Brasilianisches Tagebuch - Daniel Stosiek - E-Book

Brasilianisches Tagebuch E-Book

Daniel Stosiek

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Beschreibung

In diesem Buch erzähle ich über Begegnungen mit Menschen, Landschaften, Bergen und Gemeinschaften während eines weiteren Jahres in Brasilien.

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Seitenzahl: 72

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Inhaltsverzeichnis

2018

2019

2018

Nach einem sehr heißen und trockenen Sommer in Deutschland, wo die Bäume verdursteten und es den Fischen in den Flüssen eng ward, fuhr ich per Luftpost nach Brasilien, um dort wieder in der nichtstaatlichen Organisation Aramitan in der kleinen Stadt Embu Guaçu bei São Paulo bei sozialer und Umweltarbeit mitzuwirken.

15.11.

Von einem sonnigen, grünen Herbsttag in Berlin bin ich im warmen und schwülen Brasilien gelandet. Nichts erinnert mich hier an Deutschland; es ist eigenartig, in eine ganz andere Welt zu kommen. Wieder befinde ich mich zwischen Palmen, anderen grünen Bäumen und saftigen Wiesen. Ich sehe keine Spur von der Dürre, die mich die letzten Monate umgab. Heute schien die Sonne, dann regnete es in Strömen, und am Nachmittag nieselt es.

17.11.

Ein Tag wie im Frühling. Und hier ist ja Frühling. Die Sonne stand im Zenit. Ein paar Stunden spielte ich Choro-Musik mit. Wieder die Mischung aus genialen Musikern und “einfachen” Leuten. Es bleibt bei der höchsten Qualität Volksmusik. Es gibt 6- und 7-saitige Gitarren, und Bandolins (Mandolinen) mit vier und mit fünf Saitenpaaren. Die Quellen dieser Musik sind europäisch und afrikanisch. Aber entscheidend ist, dass sie nicht wie bei kolonialer Kultur eine Bewegung von oben nach unten, sondern eine von unten nach oben konstituiert. Insofern ist sie antikolonial; sie drückt das Lebendige des ‘Partikularen’, der sonst sozial ausgegrenzten Weite des Lebens der Massen aus und bringt dies in eine schwingende Form. Nicht die Totalität Europas oder des globalem Nordens, sondern die unsichtbar gemachte Lebendigkeit aus dem Staub, der Armut und dem ‘Saft’ des Südens machen nun das Universale aus. Einmal spielten ein Mandolinen- und ein Gitarrenspieler zu zweit mehrere Walzer in vollendetem Dialog.

23.11.

Das Wetter ist für mich wie immer im anderen Kontinent wieder eine Quelle der Überraschungen. Einige Tage war es kühl und regnerisch, und ich fühlte mich wie im November. Zwei Tage scheint jetzt die Sonne; es ist heiß und wie im Sommer.

Hier im Süden fühle ich mich, als ob die Gravitation anders als im Norden funktionierte. Auf der einen Seite ist alles im Alltag schwerer, anstrengender als ich es von Deutschland kenne. Auf der anderen Seite ist das Lebensgefühl leichter, weniger verbissen, humorvoller.

28.11.

Vor ein paar Tagen wollte ich auf einen Berg wandern. Aber im Gegensatz zum angekündigten sonnigen Tag regnete es permanent; so wanderte ich nur ein kurzes Stück. Auf dem Rückweg fuhr ich mit dem Bus durch die Stadt Aparecida, die nicht weit von São Paulo entfernt ist, und nutzte die Gelegenheit, mir die berühmte Basilika anzuschauen. Von hier stammt die “Jungfrau von Aparecida”, eine schwarze Maria, Symbol der Volksfrömmigkeit. Die Basilika ist riesig, monumental. Auf dem Hinweg fragte mich ein Polizist, ob ich mich verlaufen hätte. Auf Portugiesisch können dieselben Worte auch die Frage bedeuten, ob ich “verloren” sei. Ich hätte die Frage bejahen mögen, denn ich wusste zwar den Weg, war aber wirklich verloren in der Einsamkeit der unbekannten Gegend und in meiner Winzigkeit vor dem riesigen, felsenhohen Klotz des Kirchbaus.

Als ich nach Embu Guaçu zurückgekehrt war, schien die Sonne wieder, die hinter immergrünen Bäumen aufgeht. An den meisten Nachmittagen kommen Kinder nach Aramitan, die voller überschüssiger Kräfte sind. Oft wird dann Hand- oder Fußball gespielt, leicht geht mal eine Scheibe kaputt; manche Jungs machen Ringkämpfe, andere lassen Drachen steigen.

28.11.

Früh fuhr ich im Nieselregen los, dann ging es bei Sonnenschein mit Bussen und Metro durch blühendes Leben aus Bäumen und Wiesen, später mit einer U-Bahn durch eine langgestreckte Höhle in der Kruste unserer geliebten Erde hindurch, durch welche die Menschen Löcher gebaut haben, vergleichbar den Kaninchen.

