Böser Wolf - Nele Neuhaus - E-Book
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Nele Neuhaus

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Beschreibung

»Packend und fesselnder als jeder seiner Vorgänger.« HR online An einem heißen Tag im Juni wird die Leiche einer 16-Jährigen aus dem Main bei Eddersheim geborgen. Sie wurde misshandelt und ermordet, und niemand vermisst sie. Auch nach Wochen hat das K 11 keinen Hinweis auf ihre Identität. Die Spuren führen unter anderem zu einer Fernsehmoderatorin, die bei ihren Recherchen den falschen Leuten zu nahe gekommen ist. Pia Kirchhoff und Oliver von Bodenstein graben tiefer und stoßen inmitten gepflegter Bürgerlichkeit auf einen Abgrund an Bösartigkeit und Brutalität. Und dann wird der Fall persönlich.  

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NELE NEUHAUS

BÖSER WOLF

Kriminalroman

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

ISBN 978-3-8437-0308-6

© 2012 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Satz und eBook bei Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für Matthias. Heaven is a place on earth with you.

Prolog

Er stellte die Einkaufstüte ab und verstaute seine Einkäufe in dem winzigen Kühlschrank. Das Eis, ihre Lieblingssorte von Häagen-Dasz, war fast geschmolzen, aber er wusste, dass sie es genau so mochte, so sahnig und cremig mit den knusprigen Gebäckstückchen. Es war Wochen her, dass er sie zuletzt gesehen hatte. Obwohl es ihm schwerfiel, drängte er sie nie. Er durfte nichts überstürzen, musste geduldig sein. Sie musste von sich aus zu ihm kommen wollen. Gestern hatte sie sich schließlich gemeldet, per SMS. Und gleich würde sie da sein! Die Vorfreude ließ sein Herz schneller schlagen.

Sein Blick wanderte durch den Wohnwagen, den er gestern Abend noch ordentlich aufgeräumt hatte, und fiel auf die Uhr über der kleinen Küchenzeile. Schon zwanzig nach sechs! Er musste sich beeilen, denn er wollte nicht, dass sie ihn so sah, so verschwitzt und unrasiert. Nach der Arbeit war er noch schnell beim Frisör gewesen, aber der ranzige Geruch nach Imbissbude klebte in jeder Pore. Rasch zog er sich aus, stopfte die nach Schweiß und Frittenfett stinkenden Klamotten in die leere Einkaufstüte und zwängte sich in die Dusche neben der Miniküche. Auch wenn es eng und der Wasserdruck äußerst bescheiden war, so zog er die Nasszelle des Wohnwagens den unhygienischen öffentlichen Sanitärräumen des Campingplatzes, die zu selten gereinigt wurden, vor.

Er seifte sich von Kopf bis Fuß ein, rasierte sich sorgfältig und putzte die Zähne. Manchmal musste er sich dazu zwingen, denn oft war die Versuchung, sich hängenzulassen und in Selbstmitleid und Lethargie zu versinken, groß. Vielleicht hätte er es getan, wenn sie nicht wäre.

Ein paar Minuten später schlüpfte er in frische Unterwäsche und ein sauberes Polohemd, aus dem Schrank nahm er eine Jeans. Schließlich streifte er die Uhr über sein Handgelenk. Ein Pfandleiher am Hauptbahnhof hatte ihm vor ein paar Monaten hundertfünfzig Euro geboten – eine glatte Unverschämtheit, hatte er vor dreizehn Jahren doch elftausend Mark für dieses Meisterstück aus einer Schweizer Uhrenmanufaktur bezahlt. Er hatte die Uhr behalten. Sie war die letzte Erinnerung an sein altes Leben. Ein prüfender Blick in den Spiegel, dann öffnete er die Tür und trat aus dem Wohnwagen.

Sein Herz machte ein paar raschere Schläge, als er sie draußen auf dem klapprigen Gartenstuhl sitzen sah. Seit Tagen und Wochen hatte er sich auf diesen Augenblick gefreut. Er blieb stehen, um ihren Anblick auf sich wirken zu lassen, ganz in sich aufnehmen zu können.

Wie wunderschön sie war, wie zart und zierlich! Ein kleiner, süßer Engel. Das weiche blonde Haar, von dem er wusste, wie es sich anfühlte und wie es roch, fiel ihr über die Schultern. Sie trug ein ärmelloses Kleid, das ihre leicht gebräunte Haut und die zerbrechlichen Wirbel in ihrem Nacken sehen ließ. Auf ihrem Gesicht lag ein konzentrierter Ausdruck, sie war damit beschäftigt, etwas in ihr Handy einzutippen, und bemerkte ihn nicht. Weil er sie nicht erschrecken wollte, räusperte er sich. Sie blickte auf, ihr Blick begegnete seinem. Das Lächeln begann in den Mundwinkeln und breitete sich dann über ihr ganzes Gesicht aus. Sie sprang auf.

Er musste schlucken, als sie nun auf ihn zukam und vor ihm stehenblieb. Der Ausdruck des Vertrauens in ihren dunklen Augen versetzte ihm einen Stich. Großer Gott, wie süß sie war! Sie war der einzige Grund, weshalb er sich nicht längst vor einen Zug geworfen hatte oder auf eine andere kostengünstige Art und Weise vorzeitig aus seinem elenden Leben geschieden war.

»Hallo, Kleines«, sagte er rau und legte seine Hand auf ihre Schulter. Nur ganz kurz. Ihre Haut fühlte sich samtig und warm an. Am Anfang hatte er immer Hemmungen, sie zu berühren.

»Was hast du deiner Mutter erzählt, wo du bist?«

»Die ist heute Abend mit meinem Stiefvater auf irgend so ’nem Fest, bei der Feuerwehr, glaub ich«, erwiderte sie und steckte das Handy in ihren roten Rucksack. »Ich hab gesagt, ich geh zu Jessie.«

»Gut.«

Mit einem Blick vergewisserte er sich, dass kein neugieriger Nachbar oder zufälliger Passant sie beobachtete. Er vibrierte innerlich vor Aufregung, seine Knie waren ganz weich.

»Ich habe dein Lieblingseis für dich gekauft«, sagte er leise. »Wollen wir reingehen?«

Donnerstag, 10. Juni 2010

Sie hatte das Gefühl, nach hinten wegzukippen. Sobald sie die Augen öffnete, drehte sich alles. Und ihr war übel. Nein, nicht übel, sondern sterbenselend. Es roch nach Erbrochenem. Alina stöhnte und versuchte, den Kopf zu heben. Wo war sie? Was war passiert, und wo waren die anderen?

Eben hatten sie doch noch alle zusammen unter dem Baum gesessen, Mart neben ihr, sein Arm um ihre Schultern. Das hatte sich gut angefühlt. Sie hatten gelacht, und er hatte sie geküsst. Katharina und Mia hatten dauernd wegen der vielen Mücken gemeckert, sie hatten Musik gehört und dieses süße Zeug getrunken – Wodka mit Red Bull.

Alina richtete sich mühsam auf. Ihr Kopf dröhnte. Sie schlug die Augen auf und erschrak. Die Sonne stand schon tief. Wie spät mochte es sein? Und wo war ihr Handy? Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war und wo sie überhaupt war. Die letzten Stunden waren wie ausgelöscht. Ein echter Filmriss!

»Mart? Mia? Wo seid ihr?«

Sie kroch bis zum Stamm der mächtigen Trauerweide. Es bedurfte ihrer ganzen Kraft, auf die Beine zu kommen und sich umzublicken. Ihre Knie waren weich wie Butter, alles drehte sich um sie herum, und sie konnte nicht richtig klar sehen. Wahrscheinlich hatte sie ihre Kontaktlinsen verloren, als sie gekotzt hatte. Denn das hatte sie. Der Geschmack in ihrem Mund war widerlich, und in ihrem Gesicht klebte Erbrochenes. Das trockene Laub knisterte unter ihren nackten Füßen. Sie blickte an sich herunter. Ihre Schuhe waren auch weg!

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte sie und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Sie würde einen Riesenärger kriegen, wenn sie in diesem Zustand zu Hause auftauchte!

Aus der Ferne wehten Stimmen und Gelächter zu ihr herüber, der Duft von gegrilltem Fleisch drang ihr in die Nase und ließ die Übelkeit wieder stärker werden. Wenigstens war sie nicht irgendwo in der Pampa gelandet; ganz in der Nähe gab es Menschen!

Alina ließ den Baumstamm los und machte ein paar unsichere Schritte. Alles um sie herum drehte sich wie in einem Karussell, aber sie zwang sich, weiterzugehen. Was für Arschlöcher die alle doch waren! Von wegen Freunde! Ließen sie hier einfach besoffen liegen, ohne Schuhe und Handy! Wahrscheinlich hatten die dicke Katharina und die blöde Zicke Mia sich noch köstlich über sie amüsiert. Die konnten was erleben, wenn sie sie morgen in der Schule sah! Und mit Mart würde sie nie mehr im Leben ein Wort reden.

Erst im letzten Augenblick bemerkte Alina die steil abfallende Böschung und blieb stehen. Da unten lag jemand! Zwischen den Brennnesseln, direkt am Wasser. Dunkle Haare, ein gelbes T-Shirt – das war Alex! Verdammt, wie war der dahin gekommen? Was war passiert? Fluchend machte Alina sich an den Abstieg. Sie verbrannte sich die nackten Waden an den Brennnesseln und trat auf irgendetwas Spitzes.

»Alex!« Sie ging neben ihm in die Hocke und rüttelte an seiner Schulter. Er stank auch nach Kotze und stöhnte leise. »Hey, wach auf!«

Mit der Hand verscheuchte sie die Mücken, die aufdringlich um ihr Gesicht schwirrten.

»Alex! Wach auf! Komm schon!« Sie zerrte an seinen Beinen, aber er war so schwer wie Blei und rührte sich nicht.

