen Professoren, die mich gewarnt hatten, daß er für einen Anwalt der gefährlichste und selbstzerstörerischste Charakterzug sei; und von Lydia, die entweder darüber hinwegging oder ihn ins Lächerliche zog, wodurch sie ihn oft erst richtig entfachte. Jetzt erkannte ich wieder die Sturmzeichen: die langsam in mir aufquellende Hitze, meine unwillkürliche Verkrampfung, die lähmende Blutleere im Gehirn. Ich setzte mein Glas an die Lippen, um den sauren Geschmack hinunterzuspülen.

»Sie ist hübsch«, sagte das Mädchen und fügte unsicher hinzu: »Ziemlich. Jedenfalls ihr Gesicht.« Als ich aufblickte, sah ich, wie sie das Porträt Lydias über dem Kaminsims betrachtete. »Wie sieht sie sonst aus?«

Ich wagte nicht, das mir in jedem Detail vertraute Gemälde anzusehen: den blassen, blonden Kopf mit der gesammelten Haltung, die zierlichen, feingemeißelten Gesichtszüge, diese merkwürdig ergreifende Mischung von Wehmut, feinem Humor und fraulicher Kraft, die ihr zartes Gesicht ausstrahlte. »Es ist meine Frau«, sagte ich gleichmütig. »Und alt genug, um Ihre Mutter zu sein. Genau so, wie ich Ihr Vater sein könnte.«

»Bist du aber nicht.« Sie kicherte. »Nicht, daß es etwas ausmachen würde. Ist sie ein Aas.«

»Was?«

»Ob sie ein Aas ist? Sie erinnert mich an meine Mutter.« Der bittere Geschmack in meinem Mund wurde ätzend. »Sie ist kein Aas.« Ich vernahm die mit Nachdruck gesprochenen Worte, als stammten sie nicht von mir. »Sie ist weder im engeren noch im weiteren Sinne ein Aas, und ich liebe sie.« Ich zögerte unmerklich. »Ich liebe sie, und ich bin außerdem in sie verliebt.«

»Klar«, erwiderte das Mädchen. Es lag kein Spott in ihrem Ton, nur eine Art müder Anerkennung. »Klar. Aber sie ist trotzdem ein Aas.«

»Sie kennen sie ja gar nicht«, knurrte ich.

»Ich kenne meine Mutter.«

Ich mußte lachen. Wes Geistes Kind hatte ich da vor mir?

Sie wandte den Kopf, ihr Blick traf meinen. Ihre Augen waren entschieden braun. »Du bist noch nicht alt.« Sie traf diese Feststellung voller Ernst. »Bogey war vierundfünfzig, als er sich scheiden ließ.«

»Wer?« Mir brummte der Kopf.

»Bogey. Du weißt schon. Schade, daß du keine Glatze hast. Kahle Männer sind aufregender.«

Unwillkürlich strich ich mit der Hand über meine kurz geschnittenen Haare. »Hören Sie«, sagte ich weniger giftig, »ich bitte sogar um Verzeihung, daß ich nicht kahlköpfig bin, wenn Sie jetzt machen, daß Sie hinauskommen.«

»Bogey war kahl. Er trug ein Toupé. Das weiß jeder.« Sie räkelte sich mit hoch aufgereckten Armen und vorgeschobenen Brüsten. »Du willst ja gar nicht, daß ich gehe.«

Ich mußte mich gewaltsam beherrschen, um sie nicht hochzuheben und vor die Tür zu setzen.

»Ist sie gut im Bett?«

Die Situation wurde immer absurder und grotesker. Dachte diese Göre etwa, ich würde tatenlos zusehen und mit ihr debattieren –

»Du hast meine Frage nicht beantwortet –«

Innerlich beschäftigte ich mich mit der Frage. Hinter Lydias herber Art und ihrem schlichten Auftreten lagen eine frauliche Wärme und eine emotionelle Intensität verborgen, die mich nach zwanzig Jahren noch immer erstaunten und entzückten.

Ein triumphierendes Lachen verbeißend, sagte ich: »Sie können mich –«

Sie nahm daran keinen Anstoß, zuckte nur mit den Achseln. »Du hast mir nicht einmal einen Drink angeboten.«

»Sie nehmen sich allerhand heraus«, erwiderte ich. »Sie waren nicht eingeladen, weder auf einen Drink noch zu sonst etwas.«

Sie erhob sich, warf den Kopf zurück, daß ihre schwarze Mähne flog, stieß einen unverständlichen Kehllaut aus – Verachtung? Spaß? Was? – und schlenderte schlaksig zur Bar hinüber. »Es könnte dir leid tun.«

Wieder durchzuckte mich Wut. Das Zimmer erschien mir plötzlich unerträglich heiß. »Soll das eine Drohung sein?«

»Spiel ruhig den wilden Mann«, sagte sie. »Ich hab’ das gern.«

Dank dem Alkohol, der meine Wut anfachte, und der stickigen Hitze im Zimmer, die mir den Atem nahm, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, eine undefinierbare und doch sehr endgültige Linie oder Grenze überschritten zu haben und mich in einem fremden, feindseligen Land zu befinden, dessen Sprache ich nicht einmal kannte.

»Hast du kein Ginger-Ale? Das trinke ich gern mit Rye.« Wieder lachte sie, es klang wie das Quietschen eines vergnügten Kindes.

Ich ging zur Bar. »Kein Ginger-Ale. Keinen Rye. Nichts zu trinken.« Dann heiser: »’raus mit Ihnen!«

Ihr Blick begegnete dem meinen, amüsiert, aber auch von Erregung verdunkelt. »Willst du mich hinauswerfen?«

»Wenn nötig, ja.«

»Das könnte Spaß machen.« Sie neigte sich zu mir. »Los, fang an.«

»Hören Sie«, sagte ich und mußte mich sehr beherrschen, »ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, aber lassen Sie sich jedenfalls gesagt sein, daß daraus nichts wird.«

Ihre Augen wurden noch dunkler. »Du bist wirklich aufregend, Mann.« Dann ging sie dicht an mir vorbei, so daß mich ihre weich schwellende Brust berührte. Sie kauerte sich vor dem Plattenspieler nieder und pfiff leise vor sich hin. Ich blieb reglos stehen. Hilflos.

Die Stimme eines Ansagers, von atmosphärischen Störungen verzerrt, füllte den Raum. Die gleichen Nachrichten, die ich schon mehrmals aus dem Autoradio gehört hatte: Truppenverstärkungen für Vietnam; bei einer Demonstration war jemand unter den Augen der Polizei von einem wütenden Mob mit Steinen und Knüppeln attackiert worden, Präsident Johnson –

Sie suchte weiter, und das ohrenbetäubende, kreischende Stampfen von Beatmusik, monoton wie Dschungelrhythmen, dröhnte durch die Wohnung. Zuerst lief nur ein leichtes Zucken über ihren schmalen Rücken. Verhaltene Intensität leuchtete aus ihrem Blick, den sie unverwandt auf mich und gleichzeitig durch mich hindurch oder in ihr Inneres gerichtet hatte. Ihr Körper bewegte sich, erst in einer Andeutung von Twist, dann schneller, als ihr der Rhythmus ins Blut ging. Schließlich tanzte sie frenetisch mit zuckenden Muskeln, fliegenden Haaren und wilden Arm- und Beinbewegungen. Ich merkte, daß sie sich mir näherte. Die wilden, urwaldhaften Synkopen hämmerten mir gegen die Schläfen. Sie stand nun dicht vor mir, und in ihrem Gesicht lag noch immer der Ausdruck wesenloser Versunkenheit.

Ich kam zu einem Entschluß. Ich ging zum Radio und schaltete es aus. Die plötzliche Stille machte mich benommen. Was nun? Ich leerte mein Glas.

»Dich hat es auch gepackt.« Sie flüsterte es leise, wissend und herausfordernd. Ein leichtes, triumphierendes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ich weiß Bescheid.« Ihre Augen, noch dunkler als zuvor, betrachteten mich unter gesenkten Lidern. »Und nun? Wirst du wieder sagen, daß du alt bist? Das macht doch nichts aus, Mann! Du machst mich ganz verrückt, sonst wäre ich nicht hier.«

Sie trat näher an mich heran, und ich brachte es nicht fertig, zurückzuweichen. Ihr Gesicht, Zentimeter vor dem meinen, wirkte noch jünger: weich, mit einer unglaublich klaren, sehr sonnengebräunten Haut. Und nun lag wieder etwas Neckendes in ihrem Blick, weiblicher Spott. Ich bebte am ganzen Körper, ohne etwas dagegen tun zu können. Aus ihren Augen sprach eine Weisheit, weit über ihre Jahre hinaus. Ich spürte, wie mir der Schweiß den Rücken entlanglief, und ich hielt den Atem an.

