China nach Mao - Frank Dikötter - E-Book

China nach Mao E-Book

Frank Dikötter

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Beschreibung

»Ein revolutionäres Buch« Sunday Times Frank Dikötter, der »Historiker des modernen Chinas«, hat das künftige Standardwerk zum Aufstieg Chinas zu der Supermacht des 21. Jahrhunderts vorgelegt. Eine mutige, facettenreiche Darstellung Chinas, das seine inneren Schwächen mit einer expansiven Wirtschafts- und Außenpolitik und aggressiven Maßnahmen in und außerhalb der Volksrepublik überdeckt. Frank Dikötter zeichnet den Weg Chinas zur Wirtschafts- und Weltmacht nach. Es handelt sich in der gesamten Geschichte um einen einzigartigen Aufstieg mit dem Ziel, der mächtigste und einflussreichste Staat der Welt zu werden. China aber ist ein Drache, der größer scheint, als er ist und weltweit Respekt erhalten will und daher nicht selten mit den Ängste vor seiner Größe spielt. Das Kernstück des Buchesbilden die Jahre des fulminanten Aufstiegs seit 1976, eine herausragende Darstellung, wie sie in den kommenden Jahren unter XI Jinping nicht mehr möglich sein wird, weil China zum Überwachungsstaat mutiert ist. China möchte sich abschotten, um seine Mängel zu kaschieren, dennoch autark werden und die Fäden der künftigen Welt- und Machtpolitik den USA aus den Händen nehmen. Dikötter stellt gleichhzeitig Stärken und Schwächen Chinas heraus – eine schonungslose Warnung vor der chinesischen Machtpolitik. Die eigentliche Weltmacht des 21. Jahrhunderts ist viel gefährlicher als bekannt, weil China seine Schwächen bewusst verschleiert. Ein Buch, das man heute lesen muss, um morgen nicht ähnliche Schrecken erleben zu müssen, wie derzeit mit Russland. »Der Historiker von China« Spectator »Ein pulsierender Bericht, der deutlich macht, wie wichtig es ist, unter die Oberfläche zu blicken, wenn es um irgendeine Periode oder Region in der Geschichte geht – aber vor allem um China.« Peter Frankopan,  Times Literary Supplement

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Seitenzahl: 806

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Cover for EPUB

Frank Dikötter

China nach Mao

Der Aufstieg der Supermacht

Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz

Klett Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»China after Mao. The Rise of a Superpower« im Verlag

Bloomsbury Publishing PLC, London, Oxford, New York

© Frank Dikötter, 2022

Für die deutsche Ausgabe

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von

© Bloomsbury Publishing/gettyimages

Karten im Buch © John Gilkes, 2022

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Printausgabe ISBN 978-3-608-98668-6

E-Book-Ausgabe ISBN 978-3-608-12183-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Karte

Vorwort

1 Von einem Diktator zum nächsten 1976–1979

2 Sparkurs 1979–1982

3 Reform 1982–1984

4 Von Menschen und Preisen 1984–1988

5 Das Massaker 1989

6 Wasserscheide 1989–1991

7 Kapitalistische Werkzeuge in sozialistischen Händen 1992–1996

8 »Big is Beautiful« 1997–2001

9 »Going Global« 2001–2008

10 Hybris 2008–2012

Epilog

Anhang

Dank

Anmerkungen

Vorwort

1 Von einem Diktator zum nächsten (1976–1979)

2 Sparkurs (1979–1982)

3 Reform (1982–1984)

4 Von Menschen und Preisen (1984–1988)

5 Das Massaker (1989)

6 Wasserscheide (1989–1991)

7 Kapitalistische Werkzeuge in sozialistischen Händen (1992–1996)

8 »Big is Beautiful« (1997–2001)

9 »Going Global« (2001–2008)

10 Hybris (2008–2012)

Epilog

Verzeichnis der Archive

Wichtigste nichtchinesische Archive

Provinzarchive

Gansu – Gansu sheng dang’anguan, Lanzhou

Guangdong – Guangdong sheng dang’anguan, Guangzhou

Hebei – Hebei sheng dang’anguan, Shijiazhuang

Hubei – Hubei sheng dang’anguan, Wuhan

Shandong – Shandong sheng dang’anguan, Jinan

Stadtarchive

Hangzhou – Hangzhou shi dang’anguan, Hangzhou, Zhejiang

Nanjing ich – Nanjing shi dang’anguan, Nanjing, Jiangsu

Schanghai – Schanghai shi dang’anguan, Schanghai

Tianjin – Tianjin shi dang’anguan, Tianjin

Wenzhou – Wenzhou shi dang’anguan, Wenzhou

Bibliographie (Auswahl)

Bildnachweise

Register

Tafelteil

Karte

Vorwort

Im Sommer 1985, als der Film Zurück in die Zukunft des Regisseurs Robert Zemeckis der größte Kassenschlager des Jahres wurde, machte ich mich als Student der Genfer Universität auf, um in China Mandarin zu studieren. Das chinesische Außenministerium(1) teilte mich der Nankai-Universität(1) in Tianjin(1) zu, einer großen Küstenmetropole in der Nähe von Peking mit einer Bevölkerung von fünf Millionen (heute ist die Stadt drei Mal so groß). Ich flog nach Hongkong, wo ich die Grenze überschritt. Dann nahm ich mir eine Woche Zeit für die Bahnreise nach Norden und schloss unterwegs Freundschaften. Ein Freund erinnerte sich nicht an meinen Nachnamen und schickte mir später eine Postkarte, adressiert an »Frank aus Holland, Tianjin, China«. Das Postamt hatte keinerlei Schwierigkeiten, mich aufzutreiben, denn es gab in der ganzen Stadt nur achtzig Ausländer, darunter sieben Holländer und einen Frank.

Wie alle großen Städte in China hatte auch Tianjin(2) ein Netz breiter Boulevards, die mit Hilfe sowjetischer Experten in den 1950er Jahren angelegt worden waren. Stau war ein Fremdwort: In dieser Nation von über einer Milliarde Menschen gab es nicht einmal zwanzigtausend private Fahrzeuge. Aber getrennt von den Bussen, den Lastwagen und dem einen oder anderen Auto, traten Scharen von Pendlern auf eigens ausgewiesenen Seitenstreifen gemächlich in die Pedale. Da sie schon beim ersten Morgengrauen aufstanden und noch vor Sonnenuntergang wieder heimfuhren, herrschte in der Stadt ab 21 Uhr eine Grabesstille. Manchmal hatte ich alle sechs Spuren für mich, wobei die Straßenlaternen mein Fahrrad nur schwach beleuchteten.

Anlässlich der Hundertjahrfeier der Nankai-Universität(2) kehrte ich im Oktober 2019 zurück. Tianjin(3) schien nun völlig verändert, die Skyline war von strahlenden Wolkenkratzern hell erleuchtet, das Stadtbild erstreckte sich weit, mit einer scheinbar endlosen Ansammlung von Apartmenthäusern und Bürogebäuden, teils fertiggestellt, teils noch im Bau. Wo man auch stand, bei klarem Himmel konnte man das Tianjin Finance Centre fast sechshundert Meter hoch in den Himmel aufragen sehen, dessen Glas wie eine gigantische Kristallnadel im Sonnenlicht glitzerte. Doch der Schein kann trügen. Meine ehemaligen Lehrer und deren Nachfolger lebten immer noch in den gleichen schäbigen Betonblöcken, deren Balkone mit Topfpflanzen vollgestellt waren; die Flure waren immer noch mit ramponierten Fahrrädern überfüllt, die für Fahrten auf dem Campus genutzt wurden. Es gab allerdings einen Unterschied, wurde mir gesagt: Die Kinder der meisten Professoren waren inzwischen in den Vereinigten Staaten.1

Vor nicht allzu langer Zeit hatte die Volksrepublik China offiziell den vierzigsten Jahrestag der »(1)(1)Reform- und Öffnungspolitik« gefeiert, wie man das von Deng Xiaoping(1) im Dezember 1978 eingeleitete Programm der (1)Wirtschaftsreformen nannte. Der rapide Wandel eines isolierten Landes, das noch unter dem Chaos der Kulturrevolution(1) litt, zur weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft wird durchweg als ein Wunder gepriesen. Der Untertitel eines akademischen Sammelbandes – How the Miracle Was Created – fasst die vorherrschende Auffassung zusammen. Einigen Experten bereitet offenbar weniger Kopfzerbrechen, ob man wirklich von einem Wunder sprechen kann, sondern ob es möglicherweise nun am Ende angelangt ist.

Aber woher wollten die Experten das wissen? Seit meinem Einzug in das Wohnheim vor 35 Jahren beobachtete ich, dass unzählige ausländische Studierende viel Zeit mit Spekulationen darüber verbrachten, was in Peking vor sich ging. Einige davon wurden zu China-Beobachtern. Ihre Methode schauten sie sich bei den Kreml-Beobachtern ab: In Ermangelung verlässlicher (1)Informationen zogen sie notgedrungen die abstrusesten Rückschlüsse auf Indizien bezüglich Zhongnanhai(1), dem Hauptquartier der Partei unmittelbar neben der (1)Verbotenen Stadt in Peking. Dazu gingen sie von der Position aus, die die jeweiligen Parteiführer auf der Tribüne bei Paraden auf dem (1)Tiananmen-Platz(1)(1) (Platz des Himmlischen Friedens) einnahmen, oder vom Layout der Berichte in der Volkszeitung Renmin Ribao(1) oder auch von der Häufigkeit bestimmter Wendungen im Rundfunk. Ich war skeptisch und zog es vor, die Vergangenheit zu erforschen.

