Bruno Manser - Ruedi Suter - E-Book

Bruno Manser E-Book

Ruedi Suter

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Beschreibung

Bruno Manser war ein Vielbegabter, ein Multitalent, der auch als Naturforscher, Handwerker, Sportler verblüffte. Er war Maler, Kommunikator, Schriftsteller. Ein Querdenker, hellwach, aneckend und unbequem. Was ist mit ihm passiert? Ruedi Suter geht dieser Frage nach und versucht sie zu beantworten. In einem hervorragend geschriebenen, minutiös recherchierten Report, der sich mit kritischem Respekt dieser ausserordentlichen Persönlichkeit annähert.

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Seitenzahl: 683

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Bruno Manser. Spurlos verschwunden.Das letzte Lebenszeichen des Regenwaldschützers und Menschenrechtlers stammt vom 23. Mai 2000. Seither gilt er als verschollen. Er verschwand in der Baumwelt der Penan-Nomaden im malaysischen Sarawak auf der Insel Borneo.

Bei ihnen hat er sechs Jahre verbracht (von 1984 bis 1990), mit ihnen das entbehrungsreiche Leben eines Urwald-Jägers und -Sammlers geteilt, gelernt, geforscht, 1000 Tagebuchseiten aufgezeichnet. Bis die Holzkonzerne mit ihren Bulldozern und Kettensägen auffuhren und die letzten Reviere der Penan angriffen. Manser organisierte ihren Widerstand, wurde zum Staatsfeind erklärt und musste flüchten. Von der Schweiz aus kämpfte er weiter; für das Überleben seiner Freunde und gegen das zerstörerische Wirtschaftssystem der technischen Zivilisation: mit dem Aufbau des Bruno-Manser-Fonds, mit politischen Vorstössen, mit Aufklärung und spektakulären Aktionen, die national und international Echo auslösten. Bruno Manser war ein Vielbegabter, ein Multitalent, der auch als Naturforscher, Handwerker, Sportler verblüffte. Er war Maler, Kommunikator, Schriftsteller. Ein Querdenker, hellwach, aneckend und unbequem. Seit Bruno Manser nicht mehr da ist, hat die Welt einen ihrer glaubhaftesten Verteidiger der bedrohten Lebensgrundlagen verloren. Was aber hat er bewirkt, der Wagemutige? Was hat ihn angetrieben, den humorvollen Grübler? Was ist mit ihm passiert? Und weshalb meinen manche, er lebe noch? Ruedi Suter geht diesen Fragen nach und versucht sie zu beantworten. In einem hervorragend geschriebenen, minutiös recherchierten Report, der sich mit kritischem Respekt dieser ausserordentlichen Persönlichkeit annähert.

Ruedi Suter

Bruno Manser

Die Stimme des Waldes

Ihr wisst schon genug.

Ich auch.

Nicht an Wissen mangelt es uns.

Was fehlt, ist der Mut, begreifen zu wollen,

was wir wissen, und daraus die Konsequenzen zu ziehen.

Sven Lindquist

Ruedi Suter

Bruno Manser

Die

Stimme

des

Waldes

Zytglogge

Verlag und Autor danken für die Druckkostenbeiträge:

– Bank Coop AG, Basel

– Basellandschaftliche Kantonalbank Jubiläumsstiftung

– Greenpeace Schweiz

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Alle Rechte Vorbehalten

Copyright

Zytglogge Verlag, 2005

Lektorat

Hugo Ramseyer

Korrektorat

Monika Künzi, Jakob Salzmann

e-Book: mbassador GmbH, Basel

ISBN ePub: 978-3-7296-2294-4

ISBN mobi: 978-3-7296-2295-1

www.zytglogge.ch

Inhalt

Die Suche

Von der Schweiz in den Urwald Sarawaks · Mit den Penan auf Spurensuche · Im Reich der trunkenen Pflanzen · Vom Gehen und Torkeln · Das letzte Lager · Verschollene verfolgen die Suchenden

Kindheit und Schulzeit

Behütet im Elternhaus · Ein eigenwilliges Kind · Liebs Mameli · ‹Ich bin ein gewöhnlicher Mensch› · Abenteuer im Stadtwald · Balkon-Nächte · Aufsätze eines Rebellen · Sehnsucht nach Freiheit

Wehrdienst und Gefängnis

Im Militärstaat Schweiz · Pazifist MANSER B.verweigert den Wehrdienst · Glaube an das Gute im Menschen · Armee erstellt Persönlichkeitsprofil · ‹Grosse Intensität der Gewissensnot› · Das Urteil · Im Knast

Alpzeit und Selbstfindung

Fesselndes Sennenleben · Bruder Erich und Schäferhund Prinz · Viehhüten und Käsen · Halsbrecherische Klettertouren · Die Erforschung der Bergwelt · ‹Ding-Dong-Tak-Tak-Tak-Dong› · Bürzli stürzt sich den Felsen hinunter

Im Bauch der Erde

Kontakt mit Höhlenforschern · Die letzte Terra incognita · Neue Freunde, neue Leidenschaft · Eine infernale Tour · Tod in der Feschelbachschlucht · Flucht ins Erdinnere

Handwerk und Sinnesschulung

Die Entdeckung der Zusammenhänge · Schulung der Handfertigkeiten · Schärfung der Sinne · Sehnsucht nach Unabhängigkeit · Familienleben auf Zeit · Als Fischer auf dem Zürichsee

Denkwelten

Mit Verzicht gegen den Konsumismus · Rückgewinnung der Einfachheit · Vom Einfluss grosser Denker · Die 70er- und 80er-Jahre · Im Zeichen von Terror und Grosstechnologie · Seele, Herz und Bauch · BMs Rebellion des Alltags

Einsamkeit statt Zweisamkeit

Keine Zeit für Frauen · Der engste Hirtenfreund · ‹Die Erde gehört nicht uns›· Urvölker suchen Hilfe bei der UNO in Genf· Abflug nach Bangkok · Inselleben · Wilde Elefanten · Ungebetener Gast · Höhlenexpedition in Sarawak

Bei den Penan

Allein im Urwald · Erste Begegnung mit einer Penansippe · Die Verwandlung des BM · Der ‹weisse Penan› · Along Segá, Inbegriff des ‹edlen Wilden› · Protokolle über ein ‹Paradies› · Zeiten des Glücks

Staatsfeind Nr. 1

Die Stosstrupps der Holzindustrie · Ein Krieg im Frieden · Illegaler Aufenthalt · Widerstandskämpfer wider Willen · Unerhoffte Hilfe · Roger Graf und Mutang Urud · STIHL 1954 · Fragen und Zweifel · Ärger mit der Presse ·

Widerstand und Blockaden

Verteidigung des Lebensraums · Die Kopfprämie · Im Visier der Spezialeinheiten · GEO Deutschland schlägt Alarm · El Tarzano blanco · Schweig, du bist nicht gefragt! · Der ‹weisse Penan› wird zum Filmstar

Frauen, Schlangen, Flucht

Sexorgien in der Laubhütte? · Do-do-dooong · Schlangenbiss und Selbstoperation · Me mues öppis riskiere · Rüeggs Geheimmission in Sarawak · Urwaldtreffen der Alpfreunde · Flucht mit falschen Papieren

Rückkehr, Rastlosigkeit, Reisen

Zurück in der ‹Zuvielisation› · Keine Atempause · Eine Freundschaft zerbricht · Weltweit operierende Täterschaft · Aufklärungsreise rund um den Globus · Treffen mit Al Gore · Vor der UNO in der ‹Indigenen-Hauptstadt› Genf · Das ‹Phänomen Manser›

Sanftmut und Radikalität

Martin Vosseler, der ‹Seelenbruder› · Start der SOS-Sarawak-Kampagne · Der ‹Robin Hood des Regenwalds› stört den G7-Gipfel · Vom Wachrütteln der Entscheidungsträger · BM schreibt die ‹Stimmen aus dem Regenwald›, · Steven Spielberg will filmen · Geburt des Bruno-Manser-Fonds

Staatsfeind trifft Staatsführer

Auftritte am UNO-Erdgipfel in Rio · Mahathir empfängt Manser · Neokolonialismus und Öko-Imperialismus · Pulsfühlung an Patientin Erde · Liebe auf den ersten Blick · Klimabündnis · Die Schweiz und das Schicksal der Indianer

Der Körper als Waffe

Fastenstreik vor dem Bundeshaus · Ruf nach Holzdeklaration · Eine Bundesrätin hat Herz · Die Satten wollen die Hungerigen nicht verstehen · Argumente von unten · «Ich kann nicht aufgeben» · Bis zum Tod und alles umsonst?

Vom Abwürgen einer Liebe

Heimkehr nach Penanland · Die Macht der Betroffenheit · Wie den Penan, so den Zapatistas · Das grosse Abwimmeln · Liebesnot · Am Rande des Suizids · Unter Desperado-Beschuss in Chiapas · Der BMF ist weder WWF noch Greenpeace

Bruno im Kongo

In den Fängen der Korruption · Mobutu Sese Sekos Schweizer Verbindungen · Okapiland und der Basler Zoo · Der böse Geist von Leopold II. · Bei den Mbuti und Efe · Mit Goldsuchern und Holzfällern · Einsatz für das grüne Herz Afrikas

Kritik aus dem Innern

‹Wir brauchen die kleinen Erfolge› · Die Rückeroberung der Überschaubarkeit · Die Unberechenbarkeit des BM · Burnout im Fonds · Stunt am Matterhorn · Im Gen-Clinch mit dem Nobelpreisträger · Schweiz verpflichtet sich für Indigene · Roger Graf hat genug

Die Friedensoffensive

Charlotte trifft Bruno · Schlittelunfall · Borneo im Rauch · Von Fallschirmgrenadieren gedrillt · Zurück in NY · Islamkunde · Das ‹Fluglamm› · Kein Gehör für Versöhnung · Absprung über Genf · Der Teppich des Botschafters

Himmelfahrtskommando

‹Geschäftsmann› BM · Flugschlaufen über Taibs Palast · Verhaftung und Ausschaffung · Wachsende Resignation · Gestohlene Giftpfeile · WEF-Aktion in Davos · Glück in Nunavut · Abnormaler Abschied · Heimkehr nach Penanland

Nachforschungen und Rätselraten

Dimension ohne Antworten · Das Interesse am Stumm-Machen · Verdächtiger Truppenaufmarsch · Ein Alarm rast um die Welt · Nervöse Bundesbehörde · Auf Suchexpedition · Sphären des Übersinnlichen · Wiedersehen im Traum

Der Wald ist unsere Haut

Zurück im Lumut-Wald · Der Dschungel verdaut rasch · Generation des Goldenen Zeitalters · Auf dem Batu Lawi · Freitod, Unfall, Mord · Vom Wissen, nichts zu wissen

Die Suche

Von der Schweiz in den Urwald Sarawaks · Mit den Penan auf Spurensuche ·

Im Reich der trunkenen Pflanzen · Vom Gehen und Torkeln · Das letzte Lager ·

Verschollene verfolgen die Suchenden

Dunkler, triefender Wald. Nichts zu hören ausser dem eigenen Keuchen und dem Prasseln des Regens auf dem Blätterdach. Alles ist nass, Hemd, Hose, Gepäck. In den Schuhen schmatzt eine rotbraune Brühe aus Wasser, Blut und Dreck. Bei jedem Halt müssen die Schuhe ausgeleert werden. Keine halbe Stunde später sind sie wieder voll.