Dann küßte sie mich. Ihr Körper preßte sich eng an meinen, und ich spürte sie überall. Unwillkürlich und ohne klaren Gedanken legte ich die Arme um sie, fühlte die weiche Nachgiebigkeit ihrer Lippen unter den meinen, und dann setzte mein Verstand aus. Ich folgte dem Impuls, doch dann kam ich wieder zu mir und zügelte mich. Im Unterbewußtsein wußte ich, daß ich betrunken sein mußte, betrunken war, aber gleichzeitig überflutete mich eine verrückte Hochstimmung, die mich ausgehöhlt zurückließ, und während wir uns aneinanderklammerten, drehte sich das Zimmer um mich. Ich mußte wohl träumen – dies konnte doch nicht wahr sein –

Sie trat zurück, atemlos und mit schwarzen, brennenden Augen. Aber das Lächeln schwebte noch immer um ihre Lippen: leise, siegessicher. Dann wandte sie sich ab und ging auf Strümpfen in mädchenhafter Erwartung auf die Treppe zu, die zu einer Galerie führte, von der man in weitere Zimmer gelangte.

»Was soll uns hindern?« Kindliche Verschwörermiene. Über das Geländer gelehnt blickte sie auf mich herab, und ihre Haare fielen ihr über die Augen. »Was, Mann? Du willst doch, daß ich bleibe, oder?«

»Nein.« Es war ein bösartiges Knurren. »Ich will Sie aus dem Haus haben, sofort.« Und das stimmte auch, und doch wieder nicht.

»Mach mir nichts vor.« Sie drehte sich um. »Wo geht es da hin?«

Sie zeigte auf das Gästezimmer. Ursprünglich, bis vor einem Jahr, war es Annes Zimmer gewesen. Meine Kehle war wie zugeschnürt.

Ich sah, wie sie die Tür öffnete, hineinging, die Tür schloß. Und mir wurde schlagartig bewußt, daß die ganze Szene einen Höhepunkt des Absurden, des Unglaublichen erreicht hatte. Was spielte sich eigentlich ab? Wie konnte etwas Derartiges geschehen? Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Und da überfiel mich wieder die Wut. Fliegende Hitze durchströmte meinen Körper. Die Begierde blieb, mit ekelerregender Intensität, eine rein animalische Leidenschaft, Lüsternheit, aber der Ärger war stärker, und als ich durch den ordentlichen, so vertrauten Raum blickte – und dabei geflissentlich Lydias Bild über dem Kamin ignorierte –, kam ich zu einem Entschluß. Ich muß die ganze Zeit über, auch als ich sie küßte, gewußt haben, daß ich die Dinge nicht weiter treiben lassen durfte. Zum Teufel, das alles widersprach meinem Charakter, meiner Lebensphilosophie, meinem Stil. Andere mochten mich dumm finden, besonders Männer, falls sie jemals davon erfuhren. Von mir aus. Ich war nicht betrunken oder närrisch genug, mir von einem halbverrückten kleinen Flittchen, nur weil sich die Gelegenheit bot oder ich einem Impuls folgte, mein ganzes Leben durcheinanderbringen zu lassen.

Über mir öffnete sich die Tür. Ein Lichtstreifen fiel auf die Galerie.

Ich wartete nicht länger. Und wenn ich sie mit Gewalt entfernen mußte, ich würde sie hinauswerfen. Ich stieg die Stufen hinauf. Kein kleines Nuttchen sollte mich –

Sie trat auf die Galerie heraus. Sie trug nichts als ein fließendes, durchsichtiges Negligé. Ich blieb wie angewurzelt auf der Treppe stehen und hielt mich am Geländer fest. Meine Knie schwankten. Das Licht strahlte sie von hinten an.

Da erkannte ich Lydias Negligé, und in einem Ansturm von überwältigender Wut wußte ich, daß ich mich in Sicherheit befand.

»Ziehen Sie das aus.« Die Worte kamen so gepreßt und undeutlich heraus, daß sie wie ein Fauchen klangen.

Aber sie lächelte. Sie genoß das! Nur war ihr Lächeln jetzt häßlich, verkrampft. »Dann mußt du es mir schon vom Leib reißen.« Dunkles Flüstern, heiser vor Leidenschaft – eine Herausforderung. »Wenn du dich traust …«

Mir wurde erst bewußt, daß ich mich bewegt hatte, als ich leicht schwankend auf der Galerie vor ihr stand. Ihr Gesicht verschwamm mir vor den Augen.

Dann wandte sie sich ab und ging ins Schlafzimmer. »Wenn!«

Ich folgte ihr blindlings. Und mit einem Schlag hatte ich keinen Verstand, keinen Willen mehr. Ich riß ihr mit einem wilden Griff, erfüllt von Haß und Wut und getrieben von einer unwiderstehlichen Begierde, die für vernünftige Gedanken oder Entscheidungen keinen Raum mehr ließ, das Negligé herunter.

Sie war am ganzen Körper ebenso sonnengebräunt wie im Gesicht.

 

Erst als ich nachher neben ihr hingestreckt lag, überkam mich Angst. Sie lag mit dem Rücken zu mir, wehrlos wie ein Kind, zusammengekauert.

»Gute Nacht, Sam –«

Kalter Ekel. Scham. Schuld. Ätzende Reue. Ich wollte aufstehen, weg von hier. Den Blick von ihr abgewendet, sammelte ich meine Kleider vom Boden auf und schlich mich, noch immer nackt, auf die Galerie hinaus. Leise schloß ich hinter mir die Tür und schlurfte in mein Schlafzimmer, in Lydias und mein Schlafzimmer. Ich ließ mich auf die Bettkante sinken und wünschte, ich hätte eine Zigarette. Was nun? Wie sollte ich sie loswerden? Das war am wichtigsten. Jetzt, oder erst am Morgen? War es mit Geld zu erledigen? Wieviel? Mein Gott, wie konnte ich mich nur auf so etwas einlassen?

Ich vernahm ein Geräusch. Es kam von unten. War sie hinuntergestiegen?

Ich zog mich hastig an und schlüpfte barfuß in die Schuhe. Auf keinen Fall wollte ich nackt oder im Morgenrock erscheinen – das war endgültig vorbei. Und je eher sie verschwand –

Es war aber niemand im Wohnzimmer, als ich auf die Galerie hinaustrat. Ich stieg die Stufen hinab und hörte weitere Laute – das Schließen der Kühlschranktür? – aus der Küche. Ich blieb an der Bar stehen und goß mir einen Drink ein, ohne Wasser, ohne Eis, von dem ich einen tiefen Schluck nahm, bevor ich mit dem Glas in der Hand durch das Eßzimmer in die Küche ging. Für Schuldgefühle und Kummer blieb später noch Zeit, zuerst mußte ich sie loswerden, die Sache ein für allemal hinter mich bringen.

Aber nicht sie befand sich in der Küche. Neben dem Gasherd stand ein junger Mann: groß, breitschultrig, in hautengen Baumwollhosen, einem Strickhemd mit farbenprächtigen Querstreifen, einem buschigen, braunen Bart und einer Sonnenbrille. Er trug sein langes, krauses Haar weit in die Stirn gekämmt. Um den muskulösen Arm hatte er einen Ledergurt geschnallt. Im Mundwinkel klebte eine Zigarette, und er hatte sich ein Handtuch wie eine Schürze in den Gürtel gesteckt.

Während ich ihn anstarrte, überfiel mich wieder der Zorn. Warum hatte ich nicht an etwas Derartiges gedacht? Warum war mir nicht einmal ein Verdacht gekommen?