Auf dem Fluss fuhr ein Motorboot vorbei. Eine Welle schwappte heran, das Wasser gluckerte im Schilf und spülte über Alex’ Beine. Alina stockte vor Schreck der Atem. Direkt vor ihren Augen schob sich eine bleiche Hand aus dem Wasser und schien nach ihr zu greifen.

Sie prallte zurück und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Im Wasser zwischen den Schilfhalmen – keine zwei Meter von Alex entfernt – lag Mia! Alina glaubte ihr Gesicht unter der Wasseroberfläche zu erkennen, sie sah im diffusen Zwielicht der Abenddämmerung helles, langes Haar und weit geöffnete, tote Augen, die sie direkt anzusehen schienen.

Wie gelähmt starrte Alina auf das grausige Bild. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Was zum Teufel war hier passiert? Eine neue Welle bewegte Mias toten Körper, ihr Arm ragte gespenstisch blass aus dem dunklen Wasser, als ob sie um Hilfe bäte.

Alina zitterte am ganzen Leib, obwohl es noch immer unerträglich heiß war. Ihr Magen rebellierte, sie taumelte, drehte sich um und erbrach sich in die Brennnesseln. Statt Wodka und Red Bull kam aber nur noch bittere Galle. Verzweifelt schluchzend kroch sie auf allen vieren die steile Böschung hoch, das Gestrüpp zerkratzte ihre Knie und Hände. Ach, wäre sie doch nur schon zu Hause, in ihrem Zimmer, im Bett, in Sicherheit! Sie wollte nur weg von diesem schrecklichen Ort und alles vergessen, was sie gesehen hatte.

*

Pia Kirchhoff tippte den letzten Bericht über die Ermittlungen im Todesfall Veronika Meissner in den PC. Die Sonne brannte seit dem frühen Morgen auf das Flachdach des Gebäudes, in dem sich die Büros des Kommissariats 11 befanden, und die digitale Anzeige der Wetterstation, die auf dem Fensterbrett neben Kai Ostermanns Schreibtisch stand, zeigte 31 Grad an. Raumtemperatur. Draußen waren es locker noch drei Grad mehr. In jeder Schule hätte es hitzefrei gegeben. Obwohl alle Fenster und Türen weit geöffnet waren, ging kein Lufthauch, der etwas Linderung gebracht hätte. Pias Unterarm klebte an der Schreibtischplatte, sobald sie ihn darauflegte. Sie seufzte und gab einen Druckbefehl, dann heftete sie den Bericht in den schmalen Ordner. Fehlte nur noch der Obduktionsbericht, aber wo hatte sie ihn hingelegt? Pia stand auf und suchte in ihren Ablagekörben, um den Vorgang endlich abschließen zu können. Sie hielt seit vorgestern allein die Stellung im K11, denn ihr Kollege Kai Ostermann, mit dem sie sich das Büro teilte, war seit Mittwoch auf einer Fortbildung im Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Kathrin Fachinger und Cem Altunay nahmen an einem länderübergreifenden Seminar in Düsseldorf teil, und der Chef hatte seit Montag Urlaub und war mit unbekanntem Ziel verreist. Dem akuten Mangel an potentiellen Gästen war deshalb auch die kleine Feierstunde, die Kriminalrätin Dr. Nicola Engel aus Anlass von Pias Ernennung zur Kriminalhauptkommissarin für den frühen Nachmittag anberaumt hatte, zum Opfer gefallen, doch das hatte Pia nicht gestört. Rummel um ihre Person war ihr zuwider, die Änderung des Dienstgrades eine verwaltungstechnische Formalie, mehr nicht.

»Wo ist denn dieser dämliche Bericht?«, murmelte sie ärgerlich. Es war schon kurz vor fünf, und um sieben wollte sie auf das Abitreffen nach Königstein. Die Arbeit auf dem Birkenhof ließ ihr viel zu selten Zeit, soziale Kontakte zu pflegen, deshalb freute sie sich darauf, die Mitschülerinnen von früher nach 25 Jahren wiederzusehen.

Ein Klopfen an der offenstehenden Tür ließ sie herumfahren.

»Hallo, Pia.«

Pia traute ihren Augen nicht. Vor ihr stand ihr ehemaliger Kollege Frank Behnke. Er sah verändert aus. Seinen üblichen Look – Jeans, T-Shirt und abgelatschte Cowboystiefel – hatte er gegen einen hellgrauen Anzug, Hemd und Krawatte getauscht. Das Haar trug er etwas länger als früher, auch war sein Gesicht nicht mehr so ausgezehrt, was ihm besser stand.

»Hallo, Frank«, erwiderte sie erstaunt. »Lange nicht mehr gesehen.«

»Und doch gleich wiedererkannt.« Er grinste, schob die Hände in die Hosentaschen und musterte sie eingehend von Kopf bis Fuß. »Siehst gut aus. Hab gehört, dass du die Karriereleiter hochgefallen bist. Beerbst den Alten bald, was?«

Wie früher schon schaffte Frank Behnke es auch diesmal mühelos, sie in Sekundenschnelle zu verärgern. Die höfliche Frage nach seinem Befinden blieb Pia im Hals stecken.

»Ich bin mitnichten die Karriereleiter ›hochgefallen‹. Mein Dienstgrad hat sich geändert, sonst nichts«, entgegnete sie kühl. »Und wen meinst du mit dem Alten? Etwa Bodenstein?«

Behnke zuckte nur grinsend die Schultern und kaute auf seinem Kaugummi herum. Das hatte er sich nicht abgewöhnt.

Nach seinem unrühmlichen Abgang aus dem K11 vor zwei Jahren hatte er gegen seine Suspendierung geklagt und vor Gericht Erfolg gehabt. Allerdings war er nach Wiesbaden zum Landeskriminalamt versetzt worden, was bei der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim niemand bedauert hatte.

Er ging an ihr vorbei und ließ sich auf Ostermanns Stuhl nieder.

»Sind alle ausgeflogen, was?«

Pia brummte nur etwas und suchte weiter nach dem Bericht.

»Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?«, fragte sie, statt auf seine Frage zu antworten.

Behnke verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Tja, wie schade, dass ich die frohe Botschaft vorerst nur dir verkünden kann«, sagte er. »Aber die anderen werden es noch früh genug erfahren.«

»Was denn?« Pia warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.

»Die Arbeit auf der Straße hatte ich satt. Den Mist hab ich lange genug gemacht«, erwiderte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. »SEK, K11, das hab ich alles hinter mir. Ich hatte immer die besten Bewertungen, und man hat mir meinen kleinen Fehltritt verziehen.«

Kleiner Fehltritt! Behnke hatte Kollegin Fachinger in einem Ausbruch unbeherrschten Zorns niedergeschlagen und sich noch andere Verfehlungen geleistet, die eine Suspendierung gerechtfertigt hatten.

»Ich hatte private Probleme zu der Zeit«, fuhr er fort. »Das wurde berücksichtigt. Beim LKA habe ich ein paar Zusatzqualifikationen erworben und bin jetzt beim K134, Dienststelle Interne Ermittlung, zuständig für Strafanzeigen und Verdachtslagen gegen Angehörige der Polizei und für Korruptionsprävention.«

Pia glaubte sich verhört zu haben. Frank Behnke als interner Ermittler? Das war absurd!

»Zusammen mit Kollegen der anderen Bundesländer haben wir in den letzten Monaten ein neues Strategiekonzept entwickelt, das ab dem 1. Juli bundesweit in Kraft tritt. Verbesserung der Dienst- und Fachaufsicht innerhalb der untergeordneten Behörden, Sensibilisierung der Beschäftigten und so weiter …« Er schlug ein Bein über das andere, wippte mit dem Fuß. »Frau Dr. Engel ist eine kompetente Behördenleiterin, aber aus den einzelnen Kommissariaten wurden uns verschiedentlich immer wieder Verfehlungen von Kollegen zugetragen. Ich selbst kann mich noch lebhaft an Vorfälle hier im Haus erinnern, die durchaus bedenklich sind. Strafvereitelung im Amt, Nichtverfolgung von Straftaten, unberechtigte Datenabfragen, Weitergabe interner Dokumente an Dritte … um nur ein paar Beispiele zu nennen.«

Pia hielt in ihrer Suche nach dem Obduktionsbericht inne.

»Worauf willst du hinaus?«

Behnkes Lächeln wurde maliziös, in seine Augen trat ein unangenehmes Glitzern, und Pia schwante nichts Gutes. Schon immer hatte er seine Überlegenheit und Macht Schwächeren gegenüber genüsslich ausgespielt, ein Charakterzug, den sie an ihm verachtete. Als Kollege war Behnke mit seiner Missgunst und ewig miesen Laune die reinste Landplage gewesen, als Beauftragter der internen Ermittlung konnte er zur Katastrophe werden.

»Du solltest es doch am besten wissen.« Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und blieb dicht neben ihr stehen. »Du bist doch das erklärte Lieblingskind vom Alten.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, antwortete Pia eisig.

»Tatsächlich nicht?« Behnke trat so nah an sie heran, dass es ihr unangenehm war, aber sie unterdrückte den Impuls, vor ihm zurückzuweichen. »Ich werde hier im Haus ab Montag eine behördeninterne Überprüfung durchführen, und ich muss wohl nicht sehr tief graben, um ein paar Leichen ans Tageslicht zu holen.«

Pia fröstelte trotz der Tropenhitze im Büro, aber sie schaffte es, äußerlich gelassen zu bleiben, obwohl sie innerlich kochte; ihr gelang sogar ein Lächeln. Frank Behnke war ein nachtragender, kleinlicher Mensch, der nichts vergaß. Der alte Frust nagte noch immer an ihm und hatte sich in den letzten Jahren wahrscheinlich verzehnfacht. Er sann auf Rache für vermeintlich erlittenes Unrecht und Demütigungen. Es war nicht klug, ihn sich zum Feind zu machen, aber Pias Verärgerung war stärker als die Vernunft.