Mit der dauernden Nässe, den Blutsaugern, den Wunden, dem Hunger und vielen weiteren Schwierigkeiten eines wochenlangen Marsches durch den Dschungel Borneos musste ich rechnen. Auch mit Myriaden stechender Moskitos und jener dumpfen Hitze, die mir schon in afrikanischen oder südamerikanischen Tropenwäldern begegnet sind. Doch Stechmücken und Schwüle liessen uns bis dahin unbehelligt. Die Heimat der letzten Penan-Waldnomaden ist ein Bergland; je höher wir steigen, desto angenehmer sind die Temperaturen.

Zum Glück hat sich über die schmale Schlucht ein müder Baumriese gelegt. Das erspart einen weiteren Umweg. So kann unser Suchtrupp hinüberbalancieren. Die Penan tänzeln samt ihren schweren Rückenkörben in kurzen Schritten auf die andere Seite. Für Erich und mich wird diese offensichtlich einfache Überquerung zu einer Mutprobe. Ein Ausrutschen auf dem glitschigen Stamm, ein Sturz in die Tiefe – und die Expedition wäre schon in ihren Anfängen gescheitert. Hier, in dieser letzten Abgeschiedenheit des Regenwalds von Sarawak, diesem märchenhaften Universum aus urweltlichen Pflanzen jeder Grösse und wundersamen Tieren, aus steilen Bergen, tiefen Schluchten und jählings an- und abschwellenden Flüssen, lauern viele Gefahren, selbst für geübte Waldläufer wie die Penan. Hier verlieren sich auch die letzten Spuren von Bruno Manser.

Was ist passiert? Mit diesem vielseitigen Querdenker, dem Menschenrechtler, Mahner und Umweltschützer, der 1984 dem Wohlstandsstaat Schweiz den Rücken kehrte, um bei einem der letzten jagenden und sammelnden Regenwaldvölker der Erde sechs entbehrungsreiche Jahre lang die Kunst der Bedürfnislosigkeit zu erlernen und zu einem der ihren zu werden? Bis zu jenem Tag, als das erste Kreischen von Kettensägen, das erste Dröhnen von Bulldozern die Ruhe des Waldes zerrissen und den ‹weissen Penan›, der sein Paradies gefunden zu haben glaubte, zum Wider-standskämpfer, zum von den Holzkonzernen und der malaysischen Regierung am meisten gehassten Ausländer machten.

Bruno, was ist mit dir geschehen? Die Frage hat sich eingenistet. Ein Ungeheuer, das unablässig neue Fragen gebiert und bislang mit keiner erlösenden Antwort vertrieben werden konnte. Ist BM ermordet worden? Oder verunfallt? Hält man ihn gefangen? Wählte er den Freitod? Oder ist er einfach untergetaucht, um zum letzten Mal mit einer spektakulären Tat die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf die bedrohte Welt der Penan zu lenken? Ein beklemmendes Rätsel.

Die Lösung müsste irgendwo in diesem Land liegen. Mit grösster Wahrscheinlichkeit in diesem Wald. Und sei es auch nur in Form eines Fundgegenstands, eines Rucksacks, eines Kleidungsstücks oder einer in Rinde oder Stein geritzten Botschaft. Er hätte ein Zeichen gesetzt, ohne Zweifel, sofern er dazu in der Lage gewesen wäre – und es auch gewollt hätte. Davon ist Erich Manser überzeugt. Felsenfest.

Erich, 49, kennt seinen zwei Jahre jüngeren Bruder wie kein anderer. Er hat jahrelang mit ihm in den Bündner Bergen Alpen bewirtschaftet und könnte sein Zwillingsbruder sein. Beide zäh, eigenwillig, verantwortungsbewusst. Erich hat sich für die Gründung einer Familie entschieden, Bruno für die Selbstverwirklichung, die ihn schliesslich in diesen Kampf um die Erhaltung der Lebensgrundlagen führte.

Dass Bruno einfach so verschwunden sein soll, lässt Erich keine Ruhe. Nächtelang versuchte er, sich in die Lage seines Bruders einzufühlen.

Er will der Sache auf den Grund gehen.

Doch dazu muss er zu den Freunden seines Bruders reisen. Seine erste Reise nach Borneo, seine erste Expedition in einen Regenwald. Und wir, die wir uns zuvor nicht gekannt hatten, beschlossen, gemeinsam auf die Suche zu gehen.

Von Zürich über Kuala Lumpur sind wir nach Miri in Sarawak geflogen, um heimlich auf schlammigen Holzfällerpisten, braunen Flüssen und durch gerodete Einöden in die kläglichen Überreste dieses einst gigantischen Urwalds vorzudringen. Stets in der Furcht, von Armee, Polizei oder den privaten Sicherheitskräften der Holzkonzerne aufgespürt und verhaftet zu werden. In Sarawak ist der Name ‹Manser› ein rotes Tuch. Dort gilt Bruno als Staatsfeind. Offiziell. Auf ihn wurde geschossen, auf ihn wurde eine hohe Kopfprämie angesetzt. Deshalb musste er sich in den letzten Jahren bei geheimen Besuchen oft wochenlang allein durch die Wälder des benachbarten Kalimantan und Sarawak kämpfen, um zu seinen Freunden gelangen zu können. Der Beamte am Einreiseschalter vom Miri-Airport verzog bei der Prüfung unserer Pässe keine Miene. Hat er den Namen ‹Manser› überhaupt gelesen? Oder hat der Name bei den Behörden seinen Schrecken verloren, weil der lästige Unruhestifter endgültig ausser Gefecht gesetzt worden ist?

Wir erreichten Penanland – unbehelligt und ohne Zwischenfall.

Das letzte schriftliche Lebenszeichen des Bruno Manser erhielt eine Frau im Schweizer Jura. Es war im Juni 2000, als der Postbote von Pruntrut Charlotte Bélet ein Couvert überbrachte. Mit Marke, doch ohne Stempel. Trotzdem wurde das Schreiben aus dem malaysischen Gliedstaat Sarawak in die Schweiz befördert.

Charlotte Bélet, die Freundin des Umweltaktivisten BM, eine ruhige, lebensfrohe und gefasste Frau, kann nicht mehr rasch etwas erschüttern. Vor Bruno hatte sie bereits zwei Männer verloren, den Ehemann durch einen Autounfall, den späteren Freund durch Suizid.

Charlotte öffnete den Brief, erwartungsvoll, freudig und wie immer auch in leiser Sorge. Bruno hatte ihn am 23. Mai 2000 datiert und wie gewohnt das Papier mit seiner malerischen Handschrift beschrieben. Das einseitige, auf Französisch verfasste Schreiben verrät, dass der Verfasser müde war, sich in einem Buschversteck beim Urwaldort Bareo verkrochen hatte und dort die Dunkelheit abwartete, um in Bareo zu übernachten und dann auf Holzfällerstrassen ins Waldesinnere weiter vor-zustossen. Den Zärtlichkeiten am Ende des Blatts folgt aber keine Namensunterschrift, nur der witzig gezeichnete Kopf eines Männleins. Es streckt die Zunge heraus und dreht jemandem eine lange Nase. Wem? Den Behörden Sarawaks? Den Holzkonzernen? Der Welt? Auch diese Antwort müsste hier irgendwo in der Tiefe dieses Waldes liegen.

Wieder einer dieser halsbrecherischen Steilhänge. Sam, der im Moment den Such-trupp anführende Häuptlingssohn, bleibt stehen. Er versucht, mit den Augen die besten Abstiegsmöglichkeiten auszukundschaften. Hinter ihm halten sein Vater Na, Erich und dann die Stammesangehörigen Ibrahim, Simon an. Gisa, Bruce, Henni, Lian, Mutang, Lawing und ich folgen. Die Vordersten beraten sich kurz. In dieser Wildnis gibt es keinen ausgetretenen Pfad. Die Penan folgen den Wildwechseln. Oder sie schlagen sich mit dem Buschmesser ihre eigenen Wege durchs Dickicht. An dieser Stelle ist der Wald aber licht, nur wenig Unterholz.

Sam, wie alle Penan schwer beladen mit einem voll gepackten Traggestell aus Rattan, ergreift die Zweige eines Buschs und lässt sich einen Tritt hinunter. Die wie bei einem Kickerschuh mit Zapfen versehene Sohle seiner Gummischlappen bohren sich in die getränkte Erde. Wanderschuhe mit einem guten Profil sind hier wertlos. Der Dreck verstopft im Nu die Rillen des Sohlenprofils. Beim nächsten Tritt trifft Sams Fuss auf einen Stein. Dieser rutscht, er muss springen. Dicht hinter ihm folgen Erich und die anderen Penan.

