Zwei auf der Flucht - Joseph Hayes - E-Book

Zwei auf der Flucht E-Book

Joseph Hayes

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Beschreibung

B C Chadwicke III., ein junger verbitterter Veteran aus Vietnam, hat in diesem Krieg nicht nur das Vertrauen in die Gesellschaft verloren, für die er kämpfen mußte, sondern auch den Glauben an sich selbst, an den Menschen überhaupt. Als er eines Verbrechens beschuldigt wird, das er nicht begangen hat, flieht er mit seinem roten Sportwagen. Mit ihm flieht das von seiner Familie gedemütigte und tyrannisierte Mädchen Laurel, sie ist 17 Jahre alt. Laurels Vater setzt 250 000 Dollar als Kopfgeld für die Ergreifung des ›Verführers‹ aus. Die Maschinerie legaler Gewalt kommt in Gang ... In der dramatischen Wiedergabe einer Epoche, ihrer Fragen und Stimmungen leistet Joseph Hayes für die USA zur Zeit des Vietnam-Krieges, was in den 30er Jahren Steinbeck und Dos Passos gelang – urteilte die amerikanische Kritik. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Joseph Hayes

Zwei auf der Flucht

Roman

Aus dem Amerikanischen von Jo Klein

FISCHER Digital

Inhalt

Wie immer –Teil EinsTeil ZweiTeil DreiTeil VierTeil FünfTeil Sechs

Wie immer –

für Marrijane

Pauline

Higginbottam

Hayes

Teil Eins

»Chad …«

»So heiße ich nicht.«

»Aber alle nennen dich so.«

»Ich heiße B C Chadwicke. Ohne Punkte.«

»Warum?«

»Weil ich aus der Zeit stamme, bevor Christus geboren wurde.«

»Ist für dich alles ein einziger Witz?«

»Das ist eine grundsätzliche Frage, Dodie. Weißt du nicht, daß es unpatriotisch ist, am vierten Juli grundsätzliche Fragen zu diskutieren?«

»Ich meine, warum mußt du über alles deine Witze reißen?«

»Nun hör mal, Dodie, ich habe schließlich den Witz nicht erfunden. Ich habe nur einen ausgeprägten Sinn für Humor.«

»Warum bist du dann immer so finster? Hinterher?«

»Hinterher?«

»Nachdem wir … Du weißt schon, was ich meine.«

»Manchmal bin ich vorher auch finster.«

»Aber niemals mittendrin.«

»Woher willst du das wissen?«

»Na hör mal …«

»Sprich’s schon aus, Dodie: was haben wir getrieben?«

»Solche Worte nehme ich nicht in den Mund, Chad.«

»Laßt Taten sprechen.«

»So etwas wie du ist mir noch nicht begegnet!«

»So etwas gibts auch kaum im Smith College.«

»Weißt du, an wen du mich erinnerst? An einen Jungen, der sich Doktor Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben dreimal angeschaut hat. Und der sich jedes Mal in der Toilette übergeben hat.«

»Von der Sorte gibt’s auch nicht viele im Smith.«

»Ich zieh mich jetzt an.«

»Dodie …«

»Hm?

»Du bist wahrscheinlich das hübscheste, neunzehnjährige weibliche Wesen in Connecticut, oder sagen wir in Neu England.«

»Sieh mal an. Du kannst sogar lieb sein. So wie du es kurz nach deiner Rückkehr warst.«

»Wie ein Schoßhund.«

»Chad, Daddy beobachtet wahrscheinlich von der Veranda des Klubhauses aus das Boot. Schließlich gehört es ja ihm. Du solltest dich auch langsam anziehen und wieder an Deck erscheinen.«

»Schon gut, Kapitän. Damit Daddy nicht seine Fantasie beschmutzt. Wäre schlecht für seine Prostata.«

»Eigentlich ist es ja Mutter …«

»Mit einer Prostata?«

»Angeblich weiß sie genau, wofür die Andrea herhalten muß, und sie hat etwas dagegen, weil das Boot ihren Namen trägt. Als ob Daddy gewagt hätte, es nach einer anderen zu benennen. Chad, trinkst du? So früh am …«

»Dieser sieben-Dollar-Scotch hat mich fünfzehn Dollars gekostet, oder ich hätte den ganzen Weg in den Ort fahren müssen. Der allen Mitgliedern gefällige Henry Potts, der grinsende Barkeeper, hat mir den Gefallen getan. Die halbe Pulle ist noch übrig.«

»Nein, danke. Ich glaube dir nicht, daß du dir alle die kleinen Narben von Insektenstichen geholt hast. Die verdankst du irgendeiner Saigoner Prostituierten.«

»Die krallende Sorte konnte ich mir nicht leisten.«

»Aber du bist zu denen gegangen?«

»Bis mir das Kotzen kam, wie deinem Freund in Dr. Seltsam. Der große Ekel, von unseren Ärzten als Lebensmittelvergiftung diagnostiziert.«

»Jemand hat mir erzählt, sie seien so zierlich …«

»Aber die krallende Sorte ist sehr teuer. Wenigstens in Vietnam.«

»Danke für das Kompliment!«

»Dodie …«

»Ach, laß mich in Ruhe.«

»Dodie, verzeih …«

»Puh.«

»Dodie, bitte glaub mir, ein einziges Mal! Du bist das Beste, was mir über den Weg gelaufen ist, seitdem ich wieder hier bin. Schau mich nicht so an. Bitte, verdammt nochmal!«

»Chad, du meinst es ja ernst!«

»Nein, Dodie, ich bin ernst.«

»Gerade, als ich anfangen wollte, dich zu hassen.«

»Was machst du?«

»Wir müssen an den Bootssteg zurück.«

»Na, dann volle Kraft voraus, Dodie. Sonst kommen wir am Ende noch ins Gerede. Glaubst du, daß wir das nach vier Wochen einmal riskieren können?«

»Chad, wenn du wieder in die Stimmung verfällst …«

»Komm noch einmal mit ins Wasser.«

»Daddy hält dieses Jahr die Ansprache.«

»Unter Wasser haben wir es noch nicht probiert, Dodie.«

»Wir haben doch noch ewige Zeiten vor uns, oder?«

Ewig? Süße Jugendzeit. Auf ewig? Ob im Klub wohl etwas Hasch aufzutreiben ist? Nur ein paar Züge, genug um das unruhige Herz, das aufgewühlte Blut zu beruhigen. Eine Ansprache, du lieber Gott, ausgerechnet eine Rede, voll von höflichen Floskeln, ein Ritual, was wäre die Zivilisation ohne Ritual oder ein Land ohne die blinde, fraglose Hingabe seines Volkes?

Feuerwerkskörper detonierten, eine Handvoll Raketen stieben himmelwärts, ein kleiner Schreihals fing wie verrückt zu brüllen an, während in einiger Entfernung eine Horde übermütiger Kinder im seichten Wasser herumtobte und sich nicht um die Pflicht und den nüchternen Ruhm des Tages kümmerte. Sind Feuerwerkskörper nicht illegal? Was heißt schon illegal, wenn die Verfassung, das erste und oberste Gesetz des Landes, in unmißverständlichen Worten besagt, daß ein Krieg durch den Kongreß erklärt werden muß. Mit anderen Worten geschah das, was soeben in Vietnam passierte, nicht wirklich. Und Danny O’Leary und Marty Appleton und Eddie Romano lebten vergnügt in Toledo oder St. Paul oder South Bend.

Hier dagegen – maßgeschneiderte Leinenanzüge von Brooks Brothers mit Nadelstreifen wie immer in der Überzahl, wenn auch nicht mehr obligatorisch, dazu eine Fliege oder eine Ascot-Krawatte, sogar gelegentlich bunt gemusterte Hawaihemden, um gegen die Farbenpracht der weiblichen Garderobe zu konkurrieren. Es wurde schwierig, Männchen von Weibchen zu unterscheiden – oder traf das nur auf junge Leute mit langen Haaren zu?

Dodies Vater, der wohl mit einem buschigen Schnurrbart von seiner beginnenden Glatze ablenken oder gar etwas unsicher eine gewisse Würde wahren wollte, hielt von der Veranda aus eine fast unhörbare Festrede, die von seinen Zuhörern auf dem Rasen mit einer verlegenen und belustigten Langeweile aufgenommen wurde.

»… ein Tag, an dem wir die Freiheiten feiern, die wir an den anderen dreihundertvierundsechzig Tagen für gegeben hinnehmen. Hier stehen wir gemeinsam unter der strahlenden Sonne …«

»Und heute abend regnet es bestimmt«, flüsterte ein Mann.

Carl Saxton lächelte und fuhr trotz des Gekichers ungestört fort: »… und mit Dankbarkeit im Herzen für das größte, freieste …«

Die Abwehr behauptete, daß das ganze Dorf wahrscheinlich aus Vietkong besteht. Befehl ist, es auszuradieren. Laßt die Kinder und Frauen raus und rottet Männer über vierzehn aus. Verbrennt die Hütten. Das ist ein Befehl, also los.

Dodies Gesicht strahlte wie eine braune, polierte Maske kindlicher Loyalität, und sie senkte den Kopf auch nicht, als Scott Beecroft sich breit wie ein Kleiderschrank neben sie stellte und einen behaarten Arm um ihre nackten Schultern legte.

Aber Sergeant, woher soll ich wissen, wer von denen schon vierzehn ist?

Im Zweifelsfall –

Nein, Dodie, nicht alles ist ein Witz. Nur das, was nicht komisch sein sollte. Die Wimpel, die Fahnengirlanden, rot und weiß und blau, das geschmückte Klubhaus. Es gab Zeiten, lang vergangene Zeiten, da der Tag noch seinen eigenen Zauber hatte.

»… eine Vision des Lebens, das alle Menschen auf der Welt führen sollten –« Und wenn sie nicht wollen? Wenn wir nicht können oder nicht möchten? »… fraglos sind alle Menschen gleich … erhielten von ihrem Schöpfer die gleichen Gaben …«

Gott war 1776 nicht tot. Vielleicht nicht einmal krank.