»Na dann«, sagte sie spöttisch und wandte sich wieder ihrer Suche zu. »Viel Erfolg in deinem neuen Job als … Leichenspürhund.«

Behnke wandte sich zur Tür.

»Dein Name steht bisher noch nicht auf meiner Liste. Aber das kann sich schnell ändern. Schönes Wochenende.«

Pia reagierte nicht auf die unmissverständliche Drohung, die in seinen Worten mitschwang. Sie wartete, bis er verschwunden war, dann griff sie nach ihrem Handy und wählte Bodensteins Nummer. Der Anruf ging hin, aber niemand nahm ab. Verdammt! Ganz sicher hatte ihr Chef keine blasse Ahnung, welche böse Überraschung hier auf ihn wartete. Sie wusste ziemlich genau, worauf Behnke angespielt hatte. Und das konnte für Oliver von Bodenstein ausgesprochen unangenehme Konsequenzen haben.

*

Drei Pfandflaschen sind eine Packung Nudeln. Fünf Pfandflaschen das Gemüse dazu. Das war die Währung, in der er rechnete.

Früher, in seinem alten Leben, hatte er nicht auf Pfand geachtet, er hatte Leergut achtlos in die Mülltonne geworfen. Genau solche Menschen, wie er einer gewesen war, sicherten ihm heute seine Grundversorgung. Zwölf Euro fünfzig hatte er vorhin beim Getränkehändler für die zwei Tüten mit leeren Flaschen bekommen. Sechs Euro schwarz zahlte ihm der geldgierige Halsabschneider pro Stunde dafür, dass er elf Stunden täglich in dieser Blechbüchse am Rande eines Industriegebiets in Fechenheim stehen und Würstchen grillen, Pommes frittieren und Hamburger braten durfte. Stimmte am Abend die Kasse nicht auf den Cent, dann wurde ihm das vom Lohn abgezogen. Heute hatte alles gestimmt, und er hatte nicht um sein Geld betteln müssen, wie sonst üblich. Der Dicke war guter Laune gewesen und hatte ihm den ausstehenden Lohn von fünf Tagen ausbezahlt.

Zusammen mit den Einkünften aus seiner Pfandflaschen-Sammelaktion hatte er rund dreihundert Euro im Portemonnaie. Ein kleines Vermögen! Deshalb hatte er sich beim türkischen Frisör gegenüber vom Hauptbahnhof in einem Anfall von Übermut nicht nur einen frischen Haarschnitt, sondern auch eine Rasur gegönnt. Nach einem Besuch bei Aldi hatte er noch genug übrig gehabt, um die Miete für den Wohnwagen für zwei Monate im Voraus zu bezahlen.

Er stellte den klapprigen Motorroller neben dem Wohnwagen ab, zog den Helm vom Kopf und nahm die Einkaufstüte vom Gepäckträger.

Die Hitze machte ihn fertig. Nicht mal nachts kühlte es richtig ab. Morgens wachte er schon schweißgebadet auf, in der elenden Frittenbude aus dünnem Wellblech herrschten Temperaturen von sechzig Grad und die unangenehme Luftfeuchtigkeit zementierte den Gestank von Schweiß und ranzigem Fett in allen Poren und den Haaren fest.

Der heruntergekommene Wohnwagen auf dem Dauercampingplatz in Schwanheim hatte damals eine vorübergehende Notlösung sein sollen, damals, als er noch fest daran geglaubt hatte, er werde es schaffen und seine finanzielle Situation wieder in den Griff bekommen. Doch nichts im Leben erwies sich als so dauerhaft wie ein Provisorium – mittlerweile hauste er hier im siebten Jahr.

Er öffnete den Reißverschluss des Vorzeltes, das vor Jahrzehnten einmal dunkelgrün gewesen sein mochte, bis die Witterung es zu einem undefinierbaren hellgrauen Farbton ausgebleicht hatte. Heiße Luft schlug ihm entgegen, im Innern des Wohnwagens waren es noch ein paar Grad mehr als draußen, es roch stickig und muffig. Egal, wie gründlich er putzte und lüftete, die Gerüche hatten sich in den Polstern und allen Ritzen und Fugen festgefressen. Auch nach sieben Jahren empfand er sie als unangenehm. Aber eine Alternative gab es für ihn nicht.

Nach seinem Absturz ins Bodenlose gehörte er selbst hier, in den Favelas der Gescheiterten am Rande der Metropole, als verurteilter Straftäter zur Unterschicht. Hierher verirrte sich niemand, um Urlaub zu machen und die glitzernde Skyline Frankfurts, die beton- und glasgewordenen Symbole des großen Geldes auf der anderen Seite des Flusses, zu bewundern. Seine Nachbarn waren größtenteils schuldlos verarmte Rentner oder verkrachte Existenzen wie er selbst, die irgendwann auf der Rolltreppe nach unten gelandet waren. Häufig spielte Alkohol die Hauptrolle in ihren Lebensgeschichten, die sich auf deprimierende Weise ähnelten. Er selbst trank höchstens mal ein Bier am Abend und rauchte nicht, achtete auf seine Figur und sein Äußeres. Auch von Hartz IV wollte er nichts wissen, denn ihm war allein der Gedanke daran, als Bittsteller auftreten zu müssen und der bornierten Willkür gleichgültiger Beamter ausgeliefert zu sein, unerträglich.

Ein winziger Rest von Selbstachtung war das Letzte, das ihm geblieben war. Wenn er den verlor, konnte er sich gleich umbringen.

»Hallo?«

Eine Stimme vor dem Zelt ließ ihn herumfahren. Hinter der halb vertrockneten Hecke, die die winzige Parzelle, auf der sein Wohnwagen stand, umgab, stand ein Mann.

»Was wollen Sie?«

Der Mann kam näher. Zögerte. Seine Schweinsäuglein huschten argwöhnisch von links nach rechts.

»Jemand hat mir gesagt, Sie würden einem helfen, wenn man Ärger mit ’nem Amt hat.« Die hohe Fistelstimme stand in einem grotesken Gegensatz zu der massigen Erscheinung des Mannes. Schweiß perlte auf seiner Halbglatze, der aufdringliche Geruch nach Knoblauch überlagerte noch unangenehmere Körperausdünstungen.

»So. Wer behauptet so was?«

»Die Rosi vom Kiosk. Die hat gesagt, geh zum Doc. Der hilft dir.« Der schwitzende Talgbrocken blickte sich wieder um, als fürchtete er, gesehen zu werden, dann zog er verstohlen eine Rolle Geldscheine aus seiner Hosentasche. Hunderter, sogar ein paar Fünfhunderter. »Ich zahl auch gut.«

»Kommen Sie rein.«

Der Kerl war ihm auf Anhieb unsympathisch, aber das spielte keine Rolle. Er konnte sich seine Mandantschaft nicht aussuchen, seine Adresse fand sich in keinem Branchenbuch, und eine Webseite hatte er erst recht nicht. Allerdings hatte seine Käuflichkeit nach wie vor Grenzen, das hatte sich auch in den einschlägigen Kreisen herumgesprochen. Mit seiner Vorstrafe und der immer noch laufenden Bewährung würde er sich in nichts hineinziehen lassen, was ihn womöglich wieder in den Knast bringen konnte. Die Mundpropaganda bescherte ihm Kneipenwirte und Imbissbudenbetreiber, die gegen amtliche Auflagen verstoßen hatten, verzweifelte Rentner, die auf Kaffeefahrten und bei Haustürgeschäften hereingelegt worden waren, Arbeitslose oder Migranten, die das komplizierte System der deutschen Bürokratie nicht verstanden und junge Leute, die von den Verlockungen eines Lebens auf Kredit frühzeitig in die Schuldenfalle gelockt worden waren. Jemand, der ihn um Hilfe bat, wusste, dass er nur gegen Bargeld arbeitete.

Sein anfängliches Mitleid hatte er sich schnell abgewöhnt; er war kein Robin Hood, sondern ein Söldner. Gegen Bargeld und Vorkasse füllte er an dem zerschrammten Resopaltisch in seinem Wohnwagen amtliche Formulare aus, übersetzte verklausulierte Behördensprache in verständliches Deutsch, gab juristischen Rat in allen Lebenslagen und besserte so sein Einkommen auf.

»Worum geht’s?«, fragte er seinen Besucher, der mit einem abschätzenden Blick die offensichtlichen Indizien der Armut erfasste und angesichts dieser an Sicherheit zu gewinnen schien.

»Mann, ist das heiß hier drin. Ham Sie ’n Bier oder ’n Glas Wasser?«

»Nein.« Er gab sich keine Mühe, freundlich zu sein.

Die Zeit der Besprechungstische aus Mahagonifurnier in klimatisierten Räumen, Tabletts mit Wasser- und Saftfläschchen und auf den Kopf gestellten Gläsern war definitiv vorbei.

Der Dicke zog mit einem Schnaufen ein paar zusammengerollte Papiere aus der Innentasche seiner speckigen Lederweste und reichte sie ihm. Umweltpapier, eng bedruckt. Finanzamt.

Er faltete das schweißfeuchte Papier auseinander, glättete es und überflog es.

»Dreihundert«, verlangte er ohne aufzublicken. Gerolltes Bargeld in Hosentaschen war immer Schwarzgeld. Der dicke Schwitzer konnte es sich leisten, etwas mehr zu zahlen als den üblichen Tarif, den er Rentnern und Arbeitslosen abnahm.

»Was?«, protestierte der neue Mandant wie erwartet. »Für so ’n bisschen Papierkram?«

»Wenn Sie jemanden finden, der es günstiger macht – bitte schön.«

Der Dicke murmelte irgendetwas Unverständliches, dann blätterte er widerwillig drei grüne Scheine auf den Tisch.

