Brasilianisches Tagebuch - Daniel Stosiek - E-Book

Brasilianisches Tagebuch E-Book

Daniel Stosiek

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Beschreibung

Das Buch enthält Tagebuchaufzeichnungen während meiner Tätigkeit in Brasilien über drei Jahre hinweg. Zwischen 2015 und 2018 arbeitete ich im sozialen Projekt Aramitan außerhalb der Favelas von São Paulo mit, besuchte Menschen indigener Völker und forschte zur Beziehung zwischen Mensch und Natur bei nichtwestlichen Kulturen. Das Leben auf einem anderen Kontinent schafft Erfahrungen unalltäglicher Alltäglichkeit.

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Seitenzahl: 193

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Daniel Stosiek

Brasilianisches Tagebuch

© 2018 Daniel Stosiek

Verlag: tredition GmbH

ISBN:

978-3-7469-6923-7 Paperback)

978-3-7469-6924-4 (Hardcover)

978-3-7469-6925-1 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Präludium in Bremen: aus den Monaten vor Brasilien

2014

4.4.

Wieder einmal fuhr ich mit dem Fahrrad von Bremen nach Cuxhaven. Den ganzen Tag schien die Sonne, früh war es kalt, es ging über Felder, an einem winzi-gen Bache entlang, danach am Deich neben der Wümme, darauf an der Lesum entlang, in welche die Wümme fließt, später an der We-ser, in welche die Lesum fließt. Auf die Weser stieß ich in Vegesack, da lagen große Segelschiffe, der Fluss wurde langsam immer breiter, hatte etwas Unendliches an sich, die Unendlichkeit wurde immer unendlicher, bis ich in den Hafen von Bremerhaven hinein-fuhr; aber erst nach dem Durchqueren des Industriehafens stieß ich auf das offene Meer, wo das Unendliche unabsehbar ist, auch wenn ich am Rande der Unendlichkeit ein paar Meter schwamm. Zwis-chendurch machte ich Ess-, Trink- und Lesepausen. Und zwischen den Pausen dachte ich nach, z.B. über den veganischen Gedanken und das Reich Gottes und warum die Kommunisten so schlimm sind. Der veganische Gedanke, an dem man sich moralisch noch höher ranken kann als am vegetarischen, ist als Gedanke großartig. Er stammt aus der Liebe zum Leben, zu allen Lebewesen. Man kann jedoch auch leicht zum Fanatiker werden, weil man glaubt, mit einem bestimmten Rezept die Welt erlösen zu können, dann macht mans wie Robespierre oder wie diejenigen Kommunisten, die zum Stalinismus übergingen, oder wie die Hussiten, als sie gewalttätig wurden. Eine Alternative zum Fanatismus ist die gleichgültige Resignation und die Einstellung, dass Werte, Ethiken, die Bemühung um Gerechtigkeit überhaupt keinen Sinn haben, da die Welt nun mal so ist, wie sie ist. Der Sündenfall ist ja eigentlich die Heterotrophie. Schon die Amöben, die sich von Bakterien ernähren, mögen herablassend auf sie herabschauen und sich für etwas Besseres halten, so wie die Intellektuellen, die nach Bourdieu zur herrschenden Klasse gehören, auf die Bauarbeiter, von deren Ausbeutung sie leben…

An der Nordsee aß ich in einer Bude trotz der unendlichen Weite des Meeres einen Fisch, ohne mich bei ihm extra zu bedanken. Mit der letzten Sonne, die sich rötlich im Meer spiegelte, erreichte ich den Zug, der mich durch nächtliche Wälder wieder nach Bremen zurückbrachte.

28.5.