Neben dem Jagen und Sammeln ist das Gehen die wichtigste Überlebenstechnik eines Waldnomaden. Barfuss bewegt sich nur noch Lawing durch den Regenwald. Er scheint das Erspüren der Erde nicht dem Fortschritt einer künstlichen Sohle opfern zu wollen. Hautnahe, direkte Bodenberührung. Wirkt sich diese auf die Lebenshaltung eines Menschen aus? Ich denke an meine Socken, die Schuhsohle und den Asphaltbelag daheim in Europa. Wann habe ich das letzte Mal den Fuss nackt auf Erde, Gras oder Stein gesetzt?

Unsere Welt, die technische Zivilisation mit all ihren Bequemlichkeiten, hat BM nicht aufgehört zu betonen, entwurzle sich fortlaufend selbst. Sie sei abgehoben, habe den gesunden Bezug zu den lebenswichtigen Elementen verloren. Vor allem zur Erde, zum Wasser, zur Luft. Darum die blinde Zerstörung der Existenzgrundlagen.

Wäre dies auch der Fall, wenn wir – wie die alten Penan – barfuss geblieben wären? Kann es sein, dass die einfach gebliebenen Zivilisationen der Jäger und Sammler die rücksichtsvollste Daseinsform ist, weil sie nur das der Natur entnimmt, was sie braucht? Oder hat Manser die Urvölker einfach verherrlicht, weil sie den eigenen Vorstellungen von einer heilen Welt entsprachen?

Im Penanland hat BM seine Sandalen rasch weggeworfen. Er zwang sich zum Barfussgehen. Zuerst litt er zwar, hatte dauernd offene Füsse, musste sich regelmässig mit dem Messer Dornen herausoperieren. Auch dann noch, als seine Sohlen von einer dicken Hornhaut geschützt wurden. Aber die Dornen, Stecken und Steine bohrten sich bald nicht mehr so tief ins Fleisch. Und mit dem Schmerz lernte er umgehen. Wer wie die Penan im Dschungel lebt, muss sich mit den Schmerzen anfreunden, muss sie als Selbstverständlichkeit akzeptieren. Denn in Ruhe lassen sie einen nur selten.

Das Barfussgehen wurde für BM im Laufe seiner Urwaldjahre zur Gewohnheit. Und zum Befreiungsakt: Er, der Mensch der Moderne, war nicht mehr auf Schuhe angewiesen! Ein Sieg über sich selbst. Doch wer will das begreifen? Fast die ganze Menschheit ist heute beschuht. Selbst die jungen Penan tauschen sich wenn immer möglich ein Paar Gummischuhe ein.

Lawing, der sehnige Alte mit den zufriedenen Gesichtszügen, geht mir voran, ich folge am Schluss der Kolonne. Vor jedem Auftreten prüft er intuitiv Bodenbeschaffenheit, Material und die nähere Umgebung. Lawings Füsse sind auffallend breit, die Sohlen wie Leder. Im Morast, auf Steinen oder umgefallenen Bäumen spreizen sich seine Zehen, um einen besseren Halt zu finden. Trotz der Last des Gepäcks, trotz des Buschmessers und des langen Blasrohrs scheint er auf seinen nackten Füssen über alle Hindernisse hinwegzutänzeln. Grazil und mit eindrücklicher Leichtigkeit duckt sich der kleine, muskulöse Mann auch unter tiefen Ästen und Felsvorsprüngen hindurch. Kaum je ein Rutschen, Stolpern, Umfallen. Ein Meister der Körperbeherrschung.

Das war Bruno Manser auch. ‹War?› Wieder tappe ich in diese Denkfalle. Der alte Gewissenskonflikt Millionen Zurückgelassener, deren Angehörige in einem Krieg, einer Katastrophe oder nach dem Zigarettenkauf verschwunden sind. Spurlos, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Ein Dilemma, das nun auch mich beschäftigt: Wie soll ich über einen Verschollenen schreiben? Über einen Menschen, von dem ich nicht weiss, ob er noch lebt oder bereits gestorben ist? Die Anwendung der Vergangenheitsform gerät zum Todesstoss. Was, wenn der Vermisste plötzlich eines Tages auftaucht, er jedoch über unsere voreilige Sprache bereits für tot erklärt worden ist? Ich beschliesse, mich so oft wie möglich der Gegenwartsform zu bedienen. In den Gedanken, den Gesprächen, den Texten. Verschollene sollen leben dürfen, bis sie wieder auftauchen – oder die Erinnerung an sie erlischt.

Der Abstieg ist geschafft.

Halt an einem der vielen Bäche in diesem verwirrenden Berglabyrinth, wo sich enge Täler und steile Berge unendlich aneinander zu reihen scheinen.

Wir werfen unsere Rucksäcke ab, suchen uns einen Stein zum Hinsetzen und Ausruhen. Für kurze Zeit aber nur, bevor die Blutegel vom Boden her die Schuhe hoch oder in die Hose kriechen. Die Männer sehe ich nur noch verschwommen. Ein Versuch, meine Brille trockenzureiben. Stattdessen verschmieren die Gläser. Und etwas Trockenes habe ich nicht mehr. Soll ich jetzt meine Kurzsichtigkeit verfluchen? Wie nur hat Brillenträger BM während seinen sechs Jahren das bei den Penan gemacht? Die Gandhi-Brille war sein einziges ‹Kleidungsstück› aus unserer Zivilisation, das er bei seiner Verwandlung zum Jäger und Sammler behielt. Äus-serlich unterschied ihn damals nichts mehr von seiner weit gehend nackten Penan-Familie ausser dieser Brille, ohne die sich Entfernteres in Schemen und Lichtspiele auflöst.

Die Welt durch Korrekturgläser kann völlig anders aussehen als dieselbe Welt ohne Brille. Was ich sehe, ist nicht unbedingt das, was tatsächlich ist. Und das, was tatsächlich ist, ist auch nur ein Fragment dessen, was das letztlich unfassbare Ganze ausmacht.

Ich bücke mich und nestle ungehalten an den durchnässten Schnürsenkeln herum. Weshalb lässt sich der verdammte Knopf nicht lösen? Nur raus aus den Schuhen! Wasser tropft aus den Haaren auf die bereits wieder beschlagene Brille. Die Senkel verschwimmen, mutieren zu aufgeschwemmten Würmern. Ich bin nicht einmal mehr fähig, meine eigenen Füsse klar zu sehen. So wische ich mit blossen Fingern das Wasser von den Gläsern. Kurzsichtige müssen mit einigen Nachteilen leben lernen. Sie hätten aber den Vorteil, rascher die Relativität jeder Wahrnehmung einzusehen. Eine Chance, die bei weitem nicht alle ergreifen.

Ich denke, BM hat sie genutzt. Auch das hat ihn zu dem gemacht, was er ist: ein Mensch, der sich selbst zurücknimmt und bescheiden bleibt. Der mit viel Geduld, Wissbegierde, Intelligenz die unzähligen Facetten des Lebens auszuloten versucht. Und der es offensichtlich immer wieder schafft, sich ohne Vorurteile in die Denk- und Lebensweisen anderer einzufühlen. In jene eines Urvolks oder Kindes ebenso wie in die eines Managers, einer Mutter oder eines Politikers. Kaum jemand, der sich seiner warmherzigen und direkten Art zu entziehen vermag. Der Grund, wes-halb BM von den verschiedenartigsten Menschen respektiert wird? Auch wenn sie seine Meinung nicht teilen.

Was aber ist jenen engen Freunden und Freundinnen in Europa widerfahren, die sich von BM abwandten und nichts mehr von ihm hören wollten? Die Antwort zu dieser Frage wird in diesem Wald nicht zu finden sein.

Mit der Ahle des Taschenmessers lassen sich die Senkel endlich lockern, dann kippe ich die Sauce aus den Schuhen. Die Penan suchen unterdessen ihren Körper und vor allem die Beine und Füsse nach Blutegeln ab. Plaggeister, die überall und vor allem im dichten Gestrüpp warten, um sich zumeist unbemerkt auf die Gruppe fallen zu lassen. Als erkennbare Ringelwürmer oder zunächst nur stecknadelgrosse Punkte, die dann rasch anschwellen, wenn sie sich über ihre beiden Saugnäpfe mit Blut voll saugen. Bei jedem Marschhalt müssen wir uns die festsitzenden Parasiten vom Leib schaffen. Schnell abgeschabt mit der Messerklinge oder mit den Fingern abgerissen und nicht, wie in den Survival-Fibeln beschwörend beschrieben, mit Zigarettenglut oder Salzbestreuung. Kaum sind die Egel weg, drückt das Blut aus den Wunden. Das Hirudin der Blutsauger verzögert die Gerinnung. Eigentlich müssten wir die Bissstellen mit einem Pflaster gegen Eier legende Insekten und eiternde Infektionen abdecken. Wir verzichten darauf. Genauso wie wir auf dicht gewebte Hemden und Hosen und Nylonstrumpfhosen verzichtet haben, die das Vordringen der Saugwürmer an empfindliche Körperstellen verunmöglichen.

Für die Wundbehandlung fehlt uns das Material. Und die Zeit. Und die Überzeugung. Weil die Penan es vormachen und einfach bei jeder Gelegenheit ihren Körper absuchen und stoisch die hartnäckigen Tierchen entfernen. So rinnt allen das Blut aus den Bisswunden, nur hier und da gestillt durch ein Pflanzenblatt oder eine Moosflechte. Am nächsten Wasser aber werden wir das Gröbste wieder wegwaschen können.