In Mauá bei São Paulo traf ich mich mit zwei älteren Aktivisten kirchlicher Basisgemeinden, die ich im Januar dieses Jahres kennengelernt hatte. Sie wohnen am Stadtrand, wo Favelas beginnen. Wir gingen zu einigen sehr verarmten Familien, die ich auch schon damals im Januar kennengelernt hatte. Es sind unglaublich nette und zum Teil lebensfrohe Leute. Eine ältere Frau einer Familie, wo einer der Söhne im Gefängnis ist (ich erfuhr nicht warum), erzählte von Schwierigkeiten im Leben, und dass der Glaube ihr geholfen hätte. Die Frau, die mich zur Familie mitgenommen hatte, betete mit uns ein Vaterunser und ein Ave Maria, und sie meinte, dass sie mit ihrem Glauben den Glauben der älteren Frau erkenne. Am Ende bekräftigten sie einander, dass sie Gott und der Mutter (=Maria) vertrauen. In einer Familie, wo alle arbeitslos sind, erzählte uns die Mutter, dass sie, wenn sie früh nichts zu essen habe, eben mittag esse, und wenn dann immer noch kein Essen da sei, am Abend. Sie leben von einer Art Sozialhilfe. Auch erfuhr ich, dass Ärzte fehlen. In diesen Wochen sind in Brasilien alle kubanischen Ärzte nach Kuba zurückgeschickt werden, weil die neu gewählte Regierung angeblich nicht akzeptiert, dass diese Ärzte den überwiegenden Teil ihres Gehaltes an den kubanischen Staat abgeben müssen. Aber jetzt gibt es in solchen ärmeren Gegenden fast gar keine Ärzte mehr. Zum Schluss besuchten wir die Mutter eines Sohnes, der 24 Jahre alt war und vor zwei Monaten von der Polizei erschossen wurde, als er zu rauben versuchte. Dabei ist er, denke ich, in einem viel größeren Maße Opfer des Systems, das die Menschen ausschließt, als Täter. Meine Gastgeberin besucht sie öfter.

Als ich den Weg von über drei Stunden nach Embu Guaçu zurückfuhr, zogen sich die Wolken zusammen, und ich kam wieder im Nieselregen an.

10. 12.

Oft spaziere ich auf einem Eisenbahngleis, um ins Zentrum von Embu Guaçu zu gelangen. Heute wanderte ich mit einem Hut, der mich vor der Sonne schützt, dorthin und kaufte Früchte. Wie herrlich ist diese unperfekte Welt. Das ist einer der Gründe, warum ich dieses Land aufsuche. In Deutschland könnte ich niemals auf einem funktionierenden Eisenbahngleis zu Fuß gehen, nicht einmal auf der Straßenbahnschiene. Die Züge fahren dort viel zu schnell, mich würde jemand wegjagen, es wäre gefährlich, sogar lebensgefährlich, und dort sind die Gleise eben nur für die Züge gedacht. Hier dagegen ist nicht alles perfekt durchgeplant, nicht jeder Ort verbaut, nicht jede Zeit bis ins Letzte eingeteilt; sondern es gibt Lücken für unvorhersehbares Leben.

14.12.

Mit der Choro-Musik geht es mir manchmal wie als Kind mit der Musik von Johann Sebastian Bach. Während ich die Leute spielen höre, gerate ich in einen solchen Sog, dass ich mich gar nicht mehr auf ein Gespräch zu konzentrieren vermag, sondern nur noch zuhören möchte.

Zum wiederholten Male besuchte ich in Embu Guaçu ein Zentrum afrikanischer Kultur. Es fand ein Fest des “Caboclo” statt. Ich erfuhr, dass der Caboclo ein Ahne in Brasilien war, ein Vorfahre, der vor langer Zeit als Rinderhirte gelebt hatte, und dass er als Geist immer noch lebendig sei. In verschiedenen Anläufen wurde mit großen Trommeln rhythmisch gespielt, dazu tanzten die Leute im Kreis und sangen dazu. Während der Pausen reichten uns die Einladenden immer wieder kleine Leckerbissen zu essen und kleine Getränke. Der Chef, eine Art Priester, verkleidete sich wie ein Viehhirte mit einem theaterartigen, drolligen Kostüm. Es kam ein Moment, in dem er anfing, wild um sich zu schlagen, verrückte Geräusche von sich zu geben und mit einer unglaublichen Energie zu tanzen und umherzulaufen. Ein zweiter, jüngerer Mann, mit dem ich mich kurz davor ruhig unterhalten hatte (und mit dem ich später wieder zum Gespräch zurückkehrte), verhielt sich kurz darauf ebenso. Der Geist des Caboclo hatte von ihren Körpern Besitz ergriffen! Davon sind die Leute hier überzeugt. Und sie ließen den Geist auch in sich eintreten. Dies setzte sich eine ganze Weile, während einer oder zweier Stunden, fort; dann verabschiedete sich der Caboclo, die Gastgeber stellten Tische in den Raum und luden alle zum Essen ein, und ich konnte mich wie vorher mit allen unterhalten.

Der Moment, wo diese mindestens zwei Menschen wild um sich tanzten, ergriff auch mich. Denn ich überlegte mir, dass das Ganze zwar reine Schauspielerei sein könnte; aber wenn diese Personen wirklich überwältigt werden oder jemanden in ihre Körper lassen, was ist das dann? Gibt es diese Geister wirklich? Jedenfalls war es für sie eine normale Realität, am Ende verabschiedeten wir uns herzlich, und ich ging den nächtlichen Weg nach Aramitan zurück.

25.12.