Heute gab ich eine Stunde Nachhilfeunterricht in einer mir neuen Einrichtung in Bremen. Die Koordinatorin berichtete mir vor Beginn der Stunde kurz über die Schüler, u.a. über eine S., die bald Abitur mache, aber in Deutsch ein Niveau von der ersten Klasse habe und wahrscheinlich nichts schaffen werde. Als sie sich gerade besonders abwertend äußerte, kam S. zur Türe herein, mit schwarzer Hautfarbe, da ging mir gleich ein Licht auf, und da sagte die Koordinatorin schnell: ich nehme alles zurück, und setzte in offiziellerem Ton fort: das ist die Schülerin S. aus Klasse …. usw. Es waren 5 Schüler mit Englisch, Spanisch und Deutsch, jeweils unterschiedlichen Aufgaben, die ich simultan betreuen musste. Die Zeit reichte nicht aus, um alle ausreichend zu unterstützen. Zwischendurch machte ich in einem anderen Zimmer Kopien, während die Koordinatorin gerade in einem Gespräch mit Mutter und Tochter (einer Schülerin, die mit Nachhilfe anfangen wollte), mit erhobenem Zeigefinger sprach und mich an alte Schulzeiten erinnerte. Die Schülerin S. sieht afrikanisch aus, spricht aber akzentfrei Deutsch. Bestimmt kommen ihre Elten aus einem anderen Land (Brasilien?, da sie besonders emotional darauf reagierte, dass ich in Brasilien gelebt habe), es gibt eine lange Geschichte der Sklaverei und des Unrechts, und in Deutschland werden sie nicht unter den leichtesten Bedingungen gelebt und ihrem Kind nicht das beste Deutsch beigebracht haben. Ich muss solidarisch mit den Menschen sein, d.h. hier mit den Schülern und nicht mit der Institution und deren Vertretern, sobald diese beginnen, auszugrenzen. S. war sehr aufgeschlossen und ich versuchte ihr größere Zusammenhänge bezüglich des Themas verständlich zu machen, an dem sie arbeitete. Immer mehr lerne ich, dass Menschen sich vor allem durch emotionale Bestätigung geistig entwickeln.

15.6.

Meine besten Bewerbungen sind trotz der großen Entfernung auf Brasilien bezogen. Ich habe so ein schönes Projekt erarbeitet, bekomme ein glänzendes Empfehlungsschreiben und bin doch immer wieder abgelehnt worden.

Am letzten Samstag, machte ich eine lange Fahrradfahrt, an der Weser entlang, dann zur Nordsee, um die Halbinsel Butjadingen herum, wo schon vor über 2000 Jahren Menschen lebten und sich Wurten, künstliche Erderhöhungen für die Häuer bauten, die aber immer wieder durch Sturmfluten zerstört worden waren. Nördlich von Nordenham kam ich an einem Flugplatz vorüber und flog einmal mit einem Segelflugzeug mit, der Pilot saß vor mir, wir wurden mit einer unheimlichen Beschleunigung in wenigen Sekunden auf über 300 Meter Höhe gerissen, dann war es ein gemütliches Fliegen, bei dem ich die ganze Halbinsel sah und auch eine kleine Kirche, die 1000 Jahre alt sein soll; es ging schnell bergab, weil es keine Aufwinde gab, dann fuhr ich weiter mit dem Fahrrad, lag einmal unter einem Baum, über dem ich zuvor geflogen war, badete im Meer, als die Flut kam und fuhr das letzte Stück im Dämmerlicht über Land – ohne Strand diesmal, weil die Halbinsel sich weigerte, eine ganze Insel zu werden.

9.11.

Heute beim “Stolpersteineputzen” spielte ich Flöte und hörten wir schreckliche Geschichten. Eigentlich müsste man schreiend durch die Straßen laufen, aber die städtische Kultur hat uns die Gefühle, Gebärden und den lauten Ausdruck ausgetrieben und damit genau dieselbe Ideologie eingetrichtert, mit welcher die 17jährige “Zigeunerin”, … Franz, mit dem Vorwurf von “Triebhaftigkeit” zuerst zwangssterilisiert, dann in eine “Irrenanstalt”, dann in andere Lager gebracht und ermordet wurde.

11.11.

Am 9. November wurde Großdeutschland gefeiert, aber wenig der Juden gedacht. Hätten deutsche Faschisten nicht die Juden Europas ermordet, dann wäre womöglich der Staat Israel nicht gegründet worden, und das wäre für alle Beteiligten besser gewesen, für die Juden, die Palästinenser, die Deutschen, die Polen usw. Heute möchte Deutschland bis an die Grenze Russlands vordringen, was schon Hitler wollte, wenn auch auf andere Weise.