»Deine Gaben sind auch nicht zu verachten«, raunte Scott Beecroft Dodie zu, die grinsend tief Luft holte, um ihre Gaben noch besser zur Geltung zu bringen.

»… Leben, Freiheit und das Recht auf Glück!«

Bewegung in der Menge, eine Art Erleichterung, gedämpfter höflicher Beifall, ein ›hört, hört‹ von irgendwoher, und dann küßte Dodie ihren erlöst dreinblickenden Vater, um den sich nun die Menschen drängten und ihm die Hand schüttelten, darunter auch Scott Beecroft.

Warum schließt du dich nicht an? Geh doch vor und sag ihm ein paar nette, höfliche Lügen. Worauf wartest du denn?

Stattdessen trat Carl Saxton näher. Jesus, was nun? Panik bringt nichts ein, sondern bringt dich vielleicht um Dodie. Falls du sie jemals hattest. Falls du sie wirklich willst. Sie jedenfalls ging Hand in Hand mit Scott Beecroft, der ihr noch mehr von seinen Geistesblitzen ins Ohr flüsterte, hinunter zum Bootssteg, wo ihr blendend weißes Boot dümpelte. Ein dröhnendes Lachen scholl herüber.

»Hallo, Chad.« Mit einem schiefen, entschuldigenden Lächeln wischte Carl Saxton sich mit einem Taschentuch über den glänzenden Schädel. »Es war ziemlich schlimm, was?«

Was zum Teufel soll man darauf antworten? Vielleicht: Mr. Saxton, Sie sind wirklich liebenswürdig. Oder: Mr. Saxton, ich habe zwar nicht viel, aber ich werde mit meinem Konto zu ihrer Bank kommen. »Schlimm kann man es nicht nennen, Mr. Saxton. Es wurde alles gesagt, was gesagt werden sollte.«

Woraufhin Mr. Saxton tatsächlich lachte. Nicht laut, aber um seine Augen bildeten sich Lachfältchen und sein Schnurrbart zuckte auf und ab. Dann warf er einen Blick über die Schulter – ereilt mich meine zweitonnige, scharfzüngige Gattin auch nicht? –, ehe er sagte: »Chad, ich möchte gern mit dir sprechen. Unter vier Augen.«

Da haben wir die Bescherung. Hör mal, du Hundesohn, treibt es gefälligst nicht in meinem Motorboot!

Stattdessen: »Ich habe viel an die Zeit gedacht, als ich vom Krieg heimkam. Nach dem Zweiten Weltkrieg.« Er sah über B C hinweg, wohin, in welche Erinnerungen?

»Wahrscheinlich muß jede Generation ihren Krieg haben, von dem sie heimkehren kann, Mr. Saxton.« Und dann jede halbe Generation. Und nun – ein permanenter Krieg, Krieg als Dauerexistenz. Überleben? Für wen? Wir mußten das Dorf zerstören, um es zu retten.

»Leicht ist es nicht, was, Chad?« Erstaunen zu mimen auch nicht. Bleib bei deinem Leisten, Saxton, komm mir nicht mit einem neuen Text anstatt der alten Lobeshymnen; mit denen kenne ich mich aus. »Du wirst dir zwangsläufig eine Weile fremd vorkommen, aber das überwindet man mit der Zeit.« Wieder dieses verdammte schiefe freundliche Grinsen. Was soll denn das? »Es braucht eben seine Zeit, Chad.«

Zeit. Glatze, Doppelkinn, Bierbauch? Das soll alles vom Schicksal vorgeschrieben sein? Wollen wir doch zum Thema kommen. »Dodie hat mir sehr geholfen, Mr. Saxton.« Hier bitte, ein Eröffnungszug.

»Ja. Das kann ich mir vorstellen. Na, ich habe natürlich von den Strafmandaten gehört für rücksichtsloses und zu schnelles Fahren.« Ach wirklich, Mr. Saxton, das spricht sich wohl herum? »Chad, du glaubst es vielleicht nicht, aber als ich 1945 heimkam, dachte ich, ich könnte nie mehr zur Ruhe kommen. Niemals.« Fragende, blaßblaue Augen: Glaubst du mir?

»Ich glaube es.« Staunen verwandelt sich in Zuneigung, in Dankbarkeit wie ein verjüngender Balsam. »Natürlich glaube ich es!« Weil Sie es wissen müssen, Mr. Saxton!

»Ich muß wohl nicht sagen, wie großen Wert ich darauf lege, daß du deine Raserei auf die Zeiten beschränkst, wenn meine Tochter nicht im Wagen sitzt.«

Augen voll echter Sorge, warm, zärtlich und liebevoll. Jesus, hat er denn nie erlebt, wie seine Dodie immer herumkarjolt?

»Mr. Saxton, Sie haben sich noch nie auf einen würdigeren Vertreter des männlichen Geschlechts verlassen!«

Aus dem Lächeln wird ein Stirnrunzeln, verwirrt und etwas mißtrauisch. Warum mußtest du auch das Maul aufreißen? Warum, du Mistvieh?

»Na ja, Chad, sie ist meine Tochter. Möchtest du einen Drink?«

Warum nicht? Rate mal, Dodie. Ich habe mir mit deinem alten Herrn ein paar hinter die Binde gegossen und er hat ein Machtwort gesprochen: dieses – wie heißt es doch – muß aufhören!

»Daddy!« Errettung in letzter Sekunde. Dodies kleine Schwester, zehn oder zwölf Jahre alt, kommt leichtfüßig über den papierschnitzelübersäten Rasen herbeigerannt. »Daddy, Mammi sagt, sie wollen jetzt mit Bridge anfangen. Sie warten. Hallo, Chad.«

»Hallo.« Keine Erinnerung an den Namen. »Du hast mich gerade um einen Drink gebracht.«

»Stimmt. Ja, dann will ich gehen.« Er nahm seine Tochter bei der Hand. »Alles Gute, Chad.«

Sag danke. Was ist denn los mit dir. Du magst den Mann doch. Du hast Mitleid mit ihm und findest ihn nett, also könntest du dich doch wenigstens bedanken! Wovor hast du Angst? Noch könntest du hinter ihm herlaufen. Aber ehe du dich versiehst, mußt du mit Bridge spielen. Bis du eine Glatze hast und grau wirst und Fett ansetzt.

Du kannst natürlich auch einen Gin auf der heißen Veranda des Yachtklubs von Shepperton schlürfen inmitten der strahlend gelaunten Frauen in ihren bunten Klein-Mädchen-Kleidern oder Hosenanzügen und der schon leicht verschwitzten Männer. Jedes Glas Alkohol macht ihr Geschwätz schriller, die Munterkeit hemmungsloser, selbst wenn sie sich etwas vormachen, bis es in der Dämmerung vielleicht … wohin führt? Zur Selbsterkenntnis? Wahrheit? Orgie? Orgasmus?

Darunter sie, Mrs. Madelaine Chadwicke, geborene Frisbie, in vollem gesellschaftlichem Glanz. Rüschen, ein Hauch von Spitze, schimmerndes blondes Haar – nur der Friseur weiß, wie echt es ist – in Schillerlocken bis auf die Schultern, am Hinterkopf hochtoupiert, das hübsche, rundliche Gesicht strahlend, eine Figur des Jugendstils. Unleugbar noch immer eine gutaussehende Frau mit ihren fünfundvierzig Jahren.

O Chad, wenn du dich doch etwas entspannen könntest –

Wenn wir wenigstens ein Hanfbeet im Garten hätten –

Versuch nicht, mich zu schockieren, Chad. Ich weiß schon, was gespielt wird. Irgendwo hab ich gelesen, daß das meiste Marihuana von Soldaten aus Vietnam mitgebracht wird.

Du solltest dich entspannen, Mutter. Ennui – das ist das Motto für den Sommer. Mehr Französisch habe ich nach zwei Jahren Oberschule nicht behalten.

Der Sommer dauert nicht ewig, Chad –

Soll das ein Trost sein?

Es kann jetzt schon zu spät sein – für deine Immatrikulation … Chad, wo willst du hin?

Heißsporn polieren.

Heißsporn! Wie kann man ein Auto taufen!

Wie kann man!

Du polierst so lange, bis der Lack ab ist.

Cocktailglas in der einen Hand, Zigarette in der anderen wartete Mrs. Madelaine Chadwicke darauf, daß ihr einer der drei sie umschwärmenden Männer Feuer gab, und merkte nicht, wie ihr ältester Sohn herantrat. Sie lachte, ein perlendes Partylachen, das so ganz anders klang als ihr kehliges und viel herzlicheres Lachen zu Hause. Val Elliott bediente sie mit seinem silbernen Feuerzeug, ein schöner Mann wie aus alten Stewart Granger-Filmen. Überspielt und ausgestochen zogen sich die beiden anderen – entfernt bekannte Gesichter, wenn auch für Chad namenlos – zurück, einer mit ihrem leeren Glas, während sie langsam mit einem angedeuteten Lächeln Val Elliott Rauch ins Gesicht blies.

Sollte er sich abwenden, fliehen, wegrennen? Um ihretwillen und um seiner selbst willen sich in Sicherheit bringen? Zu spät –

»Chad, Liebling, da bist du ja.«

Ja, zweifellos. »Sei nicht so sicher, Mutter. Man glaubt nicht immer, was man sieht.«

Das Lächeln verging ihr, allmählich. Sie sah aus, als wäre sie geschlagen worden. Kräftig. Zuerst Unsicherheit, ein Stirnrunzeln, dann ein Flackern von Panik in ihren dunklen Augen und nackte Furcht. Nichts änderte sich dagegen an Elliotts etwas ironischem, spöttischem Gesichtsausdruck. Piloten sehen nichts, spüren nichts, fürchten nichts.

»Du – amüsierst du dich gut, Chad?« Eine andere Stimme auf einmal, leise und fast zitternd.

Hör auf zu bibbern. Warum muß ich sie quälen? »Ja, bestens, Mutter. Du auch?«

»Glänzend, Chad.«

Lügnerin. Falls du dich bis jetzt amüsiert hast, so ist dir der Spaß vergangen. Laß B C nur machen.

Man ist nur einmal jung, Chad.

Wie tröstlich, Mutter.