Ich bin immer noch skeptisch. Entgegen den Annahmen, die man nach vierzig Jahren »(2)R(2)eform und Öffnung« erwarten sollte, unterscheidet sich die Situation heute gar nicht so sehr von früher. Vor einigen Jahren bezeichnete Li Keqiang(1), der seit März 2013 amtierende Ministerpräsident Chinas, die Zahlen für die Inlandsproduktion als »von Menschen gemacht und deshalb unzuverlässig«. Experten wissen das natürlich und finden Wege, das zu umgehen. Es gibt beispielsweise einen »Li-Keqiang-Index(1)«, den der Regierungschef selbst benutzt, um die Wirtschaftsleistung zu überwachen, indem er den Gesamtstromverbrauch untersucht. Es bleibt jedoch eine Tatsache, dass wir sehr wenig wissen. Wie der China-Beobachter James Palmer(1) unlängst meinte: »Kein Mensch weiß irgendetwas über China: einschließlich der chinesischen Regierung.«[1] Selbst das kleinste Puzzleteilchen an Information(2) ist unzuverlässig, unvollständig oder verzerrt. Wir kennen nicht die wahre Größe der chinesischen Volkswirtschaft, weil keine lokale Verwaltung jemals korrekte Zahlen meldet, und wir kennen nicht das genaue Ausmaß fauler Kredite(1), weil die Banken(1) diese verheimlichen. Jeder gute Forscher hat ständig das Paradox von Sokrates im Kopf: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber mit Blick auf China wissen wir nicht einmal, was wir nicht wissen.

Unmittelbar gegenüber dem Nordtor der Nankai-Universität(3), auf der anderen Seite einer verstopften, achtspurigen Durchgangsstraße, beherbergt ein großes, höhlenartiges Gebäude, das von jungen Soldaten bewacht wird, das Stadtarchiv von Tianjin(4). Während meiner Zeit als Student wäre der Zutritt undenkbar gewesen. Aber im Jahr 1996 wurde das Gesetz, das den Zugang zu Archiven regelte, geändert und immer mehr frei gegebene Quellen wurden schrittweise Historikern zugänglich gemacht, die ein Empfehlungsschreiben vorweisen konnten. Auch wenn die sensibelsten Informationen immer noch sicher in den Archivgewölben verwahrt blieben, wurde es immerhin zum ersten Mal Forschern gestattet, tief in die Finsternis der Mao-Ära einzutauchen.

Ein ganzes Jahrzehnt lang studierte ich Tausende von Parteiunterlagen, reiste kreuz und quer durch das Land, vom subtropischen Guangdong(1) bis in das (1)arme und trockene Gansu, eine Provinz in der Nähe der mongolischen Wüsten. In gelben Aktenordnern fanden sich, von Hand geschrieben oder sauber abgetippt, geheime Protokolle hoher Parteiversammlungen, Ermittlungen in Fällen des Massenmordes, Geständnisse von Parteiführern, die für den Hungertod von Millionen Dorfbewohnern verantwortlich waren, Berichte über den Widerstand auf dem Land, vertrauliche Meinungsumfragen, Beschwerdebriefe einfacher Bürger und vieles mehr. Ich schrieb drei englischsprachige Bücher, die sogenannte »People’s Trilogy«, über das Schicksal der einfachen Menschen unter Mao.

Der Zeitpunkt war günstig. Nach Xi Jinping(1)s Aufstieg an die Macht im November 2012 wurden die Archive wieder eins nach dem anderen geschlossen. Ganze Stapel von Quellen zu »(1)Maos (1)Großem Hunger(1)« und zur Kulturrevolution(2) wurden seither wieder zur Verschlusssache erklärt. Aber paradoxerweise waren die letzten Jahre eine gute Phase für die Erforschung der Jahrzehnte der »(3)R(3)eform und Öffnung«. Denn jahrelang hatte man dem chinesischen Volk, einschließlich jedem Archivar, eingebläut, dass sich nach 1978 nichts Geringeres als ein Wirtschaftswunder(1) ereignete, ein Wunder, das ausländischen (1)Kapitalisten den Atem verschlug. Die Mao-Ära wird von einer finsteren Wolke verhüllt, doch diese löst sich in dem Moment auf, wo von »Wirtschaftsreform« die Rede ist. Inzwischen können wir, zum ersten Mal, tatsächlich die von der (1)Kommunistischen Partei hinterlassenen Quellen nutzen, um die Geschichte der Partei seit 1976 zu untersuchen.

Jeder (1)demokratische Staat verfügt über eine Flut an Bestimmungen und Regeln, die festlegen, welche amtlichen Dokumente freigegeben und wann sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden dürfen. In der Theorie halten sich die meisten an eine 30-Jahre-Regel. Jedes Jahr um die Weihnachtszeit erwarten Leser im britischen National Archives in Kew sehnsüchtig den neuesten Stapel freigegebener Quellen aus dem Büro des Premierministers oder aus dem britischen Inlandsgeheimdienst MI5 (Military Intelligence, Section 5). In der Praxis schieben jedoch Regierungsbehörden auf der ganzen Welt eine Vielfalt an Ausnahmebestimmungen vor, um Millionen von Dokumenten der Einsicht zu entziehen.

Das Gesetz in der Volksrepublik China enthält ebenfalls eine 30-Jahre-Regel; somit sollten Leser im Prinzip imstande sein, Quellen bis zum Jahr 1992 zu konsultieren. Aber China ist keine Demokratie(2), sondern eine Diktatur(1). Und wie die Regeln angewandt werden, wird häufig lokal entschieden. Als Folge weicht der Zugang zu den Dokumenten von Ort zu Ort ab. In manchen Archiven wird kein Außenstehender jemals auch nur an dem Pförtner am Eingang vorbei kommen, weil selbst ein nichtssagender Zeitungsausschnitt wie ein (1)Staatsgeheimnis behandelt wird, während in anderen Archiven jede Quelle vor dem Jahr 1949, als die (2)Kommunisten ihren großartigen Sieg feierten, als tabu gilt. Andererseits sind einige Archive, die über dieses riesige Land von der Größe eines Kontinents verstreut sind, verblüffend offen. Hier und da erlaubt ein lokales Archiv einem Teil der Leser, eine breite Auswahl an Primärquellen bis zum Jahr 2009 genau zu prüfen, also weit über die 30-Jahre-Regel hinaus.

Meine Darstellung stützt sich auf grob geschätzt 600 Dokumente aus gut einem Dutzend von Stadt- und Provinzarchiven, aber sie greift auch auf herkömmlichere Primärquellen zurück, von Zeitungsartikeln bis hin zu unveröffentlichten Memoiren. Allen voran sind hier die geheimen Tagebücher von Li Rui(1) zu nennen, der (2)Maos Privatsekretär wurde, zwanzig Jahre im Gefängnis verbrachte, weil er im Jahr 1959 einmal von einer Hungersnot(2) gesprochen hatte, und wenige Jahre nach dem Tod(1) des Vorsitzenden 1976 aufgefordert wurde, in das Zentralkomitee(1) einzutreten. Viele Jahre lang war er Vizedirektor der Organisationsabteilung(1) (des Orgbüros im Sowjetjargon), eines Zweigs der Partei, der für die Überprüfung und Ernennung von Parteimitgliedern auf jeder Ebene der Regierung zuständig war. Er wurde ein echter Demokrat, nachdem er das System bis ins Innerste kennengelernt hatte, aber im Jahr 2004 erhielt er ein Publikationsverbot. Seine Tagebücher reichen bis ins Jahr 2012 und dokumentieren sehr detailliert seine Gespräche mit hohen Parteimitgliedern. Historiker leben selbstverständlich nicht nur von Quellen, sondern auch von der richtigen Perspektive: Wenn beides schwierig wird, ist es klug, sich zurückzuziehen und andere die Fortsetzung schreiben lassen. Für mich liegt dieser Moment im Jahr 2012, als Li Rui sein Tagebuch schließt und Xi Jinping(2) ins Rampenlicht tritt.

Eine Fülle bislang nicht zugänglicher Quellen gestattet es uns, einige verbreitete Annahmen über die Ära der »(4)R(4)eform- und Öffnungspolitik« zu überprüfen. Jahrzehntelang machte ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Politikern, Unternehmern und Experten uns weis, die Volksrepublik sei im Begriff, ein verantwortungsvoller Akteur, womöglich sogar eine blühende Demokratie(3) zu werden. Eine politische Reform werde so sicher wie das Amen in der Kirche(1) auf die Wirtschaftsreform folgen. Dabei hat sich zu keinem Zeitpunkt irgendein Parteiführer jemals für eine Gewaltenteilung(1) ausgesprochen. Im Gegenteil, der Erhalt des Machtmonopols wurde wiederholt als das alles überragende Ziel der (5)Wirtschaftsreform bezeichnet. Zhao Ziyang(1), der bis heute als die vielversprechendste Figur innerhalb der Partei gefeiert wird, sagte etwa im Oktober 1987 vor dem Parteitag(1): »Wir werden niemals die Gewaltenteilung und das Mehrparteiensystem des Westens kopieren.« Wenige Monate zuvor hatte er Erich Honecker(1), dem Staats- und Parteichef in Ostdeutschland(1), erklärt: »Wenn die Menschen in der Praxis die Überlegenheit des Sozialismus(1) erleben können, im Laufe der Entwicklung unserer Gesellschaft die Erhöhung des (1)Lebensstandards und die Steigerung der Arbeitsproduktivität, dann kann der Platz für die Liberalisierung langsam immer mehr verkleinert werden.« Immer wieder haben darauffolgende Führer die gleiche Botschaft wiederholt. Im Jahr 2018 warnte Xi Jinping(3): »China darf niemals andere Länder kopieren«, schon gar nicht die »Unabhängigkeit der Justiz(1)« und die »Gewaltenteilung« des Westens.[2]

In den letzten zwei oder drei Jahren haben etliche Beobachter ein wenig spät ihre Ansichten geändert und rechnen nicht länger damit, dass die (3)Kommunistische Partei Chinas stetige Fortschritte in Richtung Demokratie(4) machen werde. Aber viele sind immer noch davon überzeugt, dass es in der Vergangenheit eine echte Wirtschaftsreform mit einem konzertierten Wechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft(1), von Staatsbesitz zu privatem Unternehmertum gegeben habe. Man muss sich jedoch fragen, ob man, ungeachtet der offiziellen Propagandaverlautbarungen aus Peking, überhaupt von einer »Wirtschaftsreform« sprechen kann. Was wir bislang erlebt haben, ist allenfalls Flickschusterei an einer Planwirtschaft(1). Wie könnte man sonst die Tatsache erklären, dass die Partei weiter darauf besteht, (1)Fünfjahrespläne(2) aufzustellen? Noch wichtiger, seit 1976 hat die Partei weiterhin den Besitz der gesamten Industrie und der meisten großen Unternehmen behalten. Bis heute gehört das Land dem Staat, ein großer Teil der Rohstoffe ist in staatlichem Besitz, wichtige Industriezweige werden direkt oder indirekt vom Staat kontrolliert, und die Banken(2) sind Staatseigentum. Nach klassisch (1)marxistischer Lesart bleiben die »Produktionsmittel« in den Händen der Partei. Eine Wirtschaft, in der die Produktionsmittel vom Staat kontrolliert werden, wird für gewöhnlich als eine sozialistische Wirtschaft bezeichnet.