Wie jedes Tier faszinieren Bruno auch die Blutegel. Obwohl sie ihm oft das Leben schwer machten. Da kann man möglicherweise schon einmal laut ausrufen und schimpfen, schrieb er einmal. BM ist kein Angeber, mag nicht übertreiben, will über sich lieber nichts als zu viel erzählen. Von grösster Wichtigkeit hingegen sind ihm genaue Beobachtungen und Aufzeichnungen all dessen, was ihn fasziniert. Davon zeugen seine zahlreichen Tagebücher, voll mit präzisen Beschreibungen, Notizen und Illustrationen über die Lebewesen des Regenwalds, des Juras, der Alpen. Sie erinnern an die handschriftlichen Aufzeichnungen eines Forschungsreisenden wie Alexander von Humboldt im 19. Jahrhundert. Mansers Erkenntnishunger macht ihn fast beiläufig zum Forscher. Er, der sich die Sprache der Penan mit allen ihren Variationen beibrachte und ihr Leben wie ein Ethnologe studiert, notiert sich alles, bis ins letzte Detail. Auch die Geschichten über den Ursprung der Blutegel: Nach einer Sage fallen die Blutegel mit dem Regen vom Himmel; sie sind verwandelte Muskeln von Verstorbenen, die uns fressen wollen, damit wir gleich tot sind wie sie. Nach einer anderen Sage sind die Blutegel aus gefallenen Schnitzeln entstanden, als der Donnergott (Baley Liuen) eine Puppe (Butun) geschnitzt hatte.

Die Penan sind bereits wieder auf den Beinen. Von Kind an Waldläufer, erholen sie sich sehr schnell. Gisa Paren und Bruce Tirong prüfen mit dem Daumen die Schärfe ihrer Buschmesser. Klingen können im Busch nie scharf genug sein. Zum Wetzen bieten sich nur bestimmte Steine an. Und diese liegen hier haufenweise herum. Die beiden Männer kauern nieder, setzen im flachen Winkel das Messer gegen den Stein und stossen und ziehen die Klinge sorgfältig vor und zurück. Bis sie scharf genug ist, um auf der nächsten Strecke Äste, dünne Stämme und Luftwurzeln durchtrennen zu können.

Der glucksende Bach soll meine zerkratzten Beine kühlen. Betörend klares Wasser. Ein beruhigendes Zeichen. Würden irgendwo am Oberlauf Bulldozer Pisten in den Wald rammen, wäre auch dieses Wasser untrinkbar, braun und verschlammt. Sarawak war einst das Land der klaren Bäche und Flüsse, doch das war vor der Invasion der Holzkonzerne. Heute werden vielerorts die wuchtigen Regenfälle von keinen Baumkronen mehr abgefedert. Die Wassermassen stürzen ungebremst auf den nackten Boden. Und die ohnehin dünne Schicht fruchtbarer Urwalderde wird auf Nimmerwiedersehen in die Flüsse fortgespült. Sinnlos, in einem dieser Gewässer auf den Grund sehen zu wollen. Mit der Klarheit verschwinden auch viele Fischarten. Der Schlamm raubt ihnen den Sauerstoff, die Tiere ersticken. Doch an diesem Rastplatz sind wir bereits zu hoch, zu abgelegen. Noch ist die technische Walze nicht so weit vorgedrungen. Eine Frage der Zeit. Bis spätestens 2010 dürfte auch dieser Urwald der Holzindustrie zum Opfer gefallen sein.

Genau dieses Waldgebiet unter Schutz stellen zu lassen, es für die Penan als Biosphärenreservat zu deklarieren, hatte die Regierung in Kuala Lumpur bereits 1986 angekündigt. Eine taktische Finte, das Versprechen wurde nie eingehalten. Damit scheint das Ende der Waldnomaden und der Wildtiere besiegelt zu sein. Ein Ende, gegen das sich BM und seine Freunde seit über einem Jahrzehnt verzweifelt stemmen.

Wir gehen weiter. Es regnet nicht mehr. Die Kleider bleiben nass, der Marsch durch das Reich der letzten Nebelparder, der grössten Katzen auf Borneo, treibt unablässig den Schweiss aus den Poren. Noch zwei Tage bis zum Ziel, schätzen die Penan. Es könnten auch mehr sein, je nachdem, was uns unterwegs noch erwartet. Das Ziel ist der Batu Lawi im Ulu-Limbang-Gebiet. Ein hoher, sagenumwobener Felsklotz, der wie ein gigantischer Turm aus dem Meer der Baumkronen ragt. Ein heiliger Berg, dem sich die Eingeborenen nur selten, jedenfalls aber mit Ehrfurcht nähern. BM kletterte früher bereits einmal die stellenweise senkrechten Wände hoch. Das Gefühl auf dem Gipfel ist erhaben, die Hügel und Wälder liegen dem Bezwinger zu Füssen. Das Besondere aber ist der Himmel: Nirgendwo sonst im Penanland scheint das All so nah. Waldvölker sehen das Firmament fast nie. Ihren Himmel bildet das hohe Blätterwerk. Aber auch der freie Horizont, die Nahtlinie zwischen Luft und Erde, zwischen Himmel und Wasser, ist für sie ein höchst seltener Anblick.

Das verdeckte Himmelszelt und die fehlende Weite im Wald schlugen BM des Öftern aufs Gemüt – damals, als er jahrelang mit den Waldnomaden herumzog. Um sich von der Beklemmung zu befreien, kletterte BM von Zeit zu Zeit auf einen der höchsten Urwaldriesen, um aus dessen hoher Krone über das Land blicken oder den Sternenhimmel geniessen zu können. Sein Drang nach Höhe, nach Überblick trieb ihn als Kind schon auf die Bäume, später auf die höchsten Aussichtspunkte der Berge. Auch auf den Batu Lawi, wo er sich verstieg und nur mit unglaublichem Glück wieder heil hinunterkam. Doch der magische Berg hatte ihn in seinen Bann gezogen. BM schwor sich, ihn eines Tages noch einmal zu besteigen. Tatsächlich weisen seine letzten Spuren in die Richtung des kantigen Felsens. In der Aura des Batu Lawi müssten wir etwas über sein Schicksal erfahren können.

Wildschweinspuren zwingen die Kolonne zu einem jähen Halt. Frische Abdrücke. Die Spurenleser sind elektrisiert. Das Fleisch von Babui, der Wildsau, ist eine Delikatesse. Doch zuerst muss das Nachtlager aufgebaut werden. Auf der schmalen Terrasse eines ansteigenden Kamms machen sich die Männer ans Werk. Mit ihren Buschmessern kappen sie kleine Stämme mit Astgabeln, säubern sie von den Ästen und rammen sie danach mit Steinen in den Grund. So entsteht ein Rost aus weiteren Stämmchen und Ästen, die mit Rindestreifen befestigt werden. Die Penan schlafen unterwegs weder in Hängematten noch auf dem Boden. Ihre Schlafstelle ist der über der Erde schwebende Lattenrost. Er schützt gegen Bodennässe, Kälte und Kleingetier.

Die Luft sirrt vom Gesang unsichtbarer Zikaden. Chief Na Malai greift zu seinem alten Gewehr und entfernt sich mit Lian Hua bergabwärts. Die beiden wollen eine Wildsau erlegen. Unsere Vorräte an Reis, dem aus Palmmark gewonnenen Stärkemehl Sago, etwas Fleisch, Salz und Zucker sind knapp. Das Hungern sind die Nomaden gewohnt, wir aber nicht. Kein Essen in diesem Kräfte raubenden Gelände hiesse Energieverlust. So ist dem Trupp jede Jagdbeute willkommen. Sei es ein Hirsch, ein Reh, ein Affe, vielleicht sogar ein Vogel. Auch ein Bär oder eine Python wäre ein Freudentänzchen wert. Am liebsten aber verzehren die Waldnomaden ein Babui, kein anderes Fleisch schmeckt so fein.

Auf einem der letzten, im Mai 2000 im Urwald von Kalimantan aufgenommenen Fotos ist BM von Strapazen gezeichnet. Doch sein Gesicht wirkt zufrieden. Am Rücken trägt er ein erlegtes Wildschwein, nach traditioneller Penanart wie ein Rucksack mit Bastriemen und Rattan festgezurrt. Mir kommen die Babui-Zeichnungen seines Buchs ‹Stimmen aus dem Regenwald› in den Sinn. Darin hat er exakt die Packtechnik der Nomaden und den Verlauf der Riemen festgehalten. Im Normal fall jagen die Penan mit Hunden und Speeren oder mit Blasrohren und Giftpfeilen. Die raren Gewehre aus der britischen Kolonialzeit sind deshalb beliebt, weil sie die Beute schnell zu Fall bringen können. Das erspart die oft stundenlange Verfolgung eines mit Pfeil oder Speer verletzten Tiers. BM jedoch war von der Lautlosigkeit und Effizienz des Blasrohrs mit seinen federleichten, harmlos aussehenden Gift-pfeilen aus Holz fasziniert. Er entwickelte sich zum Meister im Einsatz dieser tödlichen Waffe.

Obwohl alles feucht ist, haben die Penan im Handumdrehen ein Lagerfeuer entzündet. Ein paar flicken ihre von Dornen zerrissenen Hemden und Hosen. Sie verkleben die Risse mit dem Harz eines Baumes. Wir richten uns auf dem Schlafrost ein, spannen als Dach Plastikplanen gegen die nächtlichen Regenschauer und versuchen, am Feuer die Kleider zu trocknen.

Plötzlich peitschen weit entfernt zwei Schüsse durch den Wald, und nach mehr als einer Stunde tauchen die beiden Jäger aus der Dunkelheit auf, mit einem etwa 60 Kilo wiegenden Wildschwein. Ausgelassene Freude. Die Jäger erzählen, wie sie den Spuren gefolgt und weit unten tatsächlich auf die Tiere gestossen seien.

Im Feuerschein legen die Männer grosse Blätter aus und wuchten die Beute auf die grüne Unterlage. Geschickt schneiden sie mit ihren Macheten und Messern das Borstenvieh auseinander. Ein Teil des Fleisches wird an Holzspiessen übers Feuer gehalten, der Rest wird gekocht oder geräuchert, das Fett wird ausgelassen und für die nächsten Tage in einer Flasche aufgefangen.

Rasch hat sich die Nacht über die Wälder gelegt. Zum Babui-Festschmaus gibt es Nao, den gekochten, zähen Brei aus Sago-Stärke, der mit Löffeln abgestochen oder nach traditioneller Art mit Holzgabeln aufgewickelt wird. Er sieht appetitraubend aus, wie glasiger Fischkleister, schmeckt nach nichts, ist aber die Hauptnahrung der Penan. Früchte des Waldes und Wildfleisch sind seltene Beilagen.