»Dein Bruder hat dich gesucht. Ich glaube, er ist unten am Tennisplatz.«

»Ich dachte, Hippies spielen prinzipiell nicht Tennis.«

Lächle, Mutter, bitte. Sonst haben dich Bemerkungen über Arnold doch immer belustigt –

»Arnold ist kein Hippie. Es ist nur eine Etappe seiner Entwicklung.«

»Jedenfalls spart Daddy Geld für Schuhe.«

Kein Lächeln. Ein Anflug von Ungeduld. War er entlassen? Sie blies Rauch aus, nun mit gespannter Miene, und wandte sich ab.

Wieso nimmst du dir heraus, über andere zu urteilen? Bist du deshalb davongekommen? Wußte Ödipus, daß Jocaste seine Mutter war, oder wie konnte man ihn verantwortlich machen und bestrafen, wenn er es nicht wußte? Weil es keine Gerechtigkeit gibt, weil einfach nichts gerecht ist, weil …

Wenn du zu heulen anfängst auf den Stufen zum Tennisplatz, dann beweist das, was du befürchtest hast und vermeiden wolltest, also reiß dich zusammen, bete oder sauf dir einen an, mach es wie die anderen Leute, aber denk nicht an jenen Tag letzten Monat in New York, vergiß es, es ist ihre Sache, traurig schon, aber trotzdem allein ihre Sache, traurig für sie und für ihn, nicht für Val Elliott, sondern für Daddy, der es niemals erfahren darf, das hast du dir vorgenommen, genau so wie du es dir ihr gegenüber niemals anmerken lassen wolltest, und was hast du eben getan, absichtlich oder nicht, du hast es durchblicken lassen, du Scheißkerl, was willst du denn erreichen, sie bestrafen, Andeutungen machen, weil du den Verdacht hattest, daß auch sie dich gesehen hat, obgleich du dich sofort in die Hotelhalle im Plaza verzogen hast, als sie strahlend und Arm in Arm mit Val Elliott federnden Schrittes die 59. Straße entlangschlenderte, die Uniform steht ihm gut, aber was geht es dich eigentlich an, von Familienzusammengehörigkeit kann man doch kaum reden, vielleicht solltest du jetzt wirklich die Zelte abbrechen und wegfahren, Nirwana suchen, es finden, aber auf jeden Fall dich zusammenreißen, du bist nicht der einzige, der aus Vietnam zurückkam, und du hast doch geglaubt, daß du nichts anderes brauchst als genügend sauberes Wasser, Seife, keine Insekten oder Schlangen, na und nun hast du es, genügt es dir nicht, verdammt, du bist nicht einmal verwundet worden, denk an die anderen, nein, denk nicht daran, an ihre schmerzverzerrten Gesichter, denk an sie, wie es ihnen heute geht, einige sind ja heimgekehrt und arbeiten in der Bank oder auf der Farm oder studieren oder heiraten, verdammt, sie sind einfach härter als du, du mußt lernen, hart zu werden, dir eine dicke Haut zulegen, zwei Monate hast du hinter dir, warum zum Teufel kannst du nicht wie die anderen, warum …

Plop … plop … … plop-plop …

Der Aufschlag von Tennisbällen wie unregelmäßige Akzente von Gewehrfeuer in der Ferne. Die Mörser klangen allerdings lauter und nie weit entfernt.

Auf dem grünen Gras im Schatten, abseits und zusammen: Arnold und Amy. Wie amüsierte, verwirrte Beobachter, die sich in ein fremdes Land verirrt haben …

Du hast dich verändert, Chad.

Möglich, Dad. Sogar wahrscheinlich.

Aber nicht so sehr wie Arnold. Ich mache mir um deinen Bruder mehr Sorgen als um dich.

Weil er sich nicht rasiert?

Und sich nicht duscht.

Vielleicht täte er beides, wenn du dich weniger darum kümmern würdest.

Was will er damit beweisen, Chad? Hast du eine Ahnung?

Na, weißt du es? Nicht genau. Aber wenn dieser gelassene, friedliche Ausdruck in Arnolds Augen Provokation bedeutet, dann hat die Bedeutung dieses Wortes eine völlig neue Dimension erlangt.

»Wann gehst du unter die Dusche?«

Arnold drehte den Transistorradio im Gras leiser. Sein zögerndes Lächeln hinter dem dünnen braunen Bart war ein matter Abklatsch seiner früheren kindlichen Fröhlichkeit.

»Wenn ich es für wichtig halte«, antwortete er.

Amy lächelte zurückhaltend und schüchtern; es paßte zu ihrem ruhigen Temperament. Sie trug ein langes weißes Kleid, wie eine Braut, das sich gleich einem Heiligenschein auf dem Rasen um sie ausbreitete. Mit sanften braunen Augen blickte sie auf, seltsam selbstsicher und weise. »Nichts Lebendiges riecht schlecht.«

Glaubte sie, was sie sagte? Na, dann hatte sie einiges Lebendige noch nie gerochen – wie infizierte Wunden, wie in Verwesung übergehende Leichen von alten Eingeborenen und schwärenden Stellen, wie der Gestank des eigenen Körpers nach Latrinendienst – schauderhaft, unbeschreiblich.

»Chad – Amy und ich wollten es dir als erstem sagen. Wir werden heiraten.«

Schock? Nur eine Fülle von Erinnerungen, eine sanfte Trauer, ein Gefühl der Vergänglichkeit …

»Amy und ich wollten dich als Trauzeugen haben.«

»Muß ich barfuß kommen?«

»Nein, aber du mußt dich duschen.«

Arnold, du bist wunderbar. Du bärtiger kleiner Hippie, du schnurrbärtiges Kind, ich liebe dich!

»Hältst du etwas vom Heiraten, Arnold?«

»Wir fühlen uns jetzt schon verheiratet.«

Amy erklärte sanft: »Wir machen’s offiziell wegen unserer Eltern.«

»Ich dachte, du gehst im Herbst aufs College …«

»Amy ist auch angenommen worden. Wir gehen zusammen. Falls ich vom Wehrdienst zurückgestellt werde, als Student.«

Wie friedlich schauten sie beide aus. Ein in sich ruhender Friede. Du kannst sie beneiden, sogar bewundern, aber warum, zum Teufel, findest du keinen Weg, dich ihnen anzuschließen?

»Können wir irgend etwas tun? Amy und ich?«

»Tun? Ihr wollt doch heiraten – da habt ihr genügend zu tun.«

»Ich – wir meinen für dich.«

Lieber Gott, merkt man es mir schon so an.

»Etwas könntest du tatsächlich für mich tun, Arnold …«

»Was?«

»Ein Joint oder zwei würden mir helfen.«

»Wenn du mir deinen Wagen leihst …«

»Hier sind die Schlüssel. Kommst du mit der Knüppelschaltung zurecht?«

»Amys Bruder hat einen Mercedes.« Er nahm sie bei der Hand, und sie erhoben sich. »Hier haben wir sowieso nichts verloren. Ich kam nur her, um den Eltern zu erklären, warum wir nicht mitgehen wollten.«

Hand in Hand schlenderten sie gelassen zum Parkplatz, ohne neidvoll die dort geparkten Jaguars, Corvettes und blitzenden Cadillacs zu betrachten, wahrscheinlich sogar ohne sie zu sehen. Fort waren sie, um ohne Böswilligkeit und üble Absicht, vielmehr unschuldig und selbstlos das zu begehen, was als kriminelle Handlung galt. Um ein sogenanntes verbotenes Rauschgift zu kaufen …

Während Bayard Carter Chadwicke junior und seine Freunde im Klubhaus eine neue Entschuldigung erfanden, um einer Wirklichkeit zu entfliehen, die ihnen nach wie vor als die beste aller Welten oder aller möglichen Welten erschien. Dazu brauchten sie sich nicht einmal heimlich an Straßenecken herumzudrücken, nein, am vierten Juli berauscht man sich eben, mehr oder weniger. Ganz zu schweigen von den Abendessen-Einladungen, den Cocktail-Parties, Hochzeiten, Beerdigungen, religiösen Feiertagen. Ganz zu schweigen von Mrs. Madelaine Chadwicke, deren sprühende Lebhaftigkeit eine Reaktion auf die vor dem Essen geschluckte Pille und auf die Aufmerksamkeiten ihres männlichen Konvois ist. Wenn dann die Flaggen bis zum nächsten Jahr eingemottet und verstaut werden und ihr Mann sich in seinem Arbeitszimmer noch ein paar letzte Drinks genehmigt, sind zwei Kapseln an der Reihe, Gegenmittel zur mittäglichen Sorte, damit sich die leicht angegriffene Vitalität im Schlaf erholen kann. Na und? Über die Hälfte der Erdbewohner – viel mehr wahrscheinlich sogar, wenn man Indien, Südamerika und den Vorderen Orient mitrechnet – schleppt sich durch ihre trüben Tage und Nächte mit Hilfe irgendeiner Pflanze oder Chemikalie, die aufputscht oder beruhigt. Kokablätter, den ganzen mörderisch heißen Tag während der Knochenarbeit gekaut, dämpfen etwas die glühenden Sonennstrahlen. Das besagt schon einiges über die Realitäten des menschlichen Lebens auf dieser Erde. Einiges, aber was?

Während du, überlegen und überheblich, an einen Baumstamm gelehnt gierig auf ein Joint wartest …

Huschendes Weiß, sonnengebräunte Beine in Bewegung, plop … plop … ein Seufzen von hier, ein Lachen von dort, während die Sonne durch das Blattwerk ein dunkleres Filigran auf den Tennisplatz malt. Unwirklich, unwirklich.