»Wer sind Sie?«

Er drehte mir das Gesicht zu, aber seine Augen waren hinter den spiegelnden Brillengläsern verborgen. Er legte den Kopf auf die Seite, steckte einen Finger in das Gebräu, das auf dem Herd brodelte, warf den Kopf in den Nacken und leckte den Finger ab. Er schmatzte mit den Lippen. »’s wird nicht gerade edel, Mann, viel haste ja nich vorrätig, aber Wilby hat sein möglichstes getan.«

»Beantworten Sie meine Frage!«

»Hummer-Krabben-Ragout mit Pilzen.« Die Heiterkeit hinter seiner melancholischen Verschlagenheit fügte sich ganz natürlich in die traumhafte Atmosphäre. »Dachte, du würdest nach dem Sport und Spiel ’nen kleinen Imbiß zu schätzen wissen.«

Er hielt sich hier also schon länger auf. Ich konnte nur mit Mühe die Wut bändigen, die wie Feuer durch meine Adern schoß und jeden Augenblick in Gewalttätigkeit umzuschlagen drohte. Aber es kam jetzt darauf an, den Kopf nicht zu verlieren. Der Junge war nicht älter als fünfundzwanzig Jahre, also fünfundzwanzig Jahre jünger als ich. Er wog mindestens zwanzig Pfund mehr und schien in bester körperlicher Verfassung. Eine Schlägerei um diese Zeit würde zweifellos zu einer öffentlichen Ruhestörung führen, für die ich kaum eine glaubhafte, harmlose Erklärung finden konnte.

»Sind noch mehr da?«

»Nur wir zwei, Paps.« Er schaute mich nicht an. »Nur Jenny und ich und du – feine Sache, was?«

»Fein.« Ich hörte meine eigenen Worte wie von ferne. »Hätte ich gewußt, daß ihr zwei Feinschmecker kommt, dann hätte ich noch ein paar Delikatessen eingekauft.« Die Unbeschwertheit meines Tons überraschte mich.

Nun blickte er mich an. Seine Lippen verzogen sich, glänzten rosa im buschigen Bartgestrüpp, und Zigarettenasche stäubte auf den Boden. »Paps, du tust nur so. Echt is es nich, aber für den Anfang auch nich schlecht.«

»Wenn das ein Kompliment sein soll, vielen Dank.« Trotz meiner Nervosität klang das beiläufig. »Sie wollen mich wohl bei Laune halten.«

Er stieß ein schnaufendes Lachen hervor, öffnete die Kühlschranktür und holte zwei Eiswürfelbehälter heraus. »Du bist ja ein schöner Gastgeber, Mann. Nun kühl mal den verdammten Wein.« Er schob mir die Behälter zu. »Ich hab’s in einer Bar so gesehen. Ich will einen weiß-weißen.«

Direkte Befehle hatten mich selbst im Krieg aufgebracht. Mit so anmaßender Arroganz gegeben gingen sie mir derart gegen den Strich, daß ich ihm fast die Eiswürfel aus der Hand geschlagen hätte. Statt dessen sagte ich: »Scheren Sie sich zum Teufel!«, machte auf dem Absatz kehrt und stelzte ins Wohnzimmer.

Wo Jenny mit hastigen, nervösen Bewegungen sämtliche Schranktüren aufriß. Sie trug das gleiche Kleid. Sie richtete sich auf, ließ die Türen offen und setzte, ungeachtet meiner Gegenwart, die Suche fort. Ich trank mein Glas aus und beobachtete sie. Ihr Gesicht wirkte nun ausgezehrt, mit schmalen Lippen und zusammengekniffenen Augen, und erstaunte mich, als ich an meine Gier vor einer knappen Stunde zurückdachte: das Mädchen war nicht einmal hübsch. Sie zerrte die Schublade des Telephontischchens in der Diele auf, durchwühlte sie mit beiden Händen, stieß einen unverständlichen Laut aus – und sah mich, als sie sich umdrehte.

Sie gab kein Zeichen des Erkennens. Sie funkelte mich an. »Gib mir bloß ’ne Zigarette.«

»Ich rauche nicht.«

»Verdammt, es raucht doch jeder.«

»In der ganzen Wohnung gibt es keine Zigaretten, falls nicht dein Freund in der Küche welche hat.«

»Freund?« Sie schnaubte verächtlich. »Wilby?« Sie schlenderte auf mich zu. »Himmel, was ein Laden!« Ihre Gereiztheit war unverstellt, abstoßend. Sie schaltete das Radio ein. Wieder dröhnte und jaulte Musik. Dann baute sie sich vor dem Kaminsims auf, eine Hand in die vorgereckte Hüfte gestemmt, und betrachtete mich. »Na, Sam –«

Sollte es eine Frage sein? »Ich heiße nicht Sam«, konstatierte ich und goß mir an der Bar einen frischen Drink ein.

»Würde aber passen.«

»Wer, zum Teufel, ist Sam?«

»Ach, scheiß drauf, du langweiliger Kerl! Sam ist nicht irgendwer, mit dem man ins Bett geht. Er ist – jemand, mit dem es klappt. So, wie du Sam sein könntest –«

Ausgerechnet! Ich trank einen Schluck. Der Whisky brannte bis tief in den Magen. Ausgerechnet, du Flittchen. Laut fragte ich, weil es mir wert schien, zu erfahren, was für ein Spielchen sie trieben: »Wenn ich Sam bin, wer bist du dann?«

»Jenny.«

»Jenny, und was noch?«

»Nicht was noch, sondern Jenny wer. Jenny ist keine Sache.« Es war der junge Mann, der durch das Eßzimmer hereinkam. Wie hatte er sich genannt? Wilby?

Jenny kicherte. »Gib mir ’nen Glimmstengel.«

Er warf ihr ein Päckchen zu. Es fiel auf den Boden. »Ist das dein Magen, der so knurrt, Paps?« Er räumte den Couchtisch mit schnellen, trotz seiner Untersetztheit fast anmutigen Bewegungen ab. »Wo, zum Teufel, bleibt der Wein?«

Ich beschloß, noch ein Glas Whisky zu trinken; wahrscheinlich keine besonders gute Idee, unter den Umständen – aber was für Umstände waren es eigentlich? Schön und gut, ich konnte ihr Theater mitmachen. Bis zu einem gewissen Punkt. Ich bückte mich vor der Bar und holte eine Flasche Wein heraus.

Jenny schien sich für ihre Umgebung nicht mehr zu interessieren, nun, da sie eine Zigarette zwischen den Lippen hatte. Sie schlenderte durch das Zimmer, berührte hier und da einen Gegenstand, strich leicht darüber: Lydias Sammlung von Elfenbeinminiaturen, eine Ming-Vase, ein Zinnkrug, den Lydia vor fünf oder sechs Jahren aus England mitgebracht hatte. Neugierig? Oder besitzergreifend?

»Wie sind Sie hereingekommen?« Meine Stimme klang wieder normal: vernünftig, wißbegierig. Dabei kam mir der Verdacht, daß gerade der Versuch, diese Angelegenheit vernünftig zu betrachten, zu meinem Nachteil ausschlagen konnte. Schwer zu sagen, was mit diesem merkwürdigen Pärchen los war – waren sie rauschgiftsüchtig? Kriminell? Vielleicht lag der einzige Ausweg darin, meinem Zorn die Zügel schießen zu lassen und jetzt sofort, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, brutale Gegenmaßnahmen zu ergreifen. »Wer hat Sie hereingelassen?«

Wilby nahm ein Buch vom Tisch und blätterte darin. »Keine Angst, Paps. Der Portier hat mich nicht gesehen.«

»Und ich«, fügte Jenny, wieder durch das Zimmer tänzelnd, hinzu, »ich habe gesagt, ich möchte einen Kerl namens Donald Bishop besuchen.«

»Abbot«, hörte ich mich sagen und dachte dabei an Donald Abbot, der das Duplex-Appartement unter uns bewohnte. Woher aber kannte sie Donalds Namen?

»Jedenfalls was Religiöses«, kicherte der junge Mann. »Da siehste, wie gut wir es mit dir meinen, Mann.« Er schleuderte das Buch von sich, so daß es auf meine Füße fiel: Die grünen Teufel. »Wer von euch gehört denn zum Buch-des-Monats-Kultur-Klub, Mann? Du oder die britische Frau Gemahlin?«

Jeder einzelne Muskel in meinem Körper war gespannt und schmerzte. »Na gut, ’raus damit. Was wollt ihr?«

»Nicht sehr höflich, was, Jenny?« Seine gespielte Gekränktheit grenzte an Hohn.

Jenny jedoch tanzte, gleitend, in sich versunken.