Kein einziges Mal nach 1989 zogen die Parteiführer auch nur in Betracht, ihre Volkswirtschaft einem echten (2)marktwirtschaftlichen Wettbewerb zu öffnen. Der Grund war einfach: Sie wussten, dass ihre Volkswirtschaft im selben Moment, in dem sie das taten, zusammenbrechen würde. Immer wieder haben sie, wie die Quellen zeigen, sich größte Mühe gegeben, den privaten Sektor zu beschränken und stattdessen staatliche Unternehmen(1) zu vergrößern. Sie sind von der Überlegenheit des sozialistischen Systems fest überzeugt, was unzählige Äußerungen in der Öffentlichkeit und hinter verschlossenen Türen belegen. Nachdem eine Traube von Dörfern in Shenzhen(1), unmittelbar hinter der Grenze zu Hongkong, im Jahr 1980 zur ersten Sonderwirtschaftszone(1) des Landes umgewandelt worden war, stellte Zhao Ziyang(2) klar: »Was wir einrichten, sind Sonderwirtschaftszonen, keine Sonderpolitikzonen, wir müssen am Sozialismus(2) festhalten und dem Kapitalismus(2) trotzen.«[3]

Knapp vierzig Jahre später gehören 95 der hundert führenden Privatunternehmen gegenwärtigen oder ehemaligen Parteimitgliedern. Im Kapitalismus(3) dreht sich alles ums Kapital: Geld ist eine wirtschaftliche Ware, die den Regeln der Renditen und Gewinnspannen unterliegt. Doch in China ist Kapital eine politische Ware geblieben, von den Staatsbanken an Unternehmen verteilt, die direkt oder indirekt vom Staat zur Verfolgung politischer Ziele kontrolliert werden. Ein Markt basiert hingegen hauptsächlich auf dem Austausch von Waren zwischen Individuen. Wie kann der Besitz dieser Waren ohne eine unabhängige Justiz(2) geschützt werden, die auf der Gewaltenteilung(2) basiert? Jahrelang haben Kritiker dies beklagt, während Bewunderer den angeblichen »Übergang« zum »Kapitalismus« in der Volksrepublik beklatschten. Aber wenn dieses Buch etwas beweist, dann ist es die Tatsache, dass eine (6)Marktreform ohne politische Reform keinen Bestand haben kann. Die Diskussion darüber, ob der Handel »frei« sein könne oder sollte, geht an der Hauptsache vorbei, nämlich, dass ein Markt ohne Rechtsstaatlichkeit, gestützt auf eine unabhängige Justiz und eine freie und offene Presse, überhaupt kein richtiger Markt ist. Ohne politische Freiheit gibt es keine wirtschaftliche Freiheit. Die Politik bestimmt das Wesen der Wirtschaft, nicht umgekehrt. In der Politik geht es um Macht und darum, was man damit anfängt: Sollte sie unter verschiedenen Institutionen, mit gegenseitigen Kontrollmöglichkeiten, einer zunehmend komplexen Zivilgesellschaft und unabhängigen Medien, um Missbrauch einzuschränken, aufgeteilt werden, oder sollte sie in den Händen einer Person oder einer einzigen Partei konzentriert werden? Ersteres nennt man eine Demokratie(5), letzteres eine Diktatur(2).

Diktaturen sind, genau wie Demokratien, nicht in der Zeit eingefroren. Sie passen sich unablässig an eine sich verändernde Welt an. Mosambik(1) beschloss beispielsweise im Jahr 1982, eine Annäherung an den Westen anzustreben, indem es ein Jahr später die Wirtschaft dezentralisierte und dadurch ermöglichte, dass Familienbetriebe anstelle von Sowjet-Wirtschaften aufblühen konnten. Multinationale Konzerne wurden aufgefordert, zusammen mit der Regierung Joint Ventures(1) zu gründen oder Aufträge anzunehmen. Samora Machel(1), ein Sozialist in der Tradition des Marxismus(2)-Leninismus(1), der sein Land 1975 in die Unabhängigkeit geführt hatte, wandelte sich zu einem Handelsvertreter für Mosambik mit dem gleichen Elan, der ihn zu einem erfolgreichen Guerillaführer gemacht hatte. Er hofierte und begrüßte leitende Unternehmensvertreter aus der ganzen Welt, indem er lukrative Geschäfte auf der Basis billiger Arbeitskräfte anbot, die nicht einmal ein Streikrecht hatten. Mosambik war kaum ein Einzelfall. Eine ganze Reihe von Diktaturen, von Dahomey bis nach Syrien(1), schlossen eine ähnliche Wette ab: Um den wirtschaftlichen Zusammenbruch zu verhindern, setzten sie darauf, dass private (1)landwirtschaftliche Flächen, kleine, städtische Privatbetriebe und ausländische Beteiligungen ihre politische Macht nicht untergraben würden. Barry Rubin, der diese Regimes ausführlich beschrieb, nannte sie »moderne Diktatoren«. Dabei handelt es sich um »Wald-und-Wiesen-Diktatoren«, die man für gewöhnlich im Gegensatz zu einer anderen Unterkategorie, nämlich den »traditionellen Diktatoren« einstuft.[4]

Gelegentlich heißt es, dass die Effizienz eines Staates wichtiger als die Rechenschaftspflicht sei. Das ist eine zweifelhafte Behauptung. Anstelle einer geordneten Machtübergabe bekommen wir in der Volksrepublik erbitterte Verleumndungen und Machtkämpfe zwischen endlos wechselnden Fraktionen zu sehen. Die meisten Funktionäre des Landes haben keine Ahnung von den Grundlagen der Wirtschaft und konzentrieren sich fast schon besessen auf eine einzige Kennziffer: Wachstum, häufig auf Kosten der Entwicklung. Das Ergebnis ist Verschwendung in einem gigantischen Ausmaß. Beispielsweise kommt es nicht selten vor, dass Staatsbetriebe den Wert mindern, was zur Folge hat, dass die Rohmaterialien, die sie verwenden, einen höheren Wert als die Fertigwaren haben, die sie produzieren. Vor allem verfügt ein Einparteienstaat, was ein wenig paradox erscheint, nicht über die Instrumente, um die Wirtschaft zu kontrollieren. Entscheidungen werden von lokalen Verwaltungen getroffen, häufig ohne Rücksicht auf das Allgemeinwohl, von den Anweisungen aus Peking ganz zu schweigen.

Hat sich das Land in der Ära der »(7)Reform und Öffnung« tatsächlich geöffnet? Verglichen mit der Phase der Kulturrevolution(3) definitiv. Aber in Relation zum Rest der Welt kaum. Was das Regime im Lauf der letzten vier Jahrzehnte aufbaute, ist ein relativ isoliertes System, das imstande ist, das Land von anderen Ländern abzugrenzen. Offenheit setzt voraus, dass es eine Bewegung von Menschen, Ideen, Waren und Kapital gibt. Doch der Staat kontrolliert alle diese Ströme, die häufig nur in eine Richtung fließen dürfen. Millionen von Menschen dürfen ausziehen, im Rest der Welt leben und arbeiten, aber nur sehr wenige Ausländer ziehen ein. Nach vierzig Jahren der »(5)Reform und Öffnung« hat China nicht einmal eine Million ansässige Ausländer, das sind ungefähr 0,07 Prozent der Gesamtbevölkerung, der niedrigste Anteil aller Länder, nicht einmal die Hälfte des Anteils in Nordkorea(1). (Japan(1), das häufig als »(1)fremdenfeindliches« Land verschrien ist, hat 2,8 Prozent.) Fertige Produkte dürfen in enormen Mengen China verlassen, aber vergleichsweise wenige dürfen tatsächlich importiert werden. Heute darf ein Fünftel der Menschheit gerade mal 36 ausländische Filme ansehen, die vom Staat genehmigt wurden. Kapital kann ins Land kommen, aber es ist schwierig, es wieder abzuziehen, weil es von einem Regime gehortet wird, das drastische Kapitalkontrollen verhängt. Wie die Archive sehr detailliert enthüllen, wurden seit 1976 unzählige Regeln, Bestimmungen, Sanktionen, Boni, Abzüge, Subventionen(1) und Anreize in Kraft gesetzt, um ein Umfeld zu schaffen, das wohl das unfairste Spielfeld der modernen Geschichte sein dürfte.