In dem Moment entdeckte er sie, auf der anderen Seite der rostroten Ebene. In einem kurzen, weißen Tenniskleid erhob sie sich und schritt mit locker herabhängendem Tennisschläger hinter der Drahtumzäunung ohne Eile, aber auch nicht lässig, sondern irgendwie ziellos in Richtung auf das Klubhaus. An ihr war eigentlich nichts auffallendes. Ihr Alter war unbestimmbar – sie mochte fünfzehn oder zweiundzwanzig sein –, und sie hatte kaum Busen und recht dünne Beine. Überhaupt wirkte sie zierlich, klein, auch ihr Gesicht. Ihr bis auf die Schultern fallendes Haar war strohblond bis auf kastanienrote Reflexe, wo die Strahlen der Sonne etwas schräg auftrafen. Warum fiel sie ihm dann auf, fesselte sie seinen Blick und ließ sein Herz merkwürdig schneller schlagen? Lag es an der Einsamkeit, die sie umgab? Tennis gespielt hatte sie offensichtlich nicht, sie sprach mit niemandem, und niemand sprach sie an. Sie trug ihren Kopf etwas seitlich geneigt und hatte den anmutigen Gang eines Fohlens, nicht den einer Frau, unsicher, vorsichtig. Er starrte ihr nach, bis sie im Haus verschwand. Verletzlich, schoß es ihm durch den Kopf, so leicht verletzlich hatte er noch nie einen Menschen gesehen.

Nun hatte er wirklich einen Drink nötig, die übliche Beendigung einer Illusion. Also auf ins Klubhaus, wo die Zecher herumstehen und mit ihrem alkoholisierten Geschwätz die Luft verpesten. Glücklicher Unabhängigkeitstag. Anstatt Georg III. Steuern auf unseren Tee zu bezahlen, machen wir lieber unsere eigene Demokratie. Yankee-Taverne … klimatisierte Zuflucht. Misch dich unter die Menschheit, solange es sie noch gibt.

»Black and White, einen doppelten.« Du korrupter Hund.

»Sofort, Mr. Chad. Mit Eis.«

Durch das Gläserklirren und Stimmengewirr hörte er auf einmal deutlich die Stimme seines Vaters und wünschte, er wäre nicht hereingekommen. Nicht, daß im Augenblick eines der üblichen penetranten, aber irgendwie uninteressierten Verhöre zu befürchten war …

Mittagessen, Chad?

Ich sollte dich doch anrufen, wenn mir danach ist, Dad.

Verdammt, Chad, ausgerechnet heute haben wir ein Arbeitsessen mit dem Verwaltungsrat. Können wir es auf später verschieben?

Aber aufgeschoben war aufgehoben. Oder er war nicht greifbar gewesen, weil er seine Tage mit Dodie auf dem Boot verbracht hatte.

»… richtig finster.«

»Wie bitte?«

Ihr Gelächter war, wie nicht anders zu erwarten, schrill und ging ihm gegen den Strich, wie überhaupt ihre vierzigjährige Erscheinung: zu bunt, zu nackt um den Hals, und dazu der Ehering.

»Warum schauen Sie so finster drein? Ein hübscher junger Bursche wie Sie hat doch heute etwas besseres zu tun, als allein zu trinken.«

Versteh doch, Chad. Dein Bruder macht mich sogar dafür verantwortlich, daß Windrow-Chemie einen Regierungsauftrag hat, für … Nervengas und solche Sachen. Du hast dafür bestimmt mehr Verständnis, du warst doch dort und weißt, was gespielt wird. Wo gehst du hin?

Dodie wartet. Und dabei wird sie immer nervös.

Chad, warum tust du immer so, als wollte ich dich löchern, wenn es doch nur Anteilnahme …

Gute Frage, Dad. Vielleicht sind die Anteile heute zu teuer, oder es ist zu spät dafür. Aber es gibt darauf wohl keine Antwort. Nur Fragen.

Wenn jeder sich heute ausschließen wollte, wohin führt das?

Jemand muß sich doch um die Dinge dieser Welt kümmern. Damit es funktioniert.

Muß es das?

Ja, sonst bricht alles auseinander.

SOS. SOS.

»Harry, bring dem Hübschen hier noch einen Drink, auf meine Rechnung.«

Er stand auf. Abrupt. Finsterer als zuvor, gepackt von einer tief sitzenden Wut. »Lassen Sie sich einbalsamieren, Madame.«

Und er bahnte sich einen Weg zur Tür – Luft, frische unklimatisierte Luft, verdammt, in diesen Rauch- und Alkoholschwaden konnte man sich ja Krebs holen! –, als unvermeidlich, unweigerlich, eine Stimme hinter ihm ertönte: »Chad! Komm her und setz dich zu uns, Junge! Ich spendiere dir einen Drink. Harry, einen Scotch für unseren heimgekehrten Helden!

Heimgekehrter Held. Scheiße.

Deine Mutter hat den Eindruck, daß du nicht mehr aufs College gehen willst …

Lastwagenfahrer verdienen heute sechs Dollars die Stunde. Und sie nehmen nicht gern Akademiker in ihre Gewerkschaft auf.

Chad, mein Vater war Fernfahrer. Willst du die Entwicklung zurückdrehen?

Oder ich könnte nach Saigon zurück, auf den Bau. Dreihundert amerikanische Dollars am Tag, um die Kulis herumzukommandieren. Von deinen Steuergeldern.

»Setz dich her, Chad. Hat Lila Merrill etwas von dir gewollt? Der arme Cliff, kaum dreht er den Rücken … Chad, du kennst doch Glenn?«

Selbstverständlich. Doktor Glenn Sterland, hochgewachsen und schlank, mit braungebranntem, fast gegerbtem Gesicht von zwei Nachmittagen wöchentlich auf dem Golfplatz, den Sonntag nicht gerechnet, ein Gentleman und Gelehrter, aufrecht, fester Händedruck, ehrlicher Blick, bitte bezahlen Sie bei meiner Sprechstundenhilfe, möglichst in bar, dafür hat sie eine eigene Kassette, wir nennen sie die Steuerkassette, haha, ich kann Ihnen die Matlock-Apotheke empfehlen, Mat ist ein guter Freund von mir, man könnte fast sagen, mein Geschäftspartner.

»Chad, es kommt dir jetzt wahrscheinlich nicht so vor, aber das waren gerade die glücklichsten Jahre deines Lebens. Wenn du später daran zurückdenkst, so wie ich heute an London und Frankreich …«

Harry mit den Getränken, schnell und geschäftig, eisgekühlte Gläser in der verschwitzten Hand, der Whisky brennt kalt.

»… mit dem Gefühl, daß deine Männlichkeit erfüllt ist. Nur der Krieg kann einem Mann das geben.«

Nun, Dad? Willst du, auch du dabeisitzen und nichts dazu sagen? Verdammt, Dad, nicht einmal du kannst so etwas glauben. Erfüllung!

Doch Bayard Carter Chadwicke junior sagte kein einziges Wort.

»Und dann die Freiheit. Und die Frauen. Gott, wenn ich mich erinnere, bekomme ich schon Heimweh. Bayard, wir werden alt!«

Noch immer keine Antwort. Das vertraute Gesicht gefaßt, die normalerweise gerötete Haut über den hohen Backenknochen vom Alkohol feuerrot, die fragenden grauen Augen benebelt und vor gutem Willen und Fröhlichkeit leicht glasig, die scharf gebogene Nase, die dichten, braunen Augenbrauen, darüber Geheimratsecken im nur wenig ergrauten Haar: kein hübsches Gesicht, aber ein ausgeprägtes, ein Mann, der etwas darstellte. Im Augenblick allerdings nicht. Verdammt, Dad, weißt du überhaupt, was du wirklich für eine Meinung hast?

»… nur eine Möglichkeit, zum Ende zu kommen. Das weiß jeder vernünftige Mensch. Wir haben schon genügend Geld hineingepumpt, warum es also nicht benutzen, wenn wir es brauchen?«

Was nun, Dad? Die buschigen Brauen zu einer warnenden Linie erhoben, Bestürzung und Erstaunen in den Augen. Wie immer.

»Warum hast du es so eilig, Chad. Noch einen Drink?«

Verführung. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Das Universalheilmittel: stumpft den Geist ab, erregt die Sinne, vernebelt die Fragen und beruhigt ungemein, weil damit die Antworten unwichtig und irrelevant geworden sind.

»Dr. Sterland …«

»Ja, mein Junge?«

»Wenn wir den Krieg auf diese Weise beenden, was geschieht dann mit den vielen jungen Männern, die keine Gelegenheit mehr haben, ihre Männlichkeit zu erfüllen?«

»Chad, du solltest dich bei Dr. Sterland entschuldigen!«

»Dr. Sterland sollte sich bei Gott entschuldigen. Falls es ihn gibt.«

Wieder auf der Veranda. Gleißende Hitze. Fast menschenleer. Die Flaggen hängen müde herab, Boden papierübersät, selbst die Rufe vom Strand her klingen gedämpft und weit entfernt. Mrs. Madelaine Chadwicke nicht in Sicht, Val Elliott auch nicht. Man muß auch für kleine Vergünstigungen des Lebens dankbar sein. Ende des Gebets.

Da war sie ja wieder. Auch diesmal allein. Den Tennisschläger unpassenderweise geschultert ging sie mit bedächtigen Schritten über den Rasen zum Strand. Sommersprossen. Zwar konnte er ihr Gesicht auf die Entfernung und in der blendenden Sonne nicht deutlich erkennen, aber zweifellos hatte sie Sommersprossen. Warum ihn dieser Gedanke freute, neugierig machte? Nun bahnte sie sich ihren Weg – mein Gott, war sie dünn, sie konnte kaum hundert Pfund wiegen! – durch die herumtobenden Kinder und sonnenbadenden Erwachsenen im Sand. Ihren Tennisschläger hatte sie irgendwo liegenlassen. Sie raffte die langen Haare im Nacken zusammen, fahl wie ein Ahornblatt im Herbst, und schlang sie irgendwie um den Hinterkopf. Rote Reflexe blitzten im Sonnenschein auf. Dann ließ sie die mageren Arme sinken. Hochaufgerichtet stand sie einen Moment da. Wäre er jeder Bewegung nicht so fasziniert, so verzaubert gefolgt, so hätte er es schon früher gemerkt: das Mädchen wollte doch tatsächlich in ihrem kurzen weißen Tenniskleid schwimmen gehen! Sie schaute nach rechts und links zum Strand und dann über die glitzernde Wasserfläche und wirkte einen Augenblick – was ging ihn das eigentlich an, verdammt? – so unsicher und zaudernd, daß ihm ganz seltsam zumute wurde. Plötzlich schien alles Zögern, alle Angst, ja es konnte auch Angst gewesen sein, von ihr abzufallen und sie watete ins Wasser, bis sie ein Teil des Glitzerns wurde. Nun schwamm sie.