»Krieg ich wenigstens ’ne Quittung?«

»Klar. Meine Sekretärin stellt Ihnen später eine aus und gibt sie Ihrem Chauffeur«, erwiderte er sarkastisch. »Jetzt setzen Sie sich schon. Ich brauche ein paar Angaben von Ihnen.«

*

Der Verkehr staute sich am Baseler Platz vor der Friedensbrücke. Seit ein paar Wochen war die Stadt eine einzige verdammte Baustelle, und sie ärgerte sich, weil sie nicht daran gedacht hatte und in die Innenstadt gefahren war, statt die Strecke über das Frankfurter Kreuz und Niederrad nach Sachsenhausen zu nehmen. Während sie im Schneckentempo hinter einer Rostlaube von Kleinlaster mit litauischem Kennzeichen über die Mainbrücke kroch, kreisten Hannas Gedanken um das unerfreuliche Gespräch mit Norman von heute Morgen. Noch immer war sie stinksauer über dessen Blödheit und seine Lügerei. Es war ihr wirklich schwergefallen, ihn nach elf Jahren fristlos zu entlassen, aber er hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Bevor er wutschnaubend abgezogen war, hatte er sie übel beschimpft und wüste Drohungen ausgestoßen.

Hannas Smartphone gab einen Summton von sich, sie ergriff es und öffnete das Mailprogramm. Ihre Assistentin hatte ihr eine E-Mail geschrieben. Der Betreff lautete »Katastrophe!!!«, und statt eines Textes fand sich nur ein Link zu FOCUS online. Hanna klickte mit dem Daumen auf den Link, und ihr wurde flau im Magen, als sie die Überschrift las.

»Hanna Herz-los«, stand da, in dicken Lettern, daneben ein ziemlich unvorteilhaftes Fotos von ihr. Ihr Herz begann zu rasen, sie bemerkte, dass ihre rechte Hand unkontrolliert zitterte, und schloss sie fester um das Smartphone. »Ihr geht es nur um den Profit. Die Gäste ihrer Sendung müssen einen Knebelvertrag unterschreiben, bevor sie zu Wort kommen. Und das, was sie sagen, wird ihnen von Hanna Herzmann (46) vorgeschrieben. Maurer Armin V. (52) sollte in der Sendung (Thema: Mein Vermieter will mich entmieten) von seinem Ärger mit seinem Vermieter sprechen, doch vor laufender Kamera wurde er von der Moderatorin zum Mietnomaden abgestempelt. Als er nach der Ausstrahlung der Sendung dagegen protestierte, lernte er die vermeintlich mitfühlende Hanna Herzmann von einer anderen Seite kennen, und ihre Anwälte gleich dazu. Jetzt ist Armin V. arbeitslos und ohne Wohnsitz; sein Vermieter hatte ihm schließlich gekündigt. Ähnlich erging es Bettina B (34). Die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern war im Januar Gast in Hanna Herzmanns Sendung (Thema: Wenn Väter sich verdrücken). Entgegen vorheriger Absprachen wurde Bettina B. als überforderte Mutter und Alkoholikerin dargestellt. Auch bei ihr hatte die Ausstrahlung unangenehme Folgen: Sie bekam Besuch vom Jugendamt.«

»Scheiße«, murmelte Hanna. Was einmal im Internet stand, ließ sich nie wieder löschen. Sie biss sich auf die Unterlippe und dachte angestrengt nach.

Leider entsprach der Artikel der Wahrheit. Hanna besaß ein todsicheres Gespür für interessante Themen, und sie schreckte auch nicht davor zurück, unangenehme Fragen zu stellen und tief im Dreck zu wühlen. Dabei waren ihr die Menschen und ihre oftmals tragischen Schicksale im Grunde genommen völlig egal, die meisten verachtete sie sogar insgeheim ihres Dranges wegen, sich jede Blöße zu geben, nur um für fünfzehn Minuten berühmt zu sein. Hanna schaffte es, den Leuten vor laufender Kamera ihre intimsten Geheimnisse zu entlocken, und verstand es dabei meisterhaft, mitfühlend und interessiert zu wirken.

Allerdings reichte die wahre Geschichte oft nicht aus, dann war ein wenig Dramatisierung notwendig. Und das war Normans Sache gewesen. Er hatte es zynisch ›Pimp my boring life‹ genannt und gerne die Realität über jede Schmerzgrenze hinaus verzerrt. Ob das moralisch in Ordnung war oder nicht, war Hanna ziemlich schnuppe, letztlich gab der Erfolg, gemessen an den Einschaltquoten, seiner Taktik recht. Zwar füllten die Beschwerdebriefe solchermaßen getäuschter Gäste mehrere Ordner, denn oft kapierten die erst hinterher, wenn sie dem Gespött ihrer Mitmenschen ausgesetzt waren, was sie da in aller Öffentlichkeit an Peinlichkeiten von sich gegeben hatten. Nur sehr selten kam es tatsächlich zu einer Klage, und das lag an den ausgefeilten, juristisch absolut wasserdichten Verträgen, die jeder, der in ihrer Sendung überhaupt zu Wort kommen wollte, vorher unterschreiben musste.

Hinter ihr hupte es. Hanna schreckte aus ihren Gedanken hoch. Der Stau hatte sich aufgelöst. Sie hob entschuldigend die Hand und gab Gas. Zehn Minuten später bog sie in die Hedderichstraße ein und fuhr in den Hinterhof des Gebäudes, in dem sich ihre Firma befand. Sie steckte das Smartphone in ihre Tasche und stieg aus. In der Stadt war es immer ein paar Grad wärmer als im Taunus, die Hitze staute sich zwischen den Häusern und hatte Saunaqualität erreicht. Hanna flüchtete in das klimatisierte Foyer und betrat den Aufzug. Auf der Fahrt in den fünften Stock lehnte sie sich an die kühle Wand und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild. In den ersten Wochen nach der Trennung von Vinzenz hatte sie entsetzlich verhärmt und mitgenommen ausgesehen, und die Mädchen in der Maske hatten ihre ganze professionelle Kunstfertigkeit aufbieten müssen, um ihr zu dem Aussehen zu verhelfen, an das die Fernsehzuschauer gewöhnt waren. Aber jetzt fand Hanna sich ganz passabel, zumindest im schummrigen Licht des Aufzugs. Die ersten silbernen Strähnen deckte sie mit einer Haartönung ab, nicht aus Eitelkeit, sondern aus purem Selbsterhaltungstrieb. Das Fernsehbusiness war gnadenlos: Männer durften graue Haare haben, für Frauen dagegen bedeuteten sie die sukzessive Verbannung in Kultur- oder Kochsendungen im Nachmittagsprogramm.

Kaum dass Hanna im fünften Stock aus dem Aufzug getreten war, erschien Jan Niemöller vor ihr wie aus dem Nichts. Ungeachtet der tropischen Temperaturen, die draußen herrschten, trug der Geschäftsführer der Herzmann production ein schwarzes Hemd, schwarze Jeans und als Krönung des Ganzen einen Schal um den Hals.

»Hier ist der Teufel los!« Niemöller tänzelte aufgeregt neben ihr her und fuchtelte mit den dünnen Armen. »Die Telefone klingeln im Sekundentakt, und du bist nicht zu erreichen. Und wieso erfahre ich von Norman, dass du ihn fristlos entlassen hast, und nicht von dir? Erst schmeißt du Julia raus, jetzt Norman – wer soll denn hier noch die Arbeit machen?«

»Meike wird für den Sommer als Julias Vertretung einspringen, das ist doch schon geklärt. Und wir werden eben erst einmal mit einem freien Producer arbeiten.«

»Und mich fragst du nicht einmal!«

Hanna musterte Niemöller kühl.

»Personalentscheidungen sind meine Sache. Ich habe dich eingestellt, damit du dich um den kaufmännischen Kram kümmerst und mir den Rücken freihältst.«

»Ach, so siehst du das mittlerweile.« Er war prompt beleidigt.

Hanna wusste, dass Jan Niemöller heimlich in sie oder eher noch in ihren Glanz, der auch auf ihn als ihren Mitgeschäftsführer abstrahlte, verliebt war, aber sie schätzte ihn lediglich als Partner, als Mann war er nicht ihr Fall. Außerdem wurde er in letzter Zeit etwas zu besitzergreifend, sie musste ihn in seine Schranken weisen.

»Das sehe ich nicht so, das ist so«, sagte sie deshalb, noch eine Spur kühler. »Ich lege Wert auf deine Meinung, aber entscheiden tue ich immer noch allein.«

Niemöller öffnete schon den Mund, um zu protestieren, aber Hanna schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.

»Der Sender hasst diese Art von Publicity. Wir haben keine besonders starke Position mehr, bei den Scheißquoten der letzten Monate, mir blieb gar nichts anderes übrig, als Norman rauszuschmeißen. Wenn sie uns aus dem Programm nehmen, könnt ihr euch alle einen neuen Job suchen. Kapierst du das?«

Irina Zydek, Hannas Assistentin, erschien im Flur.

»Hanna, Matern hat schon dreimal angerufen. Und so gut wie jede Zeitungs- und Fernsehredaktion, mal abgesehen von Al Dschasira.« Ihre Stimme hatte einen besorgten Unterton.

In den Türen ihrer Büros tauchten die anderen Mitarbeiter auf, ihre Verunsicherung war spürbar. Sicherlich hatte sich herumgesprochen, dass sie Norman fristlos entlassen hatte.

»Wir treffen uns in einer halben Stunde im Konfi«, sagte Hanna im Vorbeigehen. Zuerst musste sie Wolfgang Matern zurückrufen. Ärger mit dem Sender konnte sie sich im Augenblick überhaupt nicht leisten.