Zweifellos gab es echtes Wirtschaftswachstum. Wie könnte es auch anders sein, wenn sich ein Land von jahrzehntelangen, von Menschenhand geschaffenen Katastrophen erholt? Aber noch im Juni 2020 erschien es vielen Beobachtern als eine Offenbarung, als Li Keqiang(2), der Schöpfer des gleichnamigen »Li-Keqiang-Index(2)es«, beiläufig die Bemerkung fallen ließ, dass in einem Land, wo sogar auf dem Land die Lebenshaltungskosten untragbar sind, rund 600 Millionen Menschen mit nicht einmal 140 Dollar im Monat auskommen müssen.[5] In Wahrheit(1) ist alles nicht so, wie es scheint. Eine außergewöhnliche Genügsamkeit unter der einfachen Bevölkerung auf der einen Seite und ein vom Staat kontrollierter exorbitanter Reichtum auf der anderen existieren nebeneinander. Wenn Parteimitglieder für den Staat arbeiten, übernimmt ihr Arbeitgeber die Kosten für Unterkunft, Auto, Erziehung(1) der Kinder, Auslandsreisen und vieles mehr. Einfache Leute hingegen haben kaum eine Alternative als ihre Ersparnisse bei staatlichen Banken(3) anzulegen. Der Staat benutzt diese Einlagen wiederum, um für die Vorzüge des Sozialismus(3) zu werben, indem er hoch aufragende Wolkenkratzer und Hochgeschwindigkeitszüge, neue Flughäfen und endlose Autobahnen baut. Außerdem benutzt er das Geld, um Staatsbetriebe über Wasser zu halten. Dank der Finanzrepression ist der Anteil der einfachen Leute am Bruttoinlandsprodukt in China der niedrigste von allen Ländern in der jüngsten Zeitgeschichte. Auf Chinesisch gibt es dafür ein passendes Sprichwort: »Der Staat ist reich, das Volk ist (2)arm.«

Der Staat und seine Banken(4) können, praktisch ohne Rechenschaft ablegen zu müssen, Geld ausgeben oder leihen und verschwenden es in gigantischem Ausmaß, sodass sie einen stetig wachsenden Schuldenberg anhäufen, wenn auch einen sorgfältig verborgenen. Aber wie schlimm ist die Lage? Wir wissen es nicht und erfahren es womöglich nie, weil selbst die Erbsenzähler, die der Staat beschäftigt, um sorgfältig in den Archiven versteckte Berichte über die Schulden(1) zu schreiben, nicht alles sehen können, was sich unter der Oberfläche abspielt. Viele Menschen sind Meister des äußeren Scheins. Verdunkelung gibt es auf jeder Ebene der Hierarchie, mit fingierten Aufträgen, falschen Kunden, erfundenen Verkaufszahlen und grassierendem Buchhaltungsbetrug. Wie könnte das auch anders sein ohne Gewaltenteilung(3), und deshalb ohne unabhängige Presse oder unabhängige Rechnungsprüfung, ganz zu schweigen von gewählten Regierungsvertretern, die ihrer Wählerschaft Rechenschaft schuldig sind? In regelmäßigen Abständen werden Kampagnen gegen Korruption(1) gestartet. Das fing bereits mit dem Moment an, als die Partei 1949 an die Macht kam, aber weil die Korruption systemimmanent ist, kann sie nur zeitweilig abgeschwächt, nicht ausgemerzt werden. Wiederholt kommt die Führung zusammen, um den Notstand auszurufen, und fordert einen Stopp beim Bau von Infrastruktur. Gleichzeitig befehlen sie Unternehmen, die Ausgaben einzuschränken.

Ungefähr ein Fünftel aller Akten in den Parteiarchiven befassen sich mit Schulden(2), mit Krediten(2), um die Schulden zurückzuzahlen, weiteren Schulden aufgrund der Kredite(3) und weiteren Krediten(4), um eine noch größere Schuld zu tilgen. Boom(1) und Pleiten sind angeblich Merkmale des Kapitalismus(4), doch die Situation in der Volksrepublik gleicht viel mehr einem Boom(2) und einer endlos verschleppten Pleite. Die Partei hat enorme Vermögenswerte zur Verfügung, nicht zuletzt die Ersparnisse des einfachen Volkes und einen stetigen Strom ausländischer Investitionen. Sie hat immer größere Geldsummen in großartige Projekte verschleudert, unabhängig von der Kapitalrendite, geschweige denn von faulen Darlehen. Wenn die Volkswirtschaft schneller als die Schulden wächst, werden die Schulden aufgefangen, aber die Schulden wachsen unablässig schneller als die Wirtschaft. Wie Xiang Songzuo(1), ein Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Renmin-Universität in Peking und ehemaliger Vizedirektor der (1)Chinesischen Volksbank, im Jahr 2019 erklärte: »Im Grunde ist Chinas Wirtschaft ganz auf Spekulation aufgebaut, und alles ist überbewertet.«[6]

In jeder Diktatur(3) haben vom Führer getroffene Entscheidungen erstaunliche, unbeabsichtigte Konsequenzen. Die Ein-Kind-Politik(1) sollte das Bevölkerungswachstum(1) begrenzen: Inzwischen besteht ein enormer Überhang an Männern gegenüber Frauen, während die Zahl der Arbeitskräfte des Landes schrumpft. Viele vom Regime durchgesetzte Direktiven zeitigen ebenso unvorhergesehene Ergebnisse, weil in der ganzen Hierarchie so viele Parteimitglieder versuchen, die Befehle von oben umzuleiten, zu verzögern oder einfach zu ignorieren. Nach 1978 gab die Zentralregierung mehr Macht an lokale Verwaltungen ab, weil sie hoffte, das werde diese anspornen, mehr wirtschaftliche Anreize einzuführen, aber die lokalen Verwaltungen stellten sich einfach schützend vor ihre Pfründe und errichteten Barrieren, um einen Wettbewerb zu verhindern. Anstelle einer integrierten Volkswirtschaft mit mehreren großen Stahlwerken wollte jedes Dorf, jede Klein- und Großstadt ein eigenes Stahlwerk haben, sodass in einer einzigen Provinz Hunderte Seite an Seite existierten und dem Staat die spärlichen Ressourcen entzogen.

Eine lokale Verwaltung hat einen lokalen Parteisekretär: Er, und nicht der Markt, ist der Mann (in ganz wenigen Fällen die Frau), der Kapital verteilt, noch dazu auf eine Art, die seinen eigenen politischen Einfluss möglichst steigert. Selbst wenn die lokale Wirtschaft bankrottgeht, weiß er, dass er damit rechnen kann, dass die Zentralbank ihm aus der Klemme hilft. Denn das Regime fürchtet nichts mehr als »soziale Instabilität«, d. h. einen Ansturm auf die Banken(5) und Arbeiter auf den Straßen.

Das Bild, das sich aus den Archiven ergibt, ist nicht das einer Partei, die eine klare Vision hat, wie sie das Land zum Wohlstand führt. China gleicht einem Tanker, der aus der Ferne eindrucksvoll in tadelloser Ordnung scheint, mit dem Kapitän und seinen Leutnants stolz auf der Brücke, während unter Deck die Matrosen verzweifelt Wasser pumpen und ein Leck nach dem anderen stopfen, um das Gefährt seetauglich zu halten. Es gibt keinen »Masterplan«, keine »Geheimstrategie«, sondern eine Fülle nicht vorhersagbarer Ereignisse, unvorhergesehener Konsequenzen und abrupter Kurswechsel, sowie endloser Machtkämpfe hinter den Kulissen. All dies führt, da bin ich mir sicher, zu einer besseren Geschichte.

1 Von einem Diktator zum nächsten 1976–1979

Eine riesige Steinwüste namens Tiananmen-Platz(2)(2) (Platz des Himmlischen Friedens) liegt im Herzen von Peking. Im Jahr 1976 war sie der weltweit größte gepflasterte Freiraum, auf dem ohne Weiteres eine Million Menschen Platz fanden. Sie war nach dem Tor des Himmlischen Friedens(1) benannt, dem südlichen Eingang zur (2)Verbotenen Stadt, einem weitläufigen Komplex alter Pavillons, Höfe und Paläste, der einst den Kaisern der Ming- und Qing-Dynastien(1) als Refugium gedient hatte. Das T-förmige Areal vor dem Tor des Himmlischen Friedens bildete seit Jahrhunderten einen Teil des Zugangs zum Kaiserthron, war aber ursprünglich viel kleiner gewesen. Nicht lange nachdem die (4)Kommunistische Partei Chinas das Land 1949 erobert hatte, befahl Mao Zedong(3), den Platz so weit zu vergrößern, dass er »eine Milliarde Menschen« aufnehmen konnte. Mehrere kaiserliche Tore wurden abgerissen, mittelalterliche Bauten und Abschnitte der umlaufenden Stadtmauer geschleift, dem Erdboden gleich gemacht. Die Größe des Platzes wurde vervierfacht, sodass ein riesiges, leeres Betonareal von der Größe von sechzig Fußballplätzen entstand. Der Chang’an Boulevard, der an der Oberseite des Platzes von Ost nach West verläuft, hatte im Jahr 1924 eine Straßenbahn erhalten, war jedoch eine schmale Durchgangstraße geblieben. Schrittweise wurde er zu einer achtspurigen Hauptverkehrsader erweitert, die sich bis weit über die Innenstadt hinaus erstreckt. Im Oktober 1959, anlässlich des zehnten Jahrestags der Revolution, wurden auf der westlichen Seite des Platzes die »Große Halle des Volkes(1)«, auf der östlichen das Museum für chinesische Geschichte(1) eröffnet. In der Mitte wurde ein Denkmal für die Volkshelden(1) errichtet, ein gut 37 Meter hoher Obelisk aus Granit, der den traditionellen Zugang zum Palast von Nord nach Süd blockierte. Die Hauptachse der Stadt wurde gedreht und wird nunmehr von der Kreuzung des Chang’an Boulevard mit dem (3)Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen) dominiert.[1]

Unter dem Kaiser waren keine Demonstrationen erlaubt gewesen, doch nach dem Sturz der Qing im Jahr 1911 erlangte das Areal vor dem Tor des Himmlischen Friedens(2) schon bald eine weit größere politische Bedeutung. Im Jahr 1925, als die »Nationale Volkspartei Chinas(1)«, die Kuomintang(1), das Land regierte, wurde ein großes Porträt des Gründungsvaters Sun Yat-sen(1) (1866–1925) über dem Tor aufgehängt, das 1945 durch ein Bild seines Nachfolgers Chiang(1) Kai-shek (1887–1975) ersetzt wurde. Am 1. Oktober 1949, nachdem Chiangs Truppen gezwungen waren, nach Taiwan(1) zu flüchten, und die Volksrepublik China ausgerufen wurde, hängte man stattdessen ein Porträt Mao Zedong(4)s (1893–1976) auf.