Die Wiedervereinigung, die ebenfalls in einem Nationalstaat die Lösung der Probleme ansetzte, könnte man am besten mit dem Märchen “Des Kaisers neue Kleider” vergleichen. Von Anfang an bis jetzt bewundert alle Welt die wunderbaren Kleider, und man traut sich nicht zu sagen “er ist ja nackt!”. Weder die Deutschen noch die Juden haben etwas vom Staat, und deren Opfer erst recht nicht. Der Staat Israel wird sich als falscher Messias erweisen, etwa in diese Richtung gehen die befreienden Worte Micha Brumliks, den ich neulich hörte, und der den Staat Israel radikal in Frage stellte, aber so philosophisch, dass er nicht sofort verstanden wird. Und Deutschland entwickelt sich zur wirtschaftlichen, finanziellen und immer mehr auch militärischen Supermacht.

In Wirklichkeit schafft der Nationalstaat ein Problem, weil er die Nation, d.h. eine homogene Gesellschaft, mit dem Staat identifiziert und damit immer die Nichthomogenen ausgrenzt, hier die Ostler und Westler wechselseitig, da solche Differenzierung nicht ins Konzept der Nation passt, erst recht die Migranten, dort die Palästinenser und andere Gruppen.

12.11.

Heute hörte ich einen Vortrag von Mithri Raheb, einem palästinensischen Befreiungstheologen. Er sagt, dass Palästina, wenn man die Geschichte in ganz großen Zeiträumen betrachtet, schon immer ein besetztes Land war, früher durch die Assyrer, durch Neubabylonien, Persien, hellenistische Reiche, das Römische Reich, später durch das osmanische Reich, Großbritannien und heute Israel. Er spricht vom Imperium heute in Analogie zum Imperium damals, dem Römischen Reich, das in der Apokalypse mit “Babylon” chiffriert wurde. Die Israelis und Palästinenser für sich allein genommen hätten längst das Problem miteinander gelöst; aber die internationale Gemeinschaft subventioniere die Besatzung, z.B. mit deutschen U-Booten. Israel allein könne die Besatzung gar nicht bezahlen. Er habe Westerwelle einmal gefragt, warum Deutschland sich nicht für die Anerkennung des palästinensischen Staates ausspreche, obwohl Deutschland offiziell die Zwei-Staaten-Lösung vertrete, da habe dieser nicht zu antworten gewusst, dann aber gesagt, dass Deutschland und Israel gemeinsame Werte vertrete. Welche Werte? Eben die des Imperiums, so deutet MR die Worte Westerwelles. Mir fiel auf, dass MR keinen Unterschied zwischen den Menschen hinsichtlich Nation oder Religion machte. Das gefällt mir sehr. Dann sagte er, dass die Menschen in Gaza fragen, “Wo ist Gott”, und dieselbe Frage auch in die Form “wo ist die internationale Gemeinschaft” bringen. Er erzählte, wie er einmal an einem militärischen Grenzübergang (Checkpoint) lange wartem musste, und wie eine Frau ausrief, “wo ist Allah?”. Und dass die Palästinenser darauf eine Antwort geben, die nur sie geben können: sie sehen Gott in der Asche. Das sei eine ähnliche “Torheit” wie diejenige, als einst Menschen Gott in Jesus am Kreuz sahen. Er zitierte Romero, der gesagt haben soll, es gebe Dinge, die nur Augen sehen können, die geweint haben. Das Reich Gottes müsse man verstehen als Gegenmodell zum Imperium (damit meine er nicht die konkreten Menschen, sondern das System, das übel ist). Man müsse Räume der Hoffnung bauen. Er sprach von Jesaja und dem Löwen, der neben dem Lamm Gras frisst, wobei der vegetarische Löwe für die unvorstellbare Möglichkeit stehe, dass das bisherige Imperium nicht mehr auf militärische Stärke vertraue, und er schloss seinen Vortrag mit den Worten “Wir brauchen prophetic imagination, um überhaupt überleben zu können.”

23.11.