Sie betrat ihr lichtdurchflutetes Büro, das letzte im Gang, warf ihre Tasche auf einen der Besucherstühle und setzte sich hinter den Schreibtisch. Während ihr Computer hochfuhr, blätterte sie rasch die Rückrufbitten durch, die Irina auf gelben Post-its notiert hatte, dann griff sie nach dem Telefonhörer. Unangenehmes schob sie nie lange vor sich her. Sie tippte auf die Kurzwahltaste mit der Nummer von Wolfgang Matern und holte tief Luft. Er meldete sich nur Sekunden später.

»Hier ist Hanna Herzlos«, sagte sie.

»Schön zu hören, dass du das noch mit Humor nehmen kannst«, entgegnete der Geschäftsführer von Antenne Pro.

»Ich habe eben meinen Producer fristlos entlassen, denn ich habe erfahren, dass er über Jahre hinweg die Lebensgeschichten meiner Gäste frisiert hat, wenn ihm die Wahrheit zu langweilig erschien.«

»Und das hast du nicht gewusst?«

»Nein!« Sie legte alle Empörung, zu der sie fähig war, in diese Lüge. »Ich bin fassungslos! Ich konnte doch nicht jede Story überprüfen, musste mich auf ihn verlassen. Das ist – oder war – schließlich sein Job!«

»Sag mir bitte, dass das keine Katastrophe wird«, sagte Matern.

»Natürlich nicht.« Hanna lehnte sich zurück. »Ich habe schon eine Idee, wie man den Spieß umdrehen kann.«

»Was willst du tun?«

»Wir werden alles zugeben und uns bei den Gästen entschuldigen.«

Einen Moment war es still.

»Die Flucht nach vorn«, sagte Wolfgang Matern schließlich. »Das ist es, wofür ich dich bewundere. Du versteckst dich nicht. Lass uns morgen beim Mittagessen darüber reden, okay?«

Hanna konnte sein Lächeln förmlich hören, und ihr fiel ein Stein vom Herzen. Manchmal waren ihre spontanen Einfälle doch die besten.

*

Der Airbus war noch nicht zum Stehen gekommen, da klickten schon die Verschlüsse der Sicherheitsgurte und die Leute standen ungeachtet der Anweisung, bis zum endgültigen Erreichen der Parkposition auf ihren Plätzen zu bleiben, auf. Bodenstein blieb sitzen. Er hatte keine Lust, minutenlang eingezwängt im Gang zu stehen und von den anderen Passagieren angerempelt zu werden. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er gut in der Zeit war. Die Maschine war nach vierundfünfzig Minuten pünktlich um 20:42 gelandet.

Seit heute Nachmittag hatte er die erleichternde Gewissheit, seinen Lebenskompass nach zwei turbulenten, chaotischen Jahren endlich wieder genordet zu haben. Seine Entscheidung, zu dem Prozess gegen Annika Sommerfeld nach Potsdam zu fahren und damit einen Schlussstrich unter die ganze Angelegenheit zu ziehen, war goldrichtig gewesen. Er fühlte sich wie befreit von einer Last, die er seit dem letzten Sommer, nein, eigentlich seit jenem Tag im November vor zwei Jahren, als er begreifen musste, dass Cosima ihn betrog, mit sich herumgetragen hatte. Das Scheitern seiner Ehe und die Sache mit Annika hatten ihn seelisch völlig aus der Bahn geworfen und seinem Selbstwertgefühl erheblichen Schaden zugefügt. Letztlich hatte ihn seine private Misere unkonzentriert werden lassen und ihn zu Fehlern verleitet, die ihm früher nie unterlaufen wären. Allerdings hatte er in den vergangenen Wochen und Monaten auch festgestellt, dass seine Ehe mit Cosima alles andere als so perfekt gewesen war, wie er sich das über zwanzig Jahre lang eingeredet hatte. Viel zu oft hatte er nachgegeben und gegen seinen Willen gehandelt, der Harmonie, den Kindern, dem äußeren Schein zuliebe. Das war nun vorbei.

Die Schlange im Gang setzte sich langsam in Bewegung. Bodenstein stand auf, hob seinen Koffer aus dem Gepäckfach und folgte seinen Mitreisenden Richtung Ausgang.

Von Gate A49 war es ein ordentlicher Fußmarsch bis zum Ausgang, irgendwo folgte er einem falschen Schild, wie es ihm immer wieder auf diesem gigantischen Flughafen passierte, und landete in der Abflughalle. Mit der Rolltreppe fuhr er hinunter in die Ankunftsebene und trat hinaus in die warme Abendluft. Kurz vor neun. Um neun Uhr wollte Inka ihn abholen. Bodenstein überquerte die Taxispur und blieb bei den Kurzzeitparkplätzen stehen. Er sah ihren schwarzen Landrover schon von weitem und lächelte unwillkürlich. Wenn Cosima ihm versprochen hatte, ihn irgendwo abzuholen, dann war sie zu seiner Verärgerung immer mindestens eine Viertelstunde zu spät aufgetaucht. Bei Inka war das anders.

Der Geländewagen bremste neben ihm, er öffnete die hintere Tür, wuchtete seinen Rollkoffer auf den Rücksitz und stieg dann vorne ein.

»Hi.« Sie lächelte. »Guten Flug gehabt?«

»Hallo.« Bodenstein lächelte auch und schnallte sich an. »Ja, wunderbar. Danke fürs Abholen.«

»Kein Problem. Gern geschehen.«

Sie setzte den linken Blinker, warf einen Blick über die Schulter und fädelte sich wieder in die Reihe der langsam fahrenden Autos ein.

Bodenstein hatte niemandem erzählt, weshalb er wirklich in Potsdam gewesen war, auch Inka nicht, obwohl sie in den letzten Monaten eine echte Freundin geworden war. Diese Sache war einfach zu persönlich. Er lehnte seinen Kopf an die Nackenstütze. Ein Gutes hatte die Geschichte mit Annika Sommerfeld zweifellos gehabt. Er hatte endlich angefangen, über sich selbst nachzudenken. Das war ein schmerzlicher Prozess der Selbsterkenntnis gewesen, der ihn hatte begreifen lassen, dass er nur ziemlich selten das getan hatte, was er wirklich wollte. Immer hatte er Cosimas Wünschen und Ansprüchen nachgegeben, aus Gutmütigkeit, purer Bequemlichkeit oder vielleicht sogar aus Verantwortungsbewusstsein, aber das spielte keine Rolle. Im Endeffekt war er zum langweiligen Ja-Sager geworden, zum Pantoffelheld, und damit hatte er jegliche Attraktivität eingebüßt. Kein Wunder, dass sich Cosima, die nichts so sehr hasste wie Routine und Langeweile, in eine Affäre gestürzt hatte.

»Ich habe übrigens die Schlüssel für das Haus bekommen«, sagte Inka. »Wenn du willst, kannst du es dir heute Abend noch ansehen.«

»Oh, das ist eine gute Idee.« Bodenstein blickte sie an. »Du müsstest mich allerdings vorher nach Hause fahren, damit ich mein Auto holen kann.«

»Ich kann dich auch später heimfahren, sonst wird es zu spät. Es gibt noch keinen Strom im Haus.«

»Wenn dir das nichts ausmacht.«

»Macht es nicht.« Sie grinste. »Ich habe heute Abend frei.«

»Na, dann nehme ich dein Angebot gerne an.«

Dr. Inka Hansen war Tierärztin und betrieb gemeinsam mit zwei Kollegen eine Pferdeklinik im Kelkheimer Stadtteil Ruppertshain. Durch ihren Job hatte sie auch von dem Haus erfahren, einer Doppelhaushälfte, dessen Bauherr das Geld ausgegangen war. Seit einem halben Jahr ruhten die Bauarbeiten, und das Haus war für einen vergleichsweise günstigen Preis auf dem Markt.

Eine halbe Stunde später hatten sie die Baustelle erreicht und balancierten über eine Holzbohle zur Haustür. Inka schloss auf, sie traten ein.

»Der Estrich ist drin, alle Installationen sind gemacht. Aber das war’s«, sagte Inka, als sie durch die Räume im Erdgeschoss schlenderten.

Anschließend gingen sie die Treppe hoch in den ersten Stock.

»Wow! Die Aussicht ist spektakulär«, stellte Bodenstein fest. In der Ferne sah man die glitzernden Lichter von Frankfurt auf der linken und den hell erleuchteten Flughafen auf der rechten Seite.

»Unverbaubare Fernsicht«, bestätigte Inka. »Und wenn es hell ist, sieht man von hier aus sogar Schloss Bodenstein.«

Das Leben machte manchmal wirklich seltsame Umwege. Er war vierzehn Jahre alt gewesen, als er sich unsterblich in Inka Hansen, die Tochter des Pferdetierarztes aus Ruppertshain verliebt hatte, aber er hatte nie den Mut aufgebracht, ihr das zu gestehen. Und so war es zu Missverständnissen gekommen, die ihn zum Studium in die Ferne getrieben hatten. Dort war ihm erst Nicola über den Weg gelaufen, dann Cosima. An Inka hatte er gar nicht mehr gedacht, bis sie sich im Zuge einer Mordermittlung vor fünf Jahren wieder begegnet waren. Damals hatte er noch geglaubt, seine Ehe mit Cosima würde ewig halten, und wahrscheinlich hätte er Inka wieder aus den Augen verloren, wenn sich nicht ausgerechnet ihre Tochter und sein Sohn ineinander verliebt hätten. Im letzten Jahr hatten die beiden geheiratet, und auf der Hochzeit hatte er als Vater des Bräutigams neben ihr, der Mutter der Braut, gesessen. Sie hatten sich gut unterhalten, danach gelegentlich telefoniert und waren dann ein paar Mal zusammen essen gewesen. Im Laufe der Monate hatte sich eine echte Freundschaft entwickelt, die Telefonate und Abendessen wurden bald zu einer regelmäßigen Gewohnheit. Bodenstein war gerne mit Inka zusammen, er schätzte sie sehr als Gesprächspartnerin und gute Freundin. Inka war eine starke, selbstbewusste Frau, die großen Wert auf ihre Freiheit und Unabhängigkeit legte.