Demonstranten nahmen ebenfalls bisweilen den Platz in Beschlag. Im Jahr 1919, während der »(1)Bewegung des Vierten Mai(1)«, versammelten sich gut viertausend Studierende, um gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrag(1)s zu demonstrieren, der ehemalige deutsche Konzessionen in China an Japan(2) übertrug, einen Verbündeten der Siegermächte im Ersten Weltkrieg. Die Bewegung erschütterte das ganze Land, als Demonstranten zu einem Boykott japanischer Waren aufriefen. Ganz allgemein forderten sie auch Wissenschaft und Demokratie(6). Im Jahr 1912, als China die erste Republik Asiens geworden war, hatte eine Wählerschaft von vierzig Millionen Menschen für dreißigtausend Wahlmänner gestimmt, die wiederum Mitglieder der Nationalversammlung und des Abgeordnetenhauses wählten. Die Hoffnungen auf eine bessere Volksvertretung hatten sich in den folgenden Jahren jedoch zerschlagen, und nunmehr verlangten Demonstranten, dass ihr Land unter der Ägide von »Herrn Wissenschaft« und »Herrn Demokratie« in das moderne Zeitalter überführt werde, anstelle von Konfuzius(1), des betagten Weisen, der symbolisch für die alte kaiserliche Ordnung stand.[2]

Es gab weitere Demonstrationen auf dem Platz, die zum Teil gewaltsam niedergeschlagen wurden. Am 18. März 1926 wurde der Militärpolizei befohlen, Demonstranten zu zerstreuen, die Parolen gegen den Imperialismus skandierten. Bei den anschließenden Zusammenstößen kamen 47 Menschen ums Leben. Die Empörung der Bevölkerung über das Blutbad war so stark, dass sich das Parlament gezwungen sah, das Vorgehen in einer Resolution zu verurteilen. Einen Monat später wurde die Regierung gestürzt. Lu Xun(1) (1881–1936), der berühmte Schriftsteller des Landes, nannte die Zusammenstöße den »finstersten Tag seit der Gründung der Republik«.[3]

Während der ganzen republikanischen Ära war die Sehnsucht nach Demokratie(7) so stark verbreitet, dass sich auch die (5)Kommunisten gezwungen sahen, diese Botschaft aufzugreifen. Die Kommunistische Partei Chinas wurde im Jahr 1921 gegründet, aber mehrere Jahre lang beschränkte sich die Mitgliederzahl auf nur einige Hundert. Im Januar 1940 verfassten Mao Zedong(5) und sein Ghostwriter Chen Boda(1), ein gelehrter, aber ehrgeiziger junger Mann, der in Moskau ausgebildet worden war, die Schrift »Über die neue Demokratie«. Das Traktat versprach ein Mehrparteiensystem, demokratische Freiheiten und den Schutz des Privateigentums. Es war ein völlig fiktives Programm, aber es übte eine allgemeine Anziehungskraft aus, denn in den folgenden Jahren traten Tausende von Studierenden, Lehrenden, Künstlern, Schriftstellern und Journalisten(1) in die Kommunistische Partei ein, angelockt von der Vision einer demokratischeren Zukunft.

Nach 1949 wurden die Versprechen von »Über die neue Demokratie(8)« eines nach dem anderen gebrochen. Sämtliche Organisationen, die außerhalb der Reichweite der Kommunistischen Partei agierten – Gewerkschaften, Studentenverbände, unabhängige Handelskammern, Vereine –, wurden in den ersten Jahren des neuen Regimes abgeschafft. Eine literarische Zensur(1) sorgte dafür, dass sich Künstler und Schriftsteller den Diktaten der Partei fügten. Bereits im Jahr 1950 wurden Bücher, die als unerwünscht galten, auf riesigen Scheiterhaufen verbrannt oder tonnenweise eingestampft. Im Jahr 1956 wurden der gesamte Handel und die Industrie zu Ablegern des Staates, weil die Regierung kleine Geschäfte, private Unternehmen und große Industriebetriebe allesamt enteignete. Im Sommer 1958 wurden die Menschen auf dem Land in riesige Kollektivbetriebe(1), sogenannte Volkskommunen(1), getrieben. Das Land wurde den Bauern weggenommen, die zu Leibeigenen des Staates wurden.[4]

Protestdemonstrationen wurden verboten, doch der Tiananmen-Platz(4)(3) blühte als die neue politische Schaubühne des Landes auf. Zwei Mal im Jahr wurden auf dem Platz sorgfältig choreografierte Paraden veranstaltet, bei denen Soldaten, Reiterei, schwere Panzer und Panzerwagen wie mit einem Uhrwerk aufgezogen vor dem Vorsitzenden vorüber defilierten, der von der Tribüne auf dem Tor des Himmlischen Friedens(3) aus zusah. Während der Kulturrevolution(4) grüßte der Große Steuermann bei regelmäßigen Massenkundgebungen gut zwölf Millionen Rotgardisten(1), die begeistert Mao-Bibel(1)n schwenkten.

*

Einmal übernahm das Volk die Kontrolle über den Platz. Im Jahr 1976 fiel das Qingming(1)-Fest(1), auch als Totengedenkfest bekannt, an dem sich Familien traditionell versammeln, um Gräber zu fegen, Grabsteine auszubessern und für die verstorbenen Angehörigen Blumen niederzulegen, auf einen Sonntag, den 4. April. Hunderttausende strömten auf den Platz und legten zu Ehren Zhou Enlai(1)s Kränze um den Sockel des (2)Denkmals für die Volkshelden. Der Regierungschef war einige Monate zuvor, am 8. Januar 1976, gestorben, von drei aufeinanderfolgenden Krebserkrankungen völlig ausgezehrt. In den Augen vieler bildete Zhou ein Gegengewicht zu einer einflussreichen Clique namens »Viererbande(1)« unter Führung Jiang Qing(1)s oder der Madame Mao(1). Der Vorsitzende Mao, der vollendete Manipulator, hatte die Gruppen gegeneinander ausgespielt und so dafür gesorgt, dass er selbst die Oberhand behielt.

In den letzten Jahren seines Lebens hatte Zhou Enlai(2) behutsam versucht, in der Planwirtschaft(2) die Ordnung wiederherzustellen, das Land zu öffnen und dringend benötigte ausländische Technologie(1) zu importieren. Im Januar 1975 hielt er eine seiner letzten Reden vor dem Nationalen Volkskongress(1), Chinas Pseudo-Legislative. Er rief das Land auf, ganze Bereiche zu modernisieren, die hinter dem Rest der Welt zurückgeblieben waren, insbesondere die Landwirtschaft(2), Industrie, Landesverteidigung, Wissenschaft und Technologie.[5] Mit dem Segen des Vorsitzenden nannte er dieses Programm die »Vier Modernisierungen(1)«. Aber während Mao zwar die Modernisierung(1) der Wirtschaft billigte, fürchtete er, dass Zhou nach seinem Tod(2) sein gesamtes politisches Vermächtnis untergraben werde. Er benutzte seine Frau und ihre Verbündeten, um den Regierungschef zu isolieren, indem sie die »blinde Anbetung der ausländischen Maschinen« und andere Manifestationen des »Revisionismus« scharf kritisierten, was nach der damaligen Sprachregelung so viel wie Abkehr vom Sozialismus(4) und Restauration des Kapitalismus(5) bedeutete.

Zhou Enlai(3) war isoliert, doch die ehrgeizige Madame Mao(2)(2) überspannte den Bogen, indem sie versuchte, ihren Einfluss auf die Partei und die Armee auszudehnen. Im Jahr 1974 hatte Mao, damit die beiden Gruppierungen weiterhin im Gleichgewicht blieben, Deng Xiaoping(2) wieder in die Führung geholt und zum Stellvertreter Zhou Enlais gemacht. Wie viele andere Führungskader war Deng auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution(5) abgesetzt worden, weil er eine angeblich »bürgerlich reaktionäre Linie« verfolgte. Während Zhou Enlai im Krankenhaus lag, übernahm Deng zunehmend das Ruder. Auch er konzentrierte sich auf die Wirtschaft, doch ihm fehlte die sanfte Art des Regierungschefs. Deng drohte Bahnbeamten harte Strafen an, die es nicht schafften, den Bahnverkehr wieder fahrplanmäßig laufen zu lassen, und verlangte, dass Direktoren der Industrie alle aktuellen Produktionsziele erfüllten. Außerdem zog auch er den Zorn Madame Maos auf sich, die mittels ihrer Kontrolle über den Propaganda(1)-Apparat eine ununterbrochene Flut denunziatorischer Artikel veröffentlichen ließ.[6]

Ein Opfer des harten Vorgehens von Deng Xiaoping war der Neffe des Vorsitzenden Mao Yuanxin(1)(1), ein junger Mann, der sich als Parteisekretär des Revolutionskomitees der Provinz Liaoning(1) einen Namen gemacht hatte. Deng hatte die Leitung des riesigen Eisen- und Stahlunternehmens Anshan, dem Aushängeschild Liaonings, ausgedünnt, sodass es eine verschlankte Befehlsstruktur hatte, die derjenigen vor der Kulturrevolution(6) glich. Mao Yuanxin schwärzte Deng bei seinem Onkel an und behauptete, er repräsentiere eine neue bürgerliche Klasse, die allmählich aus dem Schatten der Kulturrevolution hervortrete. Nach dem Tod(3) Zhou Enlai(4)s im Januar 1976 wandte sich der Vorsitzende jedoch einem Parteimitglied zu, das keinem der beiden Lager angehörte. Der stämmige und liebenswürdige Hua(1) Guofeng(1) (1921–2008) war eine unbedeutende Figur, aber Mao absolut ergeben. »Keiner sagt so unverblümt die Wahrheit(2) wie Hua Guofeng«, hatte Mao einst verkündet.[7] Als Parteisekretär von Shaoshan(1), der Heimat Mao Zedong(6)s, hatte Hua eine riesige, seinem Herrn gewidmete Gedenkhalle errichtet und eine Eisenbahn(1) gebaut, um die Pilger an diesen Ort zu bringen. Deng durfte eine Laudatio auf Zhou Enlai halten und wurde prompt seiner Pflichten als Vize-Regierungschef entbunden, als Hua Guofeng die Nachfolge antrat.