»Was wollt ihr?«

Wilby kauerte sich auf die Fersen. Der Tisch war leer. »Umgekehrt, Paps. Was willst du? Kommt der Sache näher, was? Und wir müssen uns immer an die Tatsachen halten, was, wir Anwälte?« Er drehte ein silbernes Feuerzeug in den Fingern, das ich Lydia vor Jahren geschenkt hatte, ehe wir beide beschlossen hatten, das Rauchen aufzugeben. Er stellte es mit übertriebener Sorgfalt beiseite, und ein heimliches Lächeln kräuselte seinen Bart. Dann stand er auf und schüttelte mit gespieltem Bedauern den Kopf. »Paps, wie konntest du nur meine Frau vergewaltigen.«

Er machte sich nicht die Mühe, zu beobachten, ob sich der Schock in meinen Zügen widerspiegelte. Wahrscheinlich genoß er es um so mehr, der Lump. Ich schaute ihm nach, als er lautlos auf Hanfsohlen durch das Eßzimmer in der Küche verschwand.

Seine Frau! Angeekelt und empört konnte ich ihm nur nachstarren. Trotz seiner männlichen Erscheinung war er so offensichtlich und auf arrogante Weise schwul –

Jenny tanzte mit der Zigarette in der Hand, mit wiegenden Armen und glasigen Augen vor sich hin, so als wäre ich gar nicht vorhanden. Der ganze lächerliche Abend wurde von Minute zu Minute grotesker und hintergründiger. Durchaus möglich, daß sie verheiratet waren. Alles war möglich.

Jenny sang zur Musik.

Ich spürte ein Ziehen in der Leistengegend und merkte, daß ich alles wie aus der Ferne betrachtete – es war, als würde mir eine Szene auf der Bühne vorgespielt, in der auch ich vorkam, und ich konnte mir nicht darüber klarwerden, ob das Stück wahnsinnig komisch, ob es nur absurd oder haarsträubend unheimlich war.

Ich sah, wie Jenny sich mit noch immer wiegenden Bewegungen rücklings auf den Cocktailtisch legte, wobei selbst ihre ausgefallensten Gesten noch immer graziös wirkten. Sie schlängelte die Arme über den Kopf, mit unbeteiligter und in sich versunkener Miene, und hob die Beine in die Luft, so daß das Kleid hochrutschte.

Ich faßte einen Entschluß. Resolut schritt ich in die Diele, hob den Telephonhörer ab und wählte 0. Das hätte ich gleich tun sollen, bereits vor einer Stunde.

»Was hast du vor?« Ein Zischen ließ mich herumfahren. Sie lag reglos da, und Besorgnis umwölkte ihre Züge.

Ich hörte das Tuten am anderen Ende der Leitung.

»Wen rufst du denn an?« – ein häßlicher Unterton schwang in der Stimme, eine Warnung. Sie richtete sich auf. »Ich werde –« Nun rief sie: »Wilby!« Ein Hilferuf. »Ich schreie, daß das ganze Haus zusammenläuft.«

Das regelmäßige Tuten im Telephonhörer dröhnte mir ungewöhnlich laut in den Ohren.

»Schrei nicht, Baby.« Wilby erschien mit einem Topf und einigen Tellern in der Hand. »Spar dir das Geschrei.« Seine Stimme klang dünn und hoch, aber er warf kaum einen Blick in meine Richtung. »Heb es dir auf für später.«

»Vermittlung«, sagte eine frische Stimme in mein Ohr.

»Die Polente soll gleich die Reporter mitbringen, Paps. Jenny-Baby, möchteste morgen gern dein Bild in der Daily News sehen?«

»Hier ist die Vermittlung –«

»Titelseite Mitte? Daily News, AP, UPI, der ganze Blätterwald –« Er stieß den kochend heißen Topf über die Glasplatte, gegen Jennys Oberschenkel, und sie sprang mit einem Jammerlaut auf.

»Du Mistvieh!« zeterte sie. »Du weißt doch, daß ich nichts darunter anhabe.« Sie rieb sich das Bein. »Du gemeines Mistvieh.«

»Hier spricht die Vermittlung«, erklärte die Stimme noch einmal. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Mach nur weiter, Paps.« Wilby schaute noch immer nicht zu mir hin, als er aus der Hosentasche Eßbestecke hervorholte und sie klirrend auf den Tisch fallen ließ. »Das gibt ’ne prima Geschichte. Wie du Jenny besoffen gemacht und sie von der Kneipe hergeschleppt hast –«

Mir schwirrte der Kopf. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Ich legte die Hand über die Sprechmuschel.

»Und wie du sie vergewaltigt hast. Und wie sie mich zu Hilfe gerufen hat. Sag’s doch der netten Dame, Mann. Sie sollen die Polente schicken, aber schnell-schnell –« Er kniete sich auf den Boden und arrangierte Teller und Bestecke mit peinlicher Sorgfalt. »’n bißchen Glück, und die Londoner Zeitungen übernehmen die Geschichte. Damit die feine Familie der britischen Frau Gemahlin –« Das gab den Ausschlag. Vor Zorn kochend legte ich den Hörer auf. Mir hatte es den Atem verschlagen.

»’türlich würde Lydia-Lydia nicht glauben, daß du die kleine Jenny vergewaltigt hast, was?«

Ich blickte nicht auf das Porträt über seinem Kopf. »Damit haben Sie verdammt recht«, brachte ich heraus.

Wilby lachte. »Ausgerechnet, Mann!« Sein Lachen war ebenso schrill wie seine Stimme – fast ein Gackern. Er kauerte sich wieder auf die Fersen. »Ist doch wirklich übel, daß die Leute immer das Schlimmste glauben. Von den anderen! Raubt einem alle Illusionen, was?«

Zum ersten Mal entdeckte ich in seinen Reden etwas unheimlich Widersprüchliches: Er sprach ungebildet, salopp und doch –

Ich warf Jenny einen Blick zu. »Ich bezweifle, daß irgend jemand glaubt, sie müßte vergewaltigt werden.«

Wilby gluckste. »Weißte, was die Leute glauben, Paps? Was sie glauben wollen, kapito?«

Jenny lächelte freundlich. »Ich wollte schon immer mal vergewaltigt werden.« Sie wirkte dabei völlig unschuldig – und aufrichtig.

»Wer will das nicht, Baby? Das is ’ne Tatsache. Kapito, Paps?«

Ich schritt durch das Zimmer auf sie zu. Wilby machte sich wieder am Tisch zu schaffen, und Jenny schaute belustigt zu. Was sollte ich unternehmen? Was konnte ich unternehmen?

»Paps«, sagte Wilby vorwurfsvoll, »du hast noch nicht mal den Wein kaltgestellt!« Er löffelte den weißlichen Pamps aus dem Topf auf die Teller. »Gib Paps die Flasche, Jenny-Baby. Und auch ’nen Korkenzieher.«

Jenny kicherte. »Ja-a. Ich hab’ fürchterlichen Durst.« Sie holte die Flasche von der Bar und hielt sie mir hin. »Oskar hat auch Durst.«

Ihr Blick kreuzte sich mit meinem, spielerisch, herausfordernd.

»Mußt den kleinen Bastard füttern«, sagte Wilby.

Oskar? Was, zum Teufel, sollte das bedeuten? Oskar –

Als ich nach der Flasche griff, war ich – in einem wilden Anflug von Panik – versucht, sie am Hals zu packen und Wilby, der am Boden kniete, über den Schädel zu hauen.

Jenny muß das gespürt haben. »Wilby –« sagte sie warnend.

Er stand auf, trat auf mich zu, streckte seine Hand aus, nahm mir die Flasche ab. Dann holte er den silbernen Korkenzieher von der Bar, drehte mir mit wohlberechneter Verachtung den Rücken zu, klemmte sich die Flasche zwischen die Beine und machte sich an die Arbeit. »Brutaler Kerl, was, Jenny-Baby?«

»Vielleicht.« Ton und Blick fragend, gemischt mit einer gewissen Unsicherheit und einer Art animalischer Bewunderung. »Sam hat ’ne Menge Überraschungen in petto –«

Der Kork verursachte ein saugendes Geräusch, ehe er heraussprang. Wilby baute sich vor mir auf, den Kopf seitlich geneigt, und lächelte rosig und sardonisch in seinen Bart. »Vaterschaft, Vaterschaft, wer macht mit in der Partnerschaft?«

Zum ersten Mal dämpfte ein kalter Schauder der Angst die sengende Wut in mir. Ich nahm einen tiefen Schluck. Ich hatte noch nie viel für Männer übrig gehabt, die ihre Probleme in Alkohol ertränken, aber mittlerweile überraschte mich nichts mehr an mir. Wider alle Vernunft hoffte ich, daß der Whisky meinen Kopf klären würde.