Und zum Teufel mit ihr. Hat Vietnam etwa auch deine Vorliebe für einen bestimmten Frauentyp verändert? Nur weil du dir neben der Zierlichkeit und Anmut der zartknochigen Mädchen mit den knospenden Brüsten dort drüben wie Gulliver vorgekommen bist, brauchst du nicht gleich auf das erste kindhafte Mädchen, das dir hier über den Weg läuft, geil zu werden.

Wo bleibt nur Arnold? Wohin hat er wohl fahren müssen, um den Stoff zu besorgen?

Zum Zeitvertreib blieb nur Dodie.

Hallo, Soldat, willst Klasse-Mädchen … heute vom Land … Is Jungfrau … tut was du willst …

Hat das Wort Korruption noch eine Bedeutung? Oder Dekadenz? Hier findest du die Antworten nicht, also wohin? Schwimmen. Warum? Wenn auf der Insel etwas los ist, dann ist Dodie nicht weit. Und was hast du vor? Willst du sie vom Dschungeltanz weglocken, wieder in die Bootskabine?

Hallo, Soldat, willst Geld wechseln? Marihuana? Opium? … habe Schwester … ganz jung … sehr schön …

Und infiziert? Jedenfalls nicht übler riechend als diese Umkleidekabinen des Klubs. Schweiß, feuchte Tennisschuhe, vergammelte Badehosen, Urin. Bis auf das Prasseln der Dusche nebenan verlassen, und dann ein Spurt ins Wasser, wohltuend kalt.

Dodie. Dann eben Dodie statt der Droge.

So einfach war es also?

Noch ehe er sich ins tiefere Wasser stürzen konnte, stieg ihm Ekel auf, Ekel vor sich selbst. Nicht, daß es Dodie stören würde, wenn sie wüßte, daß sie nur benutzt worden war. Sex um der Befriedigung willen …

Nirwana, endlich erreicht, mit klopfendem Herzen, raschem Pulsschlag, gleichmäßig ausgreifenden Armen und Beinen, angespannten Muskeln – sich abarbeiten. Wenn dies nicht Nirwana war, sollte ein Guru es probieren. Sogar das Dröhnen der Musik von der Insel herüber löste sich über der schimmernden Wasserfläche zu einem fernen Echo voll exotischer Harmonie auf. Motorboote röhrten vorüber, verschwanden schnell in der Ferne. Er fühlte sich eins mit dem Wasser.

Er rollte sich auf den Rücken und schwebte mit ausgebreiteten Armen völlig schwerelos und entspannt auf den Wogen, konnte endlich atmen, sah die Sonne rot durch geschlossene Lider. Unfaßbar erschien es ihm, wie in Narkose lag er ruhig und reglos da, getragen vom Wasser, sein Geist ebenso gewichtlos wie sein Körper. Wenn auch nur temporär, eine Illusion – er war Teil der Zeitlosigkeit.

Er hörte eine Stimme, bildete es sich wenigstens ein. Er wandte den Kopf nach rechts – nichts. Dann nach links. Ein Kopf, nur ein paar Meter entfernt, auf der Oberfläche. Ein kleiner Kopf, nasse Haarsträhnen vor dem Gesicht, weitaufgerissene Augen, darunter heftig um sich schlagende Glieder in frenetischer Bewegung.

»… keine … Luft …«

Er rollte sich auf den Bauch, schwamm einige Züge, erkannte das Gesicht, sogar die Sommersprossen, die er sich vorgestellt hatte, griff aus, berührte Haut, Kleider, packte sie, obgleich sie noch immer um sich schlug.

»Ruhig«, sagte er, und das Wort dröhnte ihm in den Ohren. »Halt dich ruhig, verdammt!« Doch nun wehrte sie sich noch mehr gegen seinen Griff, gegen das Wasser, vielleicht gegen die eigene Panik. Er hatte sie nun beim Kleid in einem Griff, aus dem sie sich nicht lösen konnte, und dämpfte seine Stimme: »Alles in Ordnung. Ich halte dich fest. Es passiert dir nichts!«

Er schaute ihr in die Augen, milchiges Blau, starr vor Angst, während er wassertretend ihren Kopf über Wasser hielt: Mißtrauen, fast Feindseligkeit, dann ein Nachgeben, besänftigt, fast erleichtert. Sie schloß die Augen und ihr Körper wurde schlaff.

»Nur keine Aufregung, Mädchen«, raunte er ihr zu. Er drehte ihren Körper auf die Seite, bis er ihn im linken Arm hatte, das Kinn über dem Wasser. So kraulte er mit dem rechten Arm zur ungefähr zwanzig Meter entfernten Spitze der Insel hinüber. Sie ließ sich reglos, schwerelos ziehen. Im Nu hatten sie das seichte Ufer erreicht.

Die Augen blieben geschlossen, ihr Körper – weiß und gar nicht so mager, wie er ihm vorgekommen war – war schlaff: erst als er sie loslassen wollte, kam ihm der Gedanke, sie könnte ohnmächtig sein. Er hob sie mit beiden Armen auf und watete an Land.

Er bettete sie auf den Sand, nur eine Sekunde unschlüssig, was als Nächstes zu tun war, kniete sich dann über sie, legte ihre Arme über den Kopf, öffnete ihren Mund mit der Hand und wollte die Lippen auf ihre legen.

Noch ehe sich ihre Münder trafen, schlug sie die Augen auf und begann sofort, sich heftig zu wehren, um sich zu schlagen. Sie drehte den Kopf auf die Seite und stieß unverständliche leise Wutschreie aus. Er hockte sich auf die Unterschenkel und schaute in ihre zornsprühenden Augen. Sie raffte sich auf, stellte sich breitbeinig über ihn und funkelte ihn an.

»Du«, stieß sie atemlos hervor, »du … du …« und bebte am ganzen Leib.

Nun reichte es ihm aber! Zum ersten Mal heute brach er in Gelächter aus, ließ sich rücklings in den Sand fallen und wand sich vor Lachen. Er nahm sie nur noch undeutlich durch die Lachtränen wahr. Sie drehte sich um und rannte davon.

Er sprang auf und setzte ihr nach. Sie lief schnell und rhythmisch den Sandstreifen entlang, der vom Tanzplatz auf der Insel nur durch Baumgruppen und Unterholz getrennt war. Er lachte noch immer verhalten, während er allmählich Boden gewann, bis er sie überholen konnte und ihr den Weg blockierte. Anstatt seitlich in die Büsche auszuweichen in Richtung der kreischenden Musik, blieb sie stehen und starrte ihn an, erstaunt und nicht mehr verschreckt.

»Was, zum Teufel bloß, hast du dir gedacht? Was ich mit dir anstellen würde?« Er schwankte zwischen Ärger und Belustigung. »Na, was denn?«

»Ich w-w-eiß nicht.«

Die Art, wie sie es sagte – unsicher, verletzlich, tatsächlich stammelnd –, dämpfte seine Belustigung. »Hast du gedacht, ich wollte dich vergewaltigen? Das habe ich nicht nötig!«

»Mund-zu-Mund B-b-b-beatmung?« Trotz des Stotterns klang ihre Stimme erstaunlich voll und tief.

»Wovor bist du eigentlich davongelaufen?«

Nun lächelte sie. Darauf war er nicht vorbereitet. Ihre Mundwinkel bogen sich nach oben, und ihre Augen verschwanden fast.

»Beim Laufen ist es mir klar geworden.« Sie kicherte.

Das Ganze war ihm unverständlich, er begriff nichts, und plötzlich wurde er wütend. »Wieso hast du dir eingebildet, du würdest die weite Strecke schaffen. Du kannst ja nicht einmal richtig schwimmen!«

»Ich bin fast den ganzen Weg geschwommen!« Trotzig warf sie es ihm hin.

»Du hättest draufgehen können! Wenn ich nicht zufällig vorbeigekommen wäre, durch einen verdammten Zufall, dann wärst du ersoffen! Und keiner hätte es gemerkt. Ist dir das nicht klar?«

Pause. Dann: »Warum bist du so ärgerlich?«

Er wandte sich ab. Wie sollte er es erklären? Ihm war es doch eigentlich egal, ob sie lebte oder nicht. Er kannte sie ja kaum. Er ließ sich in den Sand sinken.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt, zu allem Überfluß. Ein verrücktes Mädchen kurz vor dem Abkratzen!

»Du hast recht. So weit bin ich noch nie geschwommen. Aber ich dachte, ich würde es schaffen … Tut mir leid.«

Er hörte die Stimme – gewandelt, sanft und zerknirscht – aber er hob den Kopf nicht. Sie war ein Kind. Was sollte er machen?

Ein leises Flüstern neben seinem Ohr: »Es sieht näher aus, als es ist.«

»Die Entfernung narrt einen.« Er blickte zu ihr auf. Sie stand mit seitlich geneigtem Haupt da, und die langen, nassen Haare flossen herab. Wieder rührte sich etwas tief in seinem Inneren, leicht schmerzlich, etwas Unerklärliches. »Was willst du eigentlich hier?«

»Ich bin eingeladen!«

»Das meine ich nicht«, knurrte er. »Ich bezweifle nicht, daß du Zutritt zum Klub hast. Was suchst du überhaupt auf der Insel?«

»Philip Travers ist hier, glaube ich. Ich bin von ihm eingeladen. Kennst du ihn?«

Phil Travers: Bürstenhaarschnitt, aufrichtiger Blick, Ernst, selbstgerecht. Er stand auf und verspürte plötzlich einen Anflug von Wut, Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit, ja Haß auf alle Phil Travers’ dieser Welt. »Schon gut. Willst du mit zum Tanzen?«

»Nein.«

»Wie bitte?«

»Ich will nicht tanzen. Ich weiß eigentlich nicht, warum ich hergekommen bin. Ich meine, in den Klub. Ich wollte nur – irgend etwas tun.«

Wieder diese unerklärliche Rührung, diesmal ausgeprägter.