Mit Zhou Enlai(5) aus dem Weg und der neuerlichen Degradierung Deng Xiaoping(3)s, befürchteten einige eine Rückkehr der Kulturrevolution(7). Sie waren empört über die Veröffentlichung eines Leitartikels am 25. März in einer von der Viererbande(2) kontrollierten Zeitung in Schanghai(1), der einen »kapitalistischen Wegbeschreiter innerhalb der Partei« verurteilte, der angeblich einem »reuelosen kapitalistischen Wegbeschreiter« helfen wollte, wieder an die Macht zu gelangen. Jeder, der den Beitrag las, wusste, dass mit den angeblichen Verbündeten des Kapitalismus(6) Zhou Enlai und Deng Xiaoping gemeint waren. Demonstranten gingen in Nanjing(1) auf die Straße. In Wuxi, einer Stadt in der Nähe von Schanghai, strömte ein Menschenmeer auf den Roten Platz. Sie schwenkten Porträts des ehemaligen Regierungschefs und spielten eine Aufnahme der Laudatio Dengs über das öffentliche Lautsprechersystem ab. In Peking wurde »die Hexe Jiang Qing(3)« in Gedichten angegriffen.[8]

Auf dem Qingming(2)-Fest(2), an einem kalten, regnerischen Tag, protestierte die Bevölkerung offen und besetzte den Tiananmen-Platz(5)(4). Einige Demonstranten trauerten in aller Stille um den Regierungschef. Ein Mann hielt einen traditionellen Schirm aus Papier und benutzte ihn als Ermahnung daran, dass vor Jahrzehnten, am 4. Mai 1919, Studierende gegen ihre Herrscher demonstriert hatten. Andere äußerten sich unverblümter, griffen mit einem Mikrofon in der Hand »die neue Kaiserinwitwe« an oder schwenkten ein Stück weißen Brokatstoff, auf das mit Blut der Schwur geschrieben stand, den Regierungschef zu verteidigen.[9]

Es herrschte eine feierliche Stimmung, als sich das Volk ruhig und gefasst dem Willen seines Obersten Führers widersetzte. Aber die Viererbande(3) forderte lautstark einen Showdown. Im Kaiserreich hatte es innerhalb der zinnoberroten Mauern der (3)Verbotenen Stadt eine Fülle von Intrigen und Machtkämpfen gegeben, weil der Kaiser eine kleine Armee aus Eunuchen, Konkubinen, Soldaten und Beamten um sich geschart hatte, die allesamt danach strebten, ihre Position zu verbessern. Unter Mao spielte sich die Vorzimmerpolitik in der »(2)Großen Halle des Volkes« ab, die den Platz im Westen überragte. Der plumpe, einschüchternde Bau, der von der stalinistischen Architektur inspiriert ist, rühmt sich eines riesigen, in Rot getränkten Hörsaals, der mehr als zehntausend Delegierte fassen kann. Dutzende weitere, höhlenartige Konferenzsäle, die nach den Provinzen des Landes benannt wurden, boten noch mehr Raum für politische Machenschaften als der ehemalige Kaiserpalast jenseits des Chang’an Boulevard.

Die »Große Halle des Volkes(3)« war der Tagungsort für einen Nationalkongress, der alle fünf Jahre zusammentrat, um die Mitglieder des Zentralkomitees zu bestätigen, eines Organs mit rund zweihundert hohen Parteiführern. Das Zentralkomitee(2) wiederum ernannte ein Politbüro(1), oder Zentrales Politbüro, das aus zwei Dutzend Mitgliedern bestand. Die tagtäglichen Entscheidungen wurden von einem viel kleineren Ständigen Ausschuss getroffen, dem sieben oder acht ältere Mitglieder angehörten. Die mächtigste Person war der Vorsitzende. Wie so manches spiegelte diese Struktur das stalinistische Prinzip des »(9)demokratischen Zentralismus« wider, was hieß, dass sämtliche politischen Entscheidungen durch ein Abstimmungsverfahren getroffen wurden, das für alle Parteimitglieder bindend war. In der Praxis wurde die Machtstruktur umgedreht, weil jener Mann an der Spitze der Pyramide die höchste Macht in den Händen hielt. Da es nur eine Partei gab, waren Loyalitätsbekundungen gegenüber ihrem Führer vorranging und jegliche Anzeichen einer abweichenden Meinung gefährlich.

Der inzwischen 82-jährige Vorsitzende war zu gebrechlich, um persönlich an den Sitzungen teilzunehmen, und blieb in dem »Haus beim Hallenbad«, einer der vielen Residenzen, die hohen Parteiführern in Zhongnanhai(2) vorbehalten war, einem kaiserlichen Komplex mit Seen und gepflegten Parks unmittelbar westlich der (4)Verbotenen Stadt. Er wurde aber über alle wichtigen Ereignisse informiert und traf selbst alle bedeutenden Entscheidungen. Unter dem Platz verlief ein Netz unterirdischer Tunnel, die alle Hauptgebäude miteinander verbanden, und Kuriere wechselten ständig zwischen der Halle und dem Komplex hin und her. Noch vor der Besetzung des Tiananmen-Platz(6)(5)es trat Mao Yuanxin(2) am 1. April 1976 an seinen Onkel heran und deutete an, dass Zhou Enlai(6)s Tod(4) dafür genutzt werde, um Unruhen zu schüren. Er ließ durchblicken, dass Deng Xiaoping(4), der von seinem Posten als Vize-Regierungschef bereits abgesetzt, aber immer noch Politbüromitglied war, davon abgehalten werden sollte, am Tag der Arbeit(1) öffentlich aufzutreten, ein Anlass, den jedes (2)marxistisch-leninistische Regime stets mit großem Trara feierte. Mao stimmte zu.[10]

Drei Tage später, als Menschenmengen auf den Platz strömten, tagte das Politbüro(2) in der »(4)Großen Halle des Volkes«. Hua(2) Guofeng(2) kritisierte scharf die »schlimmen Elemente«, welche hinter den Kulissen die Massen aufwiegelten und sie dazu aufstachelten, »den Vorsitzenden anzugreifen« und »das Zentrum anzugreifen«. Dabei kämen die Denunziationen nicht allein vom einfachen Volk, stellte er fest. Hunderte Vertreter staatlicher Einrichtungen, darunter auch Beamte des (2)Eisenbahnministeriums und des Außenministeriums, legten zu Ehren Zhou Enlai(7)s Kränze nieder. Die aktivsten Teilnehmer kamen aus dem Siebten Ministerium des Maschinenbaus(1), einer riesigen, (2)geheimniskrämerischen Einheit, die das Atomwaffenprogramm(1) leitete. Was sich auf dem Platz abspielte, wurde sogar als »Klassenkampf« eingestuft, ein anderes Wort dafür, dass Konterrevolutionäre(1) einen Putsch gegen die (6)Kommunistische Partei schürten.[11]

In den frühen Morgenstunden des 5. April räumte die Miliz den Platz, lud alle Kränze auf eine ganze Flotte von Lastwagen und setzte Löschschläuche ein, um die Parolen vom Sockel des Monuments zu entfernen. Am Morgen strömten die ersten empörten Demonstranten wieder auf den Platz und gerieten mit der Polizei aneinander.

Noch am gleichen Tag informierte Mao Yuanxin(3) den Vorsitzenden erneut und berichtete, dass sich bislang rund fünfzig konterrevolutionäre Vorfälle ereignet hätten, samt Angriffen auf die Miliz und einem Überfall auf das Büro für öffentliche Sicherheit(1), das sich am Ostrand des Platzes befand. Die Unruhen seien »geplant und organisiert«, nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in anderen Städten im ganzen Land. Deng sei derjenige, der absichtlich »konterrevolutionäre Gerüchte« verbreite und »die Toten benutze, um die Lebenden zu unterdrücken«. »Wir werden an der Nase herumgeführt«, platzte Mao Yuanxin heraus und informierte seinen Onkel, dass Truppen in hohe Alarmbereitschaft versetzt worden und zum Einsatz bereit seien. Mao stimmte zu.[12]

Noch während Demonstranten auf dem Platz gegen die Miliz kämpften, wurde Deng Xiaoping(5) in das Politbüro(3) einberufen. Zhang Chunqiao(1), ein grüblerischer Mensch, der in Schanghai(2) als Propagandachef gearbeitet hatte, ehe er Mitglied der Viererbande(4) wurde, fiel über seinen Widersacher her und nannte ihn Chinas Imre Nagy, nach dem kleinen, starrsinnigen kommunistischen Politiker, der 1956 den ungarischen Aufstand gegen die von den Sowjets gestützte Regierung angeführt hatte. Deng blieb stumm.[13]

Bis zum Abend waren rund dreißigtausend Milizionäre einsatzbereit, viele in der (5)Verbotenen Stadt versteckt, andere im Museum für chinesische Geschichte(2) am Ostrand des Platzes. Hua(3) Guofeng(3) befürchtete dennoch, dass sie den Ernst der Lage unterschätzt hätten und dass die Streitkräfte der Menschenmenge auf dem Platz nicht gewachsen wären. Aber trotz der mehrfachen Bedenken seitens des Militärs schlug Wang Hongwen(1), der ehemalige Sicherheitschef in einer Baumwollfabrik(1) in Schanghai(3), der als Mitglied der Viererbande(5) zu Ruhm und Ehren gelangt war, mit der Faust auf den Tisch und gab bekannt, dass er sich weigere, eine Miliz zu genehmigen, die nicht mehr als hölzerne Schlagstöcke auf den Platz mitnehme.[14]