Unterdessen hatten sich die beiden auf dem Boden niedergelassen, den Tisch zwischen sich. Wilby schenkte den goldgelben Wein ein, und Jenny schlang das Ragout in sich hinein, als wäre es seit Tagen ihre erste Mahlzeit. Nun wirkte sie ausgesprochen häßlich: mit harten Zügen, verfressen, ein grantiges Kind. Ich spürte eine vage Erleichterung.

Ich betrachtete die Szene wie aus himmelweiter Entfernung. Sie aßen gierig schmatzend und bewegten dabei fortgesetzt Hände, Löffel, Weingläser. Wie Affen.

»Verdammter Oskar«, sagte Jenny. »Ich hasse den kleinen Bastard jetzt schon.«

Wilby prustete. Wein und gekautes Essen spritzten in die Gegend. Mir drehte sich der Magen um, und ich ging zum Thermostat an der Wand, um die Klimaanlage hochzuschalten. Die Luft war zum Schneiden.

»Pilze«, sagte Wilby, »wie die Bombe. Was hältst du von einem Atompilz, Leutnant?«

Verblüfft wandte ich mich ab und ging zur Bar.

»Unser Paps hier war nämlich bei der Luftwaffe, Jenny. Kann’s sogar mit Orden beweisen. Die ganze Achte Luftflotte fraß nichts als Karotten, da konnte sie nachts besser sehen. Wo sie die Bomben hinschmeißen sollte. Stimmt’s, Paps?«

»Sie haben sich ja gut informiert«, stellte ich fest. »Wie lange planen Sie dieses Unternehmen schon?«

Mir tat die Bemerkung, die ohnehin ignoriert werden würde, sofort leid.

»Spaß gehabt im Krieg, Paps? Du sollst nicht töten, heißt’s doch, also ’rein ins Vergnügen, solange es gut geht. War’s ein Vergnügen?«

»Krieg ist kein Vergnügen«, sagte ich abweisend. Als ich mir einen frischen Whisky einschenkte, hörte ich Wilby hinter mir lachen. Ich schaute hin, und da lag Wilby rücklings auf dem Boden ausgestreckt, die Füße in den Sandalen auf dem Tisch, und gackerndes Gelächter schüttelte seinen ganzen Körper.

»Mach mir nichts weis, Mann, Krieg ist kein Vergnügen. Darauf scheiße ich, doppelt und dreifach. Schau dich doch um.« Er hielt sein Glas hin, und Jenny goß nach. »Du brauchst nur deine verdammten Ohren und Augen aufzusperren. Von wegen Krieg ist kein Vergnügen!« Es gelang ihm, sich auf die Seite zu wälzen und einen Schluck zu trinken, wobei sich ein paar Tropfen auf den Bart und den Teppich ergossen. »Wieviel Paraden gibt’s in New York jedes Jahr? Wieviel Flaggen, Militärkapellen, Reden? Wo kommen denn die ganzen Abzeichen der Amerikanischen Legion her?« Seine Stimme hatte im Gegensatz zu vorher einen dunklen, erregten Unterton. »Weil’s Spaß macht, dir und den anderen, allen.« Immer noch das Glas balancierend, kam er mit einer kraftvollen, gewandten Bewegung auf die Füße und brüllte: »Gib’s doch zu, du heuchlerisches Miststück, du bist auch nicht anders, du kleinkarierter, verlogener Lump, sag doch einmal in deinem gottverdammten, blinden Hurenleben die Wahrheit!«

Im ersten Moment des Schocks zuckten mir die Finger; ich wollte zuschlagen, wollte es hinter mir haben.

Aber ich sah, daß er nur darauf wartete, in abwehrbereiter Haltung, mit gespreizten Beinen, gespannten Muskeln. Wieder unterdrückte ich die Aufwallung.

Als er merkte, daß ich nicht zum Angriff übergehen würde – die Genugtuung wollte ich ihm nicht geben! –, sagte er: »Warum die Wahrheit nicht zugeben?« Und ich hörte betroffen einen fast flehenden Unterton heraus.

Ich rührte mich nicht.

Da sank er so unvermittelt, wie er aufgebraust war, wieder in seine übliche schnoddrig-spöttische Haltung zurück. »Der Krieg ist sowieso überall, was, Paps?« Sein Ton war leicht, fast wieder spielerisch. »Auf den Straßen, im Wohnzimmer, in den Klubs, im Schlafzimmer.« Er schnaubte und flegelte sich hin. »Meistens in den Schlafzimmern, was? Animalische Naturerscheinung. Wem willste denn was vormachen, Paps? Vielleicht dir selbst-selbst?«

Unwillkürlich trat ich einen Schritt auf ihn zu. »Hören Sie mal, Sie jämmerlicher Bastard, manchmal geht es nicht ohne Gewalt. Manchmal ist Gewalt das einzige, was die Leute begreifen.«

Stille. Wilby regte sich nicht. Ich spürte, daß Jenny sich gespannt aufrichtete.

»Soll das ’ne Drohung sein, Paps?« Wilby sagte es ohne Nachdruck, sorglos – fast amüsiert.

»Stimmt genau. Es ist eine Drohung«, erwiderte ich.

»Beruhige dich, Mann. Ich mach’ mir nichts aus Drohungen.«

»Ich auch nicht.«

Wieder Schweigen.

Dann kicherte Wilby. »Weißt du, Paps, ich bin wahrscheinlich der einzige wirkliche jämmerliche Bastard, den du jemals so beschimpft hast. Ich bin legitim illegitim. Wie findste das?«

Ich hielt mich mühsam davon ab, auf ihn loszugehen. »Sie haben Ihr Späßchen gehabt. Das Spiel ist aus.«

Wilby streckte die Hand mit dem Glas aus, und Jenny schenkte wieder nach. »Man könnte fast meinen, Jenny, daß Paps was gegen unsere Gesellschaft hat. Ißt nicht mit uns, beleidigt uns –«

»Wo sollen wir sonst hin?« fragte Jenny – und ich war mir nicht sicher, ob ich Ironie aus ihrer Klage heraushörte. »Wo?«

»Frag ihn doch, Jenny.«

Sie drehte sich um und schaute mich an. »Wohin? Wir haben keine Bleibe. Wohin?«

»Ich habe euch schon gesagt, wo ihr hinkönnt«, sagte ich.

»Haste nicht auch gedacht, Anwälte wären vernünftige Leute, Jenny-Baby?«

»Ich war lange genug vernünftig. Viel zu lange. Ich kenne mich zufällig mit dem Recht aus. Ich weiß, was ihr tun und behaupten könnt, aber dann steht eben euer Wort gegen meines.«

»Und du bist ’ne Respektsperson, was –«

»Ich stehe in dem Ruf, mich an die Wahrheit zu halten, ja.«

Wilby tänzelte mit ausgestreckten Armen über den Teppich, als balanciere er auf einem Drahtseil. »Sind Gesetze wirklich, Paps?«

»Wirklich?«

»Wirklich. Du hast schon verstanden.«

»Ich habe nicht vor, mit Ihnen über Gesetze zu debattieren –«

»Dann eben über die Wirklichkeit. Diskutieren wir über die Wirklichkeit. Ist die Wirklichkeit wirklich? Existiert sie tatsächlich? Oder bilden wir sie uns ein, und existiert sie nur deshalb?« Er drehte auf einem Bein eine Pirouette. »Ich, zum Beispiel, Paps. Bin ich für dich wirklich?«

»Das müssen Sie wohl sein«, entgegnete ich, »weil ich mir Sie nicht mal im Traum ausdenken könnte.«

»Oh, nett-nett! Den Mann muß man gehört haben, Jenny! Er hat’s fast begriffen, der Spießer.« Er sprang von dem imaginären Drahtseil herunter und verbeugte sich übertrieben, wozu Jenny applaudierte. »Vielleicht packstes doch noch, Paps.«

Diesmal trat ich einige Schritte auf ihn zu, ehe ich mich bremsen konnte.

Wilby wich zurück. »Ich sag’s meinem großen Bruder«, warnte er mich und tat so, als kauere er sich ängstlich zusammen.

»Dein Bruder wird nicht auf dich hören«, warf Jenny dazwischen und ließ mich nicht aus den Augen. »Hat er noch nie.«

»Paps weiß nicht, wer mein Bruder ist.« Wilby senkte nach einem Augenaufschlag feierlich den Kopf. »Du nennst ihn Gott, das ist mein großer Bruder. Mein taubstummer, blinder, allmächtiger Bruder, der alle Strippen zieht und doch nicht existiert, nicht mal in meiner Phantasie.«

»Sie sind verrückt«, sagte ich gedankenlos.