»Wie alt, zum Teufel, bist du eigentlich?«

»Fluchst du immer so?«

»Fast immer. Wie alt?«

»Neunzehn. Warum?«

Neunzehn. So alt wie Dodie. Er betrachtete sie aufmerksam.

Sie ließ es geschehen. »Du lügst.«

Genausogut hätte er sie ins Gesicht schlagen können.

Sie wich blinzelnd zurück. Er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern, schlank, ja, nicht überentwickelt, aber in jeder Kurve absolut weiblich. Ihr Busen zeichnete sich fest und reglos unter dem nassen Weiß ab, und ihre Beine waren nicht so mager wie er gedacht hatte, sondern eben zierlich wie das ganze Geschöpf, und sehr bleich.

»Na und?« Diese plötzliche Forschheit war herausfordernd, klang aber eher trotzig als verführerisch und provozierend. »Also?«

Er trat zurück. Sein Mund war ausgetrocknet und sein Atem kam in kurzen, aufgeregten Stößen. »Dann bist du eigentlich alt genug, um dich nicht in so dumme Situationen zu bringen, die dich das Leben kosten können. Wie heißt du?«

Sie zögerte einen Moment und setzte sich dann in Marsch. »Es ist schlimm.«

Er ging neben ihr her. »Was?«

»Pauline.«

»So schlimm ist das nicht.«

»Pauline Higginbottam?«

»Oh.«

»Siehst du? Es ist wirklich schlimm.«

»Na ja, es geht. Ich kannte einen Mann, der hieß Wilbur Terwilliger.«

»Wo?«

»Wo …?«

»Wo hast du ihn gekannt?«

»Das ist gleich. Er ist jetzt tot.«

»Das tut mir leid.«

»Eine Menge Leute, die ich kannte, sind tot.«

Er hörte die Rauheit in seiner Stimme und wunderte sich. Der Strand erstreckte sich einige Hundert Meter vor ihnen und die monotonen Rhythmen der Musik schallten lauter zwischen den Bäumen herüber. Wenn sie die Abkürzung durch den Baumgürtel nahmen, konnten sie in einer Minute bei den anderen sein. Warum nicht? Bring es hinter dich. Diese Pauline Higginbottam ist einfach nicht deine Kragenweite.

»Ich weiß nicht einmal, wie du heißt.«

»Chadwicke. B C Chadwicke, der Dritte.«

»Was heißt das B C?«

»Eben B C.«

»Knurrst du die Leute immer an?«

»Nur wenn ich nicht fluche.«

Sie watete bis zu den Knöcheln im Wasser, und er sah die tiefer stehende Sonne über dem See, die sich allmählich orange färbte und sich an den Rändern deutlicher konturierte, wie alles in seinen letzten Stunden deutlicher wird.

»B C …?«

»Ja?«

»Wo hast du die vielen kleinen Narben her?«

»Insektenstiche. Häßlich, was?«

»Finde ich nicht.«

Diesmal erreichte seine Rührung einen Höhepunkt, gleichzeitig begann sein Blut, schneller zu pulsieren.

»Haben wir eigentlich etwas Bestimmtes vor?« Er hörte eine gewisse heisere Hoffnung in seinem Tonfall und stolperte einen Schritt, während er plötzlich wieder ganz heftig jenen lang vergessenen und doch allgegenwärtigen Hunger verspürte, ein Gefühl der Verheißung, – seit langem das erste Mal.

»Vorhaben? Ich will nicht – da hinüber. Wenn du es nicht möchtest.«

»Warum bist du eigentlich herübergeschwommen?«

»Und du?«

Dodie. Undenkbare Idee. Abstoßend. Pauline Higginbottam, wer bist du? Woher kommst du?

»Ich bin m-m-müde.«

Er schaute sie an. Sie watete mit hängenden Schultern aus dem Wasser und ließ sich bäuchlings in den Sand fallen, schob einen Arm unter den Kopf, der ganz hinter der Fülle nasser Haare verschwand. Nur ihr zerbrechliches Profil war zu erkennen. Nicht schön, aber exquisit. Und die Sommersprossen sprenkelten Nase und Wangen wie feine Sandkörnchen – als könnte er sie mit einer sanften Handbewegung wegwischen.

»Du hast recht gehabt, B C.«

»Ich habe immer recht, Pauline Higginbottam.«

»Ich habe mir zu viel vorgenommen.«

Er setzte sich neben sie und starrte über die Wasserfläche. Er wagte es nicht, sie anzuschauen. Er hörte ihre Atemzüge nicht, aber er wußte, daß sie eingeschlafen war. Die Musik jenseits der Bäume verstummte. Motorboote brummten in weiten Bögen vorbei. Die Sonne verschwand hinter einer Wolkenbank. Stille senkte sich herab.

Sie regte sich wimmernd im Schlaf. Er wandte sich ihr zu. Kind? Frau? Beides? Stockend sog sie den Atem ein – ein Schluchzen? Hilflos hingegossen lag sie auf dem Gesicht, herzzerreißend hilflos, schutzlos.

Und er fragte sich, warum er zur Insel herübergeschwommen war. Sprich schon aus, Dodie: Was haben wir getrieben? Sex, mangels Haschisch. Du bist wirklich ein Schwein, B C Chadwicke III. Oder? Oder lag es möglicherweise daran, daß er sie im Tennisdress in den See hinauswaten sah anstatt im Badeanzug?

Was das Element des rein Zufälligen, der Fügung, verminderte, wenn nicht ganz ausschaltete – Zufall, die Hauptursache für das Chaos dieser Welt.

Er legte sich auf den Rücken, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Es fing an zu dämmern. Der Sonnenschein wurde bereits Silbern. Er schloß die Augen. Noch im Wegdämmern wunderte er sich: er würde doch nicht etwa schlafen. Nach über zwei Monaten, wenn nicht gar sechs, um ehrlich zu sein, in denen er keine Ruhe fand … Er vernahm noch ein Donnergrollen, wie eine Bombardierung, aber weit weg und nicht bedrohlich …

 

Als er erwachte, schoß ihm zuerst durch den Kopf, daß er nicht geträumt hatte. Dann erst fiel ihm ein, wo er war und wie er hierhergelangt war, und er starrte eine Minute lang zum bleiernen Himmel hinauf. Dämmerung? Es war schon fast Nacht. Wie lang hatte er geschlafen? Er drehte den Kopf.

Sie war fort. Verschwunden. Er richtete sich auf und suchte den dunklen Strand ab. Kein Mensch. Er stand auf, wischte den Sand ab und war plötzlich wütend über dieses seltsame Gefühl der Verlorenheit, das ihn bis ins Innerste durchdrang. Warum hatte sie ihn nicht aufgeweckt? Was für ein hinterlistiges Gör war diese verdammte Pauline Higginbottam überhaupt?

Er trampelte durch die Zederngruppe zur Musik und dem lodernden Holzfeuer, das den Nachthimmel rötlich färbte, und spürte kaum die Nadeln unter seinen bloßen Füßen – wenigstens gab es hier keine Minen. Am Waldrand blieb er vorsichtig stehen. Sprühende, zischende Flammen, einige Paare tanzten, ihre fast nackten braungebrannten Körper in den knappen Bikinis und Shorts schimmerten im Feuerschein noch dunkler und wiegten sich zu den Dschungel-Rhythmen aus dem Radio.

Pauline Higginbottam war nicht darunter.

Wohl aber Dodie. Sie tanzte nicht. Seitlich auf eine Decke hingegossen, stützte sie sich auf einen Ellbogen und fütterte Trauben in Scott Beecrofts lächelnden Mund. Dieser Muskelberg lag auf dem Rücken und genoß mit geschlossenen Augen das Leben.

Zum Teufel mit ihn. Und mit Dodie.

Jetzt war es wichtig, – vielleicht eine Frage von Leben und Tod, herauszufinden, ob jemand …

Phil Travers, jenseits des Feuers. Lachend, ein Sandwich mampfend, ein fremdes, dunkelhaariges, starkknochiges Mädchen anlachend, nicht Pauline, entschieden nicht Pauline, falls es sie überhaupt jemals gegeben hatte.

»Travers …«

»O, hallo, Chad. Wo hast du denn gesteckt?«

Nicht wütend werden. Wenn du aus der Rolle fällst und sich herausstellt, daß es gar keine Pauline gibt …

»Hast du Pauline gesehen, Travers?«

»Wen?«

»Hörst du nicht? Pauline Higginbottam.«

Das Mädchen kicherte. Phil Travers kaute weiter, die Gitarren schlugen ein kreischendes Crescendo, jemand stieß ein übermütiges Gebrüll aus, dann schluckte Phil Travers den Bissen hinunter und rief: »Kennt jemand hier eine Pauline Higginbottam?«

Gelächter, einige drängten sich heran, das fremde Mädchen wieherte vor Lachen. Langsam, ruhig, kühl, du mußt es herausfinden, mußt sicher sein, daß …

»Sie war von dir eingeladen, Travers. Du hast sie am Tennisplatz sitzen lassen. Das Mädchen –«

»Hör mal, Chadwicke, ich kenne keine Pauline, und schon gar nicht Pauline Higginbottam.«

Ende der Durchsage. Eingekreist. Alle Augen, wahrscheinlich auch Dodies, und die des Muskelpakets Beecroft, starrten ihn an. Aber das war ihm nun gleichgültig.

»… Laurel Taggart …«

»Was?«

»Ich habe gesagt, Chadwicke, daß ich heute Laurel Taggart mitgebracht habe. Tennis kann sie spielen, aber sonst ist sie zum Sterben langweilig.«

Nicht zuschlagen. Wie kann ein Mensch zuschlagen, dem vor lauter Erleichterung so die Knie wackeln, daß er fast torkelt?

»… sie nur mitgenommen, weil sie mir leid tat.«

Nun konnte man ihm keine mehr runterhauen, selbst wenn die Kraft dazu gereicht hätte. Der Impuls legte sich.