Die meisten von uns sitzen nun auf dem Rost, zwei hocken am nahen Feuer und reichen frisch gebratene Fleischstücke herauf. Besonders feine Happen strecken sie uns ermunternd zu. Sie abzulehnen, wäre verletzend. ‹Danke› – dieses Wort existiert nicht in der Penansprache. Für etwas, das selbstverständlich ist, braucht es kein Dankeschön.

Die Penan teilen alles, besonders in Hungerszeiten. Ihre Rücksichtnahme, die ausgeprägte Friedfertigkeit und das allgegenwärtige Teilen von Lebensnotwendigem als Grundeinstellung und zur Erhaltung der Gemeinschaft haben BM nachhaltig beeindruckt:

Am Beispiel der Penan kann uns vieles bewusst werden, und jedem Einzelnen steht es frei, sich darüber Gedanken zu machen, welches Volk primitiv ist und noch Entwicklung nötig hat…

Jeder dieser Nomaden ist schon mit der Staatsgewalt oder den Holzfällern konfrontiert worden. Die Zeiten, als sie sich den eindringenden Mächten entziehen konnten, sind vorüber. Penanland ist eingekesselt, Penanland wird von unzähligen Holzfällerstrassen zerschnitten. Weil Henni als Einziger in einer Missionsschule Englisch lernen konnte, erfahren wir nach dem Essen etwas über seine Erfahrungen mit den Invasoren.

Er reiste mit Penan-Freunden wiederholt nach Kuching, in die ferne Hauptstadt, um Chief Minister Taib Mahmud zu bitten, die Holzkonzerne abziehen zu lassen: «Doch Taib Mahmud wollte uns nicht sehen.» Darauf beteiligte sich Henni an einer Strassenblockade im Urwald des Uper Barang, wurde verhaftet, bedroht, geschlagen. Ein Polizeioffizier habe ihm den Revolverlauf an die Stirne gesetzt und gesagt: «Dein Gesicht stört mich, ich mag es nicht mehr sehen.» Panisch habe er auf die Kugel gewartet, doch dann habe es sich der Offizier anders überlegt. Henni wurde in einen Raum geworfen, musste tagelang in gebeugter Stellung auf dem Betonboden ausharren, bekam nichts zu essen, litt Todesängste. Schliesslich konnte er entkommen. Er ist jetzt noch auf der Flucht.

BM hat zahlreiche solcher Schicksale dokumentiert, bis ins Detail, mit Namen, Alters-, Zeit- und Ortsangaben, mit Zitaten der Penan und Kommentaren von Politikern und Holzindustriellen. Er hat die Lebensweise der Penan festgehalten, hat ihre poetische Bildersprache übersetzt: Die Erde ruft: Ich will nicht getötet werden! Entstanden ist ein einzigartiges Protokoll über das Leben und die Entwurzelung eines der letzten Naturvölker der Welt.

Die Wärme des Lagerfeuers leckt das Nass aus unserer aufgeweichten Haut. Unter den Baumkronen herrscht jetzt Stille. Tiefe Dunkelheit hat sich ausgebreitet, hinter dem Feuerschein scheint die Welt ins Nirgendwo abzubrechen. Wir schlüpfen in die leichten Baumwollschlafsäcke und versuchen, auf den Holzprügeln eine einigermassen bequeme Liegestellung zu finden. «Schlaf trotzdem gut», wünscht Erich. Es wird eine lange Nacht.

Das Pochen schwerer Regentropfen auf dem Plastikdach kündigt den Tag an. Auf dem Blätterwerk glänzt das erste Licht. Schlafsack und Kleider haben sich wieder mit Feuchtigkeit voll gesogen. Zwecklos, jetzt bereits zusammenzupacken.

Zum Frühstück gibt es Babui, Reis, Sago und gesüssten Tee.

Erst gegen Mittag hört der Regen auf. Eingespielt und schnell montieren die Penan die Plastikplachen ab und verstauen ihre Sachen in den Ratan-Rucksäcken.

Die Männer wuchten ihr Gepäck auf den Rücken, greifen zu Blasrohr und Buschmesser und ziehen los. Von jetzt an geht es nur noch bergauf.

BM ging ebenfalls diesen Weg, in Begleitung des Penan-Nomaden Nari und dessen kleinen Sohns. Die beiden sind die letzten uns bekannten Zeugen, die BM gesehen haben. Je höher wir uns den Berg hocharbeiten, desto lebendiger wird der Wald. Er scheint von Urzeiten her verzaubert und mit fantastischen Gestalten beseelt worden zu sein. Hunderte nie gesehener Wesen beäugen den sich vorwärts kämpfenden Suchtrupp, steinerne Gestalten, die sich in dicke Moospelze eingehüllt haben, gewaltige Farne, die sich zu uns herunterbeugen, und Bäume, die mit ihren langen, grauen Bärten wie traurige Greise auf ihr Ende warten.

Ein Wald voller Wunder und Überraschungen. Aber ich bin unfähig, ihn richtig wahrzunehmen oder gar zu geniessen, da ich einfach zu erschöpft bin. Eine Einladung des stets durchtrainierten BMs, ihn zu den Penan zu begleiten, habe ich vor zwei Jahren schon ausgeschlagen, weil mir die Zeit fehlte, um mich zuvor fit zu machen. Von früheren Expeditionen her war mir klar, wie überlebenswichtig eine gute Kondition ist. Aber diese beschränkte sich bei mir in letzter Zeit vor allem auf die Muskulatur meiner Finger, welche die Computertasten drückten. Als mir Erich diese Suche vorschlug, blieb mir wiederum keine Zeit zum Trainieren. Diesmal jedoch musste ich mit, um jeden Preis. Also redete ich mir ein, von meiner bislang guten Grundkondition auch noch mit 50 zehren zu können. Ich wechselte vom Bürostuhl in den Flugzeugsitz und von diesem in die Sitze von Boot und Geländewagen. Doch dann ging es nur noch zu Fuss weiter, hügelan, hügelab, und alles im Schnellschritt der Nomaden.

Hier aber, in diesem üppigen Reich der von Feuchtigkeit trunkenen Pflanzen, gerate ich Besorgnis erregend rasch an den Limit meiner Ausdauer. Immer wieder müssen wir uns unter umgefallenen Bäumen und tiefen Ästen hindurchdrücken. Was für die klein gewachsenen Penan problemlos ist, wird für meine Grösse von 1.90 Meter zur Kräfte raubenden Tortur. Will ich mich unten durchbücken, bleibt der Rucksack hängen. Also muss ich auf die Knie und wie ein Käfer unter dem Hindernis durchkrabbeln. Bis ich mich wieder aufgerafft habe, ist mein Vorläufer längst schon hinter dem grünen Vorhang der Farne und Blätter verschwunden. Also müsste ich jetzt noch Spuren lesen, um der Gruppe zu folgen. Doch Lawing geht nun als Schlusslicht der Kolonne hinter mir her und weist die Richtung.

Mein Gehen gerät immer mehr zum Taumeln. Nun lauern im Boden zu allem Überdruss noch tiefe Hohlräume, die von oben nur erahnt werden können, weil sie von Wurzelgeflechten und Moosteppichen überwuchert sind. Gnädig erlauben sie den leichten Penan, kurz auf sie zu treten und zur nächsten festen Stelle abzuspringen. Meine 90 Kilo aber werden umgehend bestraft. Ich breche wiederholt ein, hänge in den tragenden Wurzeln wie ein Insekt in einem Spinnennetz und muss mich mit viel Energie wieder befreien.

Je mehr die Kraft nachlässt, desto mehr steigt die Unfallgefahr. Die Trittsicherheit schwindet, ein falsches Aufsetzen und schon könnte ein Knochen brechen. Ich schwöre mir: Du schaust, dass du unverletzt aus dieser Sache herauskommst. Lieber langsamer vorwärtskommen, lieber mehr Umwege in Kauf nehmen und mehr Halte einlegen, als diese Suchaktion durch einen folgenschweren Fehltritt zu gefährden. So gehe, springe, robbe, klettere und hangle ich mich weiter durch diese tropfnasse Wildnis. Jede Bewegung, jeden Schritt versuche ich vorher gedanklich abzuschätzen, um nicht zu fallen, abzustürzen oder beim Haltsuchen in einen mit Dornen gespickten Ast zu greifen. Was mir an Erfahrung und Intuition abgeht, versuche ich mit dem Verstand wettzumachen. Die Verdrängung der Furcht vor dem tödlichen Biss einer Giftschlange fällt nicht besonders schwer. Schlangen fliehen, wenn sie können. Hart auf die Probe stellt mich aber die Unberechenbarkeit des Geländes. Es ist mir längst schon klar geworden: Das sichere Vorwärtskommen in einem derartigen Urwald stellt an den Menschen höchste Anforderungen. Keine Bergbesteigung und kein Wüstenmarsch waren je so Kräfte zehrend.

Immerhin, wenigstens bin ich nicht in ein tiefes Loch gefallen. Was aber, wenn Einzelgänger BM mit seinem schweren Rucksack in einen dieser zuweilen einige Meter tiefen Hohlräume gestürzt ist? Was, wenn er sich dabei so verletzte, dass er sich aus eigener Kraft nicht mehr heraushelfen konnte? Ist BM vom Boden verschluckt worden? «Das kann ich mir nicht vorstellen. Bruno war so zäh, dass er sich auch mit einem gebrochenen Bein aus einer solchen Lage befreit hätte», meint Bruder Erich beim nächsten Halt. Und wenn der Sturz tödlich war, weil er sich den Kopf angeschlagen hat? Und wir ihn nicht finden, weil die Absturzstelle bereits wieder überwachsen ist? Wieder sehen wir uns in diesem unsäglichen Labyrinth aus Überlegungen, Annahmen und Mutmassungen gefangen.