Er riß den Kopf hoch und wurde starr. »Paß auf, was du sagst, Mann.« Es war nicht seine Stimme, sondern ein tonloses Flüstern.

»Ich kann beweisen, daß es nicht mein Kind ist.« Mir schien es plötzlich sehr wichtig, meinen Verstand beisammenzuhalten, nicht loszuschlagen, diesen verrückten Alptraum nicht in Brutalität ausarten zu lassen, nach der es mich immer brennender verlangte. »Ich kann beweisen, daß ich keinen von euch vor heute abend jemals gesehen habe.«

Wilby wandte sich an Jenny. »Baby, hast du mir nicht gesagt, daß Paps es war?«

»Klar«, erklärte Jenny und stand auf, »das weißt du doch.«

»Ich möchte keinen Fehler machen«, sagte Wilby. »Das wäre Paps gegenüber nicht fair.«

Es war, als redete man gegen eine Wand. Trotzdem versuchte ich es weiter: »Es gibt schließlich Tests, Blutuntersuchungen, Formalitäten.«

Wilby warf sich der Länge nach auf das Sofa und schloß die Augen. »Haste denn überhaupt Blut, Paps? Haste tatsächlich dieses rote Zeug in dir?« Er schlenkerte mit dem Arm, das Weinglas in der Hand. »Gieß mir noch mal ein, Mann, ich komm’ mir vor wie in anderen Umständen.«

Bevor ich es überhaupt wußte, hatte ich ihm mit dem Fuß das Glas aus der Hand getreten. Es segelte quer durch das Zimmer, krachte gegen die Ziegelummauerung des Kamins und zerschellte. »Universität von Nebraska«, sagte Wilby träge, »Fußballstar des Jahres.«

Mein Zorn, das wurde mir klar, richtete sich ebensosehr gegen mich wie gegen Wilby und Jenny: Was, zum Teufel, stellte ich eigentlich an? In dem Bewußtsein meiner Unschuld nahm ich automatisch an, daß das Gesetz – die Vernunft – auf meiner Seite stehe. Wie oft hatte ich meine Klienten vor solchen Annahmen gewarnt?

»Willste etwa die Nachbarn aufwecken?« Wilby schnalzte mit der Zunge und gähnte dann. »Was sollen die denn denken?«

»Wilby – oder wie Sie sonst heißen –, treiben Sie es nicht zu weit!« Meine Stimme war nicht mehr zu erkennen.

»Sonst? Titelseite Daily News, Abdruck in den Londoner Zeitungen?«

Ich sah Jenny an. »Ich glaube nicht, daß sie schwanger ist.«

Sofort drückte Jenny den Magen heraus und watschelte mit hohlem Kreuz in einem plattfüßigen Entengang mit auswärts gedrehten Füßen im Zimmer herum: eine spontane, grausame und verächtliche Parodie auf alle Frauen, die jemals ein Kind getragen haben. Wilby jubelte vor Vergnügen, rollte sich auf den Bauch und hieb mit beiden Fäusten gegen das Sofapolster.

»Ich glaube es nicht«, wiederholte ich und goß mir einen frischen Drink ein, ohne auf die beiden zu achten.

»Weißte was, Paps«, rief Wilby, als Jenny sich in einen Sessel fallen ließ, »wennde Jenny und mir nich glaubst, dann hol doch ’nen Doktor her, irgend’nen Quacksalber, der kann dir alles über Oskar sagen.«

Sofort dachte ich an Arnold Wilder: sein breites, sympathisches, weises Gesicht mit den gütig-traurigen Augen. Vor zwanzig Jahren hatte er Lydia entbunden.

Wieder fiel eine Tür zu. Ein weiteres Risiko, auf das ich mich nicht einlassen durfte. Selbst wenn das kleine Flittchen nicht schwanger war, würde Arnold, der an Lydia wie an einer Tochter hing, würde jeder andere Arzt selbstverständlich annehmen –

»Diesmal haste recht, Paps. Genau das würde der Doktor denken.« Es war, als könnte er meine Gedanken lesen.

Ich nahm einen ausgiebigen Schluck und holte dann tief Atem.

»Na gut«, sagte ich. »Das Spiel ist aus. Wieviel?«

»Was für ein Spiel, Paps? Wieviel was?«

»Wieviel, verdammt!«

»Jenny, hör bloß, wie der Mann schäumt. Er meint, wir spielen. Glaubst du, er redet von Pinke?«

»Geld. Um wieviel haben Sie vor, mich zu erleichtern?«

Wilby zuckte die Achseln und betrachtete die Bücher in dem Regal hinter der Couch. »Wieviel haste denn?«

»Ich habe Sie schon einmal gewarnt: Treiben Sie es nicht zu weit!«

»Pinke interessiert uns nicht, Paps.« Er zog ein Buch heraus. »Wer liest denn diesen Mist? Haste nicht zufällig Nietzsche da? Oder vielleicht Kierkegaard? Haste den Dänen je begriffen?«

Ich wollte mich nicht verblüffen lassen. Noch ein Versuch. »Wenn nicht Geld, was dann?«

»Hast wirklich ’nen logischen Verstand, Paps. Bewundernswert.«

»Es ist mir völlig egal, was Sie bewundern. Wenn Sie nicht auf Geld aus sind –«

»Sie haben doch gehört, was Jenny vorhin gesagt hat. Wir haben keine Bleibe. Wir wissen nicht, wo wir unsere müden Ärsche parken können.«

»Vor wem verstecken Sie sich?«

Wilby warf mir einen Blick zu. »Paps, das ist doch langsam abgedroschen. Du enttäuscht mich. Hast wohl zuviel ferngesehen?«

Ich atmete nochmals tief ein, bekam aber nicht genug Luft. Bevor ich mich entscheiden konnte, wie ich mich zu verhalten hatte, mußte ich Bescheid wissen.

»Wie lange?«

Wilby wandte sich wieder der Lektüre zu. »Wann ist Oskar fällig, Jenny-Baby?«

»Hm?« Im Sessel zusammengerollt schien sie mit ihren Gedanken woanders zu sein und hörte nicht zu.

»Wann hat Oskar vor, aus deinem verdammten Bauch zu krabbeln? Denk mal nach, du kleines Aas.« Er sagte es so beiläufig, als bäte er um eine Zigarette.

»Du kannst mich«, entgegnete sie im gleichen Ton.

Ich stand wie angewurzelt, erfüllt von Haß, Unsicherheit, hilfloser Enttäuschung. »Wie lange?« Es war ein erstickter Aufschrei.

»Die Natur läßt sich nicht hetzen, Paps. Was hältste denn von sieben Monaten?«

»Sie sind völlig übergeschnappt.«

Wilby ließ das Buch sinken. Einen langen Augenblick war er sehr still, die Augen hinter der dunklen Brille verborgen. Schließlich sagte er: »Paps, ich hab’ dich gewarnt. Du hörst wohl nicht zu, was?«

»Sie auch nicht. Möchten Sie nicht in die Anstalt zurück?«

Es war riskant, aber mir war ein Verdacht aufgestiegen, dem ich unbedingt nachgehen wollte.

»In das Sanatorium, aus dem Sie ausgerissen sind«, sagte ich.

Wilby blieb stumm, passiv.

Zu meiner Überraschung kicherte Jenny. »Er ist nicht ausgerissen, er ist einfach weggegangen. Sie konnten ihn nicht mehr ausstehen.«

»Jenny –«, sagte Wilby.

»Ja?«

»Möchtste ’ne Tracht, hier vor dem Mann?«

»Er würde’s nicht zulassen.« Ich spürte, daß sie mich ansah, obgleich ich den Blick nicht von Wilby ließ, abschätzend, lauernd. »Nicht wahr, Sam?« – ein leichtes Beben vibrierte in ihrer Stimme.

Zum Teufel mit ihr. Meine Ahnung wegen Wilby hatte mich nicht getrogen. »Meine Frau kommt heim.«

Nun richtete Wilby sich auf. Jenny drehte die plärrende Musik ab, und in der plötzlich entstandenen Stille hörte ich ihr Kleid rascheln, als sie zu mir trat.

»Ach ja?« fragte Wilby lässig. »Wann?«

»Diese Woche«, antwortete ich.