Die Musik folgt genau den Prinzipien der Selbstorganisation der Materie, besonders die polyphone von Leuten wie Bach. Ein Musikstück ist ein Chronotopos, das heißt bei jeder Aufführung geschieht eine je einmalige Raum-Zeit-Einheit. Jeder Augenblick ist fließende Gegenwart, eine Gegenwart, in der die Erinnerung an das Vergangene mitschwingt und zugleich die unmittelbar bevorstehende Zukunft antizipiert wird, etwa bei der Vorfreude kurz vor der Auflösung einer Dissonanz. Jede Stimme bei der Polyphonie hat ihre eigene Subjektivität, ihr eigenes Ich. Die jeweilige andere Stimme ist ihr ein Du. Wenn mehrere zusammenklingen, dann entsteht eine neue, überindividuelle Subjektivität auf der je höheren, sozialen Dimension des Zusammenhangs. Deshalb ist die polyphone Musik so überwältigend.

2015

15.3.

“Und ich will nicht halb sein, ich will ganz sein.”

Paula Becker an Otto Modersohn, 1900

“Schlagen Sie Ihre Seele nicht in Ketten, und wären es güldene, die garlieblich sängen und klängen.”

Paula Modersohn-Becker an Clara Westhoff, 1901

Spuren

Vor ein paar Tagen fuhr ich mit dem Fahrrad von Bremen nach Worpswede. Ich fand Wege, bei denen ich die großen Straßen vermeiden konnte. Außerdem hatte ich keine Lust, in das volle Touristendorf zu kommen, sondern wollte vor meiner Brasilienreise auf den Spuren von Künstlern wie Heinrich Vogeler, Paula Modersohn Becker, Rainer Maria Rilke, die im Gemeinschaftshaus Barkenhof, gelebt hatten bzw. damit assoziiert gewesen waren, wandeln. An der hinteren Seite des Weyerberges ließ ich das Fahrrad stehen und ging durch den Vorfrühlingswald, an Wiesen vorbei, auf den Berg, kam am Niedersachsenstein des Worpsweder und Bremer Architekten Bernhard Hoetger vorbei und näherte mich dem höchsten Punkt, der durch Zäune abgesperrt war. Das war mir genug, ich kehrte um und fuhr nach Hause. – Vogeler war einer, der von dem träumte, was einmal sein wird, wie Rilke formuliert. Zuerst zeichnete er geheimnisvolle Märchen. Dann ging er wie auch Hans am Ende, ein anderer der Worpsweder Maler, freiwillig in den ersten Weltkrieg. Er hatte Glück, dass er dies überlebte – im Gegensatz zu Hans am Ende. Er war kritisch geworden, wurde Pazifist und Kommunist. Als Vogeler um 1900 noch der jüngste unter den Worpsweder Malern war, kannten dieser Künstler persönlich den alten Dichter Hermann Allmers. Dieser wiederum hatte, als er jung war, noch den Bremer Pastor Rudolph Dulon gekannt, der um 1848 heftig die Kirche für die Obrigkeitshörigkeit kritisiert und an einen Sozialismus geglaubt hatte, der graswurzelartig von unten wachsen würde. Hatte Dulon einen indirekten Einfluss auf Vogeler? Jedenfalls verknüpfte dieser eine Zeit lang den Sozialismus mit dem Christentum. Und er war Romantiker wie alle Worpsweder. Nachdem 1919 die Bremer Räterepublik niedergeschlagen worden war, an der sich sein Barkenhof auch beteiligt hatte, machte er aus dem Barkenhof eine Kommune, um eine Art Kommunismus im Kleinen zu verwirklichen. Das ging nicht sehr lange gut… Auch diese Kommune war Romantik gewesen, die Beteiligten hatten den Traum von einem natürlichen, einfachen und sozial gerechten Leben geträumt. Später verschlug es ihn in die Sowjetunion, einer großen Räterepublik, wie es schien. Doch dort verlor Vogeler offenbar seine Kritikfähigkeit.

Dass viele Linke der Romantik gegenüber skeptisch sind, hat mich eine Zeit lang ihr gegenüber entfremdet. Keiner der Worpsweder Künstler ist von einer solchen Intensität und Lebendigkeit der Gefühle, des Ausdrucks, der Reflexion wie Paula Modersohn Becker in ihren Tagebüchern und Briefen. Es ist manchmal gut, geschichtlich zurückzugehen und an verlorenen Punkten anzuknüpfen.

Ich suche in Lateinamerika bei indigenen Völkern nach einem Zustand vor aller Kolonialisierung, der auch bei uns noch immer in Spuren vorhanden ist.

Brasilien

1.4.