Das Leben gefiel Bodenstein ganz gut, so wie es war, mal abgesehen von seiner Wohnsituation. Er konnte nicht ewig im Kutscherhaus auf Hofgut Bodenstein wohnen.

Im schwindenden Tageslicht besichtigten sie das ganze Haus, und Bodenstein erwärmte sich immer mehr für den Gedanken, nach Ruppertshain zu ziehen, um ganz in der Nähe seiner jüngsten Tochter zu leben. Cosima wohnte seit ein paar Monaten auch in Ruppertshain. Sie hatte eine Wohnung im Zauberberg, der ehemaligen Lungenheilstätte, gemietet, wo sie auch ihr Büro hatte. Nach Monaten der Vorwürfe, Gegenvorwürfe und Kränkungen verstanden Cosima und Bodenstein sich so gut wie selten zuvor. Sie teilten sich das Sorgerecht für Sophia, die für Bodenstein oberste Priorität hatte. Er hatte seine jüngste Tochter an jedem zweiten Wochenende bei sich, und manchmal auch unter der Woche, wenn Cosima Termine hatte.

»Es ist wirklich ideal«, sagte er begeistert, als sie den Rundgang beendet hatten. »Sophia hätte ihr eigenes Zimmer, und wenn sie erst älter ist, kann sie alleine hierherkommen oder sogar mit dem Fahrrad zu meinen Eltern fahren.«

»Das habe ich mir auch gedacht«, entgegnete Inka. »Soll ich dir den Kontakt zum Verkäufer machen?«

»Ja, sehr gerne.« Bodenstein nickte.

Inka schloss die Haustür ab und ging vor ihm über das Brett Richtung Straße. Die Nacht war dunstig, und zwischen den Häusern stand noch die Wärme des Tages. Der Duft von Holzkohle und gegrilltem Fleisch lag in der Luft, aus einem der Gärten schallten Stimmen und Gelächter herüber. Im Kutscherhaus, das ein Stück weit abseits des Gutshofes stand, gab es keine Nachbarn, keine beleuchteten Fenster anderer Häuser oder vorbeifahrende Autos, abgesehen von den Gästen des Schlossrestaurants. In dunklen Nächten, besonders im Winter, versank das Leben zu später Stunde vollkommen in der Stille des Waldes. Je nach Gemütslage konnte diese Ruhe bedrückend sein oder besänftigend, aber Bodenstein war ihrer überdrüssig.

»Stell dir vor«, sagte er, »wenn es klappen sollte, dann wären wir fast so etwas wie Nachbarn.«

»Würde dir das gefallen?«, fragte Inka leichthin.

Sie blieb neben ihrem Auto stehen, wandte sich um und sah ihn an. Im Licht der Straßenlaterne glänzte ihr naturblondes Haar wie Honig. Bodenstein bewunderte aufs Neue ihre klaren Gesichtszüge, die hohen Wangenknochen und ihren schönen Mund. Weder die Jahre noch die harte Arbeit als Tierärztin hatten ihrer Schönheit etwas anhaben können. Der Gedanke, warum sie nie einen Mann oder festen Freund gehabt hatte, ging ihm zum wiederholten Mal durch den Kopf.

»Klar.« Er ging um das Auto herum zur Beifahrertür und stieg ein. »Das wäre doch wunderbar. Wollen wir schnell noch im Merlin eine Pizza essen gehen? Ich habe einen Bärenhunger.«

Inka setzte sich hinter das Lenkrad.

»Okay«, antwortete sie nach einem winzigen Zögern und ließ den Motor an.

*

Schon das dritte Mal kurvte Pia auf der vergeblichen Suche nach einem geeigneten Parkplatz durch die engen kopfsteingepflasterten Gassen der Königsteiner Altstadt und verfluchte dabei die Ausmaße ihres Geländewagens. Direkt vor ihr parkte ein Kombi aus und sie rangierte geschickt rückwärts in die Parklücke. Nach einem letzten prüfenden Blick in den Rückspiegel schnappte sie ihre Tasche und stieg aus. Sie war nie auf einem Klassentreffen gewesen und sie war wirklich gespannt auf ihre ehemaligen Mitschülerinnen. Sie ging an der Eisdiele vorbei, und ihr Blick fiel auf einen Gitterzaun, hinter dem eine Baugrube gähnte. Hier hatte das Haus gestanden, in dem sie vor zwei Jahren die Leiche von Robert Watkowiak gefunden hatte. Sicher hatte die Tatsache, dass ein Toter in dem Haus gelegen hatte, dem Makler den Verkauf der Immobilie nicht unbedingt erleichtert.

Pia ging durch die Fußgängerzone und bog in Höhe der Buchhandlung rechts in Richtung Kurpark zur Villa Borgnis ein. Schon von weitem hörte Pia Gelächter und Stimmengewirr, das das Plätschern des von Blumenrabatten umstandenen Springbrunnens übertönte. Sie bog um die Ecke und musste grinsen. Immer noch derselbe Hühnerhaufen wie damals!

»Piiiiia!«, rief eine Rothaarige schrill und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Wie schön, dich zu sehen.«

Eine herzliche Umarmung, Küsschen links und rechts.

Sylvia strahlte über das ganze Gesicht und schob sie vor sich her, im nächsten Moment war sie umgeben von altbekannten Gesichtern und konstatierte erstaunt, wie wenig sich die Mitschülerinnen von damals verändert hatten. Irgendjemand drückte ihr ein Glas Aperol Spritz in die Hand. Küsschen, Lächeln, überschwängliche Umarmungen, ehrliche Wiedersehensfreude. Sylvia hielt eine launige Ansprache, die immer wieder von Gelächter und Pfiffen unterbrochen wurde, dann wünschte sie allen Anwesenden viel Vergnügen. Yvonne und Kristina überreichten ihr als Dankeschön im Namen des Abijahrgangs 1985 einen großen Blumenstrauß und einen Gutschein für ein Wellness-Wochenende, und Pia musste sich ein Grinsen verkneifen. Typische Taunus-Torten-Geschenke! Aber sie kamen von Herzen, und Sylvia war zu Tränen gerührt.

Pia nippte an ihrem Glas und verzog das Gesicht. Das süße Zeug war nicht gerade ihr Lieblingsgetränk, aber es war total ›in‹ und hatte bedauerlicherweise dem guten alten Prosecco den Rang abgelaufen.

»Pia?«

Sie wandte sich um. Vor ihr stand eine dunkelhaarige Frau, in deren erwachsenen Gesichtszügen sie sofort die Fünfzehnjährige erkannte, als die sie sie in Erinnerung hatte.

»Emma!«, rief sie ungläubig. »Ich wusste gar nicht, dass du heute auch hier bist! Wie schön, dich zu sehen!«

»Ich freu mich auch! Ich hab ganz kurzfristig zugesagt.«

Sie sahen sich an, dann lachten sie und umarmten sich.

»Hey!« Pias Blick fiel erst jetzt auf den runden Bauch ihrer alten Jugendfreundin. »Du bist schwanger!«

»Ja, stell dir vor. Mit dreiundvierzig.«

»Das ist doch heute kein Alter mehr«, erwiderte Pia.

»Ich hab eine Tochter, Louisa, die ist fünf. Und eigentlich dachte ich, dass es das war. Aber – unverhofft kommt oft.« Emma hakte sich bei Pia unter. »Und du? Hast du Kinder?«

Pia verspürte den vertrauten Stich, den diese Frage immer in ihr hervorzurufen pflegte.

»Nein«, antwortete sie leichthin. »Ich hab’s nur zu Pferden und Hunden gebracht.«

»Die kannst du nachts wenigstens irgendwo einsperren.«

Sie grinsten beide.

»Mensch, ich hab nicht gedacht, dass wir uns noch mal wiedersehen«, wechselte Pia das Thema. »Vor ein paar Jahren hab ich auch zufällig Miriam wiedergetroffen. Irgendwann kommen doch alle in den schönen Taunus zurück.«

»Ja, sogar ich.« Emma ließ ihren Arm los. »Du entschuldigst, wenn ich mich einen Moment setze. Die Hitze macht mich fertig.«

Sie setzte sich mit einem Seufzer auf einen der Stühle. Pia nahm neben ihr Platz.

»Miriam, du und ich«, sagte Emma. »Wir waren echt das Trio infernale. Unsere Eltern haben uns gehasst. Wie geht’s Miri?«

»Gut.« Pia nahm noch einen Schluck von dem orangefarbenen Zeug. Es war noch immer sehr warm und ihr Mund vom vielen Reden ausgetrocknet. »Letztes Jahr hat sie meinen Ex geheiratet.«

»Wie bitte?« Emma riss die Augen auf. »Und … du … ich meine … das ist doch ziemlich ätzend für dich, oder?«

»O nein, nein. Das ist absolut okay. Henning und ich verstehen uns jetzt besser denn je, wir arbeiten hin und wieder zusammen. Außerdem bin ich auch nicht allein.«

Pia lehnte sich zurück und blickte über die Terrasse. Es war ein bisschen wie früher auf einer Klassenfahrt. Die, die früher schon miteinander befreundet gewesen waren, hatten auch jetzt zusammengefunden. Hinter den hohen Zedern erstrahlte der Turm der Burgruine im Licht der Scheinwerfer vor dem dunkelblauen Abendhimmel, an dem die ersten Sterne schwach leuchteten. Ein friedlicher, unbeschwerter Abend. Pia war froh, dass sie hergekommen war. Sie kam in ihrer Freizeit viel zu wenig unter Menschen.

»Erzähl mir was von dir«, forderte Pia ihre alte Klassenkameradin auf. »Was machst du so?«

»Ich habe Lehramt studiert, bin aber nach zwei Jahren an einer Grundschule in Berlin in den Entwicklungsdienst gegangen.«

»Als Lehrerin?«, fragte Pia neugierig.