Beim Weitermarsch wird mir endgültig bewusst, dass weder meine Grösse noch mein Gewicht in dieser Umgebung viel taugen. Waldmenschen wie die Penan, die Pygmäen in Afrika oder die Indianer im Amazonas sind klein, kräftig und zäh. Wie Bruno. Und wie Erich Manser, der sich als drahtiger Gärtner und Bergsteiger rasch dem Marschstil der Penan anzupassen vermochte. Der Bremsklotz bin ich, das weiss jeder in der Gruppe. Doch die Penan lassen sich nichts anmerken, bieten mir sogar an, meine 12 Kilo wiegende Kameraausrüstung zu tragen. Ich lehne ab, ich muss ja damit arbeiten und immer mal wieder etwas filmen oder fotografieren. Abgesehen davon hat BM oft mehr als 30 Kilo schwere Lasten durch dieses Gelände geschleppt.

Das muss er am Anfang seines Daseins als Waldläufer ähnlich empfunden haben – die Unmöglichkeit des rhythmischen Gehens, das einen körperlich und gedanklich beflügeln kann. Hier aber ist jeder Schritt eine Herausforderung. Bei jedem zweiten oder dritten kann ein Malheur geschehen: Ich stolpere über eine versteckte Wurzel, verfange mich in einer Schlingpflanze, gleite auf einem moosigen Stein aus, verliere auf einem liegenden Baumstamm den Halt, krache in ein Loch, gerate aus dem Gleichgewicht, weil der Ast oder Farn bricht, an dem ich mich festhalten will, werde von einer unsichtbaren Fliege belästigt, die mir zum Wahnsinnigwerden um die Ohren summt, gerate in ein undurchdringliches Gebüsch und muss wieder rückwärts, erhalte von einem zurückschnellenden Ast einen Schlag ins Gesicht, reisse mir an einem Dornbusch die bereits eiternde Wunde tiefer auf, bleibe mit den Kleidern hängen, rutsche einen Hang hinunter, werde von einem herabfallenden Morschholz schier erschlagen.

Brachte ich zu Beginn eine Strecke ohne Zwischenfall hinter mich, bildete ich mir bereits mit einer Mischung aus Triumph und Selbstzufriedenheit ein, langsam die Technik des Buschlaufens kapiert zu haben, widerfuhr mir, kaum war der Gedanke ausgedacht, das nächste Unglück. War ich zu eingebildet, zu hochmütig? Stand das Stolpern, Fallen, Rutschen irgendwie mit meiner inneren Haltung in Verbindung? Unterdessen versuche ich, ohne Erwartungen zu gehen, versuche, jedem gelungenen Schritt mit Dankbarkeit, jedem misslungenen mit Gelassenheit zu begegnen. Und tatsächlich – es funktioniert. Das Vorwärtskommen scheint trotz aller Widrigkeiten etwas einfacher zu werden. Ein Wald wie dieser lehrt den Menschen den uneingeschränkten Respekt vor der Natur, lehrt ihn Demut gegenüber der Schöpfung.

Was wohl BM dazu sagen würde? Im Grundsatz würde er wohl zustimmen. Aber er würde auch einwenden, ich sei – wie viele Zivilisationsverwöhnte – zu kopflastig und deshalb nicht mehr fähig, bei derartigen Herausforderungen das natürliche Körpergefühl spielen zu lassen. Dieses beherrschte BM wie ein Tier. Sei es als Läufer, Schwimmer oder Kletterer, sei es als Jäger, Höhlenforscher oder Fallschirmspringer – Bruno hat intuitiv die richtigen Reflexe. Was sich andere lange antrainieren mussten, schafft er scheinbar aus dem Stand heraus.

Wir kämpfen uns durch einen Tunnel aus grünem Moosgeflecht den letzten Steilhang hoch zur Wasserscheide zwischen dem Sungai Kubaan und Sungai Limbang. Plötzlich werden über uns Fetzen weisser Wolken sichtbar und wir finden uns auf der winzigen Lichtung einer Bergkuppe wieder. Sie erlaubt einen weiten Blick über die Wälder. «Batu Lawi», sagt Ibrahim bedeutungsvoll und zeigt in Richtung des Horizonts. Doch wir sehen nichts von dem markanten Felsen, er versteckt sich hinter einer Nebelwand. Wir stehen auf dem Platz, wo sich BM am 25. Mai 2000 um zirka 14 Uhr von Nari und seinem Sohn trennte. Bis hierher hatte Nari den hellgrünen Vector-Rucksack BMs getragen, derweil dieser mit der Karte vorausging, den Weg suchte und mit dem Buschmesser hinderliches Gestrüpp wegschlug. BM habe einen starken Eindruck gemacht und offensichtlich nicht an einer gebrochenen Rippe gelitten, wie dies behauptet worden war. Hier also, an dieser Stelle, bat Bruno seinen Begleiter, nun mit dem Kind umzukehren. Er könne von hier aus allein weiterkommen. Sein nächstes Ziel sei der Batu Lawi, später wolle er in den Wäldern seinen Freund Along Segá und dessen Sippe suchen.

Zwischen dieser Kuppe und dem rund drei Tagesmärsche entfernten Berg ist BM verschwunden. Irgendwo da unten zu unseren Füssen, unter diesem Teppich wogender Baumkronen, müsste die Antwort liegen.

Wir nehmen den Abstieg in Angriff. Das steile Gefälle lässt uns mehr rutschen und springen denn gehen.

Schliesslich empfängt uns ein Seitenflüsschen, das weiter unten in den Limbang-Fluss mündet, den die Penan Baa Brunei nennen. Das Gepäck wird abgesetzt, die Männer waschen sich im kristallklaren Wasser die Dreckkrusten vom Leib. Am Ufer liegen gelbliche Steine – Gelegenheit für die Penan, erneut ihre Buschmesser zu wetzen. Ahnen sie, dass demnächst ganze Bäume umgehauen werden müssen?

Mittagessen, Reis und Wildsaureste, dann Weitermarsch ins Tal hinab. Ibrahim hat jetzt die Spitze übernommen. Er kennt als Einziger dieses Gebiet. Mit der Machete schlägt er der Gruppe den Weg frei. Seine Augen suchen fortwährend das Dickicht nach angeschnittenen, durchtrennten oder geknickten Bäumchen ab. Wegmarkierungen von Waldnomaden, die sich hier früher bereits durchschlugen. Hinweg und Rückweg werden mit verschiedenen Hautechniken unterschieden. Von oben rechts nach unten links oder umgekehrt. Richtungweisend sind aber auch die Kronen der umgelegten Bäumchen. Die meisten Wegzeichen sind noch nach Jahren zu erkennen. Jeder Waldgänger markiert seine Präsenz auf seine individuelle Schnittart. Auch BM hinterliess seine Wegzeichen. Seine indigenen Freunde wissen, wie sie aussehen. Dank ihnen konnte sein letztes Lager am Brunei-Fluss gefunden werden.

Lange bevor wir den Baa Brunei sehen, hören wir sein dumpfes Rauschen. Etwas später schimmern seine braunen Fluten durch die Vegetation. Bäume und Unterholz erstrecken sich bis zur leicht erhöhten Uferböschung. Dort angekommen, blicken die Männer prüfend in die wilden Strudel und hinüber zum anderen Ufer. Pech für uns, dass am Oberlauf gerade wieder einmal schwere Regenfälle niedergingen und den Fluss gefährlich anschwellen liessen. Doch die Penan sind entschlossen, heute noch ans andere Ufer zu gelangen. Die Lebensmittelvorräte reichen nicht ewig, und die grosse Suche beginnt erst in den Wäldern auf der anderen Seite.

Um das Tosen zu übertönen, beraten sie sich brüllend, blicken an den Stämmen besonders hoher Bäume hoch und wählen schliesslich zwei am Uferrand aus. Jetzt sausen die Klingen der Macheten rhythmisch und treffsicher auf die immer gleiche, dem Fluss abgewandte Stelle am Sockel der beiden Stämme. Späne spicken weg, die Kerbe wird breiter, wird tiefer, und trotzdem scheint noch lange kein Ende absehbar. Die Männer schlagen stoisch weiter. Endlich neigt sich der erste Stamm, gerät in Schieflage, gewinnt an Geschwindigkeit – und platscht ins Wasser. Fehlschlag, der Baum war zu kurz. Seine Krone hätte auf dem gegenüberliegenden Ufer aufschlagen sollen. Doch schon ächzt der zweite Baum. Krachend legt er sich über den Fluss auf das andere Ufer. Geschafft!

Die Penan aber wollen unbedingt zwei Stämme für die Überquerung. Aus Sicherheitsgründen. Wer jetzt in der Mitte des Flusses mit seinem Gepäck das Gleichgewicht verliert, hätte kaum eine Chance, lebend aus den reissenden Wassermassen herauszukommen. Doch ein Baum, den man parallel zum bereits liegenden über den Fluss fallen lassen könnte, steht nur noch am jenseitigen Ufer. Der kräftige Gisa Pareng fackelt nicht lange, zieht die Gummischuhe aus, schiebt das Buschmesser in den Gürtel und turnt auf dem glücklicherweise unbeweglichen, mit Ästen bewehrten Baumstamm auf die andere Flussseite hinüber. Dort bearbeitet er mit wuchtigen Schlägen so lang das Holz, bis auch dieser Baum in unsere Richtung kippt, um sich zwar einen Schritt tiefer, aber genau neben den ersten zu legen. Brückenschlag geglückt.

Welches Gesicht zeigte der Brunei-Fluss, als Bruno Manser allein hier ankam? Unvorstellbar, dass er ihn bei ähnlichen Verhältnissen überquerte. Führte der Fluss vielleicht gar kein Hochwasser? Flüsse können in diesem Land ihr Temperament schnell verändern. Nicht unwahrscheinlich, dass der Baa Brunei im Mai 2000 in seinem Bett die rund geschliffenen Felsbrocken zur Schau trug und gemächlich durch seine Wasser umspülen liess. Dann war es auch für einen Einzelgänger ein Kinderspiel, von Stein zu Stein zu springen oder die tieferen Stellen zu durchwaten. Dass BM den Fluss überquerte, beweist uns sein Lager auf der anderen Seite.