Am letzten Tag in Deutschland konnte ich trotz wolkenlosen Himmels am Vormittag die Sonne nur verdunkelt sehen, weil der Mond exakt davor schwebte, dann ging der Flug nach Barcelona; kurz vor dem Flughafen glitten wir mit geringem Abstand über das Meer, in das wir zum Glück nicht hi-neinfielen. Dann nahm ich an einer Woche des Trainings und der “Selección” für ein Jahr der Friedensarbeit in Mexiko teil, bestand die Selektion aber nicht. Sonntag nachmittag bis Dienstag mittag blieb mir, um mich von der Enttäuschung zu erholen. Am Dienstag vormittag spazierte ich bei hellem Sonnenschein zum katalanis-chen Nationalmuseum und schaute mir die Gemäldegalerie an. Da waren Bilder von Canaletto; Tizian; ein Porträt von Petrus und Paulus gemalt von “El Greco”, dem “Griechen”, der in Spanien malte, an dem mir die wundervollen “Renaissance-” Hände auffie-len, die mich an Michelangelo erinnerten; auch Bilder aus dem 19. und 20. Jahrhundert; ein gegossener Kopf von Rodin, der unglau-blich ist; und viele Bilder blühender Farben und des Lichts. Wenn ich eine Zeit lang meine bewusste Aufmerksamkeit nicht auf die alltäglichen Notwendigkeiten, sondern auf etwas “Überflüssiges”, die Kunst, richte, dann ist das wie eine Erlösung aus dem Elend der Straßen und der schlechten Luft der Stadt.

Der nächste Flug brachte mich in kürzester Zeit nach Brasilien. Mich holte ein Mitarbeiter von Aramitan ab, der Organisation, wo ich nun mitarbeiten will, die sich in einem Prozess des Neuaufbaus der Arbeit befindet, und brachte mich gleich dorthin. Der Weg war lang; wir stiegen viermal von einer U-Bahn in die andere um. Die Bahnen waren zum Teil gerammelt voll, so dass wir fast zerquetscht wurden. Dann folgte ein Weg in einem Bus, der durch arme Gegenden ratterte und mit dem wir nach über einer Stunde am Ziel ankamen. Aramitan ist ein größeres Haus in einer ländlichen Gegend, in dem schon viele Aktivitäten, besonders mit Jugendlichen der Umgebung, stattgefunden haben.

2.4.

Früh starteten wir zu einer Familie in Monte Azul, einer Favela, in welchem sich ein gleichnamiges soziales Projekt befindet, wo sehr viele kulturelle Aktivitäten stattfinden. Der Mitarbeiter von Aramitan, der mich mitnahm, war daran beteiligt, auf dem Dach eines Hauses einen Wasserspeicher zum Funktionieren zu bringen. Wasser aus der Leitung gibt es hier etwa von 9 Uhr früh bis 18 Uhr am Abend. Ich half teils mit und schaute mir teils den Stadtteil an. Die Häuser sind sehr eng aneinander gebaut. Die Favelas begannen mit dem Ende der Sklaverei in Brasilien. Hier kommen viele Leute hin, die arm sind, es macht mir keinen Eindruck des Elends, aber das Leben ist offenbar arm und einfach, auch gibt es viel Drogenhandel.

Bei den langen Busfahrten fielen mir die Bilder in Auge, Nase und Ohren: die unzähligen Leute auf der Straße, die vielen kleinen Verkaufsstände, Gerüche nach gebratenem Essen, der Geruch nach verbranntem Müll, der mich an Palästina erinnerte, die einfachen, lumpigen Häuser, die aus Betonwänden und Wellblechdächern gemacht sind, in der Favela die laut lachenden und spielenden Kinder – eine Welt, in der meine Schmerzgrenze niedriger und die Haut dünner wird…

Wieder einmal bewegt sich plötzlich die Sonne in die andere Richtung als ich es gewohnt bin (nach links statt nach rechts), dreht sich die Erde in die falsche Richtung (jedenfalls vom Drehsinnstandpunkt Europas aus betrachtet), und ich werde demnächst das Kreuz des Südens anstatt des großen Wagens betrachten. Während es in Europa den “Süden im Norden” gibt, die unsichtbare Armut, die nicht nur im geographischen Süden existiert, ist auch das hier nun umgekehrt, es gibt einen “Norden im Süden”, so die Reklame großer Firmen, die überall billig eindringt, aber auch Dinge wie das moderne Auto, wofür manche Menschen Kredit aufnehmen und Jahre daran arbeiten, um diesen Kredit abzuarbeiten, also ein Stück “Norden”, der im “Süden” teuer bezahlt wird.