Ab 6 Uhr 30 wurden ununterbrochen Warnungen über Lautsprecher verbreitet, welche die Proteste als »reaktionäre Verschwörung« verurteilten und die Menge aufriefen, sich zu zerstreuen. Die Meldungen kritisierten Deng Xiaoping(6) namentlich scharf. Wenige Stunden später griff Hua(4) Guofeng(4) zum Telefon und gab der Miliz den Befehl, den Platz zu stürmen. Die Flutlichter wurden eingeschaltet, der Platz abgeriegelt. Mehr als zweihundert Personen, die sich noch dort aufhielten, wurden geprügelt, weggeschleppt und unter Arrest gestellt. Von der (5)Großen Halle des Volkes aus verfolgte Jiang Qing(4) die Ereignisse durch ein Fernglas. Später am Abend veranstaltete sie ein Festmahl mit Erdnüssen und Schweinebraten. Kurz vor Mitternacht huschte eine Putzkolonne aus hundert Sicherheitsbeamten über den Platz und wischte das Blut auf.[15]

Mao litt an dem nicht diagnostizierten Lou-Gehrig-Syndrom, das einen allmählichen Verfall der Nervenzellen verursachte, die auf seine Muskeln einwirkten, auch auf seinen Kehlkopf, Rachen, Zunge, Zwerchfell und Rippen. Er kommunizierte über die einzige Person, die sein Gebrabbel noch deuten konnte, nämlich Zhang Yufeng(1), eine Zugbegleiterin, die er vor mehr als zwanzig Jahren verführt hatte. Aber sein Gehirn funktionierte noch tadellos. Bis zum Ende blieb er ein Meister der Intrige, wie aus den Transkripten seiner Sitzungen eindeutig hervorgeht. Als sein Neffe ihm am 7. April in dem »Haus beim Hallenbad« Bericht erstattete und erzählte, wie Zhang Chunqiao(2) Deng als Nagy bezeichnet hatte, nickte er zustimmend. Der Vorsitzende wies das Politbüro(4) an, Deng aus allen Ämtern zu entfernen, aber nicht aus der Partei auszuschließen. »Entzieht ihm alle seine Funktionen«, sagte er und winkte dabei schwach mit der Hand. Außerdem ordnete er an, dass Su Zhenhua(1), ein kürzlich rehabilitierter General, nachdem er während der Kulturrevolution(8) unter dem Vorwurf, er sei eine von Deng gelegte »Zeitbombe«, entfernt worden war, der Sitzung fern bleiben müsse. Mao schloss auch Marschall Ye Jianying(1) aus, einen Armee-Veteran, der für das Verteidigungsministerium(1) zuständig war. Hua(5) Guofeng(5), zu der Zeit bereits Ministerpräsident, sollte auf der Stelle zum ersten Vize-Vorsitzenden erhöht werden. Damit wurde er zu Maos designiertem Nachfolger. »Mach schnell«, befahl der Vorsitzende mit einer weiteren Handbewegung. »Komm zurück, wenn du fertig bist.«[16]

*

Es folgte ein landesweites, massives Vorgehen, als Tausende wegen konterrevolutionärer Verbrechen(1) verhaftet wurden. Viele weitere wurden wegen ihrer Beteiligung an dem Tiananmen-Vorfall verhört. Im ganzen Land wurden Menschen gezwungen, Deng Xiaoping(7) zu denunzieren, doch der Kampagne ging irgendwann die Luft aus. »Wir marschierten voller Groll«, erinnerte sich ein Teilnehmer. Alle warteten auf das Ende.[17]

Es kam wenige Minuten nach Mitternacht am 9. September 1976, einen Tag nach dem Mittherbstfest(1) (auch »Mondfest«), wenn sich Familien traditionell unter dem Vollmond versammeln, um ihre Dankbarkeit zu zeigen.

Hua(6) Guofeng(6) hatte wenige Trümpfe in seiner Hand. Er klammerte sich an einen Zettel, auf den Mao ein paar Zeilen gekritzelt hatte: »Geh langsam vor, keine Eile. Handle gemäß den bisherigen Anweisungen. Mit Dir am Ruder bin ich zufrieden.« Das war das ganze Testament Mao Zedong(7)s, auch wenn die Umstände, unter denen es entstand, weiterhin dunkel bleiben. Die offizielle Hagiographie behauptete, Mao habe diese Worte der Weisheit für Hua aufgeschrieben, als die beiden Ende April 1976 Premierminister Robert Muldoon aus Neuseeland(1) getroffen hätten. Aber Zhang Yufeng(2), die in den letzten Jahren dem Vorsitzenden nicht von der Seite wich, vertraute ihrem Tagebuch an, dass Mao die Botschaft benutzt habe, um Hua Guofeng zu beruhigen, nachdem dieser sich über mehrere Provinzfunktionäre beschwert hatte.[18]

Es gab nur eine weitere Schwierigkeit. Hua(7) Guofeng(7) war während des Tiananmen-Vorfalls Minister für öffentliche Sicherheit gewesen, weshalb er bei der Bevölkerung nicht gerade beliebt war. Was genau am 5. April in der (6)Großen Halle des Volkes geschehen war, blieb jedoch ein streng gehütetes (3)Geheimnis. Nur wenige erkannten, dass Hua den Vorfall bewusst genutzt hatte, um Deng zu diskreditieren und seine eigene Karriere zu fördern. Und noch weniger wussten, dass er derjenige war, der zum Telefon gegangen war und den Sturm auf den Platz befohlen hatte. Mit Blut an den Händen blieb Hua nichts anderes übrig, als sich mit denjenigen zu verbünden, die eine Rückkehr Deng Xiaoping(8)s an die Macht um jeden Preis verhindern wollten.

Hua(8) hatte allerdings einen Vorteil, der ihm zugute kam, um das Beste aus seinem schwachen Blatt zu machen: Die Leute unterschätzten ihn. Nur zwei Tage nach Maos Tod(5) nahm Hua Guofeng(8) Kontakt zu Marschall Ye Jianying(2) und General Su Zhenhua(2) auf, den beiden Veteranen der Armee, deren Teilnahme an der Politbürositzung, die über Deng Xiaoping(9)s Schicksal entschieden hatte, verhindert worden war. Er wandte sich auch an Wang Dongxing(1), Maos ehemaligen Leibwächter, der die Truppen, die für die Sicherheit des Vorsitzenden zuständig waren, befehligte. Für den 6. Oktober wurde unter dem Vorwand, den fünften Band der Ausgewählten Werke Mao Zedong(8)s zu diskutieren, eine Politbürositzung einberufen. Die Mitglieder der Viererbande(6) wurden, während sie einer nach dem anderen eintrafen, auf der Stelle verhaftet. Madame Mao(3)(5), verschlagen wie eh und je, ahnte eine Falle und hielt sich fern, wurde aber später in ihrer Residenz in Gewahrsam genommen.[19]

Das war nichts weniger als ein Staatsstreich. Nach dem Putsch folgte eine Säuberung, und wie jede andere Säuberung handelte es sich dabei nicht um eine Abweichung von den üblichen Abläufen, sondern um eine Fortsetzung des gewohnten Gangs. Kundgebungen wurden veranstaltet, Gegner denunziert. In der Hauptstadt schwenkten Hunderttausende riesige Transparente, welche die »Anti-Parteiclique der Viererbande(7)« verunglimpften. Man warf ihnen vor, sie wären Verräter, hätten mit fremden Mächten gemeinsame Sache gemacht, das Land verraten und versucht, den Kapitalismus(7) wiederherzustellen. Wie ein Teilnehmer bemerkte, war dies »genau die gleiche Art von Kundgebungen wie während der Kulturrevolution(9)«. Einige Monate danach gelangte ein 115 Seiten umfassendes Urteil, das auf einer sorgfältigen Prüfung aller verfügbaren Beweismaterialien basierte, zu folgender Schlussfolgerung: »Zhang Chunqiao(3) ist ein taiwanesischer Spion, Jiang Qing(6) ist eine Verräterin, Yao Wenyuan(1) ist Element einer fremden Klasse, Wang Hongwen(2) ist ein wiedergeborenes (8)kapitalistisches Element.« Jiang Qing und ihre drei fanatischen Anhänger wurden zu Sündenböcken. Scheinbar über Nacht wurden sämtliche Verweise auf die vier aus Zeitungen, Büchern, Fotografien und Filmen gelöscht.[20]

Am 24. Oktober wurde auf dem Tiananmen-Platz(7)(6) eine Massenkundgebung veranstaltet, bei der sich die Parteiführung seit dem Putsch zum ersten Mal in der Öffentlichkeit zeigte. Hua(9) Guofeng(9), inzwischen zum Vorsitzenden der Partei ernannt, gewöhnte sich rasch an seine neue Rolle, lief auf der Tribüne hin und her, klatschte nachlässig, um sich für die Jubelrufe zu bedanken, und grinste dabei selig, ganz wie sein Vorgänger.