»Du merkst es wohl nicht, wenn du verloren hast, was?«

»Also … wenn Sie nicht fort sind, habe ich keine andere Wahl, als Sie verhaften und einsperren zu lassen, ohne Rücksicht auf die Folgen für mich. Begreifen Sie das?«

»Einsperren?« fragte Jenny.

»Willste der kleinen Jenny Angst einjagen, Mann?«

»Einsperren?« wiederholte Jenny. »Wilby, was –«

»Einsperren«, sagte ich, »euch beide!«

»Weshalb, Paps? Was haben wir denn getan?«

»Hausfriedensbruch«, erklärte ich. »Erpressung.«

»Erpressung?«

»Ihr Wort steht gegen meines«, sagte ich.

»Und wer wird uns glauben?«

»Genau.« Meine Beherrschung erreichte die haarscharfe Grenze, wo sie in Unsicherheit umschlug. »Sie sagten doch selbst, daß die Leute sowieso glauben, was sie glauben wollen. Na, wenn sie euch beide sehen –«

»Kapito, Paps. Willst es riskieren?«

»Wollen Sie?«

»Wenn man nichts riskiert, weiß man gar nicht, ob man lebt.«

»Eines kann ich Ihnen versichern: Ich werde nicht dulden, daß meine Frau heimkommt und Sie hier vorfindet.«

»Warum nicht?« fragte Jenny heftig. »Sind wir vielleicht nicht gut genug –«

Wilby unterbrach sie mit einer knappen Handbewegung. »Soll das vielleicht heißen, daß’n Mann wie du – geachtet, Anwalt, Achte Luftflotte und so weiter – etwa lügen würde?«

Es war gespenstisch, wie er seinen Finger auf den wunden Punkt legte. Schon seit meiner Kindheit hatte ich eine übertriebene, fast krankhafte Aversion gegen Lügen, gleichgültig wie nebensächlich oder gerechtfertigt.

»Ich frage nur, Paps, weil du wirklich kein routinierter Lügner bist.« Er grinste wieder. »Weißte, Jenny und ich haben uns nachmittags die Zeit vertrieben und die Briefe deiner Engländerin gelesen. Demnach weiß sie nicht, ob die alte Dame gesund wird oder abkratzt. Und demnach gehst du ihr sehr ab, Mann, sie hat ja so ’ne Sehnsucht nach dir, und das beschreibt sie auch. Das hat wahrscheinlich Jenny so heiß gemacht. Du hast ja ’nen ganz schön hitzigen Schwanz, was, Casanova?«

Da holte ich aus. Ohne zu denken, ohne Vorwarnung. Mein Glas zerschellte am Boden, meine Faust streifte seinen struppigen Bart, weil ich sein Gesicht nicht voll traf; ich hatte es einen Moment dicht vor mir und roch seinen säuerlichen Atem, dann bohrte sich meine Hand in die Polster. Im gleichen Augenblick wurde sie mir verrenkt, Schmerz durchzuckte meine Eingeweide, dann wurde mir schwarz vor Augen – pechschwarz. Ich fand mich hilflos gekrümmt auf der Couch wieder und keuchte nach Luft, die nicht kam, mir war sterbensübel, und als ich versuchte, meine Schwäche zu überwinden und mich zusammenzureißen, hatte ich einen gallenbitteren Geschmack im Mund. Das Zimmer drehte sich um mich. Schmerz durchfuhr mich, lähmte meine Beine, verkrampfte meinen Magen, und ich schaffte es nicht, mich aufzurichten.

Über mir schwebte Wilbys Gesicht, verschwommen in einer rötlichen Dunkelheit, die jede Sekunde wieder schwarz werden konnte. »Tut mir leid, Paps, mein Knie muß sich an deine Eier verirrt haben, oder umgekehrt –«

Ich unterdrückte ein Stöhnen: Ein Schrei würde mir nicht herausrutschen!

»Soll ich heile, heile Segen machen?«

Ich rückte ab, mir wurde schlecht.

»Vielleicht könnte Jenny heile, heile Segen machen, Mann –«

Wilby hatte die Brille abgenommen, und ich sah zum ersten Mal seine Augen: ein leuchtendes, unergründliches Blau. Sein Gesicht wirkte nackt und fremd und hing wie ein Ballon über mir.

Trotz meiner Verfassung wurde mir nun klar, daß er mich absichtlich dazu verleitet hatte.

»Wilby«, mischte sich Jenny ein, »was hast du getan?«

Ich schloß die Augen und vernahm Wilbys Stimme, kindlich und fast klagend: »Alle sind gegen mich. Ich hätte Judo anwenden können, oder Karate. So ist es nun mal im Dschungel. Wennde im Dschungel lebst, mußte dich behaupten. Mann, ich hätte dich ebensogut umbringen können.« Dann fuhr er in spöttischer Selbstverteidigung fort: »Jenny, ich hätte den Mann fürs ganze Leben zum Krüppel machen können.«

Es war sehr dumm, daß ich mich so hatte hinreißen lassen: halb betrunken mich in meinem Alter mit so einem Ganoven anzulegen! Zumal ich, außer etwas Boxen im College, seit meiner Kindheit keinerlei Erfahrung in Raufereien hatte.

Der quälende Schmerz ebbte etwas ab, so daß ich wenigstens wieder Luft bekam. Ich schlug die Augen auf.

Ich erblickte Jenny. Ihr Körper war vorgebeugt, von einer merkwürdigen, sinnlichen Erregung erfüllt, ihre Augen funkelten und flackerten, und ihre Nüstern bebten. Mir war instinktiv klar, was ihre Gefühle in Wallung gebracht hatte: die Brutalität und meine Schmerzen. Ekel mischte sich mit meiner Übelkeit. Tiefe Abgründe taten sich auf.

Das Telephon läutete.

Wilby schaute zur Diele hin, aber Jenny starrte mich weiterhin mit lüsterner Faszination an.

Es läutete wieder.

Da sagte Wilby: »Für mich ist es nicht, Paps. Ich hab’ keiner Menschenseele verraten, wo ich bin.«

Jenny flüsterte unsicher, als suche sie Trost: »Wilby, du läßt doch –« Wieder schrillte der Apparat.

»Halt’s Maul«, fuhr Wilby sie an. »Kannste reden, Paps, oder sollen die Leute fragen, warum du mitten in der Nacht nicht zu Hause bist?«

Ich wich seinem ausdruckslosen, undefinierbaren Blick nicht aus. Mit Mühe kam ich auf die Beine.

Sadistisches Vergnügen glitzerte in seinen Augen.

Leicht vornübergebeugt durchquerte ich den Raum. Dies war meine Chance.

»Mumm, Jenny. Haltung. Siehste, der Mann hat doch Blut in den Adern.«

»Ja«, entgegnete Jenny sanft.

Schmerz durchzuckte mich, als ich mich neben dem Telephon in der engen Diele mit dem Rücken zu dem Pärchen niederließ. Wer es auch war, ich würde um die Hilfe der Polizei bitten und mich meiner Haut gegen diesen Lumpen wehren, ihn notfalls umbringen –

Wieder ein Klingeln, das ich unterbrach, als ich den Hörer abnahm.

»Hallo.«

»Du bist also doch zu Hause!«

Anne. Ich konnte sie mir vorstellen, wie sie ungeduldig und besorgt am Telephon stand, mit ihrem mädchenhaften Gesicht, das nicht so ausgeprägt war wie Lydias, aber den gleichen Ausdruck von Sanftheit und Verletzbarkeit aufwies.

»Daddy? Bist du noch da? Hallo!«

Das war meine Chance.

»Ja, Anne«, antwortete ich. »Ich bin da.«

Es war meine Chance, und schlagartig wurde mir klar, daß ich sie nicht ergreifen konnte. Jedenfalls jetzt noch nicht, ehe ich nicht wußte, worauf das Ganze hinauslief. Mittlerweile war ich bereit, die Folgen auf mich zu nehmen. Aber Wilby meinte jedes Wort ernst. Ich konnte das Lydia und Anne nicht antun: darauf lief es schlicht und einfach hinaus. Es drehte sich nicht nur um den Skandal, sondern um die Zweifel, Verdächtigungen, den persönlichen Kummer und die öffentliche Schande. Ich konnte es nicht.

»Daddy?«

Der lauernden Stille hinter mir bewußt, sagte ich: »Ich bin erst seit ein paar Minuten zurück.« Hatte ich sie je zuvor angelogen? »Ich bin noch im Kino gewesen.«

»Hast du etwas gegessen?«

»Ja.« Wieder eine Lüge.