Das war mein zweiter Tag in Brasilien, und jetzt muss ich schlafen.

4.4.

Am Karsamstag spielte ich in einer offenen Runde von Musizierenden in São Paulo mit meiner Querflöte Chorinho mit. Das ist brasilianische Volksmusik, die in ihrer Komplexität europäischer klassischer Musik entspricht, aber etwas ganz eigenes ist. Anderthalb Jahre zuvor hatte ich bereits ein paar Stücke dieser Musik in derselben Gruppe mitgespielt, hatte aber dann zum Flughafen gemusst. Die darauf folgenden knapp zwei Jahre habe ich mit der Sehnsucht gelebt. Es ist also möglich, mit einer unerfüllten Sehnsucht über längere Zeit zu leben, ohne dass sie versiegt. Diese Art von Musik gehört zu den besten Dingen, die ich in dieser Welt und in diesem Leben kennengelernt habe.

5.4.

Hund

Früh machte ich einen Dauerlauf durch die Straßen bei der Organisation; es gibt viele Straßenhunde, und einer von ihnen biss mich. Von nun an bin ich vorsichtiger und werde mich verteidigen, notfalls mit Steinen.

1.5.

Schwingungen

An einem Abend lud mich jemand zu einem Samba-Abend ein. Es war eine Verbindung aus Gesang und Rhythmus. Ich konzentrierte mich sehr darauf, dem Rhythmus zu folgen. Den anderen Zuhörenden war der Rhythmus selbstverständlich. Nur langsam komme ich in die Rhythmen einer anderen Welt hinein, in die Wellen, in denen die anderen schon lange leben. Daran merke ich, dass die Geschichte schon vor meiner Geburt begonnen hat.

Ende Mai

Seit ich in Brasilien bin, fahre ich eine Strecke mit einem Bus, die eine Stunde durch teilweise besiedeltes Land geht. Ich kenne die Gegend allmählich, verfehle aber immer noch die Stelle, wo ich aussteigen muss. Neulich verpasste ich, als ich gegen Mitternacht nach Aramitan zurückkehrte, diesen Punkt und fuhr zu weit. Zum Glück kannte ich bereits den Weg, der zu Fuß auf einer Eisenbahnlinie entlang geht. Da ich schon ungeduldig wurde, rannte ich das ganze Stück. Immer wenn nicht genug Steine zwischen den Bohlen lagen, musste ich aufpassen. Ich lief so, dass ich mit den Füßen jede zweite Bohle berührte. Auch hier stellte ich mich auf die neue Umgebung ein: wenn ich genau die richtige Frequenz, den passenden Rhytmus treffe, dann stolpere ich nicht, und mich beißen auch keine Hunde mehr.

Kühlschrank

Wir haben hier einen Kühlschrank, der schön ist und groß. Aber er hat auch gewisse Nachteile. Der eine Nachteil besteht darin, dass er nicht kühlt. Der zweite Nachteil ist der, dass die Lebensmittel im Kühlschrank schneller schlecht werden als draußen, weil sich darin der Schimmel ausgebreitet hat. Aber immerhin haben wir einen Kühlschrank.

Samba und Choro

Der Unterschied zwischen Samba und Choro (Chorinho) lässt sich anhand des Meeres erläutern. Samba entspricht Stellen, wo das Meer flach ist, eher in Küstennähe; und Choro entspricht Stellen, wo das Meer am tiefsten ist und nicht ausgelotet werden kann; aber es ist dasselbe Meer, und die Oberflächen sind kaum zu unterscheiden.