»Wenn sie dir leid getan hat, warum hast du sie dann allein gelassen?«

»Also, Chadwicke, ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Ich hab die Göre eingeladen, und sie hat nicht mal einen Badeanzug mitgebracht. Sie paßt einfach nicht hierher. Kein Wunder, daß ihr alter Herr sie so streng hält. Ich wußte nicht einmal, daß sie auf der Insel ist, bis …«

»Sie kam hierher?«

»Ja. Wahrscheinlich hat sie sich im Gebüsch versteckt und zugeschaut. Und als ihr alter Herr mit dem Boot anlegte, ist sie wie ein Schäfchen hingetrottet, ohne ein Wort mit irgendwem zu wechseln.«

»Es war richtig gespenstisch«, sagte das Mädchen. »General Taggart war die Liebenswürdigkeit in Person, so, als wäre das Ganze ein Witz. Aber sie hat nicht einmal mit ihm gesprochen.«

»Ich hab noch einen Schluck Bourbon in der Flasche, Chad. Du hast ihn wohl nötig.«

»Nein, danke.« Automatische Antwort. Was wurde hier gespielt? Er konnte sich keinen Reim darauf machen!

»Wo warst du, Chad?« Dodie. Sie schob sich näher heran, provokativ schimmernde Kurven, spöttischer Ton. »Es lohnt sich wohl nicht, am Morgen nett zu dir zu sein.«

Hallo, Soldat, Klasse Bums

Sinnlos. Warum lief Pauline weg? Ausgerechnet an das Feuer, zu denen hier?

Und warum willst du immer einen Sinn in Dingen ergründen, die sinnlos sind. Was hat denn schon einen Sinn?

Pauline, zum Teufel mit ihr … sogar der Name war gelogen. Er drehte sich um und setzte sich in Marsch, nur Beecrofts dahingestreckter Körper trennte ihn vom dunklen Wasser, er sprang über ihn hinweg, vernahm sein ärgerliches Knurren, spritzte im Laufen Sand nach hinten, hoffentlich ihm direkt in die Augen. Dodie rief ihm etwas nach.

Hinein ins Wasser, ein kurzer Kälteschock, und dann auf das Klubhaus zugeschwommen. Die erste Garbe des Feuerwerks explodierte am Himmel, ein Krachen, und dann regneten tausend farbige kleine Sterne nieder. Hübsch. Wie in einem der Saigoner Nachtklubs auf den Dächern der Stadt, während man einen kühlen Drink schlürft und mit einem der vielen willigen, zierlichen Mädchen vom Land, die vom Geld der Soldaten schnell reich werden wollen, eine Verabredung nach der Sperrstunde trifft oder es bleiben läßt, und dazwischen müßig das Brillantfeuerwerk der todbringenden Knallkörper betrachtet als eine richtige Privatschau – und dabei schlagen sie manchmal recht nahe ein. Zügig schwamm er weiter, langsamer, müde.

Zuschauer säumten den Strand am Klubhaus, und wieder waren alle Augen auf ihn gerichtet, als er sich erschöpft auf den Bootssteg zog und liegenblieb. Da vernahm er eine Stimme.

Wer wagt es, mit diesem Ausgestoßenen zu sprechen, mit diesem Unreinen? Dodies kleine Schwester. Wie hieß sie bloß?

»Soll ich mit dir zum Klubhaus hinaufgehen, Chad?«

Nun war es nicht mehr aufzuhalten, herzzerreißend, auf der Stelle, so plötzlich, wie es immer geschah. Ein Kind spricht mit dir, ein Bettler schaut dich mit wachsamen, traurigen, klagenden Augen an – und dann war es um einen geschehen, um die ganze starre Haltung.

»Danke, das ist nett.«

»Nimm meine Hand.«

»Ich torkle wohl?«

»Ich heiße Joyce.«

»Ich weiß.«

»Jetzt schon. Du hast es vergessen.«

»Nun behalte ich es wirklich, Joyce.«

»In der Badehose lassen sie dich nicht in die Bar.«

»Die Bar ist jetzt auch nicht das Richtige für mich.«

»Hier ist der Umkleideraum für Herren. Ich darf aber nicht hinein.«

»Ich danke dir.«

»Mammi schickt Daddy jetzt bald, daß er mich nach Hause bringt. Ist das nicht gemein?«

»Wenn du noch bleiben willst, dann ist das gemein, Joyce.«

»Sie sagt, ich kann das Feuerwerk auch von meinem Fenster aus sehen. Aber das ist doch nicht das gleiche, findest du nicht auch?«

»Nein, das ist nicht das gleiche.«

»Also, gute Nacht, Chad.«

»Auf Wiedersehen, Joyce.«

Tür zu, allein, noch der gleiche Gestank, alle Straßen führen zu diesem Gestank. Warum mußte dieses sanfte kleine Mädchen mit dem runden Gesicht und der brüchigen Stimme gerade jetzt auftauchen? Ich kann nicht in Ruhe zur Hölle fahren, alle Dinge haben sich gegen mich verschworen.

Auch die Nüchternheit, heute ist sie mein Feind. Irgendwer hat hier bestimmt eine Pulle versteckt. Mit einem bißchen angewandter Psychologie, welche Mitglieder kommen dafür in Frage? Quatsch, systematisch vorgehen, der Reihe nach, Spind für Spind, und wenn jemand mich erwischt, zum Teufel mit ihm … Klirr, auf, wumm, zu, klirr …

»Chad, was treibst du?«

Arnold, wirklich lächerlich. Ertappt, in flagranti. Und vom eigenen Bruder. Warum lachst du nicht darüber? Normalerweise würdet ihr beide vor Lachen wiehern. Aber Arnold bleibt ernst.

»Du machst einen Heidenlärm.«

»Immer mit der Ruhe.«

Jack Daniels. Kein Scotch, aber ein Feuerwasser, destilliert in Tennessee. Nicht viel übrig, aber es wird reichen …

»Wo ist Dad?«

»Spielt Poker in der Taverne.«

Noch ein Schluck von dem Zeug, und es geht wieder aufwärts – wohin? warum? –, auch ohne die Bar in der Taverne, ohne eine nochmalige Konfrontation. B C Chadwicke ist kein Dieb, klar? Zehn Dollars für einen fünftel Liter Jack Daniels, wie gewonnen so zerronnen, das meiste beim Pokern gewonnen, den ersten Einsatz zahlt der amerikanische Steuerzahler, aus Dankbarkeit für die Abwehr der rot-gelben Gefahr auf der anderen Hälfte der Erdkugel …

»Ich fahr dich heim, Chad.«

»Laß mich in Ruhe!« Wessen Stimme? Bösartiges Knurren. »Arnold, ich will offen sein. Zum ersten Mal vielleicht.«

»Willst du noch den ganzen Rest saufen?«

»Bedien dich.«

»Mach ich. Damit du es nicht trinkst.«

»Ehrlich – in Vietnam, weißt du, was ich gemacht habe. Konnte oft nicht schlafen. Weißt du was?«

»Chad, ich will gern mit dir reden, aber nicht hier.«

»Hör zu, sag’s dir. Ich hab die Augen zugemacht und an unser Haus gedacht. Mir Zimmer für Zimmer vorgestellt. Eine Ecke nach der anderen. Mir vorgestellt, was genau in jeder Ecke steht, die ganzen verdammten Möbel, jede Vase, Aschenbecher, alle Farben, sogar die miesen Drucke von unbekannten Malern. Hat mich vom Denken abgehalten. ’Tschuldige, muß aus der Badehose …«

»Chad …«

»Hörst du überhaupt zu?«

»Natürlich …«

»Jetzt bin ich hier … glaub nicht, daß du mich heimfahren kannst … hab kein daheim. Wenn du’s ihnen sagst, knall ich dir eine! Was lachst du? Ist das komisch?«

»Ja, aber traurig komisch.«

»Traurig! Das weiß ich selbst. Du lachst. Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Arnold. Du läufst barfuß herum, mit dem Bart, du schaust wie ein Heiliger aus, fehlt bloß noch der Hirtenstab … Willst du so ’ne Art Heiliger sein?

Da hab ich dich, was, Arnold, denk drüber nach. Inzwischen heul ich mit der Meute, den Leuten von heute, den Schmeichlern und Un-Helden, Frauen sind zum Lieben da, juppheidi … treten Sie dem Jack-Daniels-Klub bei, in Hollywood oder Las Vegas!

»Nein, kein Heiliger. Aber ich glaube, Chad, daß ein Mensch nicht mehr tun kann, als eine Art von – Ruhe und Frieden in sich selbst zu suchen.«

»Wie? Wie kann man das? Und was machst du, wenn du nicht vom Wehrdienst freigestellt wirst, Arnold?«

»Wahrscheinlich werde ich eingezogen …«

»Warum? Als Student ist die Befreiung doch automatisch?«

»Nicht, wenn du bei der Musterungsbehörde auf der schwarzen Liste stehst, wenn du zu lange Haare trägst oder Sandalen oder bei Friedensmärschen mitmachst.«

»Was willst du dann tun?«

»Ins Gefängnis gehen, wahrscheinlich.«

Gefängnis. Der junge, sanfte, hübsche Arnold im Gefängnis. Weißt du nicht, Arnold, was mit jungen Männern im Gefängnis passiert, in den besten Gefängnissen, die den korruptesten, brutalsten Männern mit der niedrigsten Bildung unterstehen? Arnold, hast du keine Ahnung? Großer Gott, sie verlosen dich Nacht für Nacht, und die Wachen drücken beide Augen zu. Oder mißbrauchen dich auch.

»Ich weiß nur eines – ich kann nicht töten.«

»Du weißt nicht, was du alles kannst!« Ein wütendes Fauchen.

»Doch. Lieber würde ich vorher sterben.«

Was soll man darauf sagen? Wie bist du in diese Debatte geschliddert, die du in den letzten zwei Monaten vermieden hast, ausgewichen bist du, hast die Fragen im Keim erstickt …

»Hast du Hasch bekommen?«

»Leider.«

»Du lügst.«

»Chad, du hast zu viel getrunken. Wenn du jetzt noch ein Joint rauchst …«

»Vielleicht heb ich es mir auf.«

»Nein«

Sturer Hund. Kämpft nicht. Sitzt nur gelassen da. Wie hat er es geschafft, innerlich und äußerlich so ruhig zu werden? Mit Zen, irgendeiner buddhistischen Methode aus einem Buch? Seinen Gott tausche ich gern gegen meinen ein.