»Zuerst ja. Aber dann wollte ich in die Krisengebiete. Wirklich etwas bewegen. So bin ich bei Doctors worldwide gelandet. Als Logistikerin. Und da war ich in meinem Element.«

»Was hast du da gemacht?«

»Organisation. Transport von Medikamenten und dem medizinischen Material. Ich war zuständig für die Kommunikationstechnik, für Unterbringung und Verpflegung der Mitarbeiter. Zollabfertigung, Routenplanung, Fuhrpark, Instandhaltung und Bewirtschaftung der Camps, die Sicherheit des Projekts und Kontakt zum einheimischen Personal.«

»Wow. Das klingt aufregend.«

»Ja, das war es auch. Üblicherweise finden wir katastrophale Bedingungen vor, null Infrastruktur, korrupte Behörden, verfeindete Volksstämme. In Äthiopien habe ich vor sechs Jahren dann auch meinen Mann kennengelernt. Er ist Arzt bei DW.«

»Und wie kommst du jetzt wieder ausgerechnet hierher?«

Emma klopfte leicht auf ihren Bauch.

»Als ich letzten Winter feststellte, dass ich schwanger war, bestand Florian, das ist mein Mann, darauf, dass ich mit Louisa nach Deutschland gehe. Schließlich gilt eine Schwangerschaft in meinem Alter als Risiko. Ich lebe bei seinen Eltern in Falkenstein. Vielleicht hast du den Namen meines Schwiegervaters schon einmal gehört: Dr. Josef Finkbeiner. Er hat vor vielen Jahren den Verein Sonnenkinder e. V. gegründet.«

»Klar, davon habe ich schon gehört.« Pia nickte. »Diese Einrichtung für ledige Mütter und ihre Kinder.«

»Genau. Eine wirklich phantastische Sache«, bestätigte Emma. »Wenn das Baby erst da ist, kann ich dort auch etwas mehr tun. Im Moment helfe ich nur ein bisschen bei der Organisation für die große Feier zum achtzigsten Geburtstag meines Schwiegervaters Anfang Juli.«

»Und dein Mann ist immer noch in irgendeinem Katastrophengebiet?«

»Nein. Er ist vor drei Wochen aus Haiti gekommen und hält jetzt für DW überall in Deutschland Vorträge. Ich sehe ihn zwar auch nicht wirklich oft, aber er ist wenigstens an den Wochenenden zu Hause.«

Ein Kellner kam mit einem Tablett, Emma und Pia nahmen sich jeweils ein Glas Mineralwasser.

»Hey, es ist echt schön, dich wiederzusehen« Pia hob lächelnd das Glas. »Miri wird sich auch freuen, wenn sie hört, dass du wieder im Land bist.«

»Wir könnten uns doch mal zu dritt treffen. Mal ein bisschen über alte Zeiten plaudern.«

»Gute Idee. Warte, ich geb dir meine Karte.« Pia griff in ihre Tasche und kramte nach einer Visitenkarte. Dabei bemerkte sie, dass ihr stumm geschaltetes Handy vibrierte und leuchtete.

»Entschuldige«, sagte sie und reichte Emma ihre Karte. »Da muss ich leider drangehen.«

»Dein Mann?«, erkundigte sich Emma.

»Nein. Mein Job.«

Eigentlich hatte Pia heute frei, aber wenn es einen Verdacht auf ein Tötungsdelikt gab und die Kollegen von der Bereitschaft einem anderen Fachkommissariat angehörten, spielte das keine Rolle. Es war so, wie sie es befürchtet hatte: In Eddersheim war ein totes Mädchen gefunden worden.

»Ich komme hin«, sagte sie zum BvD, der schon vor Ort war. »Halbe Stunde. Schick mir die genaue Adresse bitte noch mal als SMS.«

»Du bist bei der Kriminalpolizei?«, fragte Emma erstaunt und hielt die Visitenkarte hoch. »Kriminaloberkommissarin Pia Kirchhoff.«

»Seit heute sogar Kriminalhauptkommissarin.« Pia grinste schief.

»Was wollen die jetzt um diese Uhrzeit von dir?«

»Es gab eine Leiche. Und dafür bin leider ich zuständig.«

»Mordkommission?« Emmas Augen wurden groß. »Mensch, das ist ja aufregend. Hast du auch einen Revolver?«

»Eine Pistole. Und aufregend ist es nicht wirklich. Meistens eher frustrierend.« Pia verzog das Gesicht und stand auf. »Ich erspare mir jetzt die große Verabschiedungsrunde. Wenn einer nach mir fragt …«

Sie zuckte die Schultern. Emma erhob sich ebenfalls.

»Weißt du was, ich lade dich zu unserem Sommerfest ein. Dann sehen wir uns wenigstens wieder. Und wenn Miriam Lust hat, bring sie einfach mit, okay? Ich würde mich wirklich freuen.«

»Ich komme gerne.« Pia umarmte die Freundin. »Auf ganz bald.«

Es gelang ihr, ungesehen zu entkommen. Zehn nach zehn! So ein Mist. Ein totes Mädchen. Das würde eine lange Nacht werden, und da sie allein auf weiter Flur war, war sie es, der die unerfreuliche Aufgabe zufiel, mit den Eltern zu sprechen. Die Fassungslosigkeit und Verzweiflung der Angehörigen war das Schlimmste an ihrem Beruf. Während sie durch die Fußgängerzone zu ihrem Auto ging, gab ihr Handy einen klingenden Ton von sich, und das Display leuchtete auf. Der BvD hatte gesimst. Mönchhofstraße, Hattersheim-Eddersheim. An der Staustufe. Pia schloss ihr Auto auf, ließ den Motor an und die Fenster herunter, um ein wenig frische Luft hereinzulassen. Sie gab die Adresse ins Navigationsgerät ein, schnallte sich an und fuhr los.

»Die Route wird berechnet«, verkündete die weibliche Computerstimme freundlich. »Die Route liegt in der angegebenen Richtung.«

22,7 Kilometer. Ankunftszeit 22:43.

*

Hanna bog in die kleine Stichstraße am Waldrand ein, an deren Ende ihr Haus lag. Die Außenstrahler, die von Bewegungsmeldern angeschaltet wurden, tauchten es in helles Licht. Sie trat auf die Bremse. Hoffentlich wartete nicht Vinzenz als böse Überraschung oder sogar Norman! Doch dann sah sie vor der Doppelgarage einen knallroten Mini mit Münchener Kennzeichen stehen und atmete auf. Meike war offenbar einen Tag früher gekommen als angekündigt! Sie lenkte ihr Auto neben das ihrer Tochter und stieg aus.

»Hallo, Meike!«, rief sie und lächelte, obwohl ihr nicht danach zumute war. Erst die grässliche Auseinandersetzung mit Norman, dann das Gespräch mit Wolfgang Matern. Bis um sieben hatten sie mit dem ganzen Team im Konferenzraum eine Krisensitzung gehabt, anschließend hatten Hanna und Jan sich mit einer freien Producerin getroffen, die anderthalb Stunden lang kettenrauchend in einer verqualmten, düsteren Bar voller Anzugtypen in einer Nebenstraße der Goethestraße unverschämte Forderungen gestellt hatte. Völlig verschwendete Zeit.

»Hallo, Hanna.« Meike erhob sich von der obersten Treppenstufe. Zwei Koffer und eine Reisetasche standen vor der Haustür.

»Warum hast du nicht angerufen, dass du heute schon kommst?«

»Ich habe es ungefähr zwanzig Mal versucht«, erwiderte Meike vorwurfsvoll. »Wieso hast du dein Handy ausgeschaltet?«

»Ach, es gab heute jede Menge Ärger.« Hanna seufzte. »Irgendwann hab ich das Ding einfach ausgemacht. Du hättest doch im Büro anrufen können.«

Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange, den diese mit einer Grimasse quittierte, dann schloss sie die Haustür auf und half Meike, das Gepäck ins Haus zu bringen.

Der Umzug von Berlin nach München schien Meike gutgetan zu haben. Seitdem sie sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte ihre Tochter zugenommen. Ihr Haar war gewachsen und ihr Kleidungsstil hatte sich ein wenig normalisiert. Vielleicht würde sie den spätpubertären Hausbesetzerlook bald endgültig ablegen.

»Du siehst gut aus«, sagte sie.

»Du nicht«, erwiderte Meike und betrachtete Hanna kritisch. »Du bist ganz schön alt geworden.«

»Danke für das Kompliment.«

Hanna streifte die Schuhe von den Füßen und ging in die Küche, um sich ein eiskaltes Bier aus dem Kühlschrank zu holen.

Das Verhältnis zwischen Meike und ihr war schon immer kompliziert gewesen, und Hanna war sich nach diesem ersten Wortwechsel nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee von ihr gewesen war, ihre Tochter zu bitten, während ihrer Semesterferien als Produktionsassistentin einzuspringen. Das, was andere Leute hinter ihrem Rücken über sie sagten, hatte sie noch nie interessiert, aber Meikes Feindseligkeit machte ihr mehr und mehr zu schaffen. Am Telefon hatte ihre Tochter sofort klargestellt, dass sie den Job nicht etwa aus Gefälligkeit, sondern aus rein finanziellen Gründen annehmen würde. Trotzdem war Hanna froh, Meike den Sommer über bei sich zu wissen. Ans Alleinsein hatte sie sich noch nicht gewöhnt.

Die Toilettenspülung rauschte, wenig später kam Meike in die Küche.

»Hast du Hunger?«, erkundigte Hanna sich.