Fluss, Kreislauf und schöne Natur

Initiiert von der Organisation “SOS Mata Atlântica” führen verschiedene kleine Gruppen in lokalen Gewässern der Umgebung von São Paulo Analysen des Wassers durch. In diesem Rahmen kam ich zweimal mit zu den Flussgängen. Wir schlendern im Sonnenschein an den kleinen lumpigen Steinhütten vorüber, an bellenden Hunden, einfach gekleideten, zerfurchten Menschen, an Hauseingängen, wo laute Musik zu hören ist, an kleinen Pfützen und Müllplätzen, bis zum Bach, der sich durch feuchte Wiesen windet. Überall, wo schöne liebliche Natur durch die zerbaute Landschaft blickt, ist sie gleichmäßig von Müll bedeckt: Plastebeutel, Dosen und Büchsen und zwischendurch immer wieder Hundesch. sind überall zu sehen. Ich muss also aufpassen, wo ich hintrete und kann nicht sorglos in die Ferne schauen.

Am Bach führen wir die Analysen durch, teils mit Hilfe einiger Reagenzgläser und chemischen Proben und teils mit Beobachtungen, beispielsweise ob Fische zu sehen sind. Da sehen wir tatsächlich Schwärme ganz kleiner Fische. Die Wasserqualität macht auf den ersten Blick einen ganz guten Eindruck. Als wir schon fast den Rückweg antreten, lädt uns ein alter Bewohner, der auf der anderen Straßenseite wohnt, der einen winzigen Laden hat, einen Hut auf dem Kopfe trägt und aus dem Norden Brasiliens stammt, in sein Grundstück ein. Neben der einfachen Hütte betreten wir staubige Erde; daneben besteht der Garten aus einer Art kleinem Urwald. Er führt uns zwischen den Bäumen und durch etwas morastige Erde bis zu einer Stelle, wo es stinkt. Der Bach, an dem wir eben waren, fließt, nachdem er die Stelle passierte, wo wir ihn analysierten, hier durch sein Gelände. Ein dickes Rohr, welches das Abwasser nahegelegener, erst neulich gebauter Hochhäuser abtransportiert, geht ebenfalls durch seinen Garten. Auf diesem Rohr befindet sich eine Art großer Stöpsel. Dieser Stöpsel ist nicht geschlossen, wie man erwarten sollte, sondern geöffnet. Der Mann öffnet mit einem Stock den Stöpsel vollends. Da sieht man das Abwasser, die Jauche, den stinkenden Dreck, wie er in das schöne Bächlein rinnt. Dieser Bach seinerseits fließt, wie uns jemand erklärt, in einen kleinen Fluss, der wiederum in einen größeren Fluss, letzterer in einen anderen Fluss, aus dem schließlich das Trinkwasser gewonnen wird. Das ist der Kreislauf, der Fluss, die schöne Natur.

20.6.

Als Kind konnte ich längere Zeit links und rechts nicht voneinander unterscheiden. Und jetzt gibt es eine U-Bahn-Station, wo ich manchmal rechts und links verwechsele, nicht mehr weiß, auf welcher Seite ich aussteigen muss, nur noch mir sicher bin, dass es auf jeden Fall eine der beiden Seiten sein muss. Das ist ja auch kein Wunder, nicht nur, weil ich mal von der einen, mal von der anderen Seite an der Stelle ankomme, sondern auch, weil der Drehsinn der Erde auf der Südhalbkugel im Vergleich zum Norden der Erde umgekehrt ist. Nicht nur der Erde: der Drehsinn des gesamten Sonnensystems, der Drehung der Erde um die Sonne, der Drehung des Mondes und der Planeten ist aus meiner Südperspektive umgekehrt. Ob es noch weiter geht in Bezug auf die Galaxie usw., weiß ich nicht, dazu fehlen mir die astronomischen Kenntnisse. Aber auch andere Dinge sind hier "unten" andersherum, z.B. dass ich mich nicht unten, sondern oben fühle. Auch der Humor ist umgekehrt: gern lacht man im globalen Norden, weil man im (angeblich) Wahren das Falsche sucht und u.U. findet, z.B. in der Bibel, in der Demokratie, in der Politik. Im Süden dagegen lacht man gern aus dem umgekehrten Grunde, weil man im (angeblich) Falschen das Wahre sucht und u.U. auch findet: im Müll das Leben, in der Favela die Freude, in der Peripherie die Begegnung. Im Norden vermutet man hinter einer perfekten Fassade das Fehlerhafte, und im Süden sucht man hinter einer elenden oder fehlerhaften Fassade das Schöne und Sympatische. Sogar das Lachen ist hier umgekehrt!

Paraguay