Die Indigenen klettern auf die beiden Stämme, hacken das unbrauchbare Geäst ab und verbinden sie durch Halt gebende Stecken, die mit rasch geschnittenen Rindenbändern festgezurrt werden. Für die Überquerung nimmt man sich Zeit. Behutsam balancieren wir unser Gepäck aus, setzen einen Fuss vor den anderen und halten uns an den Ästen und Stecken fest, währenddessen das Wasser in Schwindel erregendem Tempo unter uns durchzieht. Von den Ufern aus wird jede Bewegung gebannt mitverfolgt, bis wir alle heil übergesetzt haben.

Die Kolonne folgt nun dem Wasserlauf flussabwärts, muss sich aber den Weg wieder frei schlagen. Die dämmerige Welt der Moose und Farne, der Geflechte und Pflanzentunnel hat uns wieder. Auch dieses oft sehr steile Gebiet gehört zum stellenweise undurchdringlichen Wald, der Lumut genannt wird. Wer die Hand ausstreckt, sieht sie sofort im satten Grün verschwinden. Die Sicht beschränkt sich oft nur auf wenige Zentimeter. Wie soll man hier jemanden finden?

Als der Wald wieder lichter wird, bleibt Ibrahim stehen und weist auf ein kleines Plätzchen, das leicht erhöht über der Uferböschung liegt. Es ist Bruno Mansers letztes Biwak, mit Blick auf den Fluss. Wir setzen das Gepäck ab, und die Penan beginnen zu diskutieren. Ibrahim weiss von seiner ersten Suchexpedition, dass der ‹weisse Penan› von hier aus zum Batu Lawi durchzukommen versuchte. 600 Meter konnte man seiner Spur folgen, dann hörte sie jählings auf. Stattdessen fand man noch andere Wege, die BMs Buschmesser freilegte. Offensichtlich nahm er verschiedene Anläufe, wurde aber immer wieder vom Dickicht des Lumut-Walds zurückgeworfen. Vielleicht aber übersah der letzte Suchtrupp etwas, was auch geübten Fährtenlesern passieren kann: die Fortsetzung eines nur streckenweise unterbrochenen Pfades oder eine weitere, bislang nicht entdeckte Spur.

Erich Manser will den ganzen Forst, vom Brunei-Fluss bis zum Batu Lawi, mit den Penan nochmals systematisch absuchen. Nur deshalb hat er diese Reise in den Urwald Sarawaks angetreten. Er will sich selbst ein Bild machen können, er will sich später nicht vorwerfen müssen, er habe zu wenig unternommen, um mehr über das Schicksal seines Bruders herauszufinden. Über ein Jahr ist es bereits her, seitdem Bruno verschwunden ist.

Das hier also war seine letzte Schlafstelle. Eine Vorstellung, die schmerzt. Die Frage, was mit ihm geschehen sein könnte, wirkt quälender denn je. Erich zieht sich von der Gruppe zurück, geht zum tosenden Fluss hinunter und setzt sich auf einen von Gischt bespritzten Felsen. Ein trauriger Mann, der bewegungslos in die sich zu Tal wälzenden Fluten des Baa Brunei starrt.

Verschollene leben weiter. Immer sind sie da, als ewige Begleiter in den Köpfen und Herzen jener, die sie lieben. Sie hinterlassen Fragen ohne Antworten, bestimmen Schicksale, nähren den nie weichenden Schmerz der Ungewissheit. Und wer sie sucht, den verfolgen sie auf Schritt und Tritt.

 

Kindheit und Schulzeit

Behütet im Elternhaus · Ein eigenwilliges Kind · Liebs Mameli ·

‹Ich bin ein gewöhnlicher Mensch› · Abenteuer im Stadtwald · Balkon-Nächte ·

Aufsätze eines Rebellen · Sehnsucht nach Freiheit

25. August 1954. Basel liegt noch im Tiefschlaf. Über der Rheinstadt wölbt sich ein klarer Sternenhimmel, es ist warm, und es riecht nach Sommer.

In einem Mehrfamilienhaus der Vorortsgemeinde Münchenstein wird um 3 Uhr früh Ida Manser, 33-jährig, durch heftige Schmerzen aus dem Schlaf gerissen. Sie merkt rasch, dass die Wehen begonnen haben. Es sind die gleichen Krämpfe wie damals, 1948, als ihr Erstes, Ursula, zur Welt kam. Auf Ursula folgte dann ein Jahr später Erika. 1952 kam Erich junior zur Welt. Und jetzt? Wieder ein Bub? Oder das dritte Mädchen? Idas Stärke ist, dass sie ergeben annehmen kann, was ihr das Schicksal aufbürdet oder schenkt. «Ich nehme, wie es kommt», sagt sie sich auch diesmal. Sie hat nur einen Wunsch – so rasch wie möglich den Gebärsaal zu erreichen.

Ihr Mann, Erich senior, ruft ein Taxi. Für ihn kommt wieder einmal alles zusammen. Ausgerechnet heute ist die Beerdigung seiner Mutter in Kaiserslautern. Den Fahrschein für die Zugreise hat sich das Ehepaar bereits gekauft, doch nun scheint alles in Frage gestellt. Erich Manser aber ist entschlossen, seine Frau zu begleiten. Erst die Lebenden, dann die Toten.

Er hilft Ida ins Taxi. Der Fahrer steuert den Wagen über das Birsflüsschen in die Stadt und setzt seine Fahrgäste in der Nähe des Rheins vor dem Frauenspital ab.

Nun geht alles sehr schnell. Die Schwangere wird vom Personal in Empfang genommen, sofort für die Geburt vorbereitet, und um 4.20 Uhr bringt Ida Manser ihr viertes Kind zur Welt. Es ist gesund, es ist ein Bub – Bruno. « Eine einfache Geburt, wie fast alle meine sechs Geburten», erinnert sich Frau Manser.

Erich Manser ist erleichtert, dass alles gut gegangen ist und freut sich sichtlich über seinen jüngsten Spross. Er beugt sich über den Säugling und begrüsst ihn. Dann fährt er zur Abdankung nach Kaiserslautern, um sich allein und ohne seine Frau von seiner Mutter zu verabschieden.

Enkel Bruno und Grossmutter Manser haben sich um wenige Tage verpasst. Für Erich ist der 25. August 1954 ein Tag gegensätzlichster Gefühle. In Basel die Freude über eine Ankunft, in Kaiserslautern die Trauer und ein Abschied.

Sein Grossvater war einst aus dem von Armut geplagten Appenzell nach Deutschland ausgewandert, und er, Erich, wurde dort 1918 geboren. Der junge Manser wuchs in einem Land auf, das eben den von diesem angezettelten Ersten Weltkrieg verloren hatte. Als sich wenig später die Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft abzuzeichnen begannen, kam er, 16-jährig, als Auslandschweizer in die Schweiz. In der Leimentaler Gemeinde Therwil nahe Basel erlernte er den Beruf des Gärtners.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fasste er sich ein Herz und bat Ida Raederstorff um ihre Hand. Sie gefiel ihm, die hübsche Bauerntochter aus der Nachbargemeinde Aesch.

Wie so oft bei Menschen in der Dreiländer-Region Basel pulst auch in Idas Adern ein Schuss fremdländisches Blut. Ihr Grossvater war 1871 mit der französischen Bourbaki-Armee in die Schweiz geflohen und blieb da. Idas Eltern bewirtschafteten einen Bauernhof in Aesch. Dort verbrachte sie, zusammen mit ihren drei Geschwistern, eine unbeschwerte und naturverbundene Kindheit. Idas Vater hatte es, wie später Schwiegersohn Erich als Gärtner und Enkel Bruno als Regenwaldschützer, mit den Bäumen: Raederstorff ging als erster ‹Baumwärter› in die Gemeindegeschichte ein.

Ihren Erich verdankt Ida einer Gleichaltrigen: «Meine Freundin sagte mir, sie habe ja schon einen Schatz, doch nun wolle noch ein anderer ihr Freund werden. Ein einziger Freund genüge ihr aber. Darauf gab sie mir ein Foto von Erich. Ich hatte zuerst kein Interesse, doch dann machten wir ein Treffen ab in einem Restaurant am Basler Marktplatz. Ich war zuerst dort, und als ein junger Mann hereinkam, fragte ich einfach: ‹Sind Sie der Herr Manser?› Er sagte: ‹Ja.› Wir setzten uns, und er bestellte uns je ein grosses Bier. Ich habe aber Bier gar nicht gern, und so trank ich es auch nicht. Trotzdem sahen wir uns später jede Woche wieder.» Bald sind sich die beiden sicher: Sie haben sich lieb. 1947 heiraten Ida und Erich. Sie ziehen nach Münchenstein, in die erste gemeinsame Wohnung.

Nach der Entbindung wird Ida von den Schwestern in ein Mehrbettenzimmer geleitet. Fünf weitere Mütter begrüssen die eben Entbundene. Ida ist glücklich und müde und legt sich ins Bett.

Draussen verscheucht die aufsteigende Sonne die Schatten der Nacht, ein schöner Tag kündigt sich an. Basel erwacht, die Milchmänner füllen vor den Häusern die Frischmilch in die bereitgestellten Kesselchen, die Zeitungsverträger verteilen die ‹Basler Nachrichten› und die ‹National-Zeitung›. Die Presse hält fest, was die Welt am ersten Geburtstag des späteren Mediensujets Bruno Manser beschäftigt.

Auf den Titelseiten ist das grimmig-traurige Gesicht des brasilianischen Präsidenten Getulio Dornelles Vargas zu sehen. Der als ‹Vater der Armen› verehrte Jurist, der vom Militär zum Rücktritt aufgefordert worden war, hat sich tags zuvor um 8.35 Uhr Ortszeit in Rio de Janeiro mit einem Revolver aus dem Leben geschossen. «Er liess eine Notiz zurück, in der er sagt, dass er mit Bedauern in den Tod gegangen sei, nicht mehr für die Armen getan zu haben, die er so geliebt habe», heisst es im Bericht.