»Nein. Ich habe schon was gegessen.«

Erschöpft setzte Hanna sich auf einen der Küchenstühle, streckte die Beine aus und wackelte mit den schmerzenden Zehen. Hallux rigidus an beiden großen Zehen, der Preis, den dreißig Jahre Pumps gefordert hatten. Das Laufen in Schuhen mit mehr als vier Zentimeter hohen Absätzen wurde mehr und mehr zur Qual, aber sie konnte schließlich nicht dauernd in Turnschuhen herumlaufen.

»Wenn du auch ein kaltes Bier willst, im Kühlschrank sind noch ein paar Flaschen.«

»Ich mach mir lieber einen grünen Tee. Hast du jetzt etwa mit dem Trinken angefangen?« Meike füllte Wasser in den Wasserkocher, nahm einen Porzellanbecher aus dem Schrank und suchte in den Schubladen, bis sie den Tee gefunden hatte. »Wahrscheinlich ist Vinzenz deshalb abgehauen. Du schaffst es echt, jeden Kerl zu vergraulen.«

Hanna reagierte nicht auf die Provokationen ihrer Tochter. Sie war zu müde, um sich auf ein Wortgefecht einzulassen, wie sie sie früher täglich ausgetragen hatten. Mittlerweile legte sich die schlimmste Aggressivität meistens nach ein paar Stunden, und Hanna versuchte, ihre Ohren so lange auf Durchzug zu schalten.

Meike war ein Scheidungskind, ihr Vater, ein notorischer Besserwisser und Nörgler, war ausgezogen, als sie sechs Jahre alt gewesen war, und hatte sie danach an jedem zweiten Wochenende gründlich verwöhnt und erfolgreich gegen ihre Mutter aufgehetzt. Seine Gehirnwäsche wirkte siebzehn Jahre später noch immer.

»Ich hab Vinzenz gemocht«, sagte Meike nun und verschränkte die viel zu dünnen Ärmchen vor ihrer Brust, die kaum diese Bezeichnung verdiente. »Er war witzig.«

Sie war ein ganz normales Kind gewesen, doch dann hatte sie sich als Teenager beinahe hundert Kilo Kummerspeck angefuttert. Mit sechzehn hatte sie dann quasi aufgehört zu essen, und ihre Magersucht hatte Meike vor ein paar Jahren in eine Klinik für Essgestörte gebracht. Sie hatte mit ihren eins vierundsiebzig gerade noch neununddreißig Kilo auf die Waage gebracht, und eine ganze Weile hatte Hanna jeden Tag mit dem Anruf gerechnet, der ihr verkündete, dass ihre Tochter gestorben sei.

»Ich habe ihn auch mal gemocht.« Hanna trank den letzten Schluck Bier. »Aber wir haben uns auseinandergelebt.«

»Kein Wunder, dass er die Flucht ergriffen hat.« Meike schnaubte verächtlich. »Neben dir kriegt man ja auch keine Luft. Du bist wie ein Panzer, überrollst jeden ohne Rücksicht auf Verluste.«

Hanna seufzte. Sie empfand keine Verärgerung über die verletzenden Worte, nur tiefe Traurigkeit. Diese junge Frau, die sich aus Protest gegen sie beinahe zu Tode gehungert hatte, würde sie niemals wirklich mögen. Und daran war Hanna selbst schuld. In Meikes Kindheit und Jugend war ihr ihre eigene Karriere wichtiger gewesen als ihr Kind, deshalb hatte sie ihrem Exmann das Feld mit einem Gefühl der Erleichterung so gut wie kampflos überlassen. Meike hatte die perfiden Machtspielchen ihres Vaters nie durchschaut, viele Jahre lang hatte sie ihn kritiklos vergöttert. Dass er seine Rache an Hanna auf ihrem Rücken ausgetragen hatte, begriff Meike nicht. Und Hanna hütete sich, das Thema anzuschneiden.

»So siehst du mich also«, sagte sie leise.

»So sieht dich jeder«, entgegnete Meike scharf. »Dir geht es doch immer nur um dich.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Hanna. »Ich habe für dich …«

»Ach, hör doch auf!« Meike verdrehte die Augen. »Gar nichts hast du für mich getan! Für dich gab’s immer nur deinen Job und deine Kerle.«

Der Wasserkessel begann zu pfeifen. Meike schaltete ihn ab, goss Wasser in die Tasse und hängte den Teebeutel hinein. Ihre abgehackten Bewegungen verrieten die innere Anspannung, unter der sie stand. Zu gerne hätte Hanna ihre Tochter in den Arm genommen, hätte ihr etwas Nettes gesagt, mit ihr geredet und gelacht, sie nach ihrem Leben gefragt, aber sie tat es nicht, weil sie sich vor Zurückweisung fürchtete.

»Ich habe dir das Bett oben in deinem alten Zimmer bezogen. Handtücher liegen im Bad«, sagte sie stattdessen und stellte die leere Flasche in den Flaschenkorb. »Entschuldige mich bitte. Ich hatte einen anstrengenden Tag.«

»Kein Problem.« Meike sah sie nicht einmal an. »Wann muss ich morgen antreten?«

»Passt es dir um zehn?«

»Ja, geht klar. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.« Hanna verkniff sich in letzter Sekunde den Kosenamen aus Kinderzeiten, Mimi, den Meike aus ihrem Munde nicht hören wollte. »Ich freue mich, dass du da bist.«

Keine Antwort. Aber auch keine Beleidigung. Das war schon ein Fortschritt.

*

»Was ist denn hier los?« Pia duckte sich unter dem Absperrband hindurch, nachdem sie sich durch eine aufgeregte Menschenmenge gezwängt hatte.

»Im Sportverein da drüben hatten sie heute Abend ein Sommerfest«, erklärte der uniformierte Kollege.

»Aha.« Pia blickte sich um.

Ein Stück weiter vorne standen Einsatzfahrzeuge von der Feuerwehr, zwei Rettungswagen mit stumm blinkendem Blaulicht, daneben ein Streifenwagen, zwei Zivilfahrzeuge und Hennings silberner Mercedes Kombi. Dahinter war ein Waldstück hell erleuchtet. Sie umrundete den sandigen Beachvolleyballplatz und warf einen kurzen Blick in die offen stehende Seitentür des einen Rettungswagens, in dem eine junge dunkelhaarige Frau versorgt wurde.

»Sie hat die Leiche gefunden«, erklärte einer der Rettungssanitäter. »Steht unter Schock und hat zwei Promille Alkohol im Blut. Der Doc ist unten am Fluss und versorgt die andere Schnapsdrossel.«

»Was war da los? Komasaufen?«

»Ich weiß nicht.« Der Sanitäter zuckte die Schultern. »Die junge Dame hier ist laut Ausweis dreiundzwanzig. Eigentlich ein bisschen alt für so was.«

»Wo muss ich hin?«

»Den Trampelpfad entlang, runter zum Fluss. Wahrscheinlich haben sie das Tor mittlerweile aufgekriegt.«

»Danke.« Pia ging weiter. Der Pfad zog sich am Fußballplatz entlang. Man hatte die Flutlichtanlage eingeschaltet, und auf der anderen Seite des Maschendrahtzaunes drängten sich noch mehr Neugierige als vorne an der Absperrung. Mit den ungewohnt hohen Absätzen konnte Pia kaum richtig laufen. Die grellen Scheinwerfer der Feuerwehr- und Rettungsfahrzeuge blendeten sie, so dass sie nicht sehen konnte, wo sie hintrat. Vor einem offenstehenden Eisentor standen Feuerwehrleute und packten ihren Schneidbrenner ein.

Zwei Sanitäter kamen ihr in der Dunkelheit mit einer Trage entgegen, der Notarzt lief neben ihnen her und hielt eine Infusionsflasche hoch.

»Guten Abend, Frau Kirchhoff«, grüßte er. Man kannte sich von ähnlichen Gelegenheiten zu ähnlich unchristlichen Uhrzeiten.

»Guten Abend.« Pia warf einen Blick auf den Jungen. »Was ist mit ihm?«

»Lag bewusstlos neben der Leiche. Stark alkoholisiert. Wir versuchen, ihn wach zu kriegen.«

»Okay. Wir sehen uns später.« Sie stakste den Pfad entlang, neugierig begafft von den Schaulustigen hinter dem Zaun des Sportplatzes, und verfluchte im Stillen die ungewohnten Slingpumps.

Ein paar Meter weiter begegnete sie zwei uniformierten Beamten und Kollege Ehrenberg vom Einbruch, der heute Bereitschaftsdienst und sie angerufen hatte.

»Guten Abend«, sagte Pia. »Könnt ihr bitte dafür sorgen, dass die Leute hier vom Sportplatz verschwinden? Ich will keine Fotos oder Filme von einer Leiche bei Facebook oder YouTube sehen.«

»Geht klar.«

»Danke.« Pia ließ sich von Ehrenberg kurz die Situation schildern, dann ging sie weiter und dachte neidisch an ihre Kollegen, die jetzt gemütlich ihren Feierabend genossen. Von Ferne vernahm sie erregte Stimmen und ahnte, was dort los war. Nach fünfzig Metern hatte sie die hell erleuchtete Stelle am Flussufer erreicht. Am Fuße einer steilen Böschung standen Pias Exmann Dr. Henning Kirchhoff und Christian Kröger, Chef des Erkennungsdienstes der RKI Hofheim, bekleidet mit weißen Schutzoveralls im grellen Licht der aufgestellten Scheinwerfer wie zwei Marsmenschen auf einer Seebühne und bezeichneten sich gegenseitig als Dilettanten und Pfuscher, der eine mit ätzender Überheblichkeit, der andere mit heißblütigem Zorn.

Auf dem Fluss hatte direkt hinter dem Schilf ein Schiff der Wasserschutzpolizei beigedreht und tauchte den Uferstreifen mit einem grellen Scheinwerfer vom Wasser aus in taghelles Licht.

Drei Kollegen von der Spurensicherung verfolgten die heftige Auseinandersetzung aus gebührender Entfernung mit einer Mischung aus Resignation und Geduld.