»Ich gebe dir ein Joint. Amy und ich haben ein paar gerollt, während wir auf dich warteten. Aber nur eines. Du kannst es vor dem Schlafengehen rauchen. Wenn du zu trinken aufhörst.«

»Du weißt, daß ich sie dir wegnehmen kann.«

»Das würdest du nicht tun. Nicht einmal in deinem jetzigen Zustand.«

»Arnold, du hast ja keine Ahnung!«

»Hier, steck es ein. Wir könnten beide verhaftet werden.«

»Arnold, wenn wir zusammen eingesperrt werden, bring ich den ersten Bastard, der dir zu nahe tritt, um.«

»Ich glaube nicht, daß du das schaffst. Reg dich ab, Chad. Ich hau ab. Ich habe nur gewartet, bis ich dir das Hasch geben konnte. Pax.«

Weg ist er. Arnold, komm zurück. Pax? Und so natürlich wie Auf Wiedersehen, auf bald. Pax.

Ich glaube nicht, daß du das schaffst. Was, Arnold? Töten?

Ich könnte dir Wunderdinge erzählen, aber wahrscheinlich laß ich es bleiben. Ich könnte dir von meinem ersten Stoßtrupp erzählen, an einem schwülen Nachmittag, wir kamen an eine Lichtung, die Mücken bissen wie toll, die Strohhütte schien verlassen. Das Gebiet war als feindfrei gemeldet. Die ersten Schüsse überraschten uns: heisere Detonationen ringsum. Tom Yancey hat es erwischt. Wir gingen in Deckung, feuerten. Tom Yancey schrie. Wir durchlöcherten die Hütte. Tom Yancey hörte zu schreien auf. Wir mußten die Leichen herauszerren, zwei Männer, einer alt, einer jung, und ein Junge, der nicht älter als zehn oder zwölf sein konnte. Es war nicht festzustellen, er hatte die volle Ladung ins Gesicht bekommen. Das waren nur die ersten. Nachher war es leichter. Arnold, ich gebe es zu, es war leichter, aber nicht viel. Wir hatten Glück an jenem Tag. Tom Yancey nicht.

Pax, Arnold. Pax americana.

»Chad? Oh, tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Wie sind Sie hereingekommen, Hochwürden? Auf einer Wolke? Auf einer Dampfwolke aus der himmlischen Dusche? Pfarrer Paul Cheshire, muskulös unter dem rubbelnden Badetuch, ungefähr vierzig Jahre plus oder minus ein Jahrhundert, würdige Zierde jeder Hochzeit, ernster und sonorer Trost jeder Beerdigung.

»Ich erschrecke leicht.«

»So?« Tolerantes, erhabenes Lächeln.

»War nicht persönlich gemeint.«

Das sportliche Gesicht in ernste Falten gelegt: muß mich darum kümmern, die Sache gleich in die Hand nehmen. »Chad, gibst du mir bitte die leere Flasche? Es schadet dem guten Namen des Klubs. Danke.« Flasche in den Abfalleimer: klonk.

»Es wäre wohl geziemend, wenn ich mit deinem Vater ein ernstes Wort sprechen würde.«

»Geziemen Sie sich.« Und leben Sie wohl, Hochwürden.

Geziemen. Das Wort muß ich mir merken. Es geziemt mir, von hier abzuhauen. Und zwar schnell. Ehe Papa Bayard Carter Chadwicke junior auftaucht, getragen von einer Alkoholfahne voll gutem Willen, milder Bestürzung und Hilflosigkeit.

Es wäre unziemlich gewesen, Hochwürden, Ihnen die nicht so einfache Wahrheit zu präsentieren, daß ich im Schützengraben Atheist geworden bin. Gäbe das nicht eine hübsche Predigt ab? Und wenn Sie’s nicht glauben, erkundigen Sie sich bei Gott.

Draußen. Frisch gewaschene Luft, leichter Nieselregen, noch immer Feuerwerk. Musik von der Veranda: Cole Porter? Irving Berlin? Hoagy Carmichel? When our love was new and each kiss an inspira – – – tion – – –. Drinnen wird getanzt. Mrs. Madelaine Chadwicke mit Captain Val Elliott … macht den großen Flug –

Chad, wenn wir uns morgen zum Mittagessen treffen – und ich freue mich darauf –, warum ziehst du nicht einmal deine Uniform an?

Weil ich sie nicht mehr tragen muß, Mutter.

Das weiß ich. Aber sie steht dir so gut, du wirkst so romantisch.

Ja, Mutter, romantisch. Natürlich. So romantisch wie ein Nahkampf.

Wo zum Teufel hat Arnold Heißsporn geparkt? Immer ruhig, Junge, Betrunkene neigen nicht zu Panik. Betrunkene bemühen sich, nicht auf dem feucht-glitschigen Asphalt auszurutschen und sich das Steißbein zu brechen. Heißsporn, wo steckst du?

 

Nachdem sie ein Kleid übergestreift hatte, war Dodie durch alle Räume des Klubs gestreift – ausgenommen natürlich den Umkleideraum für Männer. Nicht, daß es sie in ihrer gegenwärtigen Stimmung nicht gereizt hätte. Außerdem kochte sie vor Wut, nicht nur über Chad sondern auch über Scott.

Chad öffnete die Wagentür und erblickte sie. War er noch so blau? Zu blau?

»Ich habe gewartet«, sagte sie mit einem mühsamen Lächeln. »Na, steig ein – es ist dein Auto, Liebling.«

Er kletterte hinein und warf den Schlag zu. Es war dunkel. Er ließ den Motor aufheulen. »Liebling?«

Sie quälte sich ein Lachen ab. »Fahr hinter dem Portal links und dann rechts in die Hawleyville Road.« Ihr war gar nicht zum Lachen. »Du bist doch nicht noch immer sternhagelvoll?«

»Weiß ich nicht. Jedenfalls bin ich durcheinander. Wo ist Scott abgeblieben?«

Der Teufel sollte ihn holen – Männer sind wie Kinder, ihre Mutter hatte schon recht. »Er mußte zum Arzt. Du hast ihn fast geblendet, Chad.« Ihr Ton klang hoffentlich sanft und neckend genug. »Wer hätte gedacht, daß sich ein Muskelprotz wie Scott durch ein Auge voll Sand aus dem Konzept bringen läßt?«

»Schon verstanden«, sagte Chad. »Im Notfall ist jeder Hafen willkommen.«

Sie überging es; einen Streit konnte sie jetzt nicht brauchen. »Warum fahren wir so langsam, Liebling?«

»Weil ich keinen Schimmer habe, wo ich hinfahre. Weißt du es?«

Warum diese Schärfe in seinem Ton. So vertreibt man jede Stimmung. »Wir gehen auf eine Party.« Sie zog die Beine auf den Sitz und entblößte sie dabei völlig. Merkte er es überhaupt? »Nächste Einfahrt rechts, zwischen den Steinlöwen.«

»Da ist doch keine Party. Die haben ja nicht mal eine Kerze ins Fenster gestellt.«

»Dann feiern wir eben allein. Daddy ist mit Mammi im Boot weggefahren.«

Das Haus war einem Tudor-Schloß nachempfunden: Holzwerk und Stuck, gigantisch, inmitten von weiten Rasenflächen und vor den Nachbarn und der Straße hinter hohen Bäumen verborgen.

»Für Einbruch gibt’s nur zwei bis zehn Jahre. Vielleicht stecken sie uns in die gleiche Zelle.«

»Schalte die Scheinwerfer aus. Linda und ihre Eltern sind bis September auf Marthas Vineyard.« Sie lief durch den stärker werdenden Regen zum Eingang. Sie bibberte; lang konnte sie es nicht mehr erwarten. Als er sie eingeholt hatte, schloß sie die Tür auf. »Eine Hand wäscht die andere. Ich gab Linda meinen Schlüssel, während wir über Weihnachten auf den Bermudas waren.« Sie stieß die Tür auf und lief in die Dunkelheit hinein. »Komm, schnell, nichts wie raus aus den nassen Klamotten.« Dann fügte sie hinzu: »Liebling.«

 

Bäche auf der Windschutzscheibe, jagender Regen, der auf das Verdeck trommelt. Abblendlicht. Dann doppeläugige Lichter eines entgegenkommenden Wagens, aufblenden, blende deinen Mitmenschen als guter Staatsbürger.

»Warum kaufst du nicht ein Radio für deinen Straßenfloh. Blöder Karren – kann mich nicht daran gewöhnen, auf der falschen Seite zu sitzen.«

»Schimpf mich, so viel zu willst, aber beleidige nicht meinen Heißsporn.«

»Komischer Name für ein Auto.«

Armer Heißsporn, dein Nervensystem hat einen Knacks weg nach dieser Tour, und deine Kupplung, ganz zu schweigen von deinem Stolz …

»Dodie, laß mich fahren …«

»Wenn du für eines zu blau bist, bist du für alles andere auch zu blau«, sagte sie.

Altes chinesisches Sprichwort. Unwichtig. Arme Dodie, dein Stolz ist auch schwer gekränkt worden. Ganz zu schweigen von schlichter Frustration.

»Wann läßt du das Verdeck reparieren? Man kommt sich ja wie in einem U-Boot vor.«

Trommelnder Regen, tropfendes Verdeck, ebene enge Straße, auf beiden Seiten von schwarzen Bäumen gesäumt, undeutlich schnell vorüberhuschend. Donnernder Motor, quietschende Reifen in den Kurven. So fuchsteufelswild ist nur eine gedemütigte Frau …

»Warum hast du’s so eilig?«

»Verdammt, Chad – ausgerechnet du!«

Das hieß also, er mußte sich verteidigen. »Vielleicht waren wir beide zu naß.«

»Naß? Quatsch!«

»Vielleicht lag es daran, daß wir in Linda Acklands Bett …«

»Erzähl bloß nicht, daß du und Linda …«

»Vielleicht waren es die Preise. Trophäen, blaue Schleifen, Geweihe, Flinten …«