Nun verfiel sie in ihren neckischen Ton: »Ich kann mir schon denken, was du gegessen hast. So tiefgefrorenes Zeug oder ein Sandwich. Du hast wohl vergessen, daß du mich gleich anrufen wolltest?«

»Anne, was sollte mir schon passieren –« Ich brach ab, als hinter mir ein leiser Pfiff Wilbys ertönte. »Was sollte mir schon passieren, es sind doch nur siebzig Meilen.«

»Ha! Lies mal die Unfallstatistik!«

Ihre besorgte Zuneigung rührte mich, erwärmte mein Herz: Einen Sekundenbruchteil lang tauchte ich getröstet aus dem Alptraum auf. »Mir geht’s gut, Liebling.«

»Na, ich muß schon sagen, daß es nicht danach klingt. Was ist denn mit deiner Stimme los?«

Wilbys Pfeifen wurde lauter. Was wollte er – Anne unter allen Umständen auf sich aufmerksam machen?

Ich räusperte mich – und die inzwischen auf meine Weichteile lokalisierten Schmerzen breiteten sich wieder aus. »Ich fürchte«, sagte ich, »ich habe einen Virus erwischt, oder so etwas.«

Wilby hörte zu pfeifen auf, schnaubte, und Jenny kicherte.

»Wahrscheinlich nur eine Erkältung. Pflege dich gut, Daddy. Ich komme mir hier so hilflos vor, und Mammy ist nicht da –«

»Anne«, beruhigte ich sie verkrampft, während mir der Schweiß aus allen Poren drang, »du mußt dir langsam abgewöhnen, deinen Vater für einen klapprigen alten Mann zu halten –«

»Das tue ich ja gar nicht«, protestierte sie. »Du bist für mich der bestaussehende, jüngste Mann, den ich –« Sie unterbrach sich. »Gleich nach Glenn, natürlich.«

»Sag Glenn einen schönen Gruß, Anne. Es ist schon spät, und das Gespräch kostet zuviel.«

»Vater! Hast du etwa getrunken? Ich meine … normalerweise tust du es ja nicht, aber –«

»Na ja«, brummte ich, und wußte, daß ich wenigstens diesmal die Wahrheit sprach, »na ja, ein paar Gläser. Davon stirbt man nicht gleich.«

Anne lachte. Es klang nicht so dunkel und spontan wie bei ihrer Mutter, aber jung und glücklich und erleichtert. »Ich finde das herrlich! Es ist ja keine Schande. Nur … ich wollte, es würde dich irgendwie fröhlicher machen.«

Ich holte tief Atem, und der Schmerz durchzuckte mich messerscharf. »Ich bin sehr fröhlich«, entgegnete ich, »und außerdem müde. Wieviel Heiterkeit erwartest du um diese nächtliche Stunde?«

»Schon gut, du brauchst nicht zu schimpfen. Es ist nur, weil ich …« Ich vernahm ein Seufzen. »Dann gute Nacht, Vater.«

»Gute Nacht, Anne.«

Ich legte den Hörer auf, blieb aber sitzen. Ich konnte einfach nicht aufstehen und mich umdrehen. Ich brauchte eine Zigarette – mußte unbedingt eine haben, dringender als je zuvor, seitdem ich aufgehört hatte zu rauchen. Ich wischte mir mit einem zusammengefalteten Taschentuch den Schweiß vom Gesicht und von den Handflächen.

Ich hörte Jenny lachen – diesmal kein Kichern, sondern ein frauliches Lachen, tief aus der Kehle heraus. »Er ist keine Spur fröhlich. Der nicht!«

»Teufel, Baby, wir sind alle vergnügt.«

»Das behauptest du immer. Ich –«

»Du hast keine Ahnung, Baby-Baby, du lernst nichts dazu. Es ist nicht alles, wie es scheint. Selbst Paps hier, aufrecht wie er ist, ist nicht nur ein Mann-Mann. Aber er gehört zu den anständigen Typen. Man muß die Familie beschützen, kapito, Paps?«

Ich erhob mich und stellte mich ihm. Seine hellen, kalten Augen blickten ausdruckslos, unschuldig, aber in seinem Gesichtsausdruck und seiner Haltung lagen Verachtung.

»Ich versuche, sie zu beschützen«, sagte ich. »Aber das ist nur bis zu einem gewissen Punkt möglich. Von da ab kommt es nicht mehr darauf an.«

»Dich, Paps – dich willst du beschützen. Du willst nicht, daß dich deine kleine, shakespearische Anne für einen Roué hält. Würde dein Image verderben.« Wilby lachte. »Ödipus, Paps, kapito?«

Diese Andeutung war abscheulicher als alle, die er an diesem Abend gemacht hatte. Mir fiel ein, wie ich das letzte Mal betrunken gewesen war – eines der wenigen Male in meinem ganzen Leben –, und zwar am Abend von Annes Trauung vor einem Jahr. Lydia hatte am nächsten Morgen etwas gesagt, was mich geärgert und erstaunt hatte. Sie sei nicht besonders überrascht –

»Nicht alle haben so schmutzige Gedanken«, sagte ich.

»Gottlob!«

»Laß meinen großen Bruder aus dem Spiel. Er sieht Böses, hört Böses, tut Böses. Bloß helfen tut er gar nicht – gar nicht, weil ihm die verirrten kleinen Schafe wie du und ich scheißegal sind.«

Shakespearische Anne, Ödipus, das Wort ›Roué‹, sein Gerede über Gott: Machte ich möglicherweise einen fatalen Fehler, wenn ich ihn für einen streunenden Ganoven, einen ungewaschenen Beatnik hielt? Kein gewöhnlicher Verbrecher konnte all dies geplant, konnte so genau vorberechnet haben, wie ich reagieren würde.

Während ich ihn abschätzend betrachtete, rülpste er. Dann machte er kehrt und schlenderte ins Wohnzimmer. Jenny kniete auf einem Sessel und schaute ihm lachend über die Lehne entgegen, und deshalb rülpste er noch einmal, lauter als zuvor.

»Anne und Glenn!« krähte er. »Glenn, was ein Name! Kleines Haus im Vorort, wo die richtigen Leute wohnen, Jenny, das Rückgrat der Nation, wie im Kino. Kartenhäuser mit Pergamentwänden, und Toiletten, die niemals rauschen, weil in den feinen Vororten niemand scheißt.«

Ich schritt zwischen den beiden durch, zur Bar. Keine gute Idee, aber das war mir gleichgültig. Beim Gehen merkte ich, daß die Schmerzen etwas nachließen, aber kalter Schweiß rann mir den Rücken hinab. Jenny schaute mir nach, hörte aber Wilby zu – und ich stolperte wieder über das Rätselhafte ihrer Beziehung.

»Glenn-Glenn nimmt den Frühzug, und seine Aktentasche glänzt wie sein Gesicht, und es steckt viel mehr drin als in seinem Kopf, und er kneift die Sekretärinnen im Büro, während die shakespearische Anne sich noch einmal im Bett herumwälzt und darauf hofft, um meines süßen, gnadenlosen Bruders willen, einmal richtig vergewaltigt zu werden, ehe er mit dem Abendzug zurückkehrt.«

Ich trank. Wollte er mich noch mehr reizen? Oder gab er die Vorstellung zu Jennys Vergnügen? Oder zu seinem eigenen? Die Wohnung – nein, nicht nur die Wohnung, mein ganzes Leben – war verseucht durch Dreck, Niedertracht. Zerstörungswut. Der Gestank drang förmlich in meine Nüstern.

Wilby stellte sich in Positur, die Arme anmutig über dem Kopf, mit grinsendem Mund und leeren Augen.

Ich mußte es hinter mich bringen. Und doch schien es mir wichtig, alles zu erfahren.

»Wieso sind Sie auf mich verfallen?«

Vielleicht lag es an der Leichtigkeit meines Tons, die ihn überraschte. Er ließ die Arme sinken. »Wer weiß, Paps? Schicksal. Glück. Oder die Fügung meines Bruders da oben.« Er flegelte sich rücklings auf den Boden, die Arme ausgebreitet. War die Karikatur der Kreuzigung absichtlich oder zufällig?

Ich holte mir eine Zigarette aus der Packung, die auf der Bar lag. »Sie wissen doch alles von mir, oder?«

»Klar, Mann. Hab’ im Anwaltsverzeichnis nachgeschlagen.«