In Brüssel scheitert die Konferenz zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, der EVG, am Widerstand der Franzosen. Staatsmänner wie Pierre Mendès-France, Konrad Adenauer, Winston Churchill und Dwight Eisenhower sind in die ‹EVG-Krise› verwickelt. In China lässt sich Attlee, der Vorsitzende der britischen Labour-partei, vom Vorsitzenden Mao Tse Tung empfangen – unter heftiger Kritik der britischen Presse. In den USA unterzeichnet Präsident Eisenhower ein Gesetz, das die Kommunistische Partei verbietet. Gleichzeitig wird der amerikanische Senator und ‹Kommunistenfresser› Joseph McCarthy wegen seiner Manipulationen angeklagt. Es ist die Zeit des Kalten Krieges, die Zeit der Ängste, der Hysterien. Regenfälle in Indien und Frankreich führen zu ‹schwerer Wassernot›; in Kenia tobt der ‹Mau-Mau-Terror›. An einer Konferenz in Dänemark mit Frauen aus 28 Ländern herrscht ‹betretenes Schweigen›, weil die Schweizer Vertreterin erklärt, dass die Frauen ‹in der ältesten Demokratie der Welt› noch kein Stimmrecht hätten. Dieses sollte auf eidgenössischer Ebene erst eingeführt werden, als BM bereits 17 Jahre alt ist.

Bei den Anzeigen der Tagesausgaben sticht eine Reklame für die ‹Boston›-Ziga-rette ins Auge: ‹Alle Kreise rauchen sie!›. Werbung auch für den Selbst-Rasierer: ‹Thorens-Riviera ohne Strom ist da!›. Während die Kulturseiten die Internationalen Festwochen in Luzern thematisieren und Filme mit Stars wie Gregory Peck, Fernandel, Marylin Monroe, Charlie Chaplin und Curd Jürgens angekündigt werden, berichten die Wirtschaftsressorts über die ‹Leichte Zunahme des schweizerischen Handels mit Ostdeutschland› und die ‹Ausweitung des afrikanischen Eingeborenenmarktes›. Noch herrschen europäische Mächte über die Völker Afrikas, ihre Befreiung vom Joch der Kolonisation steht erst bevor. Die National-Zeitung widmet dem Geburtstag von BM gar den Titel ‹Der dramatische 25. August›. An diesem Tag, heisst es in dem langen Bericht ohne jede Jahresangabe, habe Adolf Hitler den Überfall auf Polen beschlossen und damit den Zweiten Weltkrieg losgetreten. Noch keine Zeile wert ist Elvis Presley, der wenige Tage zuvor die Geburtsstunde des Rock’n’ Rolls einläutete – mit dem Song ‹That’s All Right Mama›.

Ida Manser stillt ihren erst ein paar Stunden alten Jüngsten in regelmässigen Abständen.

Nach ihm wird sie noch zwei weiteren Kindern das Leben schenken. 1957 kommt Peter, 1964 Monika auf die Welt. Sie wird alle ihre Kinder gern haben, wird ihnen allen eine gute Mutter sein. Dass sich aber zwischen ihr und Bruno, ihrem eigenwilligsten Zögling, eine besonders enge Beziehung entwickeln würde, mag sie an diesem ersten Tag bestenfalls erahnen. Immerhin ist es ihr einziges Kind, das im Sommer und nicht im Frühling zur Welt kam.

50 Jahre später, nachdem der Sohn im Fernen Osten verschollen ist, sagt Ida schlicht: «Wir haben beide das gleiche Sternzeichen, wir sind beide Jungfrauen, und die sind einfach lieb zueinander.»

Mama Manser ist dankbar, sich im Spital erholen zu können. Sie verlässt es erst wieder, als Bruno zwei Wochen alt ist. Mit dem Taxi fahren sie heim, nach Münchenstein.

Wenig später zügelt die Familie nach Basel, in das Erdgeschoss eines neuen Wohnblocks am Alten Rheinweg. Erich senior findet eine Arbeit in der Chemiefabrik Sandoz.

Den Grossteil seiner Jugend verbringt BM aber an der Landauerstrasse in Kleinbasel. Sie liegt in der Nähe des Rheins, der deutschen Grenze und des städtischen Friedhofs Hörnli.

Was ist das Leben? Wo beginnt es, wo endet es? Haben wir mehrere Leben? Oder nur gerade dieses eine, das wir jetzt und mit unseren beschränkten Sinnen wahrnehmen können? Vor allem aber: Was macht uns zu dem, was wir sind? Was prägt uns? Das Göttliche? Pure Zufälle? Die Summe aller Erfahrungen aus vorherigen Leben? Oder sind es einfach die Erbanlagen? Ist es das Elternhaus? Die Gesellschaft? Das, was wir selbst an Einzigartigem in uns tragen? Oder prägt uns alles etwas?

Bruno Manser hat sich fortwährend mit existenziellen Fragen auseinander gesetzt. Wer ihn begleitete oder mit ihm sprach, spürte das. Doch darüber geschrieben hat er, der Vielschreiber, kaum je. Auch wenn viele Fragen zum Wesen des BM offen bleiben werden – seine Beziehungen zu den Eltern, den Geschwistern, den Schulkameraden und Lehrern sollten doch einige Rückschlüsse erlauben. Wie war Bruno als Kind?

«Er war schon als Bub ein besonderer Mensch», sagt Mutter Ida, mit einem feinen Lächeln um die Augen. Die nun 83-jährige Frau sitzt am Esstisch der Wohnung von Brunos Schwester Monika Niederberger-Manser in Aesch. Die beiden Frauen blicken für mich zurück in eine Vergangenheit, über die sich schon viele Schleier gelegt haben. Auf dem Tisch helfen alte Familienfotos und Schulaufsätze von BM die Erinnerungen zu beleben.

Ida Manser erzählt so, als sitze ihr verlorener Sohn neben ihr. Lebhaft und zärtlich, manchmal lachend und jeweils fragend zu Monika blickend, wenn sie sich an ein Detail nicht mehr so genau zu erinnern vermag. Eine bescheidene, in sich ruhende Frau, die sechs Kinder grossgezogen hat und wohl hin und wieder auch durchzugreifen verstand. Für BM ist sie eine der wichtigsten, wenn nicht gar die wichtigste Bezugsperson in seinem Leben. Nie habe sie auch nur ein schlechtes Wort über andere Menschen verloren, bemerkte er respektvoll Freunden gegenüber.

Ida akzeptiert ihn, wie er ist, diesen regelmässig aus der Reihe tanzenden Sohn. Selbst als er sein Leben aufs Spiel zu setzen beginnt. Keine sorgenvollen Blicke, keine Vorwürfe, keine Ermahnungen. Höchstens eine Bitte: «Trag dir Sorge.» Ida Manser muss intuitiv gespürt haben, dass sie nur so ihrem Wildfang eine gute Mutter sein konnte. Durch das weit gehende und wohl häufig auch schmerzhafte Akzeptieren dessen, was BM in seinem bewegten Leben machte, hat sich Ida im Herzen ihres Sohnes einen besonderen Platz gesichert. Wenn jemand wusste, wo BM auf dieser Welt steckte, dann war sie es, Mama Manser. Sie informierte er über fast alles, und ihr schrieb er besonders fleissig. «Er sagte mir ‹Mameli›, und auch seine Briefe und Postkarten aus Borneo begannen immer mit ‹Liebs Mameli›, erklärt Ida ohne spürbare Wehmut. BM adressierte seine Post nicht mit ‹Frau Ida Manser›, er schrieb einfach nur ‹Mameli Manser›.

BM hat mir seine Mutter erstmals 1997 vorgestellt. Es ging ihr schlecht damals. Doch anmerken liess sie sich nichts. Erich, ihr Gatte, war schwer erkrankt. Er litt an Krebs, lag zu Hause und liess sich von seiner Frau pflegen, die pausenlos den wechselnden Launen ihres todkranken Mannes ausgesetzt war. Sie stellte ihre Bedürfnisse völlig zurück und verliess die Wohnung an der lärmigen St. Jakobsstrasse in Basel nur noch zum Einkaufen. Eine finstere Wohnung, die ihr nie gefallen hatte. Weil aber Erich senior 1984 bei Wohnungswechsel nicht lange suchen wollte, wurde sie überstürzt ausgewählt und schnell bezogen. Ida Manser und die Kinder fügten sich.

Kurz bevor BM vor der Haustüre die Klingel drückte, gestand er mir, dass ihm die grenzenlose Selbstlosigkeit seiner Mutter Sorgen bereite. Als Ida die Türe öffnete, standen wir vor einer kleinen Frau mit gütigen Gesichtszügen. Mutter und Sohn umarmten sich, wir traten ein und nahmen auf dem Sofa Platz. Ida brachte uns etwas zum Trinken. In seinem Schlafzimmer musste Erich den Besuch gehört haben. Er stand trotz seiner Schmerzen auf und kam im Pyjama herüber, um uns zu begrüssen. BM erkundigte sich nach seinem Befinden, doch der hagere, sichtlich gezeichnete Vater wollte nicht über seinen Zustand sprechen; er verabschiedete sich nach kurzer Zeit und schlurfte ins Schlafzimmer zurück. Wieder unter uns, beschwor BM seine Mutter, sich selbst besser Sorge zu tragen und den Vater hin und wieder allein zu lassen, um Freundinnen besuchen oder wenigstens einen Spaziergang machen zu können. Anstelle einer Antwort schenkte sie ihrem Sohn ein Lächeln. Es wirkte hilflos. Für BM stand fest: Sie würde nicht aufhören, sich aufzuopfern.

Wenig später, 1998, wurde ihr Mann, der seinen Kindern ein strenger und prinzipientreuer Vater war, von seinen Leiden erlöst.

Weil BM sich eben wieder unbemerkt nach Sarawak eingeschlichen hatte, verschob die Familie die Bestattung um drei Wochen. Als BM in der Schweiz eintrifft, ist er es, der die Abdankungsrede hält.