Als Nächstes standen die Demontage seines Rivalen und die Förderung der eigenen Position auf der Tagesordnung. Wang Dongxing(2), der ehemalige Leibwächter, der jedes (4)Palastgeheimnis kannte, wurde zu seiner rechten Hand. Am 8. Januar 1977, als zum ersten Todestag Zhou Enlai(8)s ein paar Demonstranten auf dem Tiananmen-Platz(8)(7) auftauchten, machten sich Wang und Hua(10) den Vorfall zunutze, um eine strenge Untersuchung einzuleiten. Li Dongmin(1), ein junger Mann, der ein Plakat, das die Rückkehr Deng Xiaoping(10)s forderte, aufgestellt hatte, wurde verhaftet und gezwungen, die Existenz einer gefährlichen »konterrevolutionären Clique« zu gestehen. Wang Dongxing griff zum Telefon und befahl allen Dienststellen der öffentlichen Sicherheit im ganzen Land, jedem Gerücht nachzugehen. Die Behörden in der Provinz Liaoning(2) entdeckten ein Plakat, das die Bevölkerung aufforderte, »entschlossen Deng für den [Posten des] Ministerpräsidenten zu unterstützen«. »Klassenfeinde im eigenen Land ebenso wie im Ausland greifen uns derzeit an«, tönte die Parteiführung nunmehr, als jedem Parteimitglied aufgetragen wurde, »wachsam zu bleiben«. In einem angespannten politischen Klima kam es zu weiteren Hexenjagden und wurden noch mehr Verschwörungen aufgedeckt.[21]

Hua(11) präsentierte sich als wachsamer Hüter von (9)Maos Vermächtnis. In dem Moment, als dem Leichnam seines Vorgängers in einer Kältekammer tief unter der Hauptstadt zur Konservierung Formaldehyd injiziert wurde, verkündete Hua Guofeng(10), dass auf dem Tiananmen-Platz(9)(8) eine Gedenkhalle errichtet werde. In ihr sollte der Leichnam in einem Sarg aus Bergkristall den Massen präsentiert werden. Genau wie sein Leichnam wurde auch jedes einzelne Wort (10)Maos propagandistisch ausgenutzt. Im Februar 1977 verkündeten mehrere Leitartikel: »Alle politischen Maßnahmen, die Mao jemals beschloss, werden wir entschlossen verteidigen; alle Anweisungen, die er erteilte, werden wir standhaft befolgen.« Die Leute nannten diese Politik verächtlich die »Zwei Alles«. Hua fing an, nach dem Vorbild seines Vorgängers aufzutreten. Er strich sich sein Haar nach hinten, posierte für gestellte Aufnahmen und gab im Stil des Großen Steuermannes vage Aphorismen zum Besten. Sein Porträt wurde in Schulen, Behörden und Fabriken aufgehängt. Am beliebtesten waren Gemälde und Plakate eines strahlenden Vorsitzenden, der im Begriff ist, seinen letzten Willen Hua zu übergeben, der sich auf seinem Stuhl vorbeugt, um demütig den Auftrag anzunehmen: »Mit Dir am Ruder bin ich zufrieden.« Lieder, Gedichte und Statuen verherrlichten den neuen Führer. Der Propaganda(2)-Apparat posaunte zwar Parolen aus, welche die Bevölkerung ermahnten, »unserem brillanten Führer auf den Fersen zu folgen«, doch dem neuen Vorsitzenden fehlte es ebenso an der institutionellen Autorität wie am politischen Charisma, um seine Macht auszubauen. Mit seinem unbeholfenen Versuch, einen Personenkult zu inszenieren, machte er sich sowohl einfache Bürger als auch Parteifunktionäre zum Feind.

Mehrere Male ließ Marschall Ye Jianying(3) durchblicken, dass Deng Xiaoping(11) die Rückkehr auf seinen früheren Posten gestattet werden müsse. Hua(12) sträubte sich dagegen. Auf einer Parteiversammlung blieb er hartnäckig dabei, dass die Proteste auf dem Tiananmen-Platz(10)(9) im vorigen Jahr konterrevolutionär(2) gewesen wären und dass Deng Xiaoping von dem Vorsitzenden Mao als Rechtsabweichler gegeißelt worden sei. Und man müsse jedes einzelne Wort von Mao wertschätzen.[22]

Li Xiannian(1), eine zwielichtige Figur, die durch die Zusammenarbeit mit völlig anderen Personen Karriere gemacht hatte, schaltete sich nunmehr ein. Als Vize-Regierungschef, der für die tägliche Regierungsarbeit zuständig war, hatte er beträchtlichen Einfluss. Nach dem Sturz der Viererbande(8) hatte er eingewilligt, Deng Xiaoping(12) herabzusetzen: »Wer immer meint, er sei ein großes Tier, wird zwangsläufig auf die eine oder andere Weise stürzen. Lin Biao(1) hielt sich für ein großes Tier, die ›Viererbande‹ hielt sich für bedeutend, und Deng Xiaoping meint ebenfalls, er sei bedeutend.« Im März hatte Li jedoch seine Meinung geändert und schloss sich auf einer Politbürositzung Marschall Ye an, indem er offiziell um die Rückkehr Deng Xiaopings ersuchte.[23]

Hua(13) musste nachgeben. Viele Parteiveteranen waren während der Kulturrevolution(10) gedemütigt worden, und Hua Guofeng(11)s Widerwillen, die Aktenlage zu prüfen und gestürzte Kader zu rehabilitieren, ließ sich nicht mit der verbreiteten Sehnsucht nach einem Wandel vereinbaren. Im Übrigen waren die meisten hohen Vertreter abgehärtete Männer, die ihre Überlebensfähigkeiten in einem jahrzehntelangen Machtkampf jeder gegen jeden gestählt hatten. Auch wenn Hua eine größere Entschlossenheit an den Tag gelegt hatte, als viele erwartet hatten, war er schlichtweg kein Gegner für sie. Formal war Hua sowohl Ministerpräsident als auch Vorsitzender, aber wenn er sich umsah, dann sah er, wie »die Männer eines anderen Mannes ihren Einfluss auf die Provinzen, auf den Staatsapparat, auf die Armee und auf die Medien festigten und ausbauten«.[24] Zur großen Enttäuschung Huas kehrte Deng im Sommer 1977 in die Parteiführung zurück.

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Hua(14) und Deng marschierten beide unter dem Banner der Mao-Zedong-Gedanken. Alle langjährigen Führer griffen auf die Vergangenheit zurück. Einige wollten wieder an dem Punkt anfangen, wo sie vor Beginn der Kulturrevolution(11) 1966 gewesen waren; andere blickten sogar noch weiter zurück, bis vor die Katastrophe des »Großen Sprungs nach vorn(1)« im Jahr 1958.

Deng ging bis ins Jahr 1956 zurück. Am 25. Februar desselben Jahres hatte der sowjetische Führer und Parteisekretär Nikita Chruschtschow(1) das sozialistische Lager mit einer Geheimrede ins Mark getroffen, die das Ansehen seines drei Jahre zuvor verstorbenen Meisters Josef Stalin(1) erschütterte. In Peking, wo die Parteiführung ihr Regime nach dem Vorbild Stalins aufgebaut hatte, wurde die Rede auf allen Ebenen mit Bestürzung aufgenommen. Mao betrachtete, als der Stalin Chinas, die Entstalinisierung(1) als eine Herausforderung seiner eigenen Autorität. Seine Antwort folgte genau zwei Monate danach, als er vor einer erweiterten Sitzung des (5)Politbüros am 25. April eine Rede mit dem Titel »Über die zehn großen Beziehungen« hielt. China sei bereit, verkündete der Vorsitzende, auf eigene Faust zu handeln, seinen eigenen Weg zum Sozialismus(5) zu finden. Statt sich sklavisch an das alte, stalinistische Modell mit seiner einseitigen Betonung der Schwerindustrie zu halten, werde China seine eigene Version mit einer ausgewogeneren Entwicklungsstrategie gegenüber der Landwirtschaft(3) und Leichtindustrie verfolgen. Es werde die Bedürfnisse des einfachen Volkes mit geeigneten Anpassungen ihrer Löhne(1) befriedigen. Bei der Ausarbeitung eines eigenen Pfads zum Sozialismus, fuhr Mao fort, müsse China Wissenschaft und Technologie(2) aus (9)kapitalistischen Ländern entlehnen. »In den industriell entwickelten Ländern werden die Betriebe mit weniger Leuten geführt, ihre Leistung ist hoch, und man versteht dort, gut zu kalkulieren.« Auch davon müsse man sich inspirieren lassen, weil das Land nur stark und erfolgreich werden könne, wenn es von anderen lerne.[25]

(11)Maos Rede blieb zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht. Chruschtschow(2) hatte (2)Stalins Personenkult scharf kritisiert, und in Peking benutzten die Kollegen des Vorsitzenden die Geheimrede des russischen Parteiführers, um für eine Rückkehr zu den Prinzipien der kollektiven Führung(1) zu werben. Mao antwortete, indem er die freie Meinungsäußerung unter Intellektuellen förderte und die Partei aufforderte: »Lasst hundert Blumen blühen, hundert Schulen miteinander wetteifern.« Der Vorsitzende war überzeugt, dass die Bevölkerung ihn verehrte und sich auf seine Seite stellen werde. Stattdessen führte die Hundert-Blumen-Bewegung(1) zu einem Ausbruch des Volkszorns gegen die (7)Kommunistische Partei, sodass sich Mao prompt zu einer Kehrtwende gezwungen sah und im Mai 1957 ein hartes Vorgehen anordnete(2). Deng Xiaoping(13), der sich bei der Aussicht, dem einfachen Volk freie Meinungsäußerung zu erlauben, wie die meisten seiner Kollegen gesträubt hatte, forderte umfassende Maßnahmen. Ihm wurde eine Kampagne anvertraut, die sich gegen Hunderttausende Einzelpersonen richtete. Deng erledigte die Aufgabe vortrefflich, indem er unzählige Opfer in die Arbeitslager(1) in der großen Wildnis im Norden schickte, ein riesiges Sumpfgebiet voller Moskitos.[26]

Die Rede »Über die zehn großen Beziehungen« hatte bei Deng und anderen Parteimitgliedern starken Anklang gefunden. Im Zuge der katastrophalen Entwicklungen des »Großen Sprungs nach vorn(2)« und der Kulturrevolution(12) gewann die Rede noch an Attraktivität. Sie wurde zur Inspiration für das Programm der »Vier Modernisierungen(2)«, das Ministerpräsident Zhou Enlai(9) im Januar 1975 ankündigte. Sechs Monate danach trat Deng Xiaoping(14) an den Vorsitzenden heran, um eine Neuauflage des Textes vorzuschlagen, der seiner Ansicht nach in den fünften Band von Mao Zedong(12)s Ausgewählten Werken aufgenommen werden sollte: »Dieser Beitrag ist wirklich viel zu wichtig, er hat ein großes Ziel und bietet großartige theoretische Leitlinien für die Gegenwart und für die Nachwelt«, kritzelte Deng an den Rand. Mao erlaubte das Verschicken als Rundschreiben, jedoch nicht die Veröffentlichung des Textes.[27]

Auch Hua(15) Guofeng(12) war ein glühender Verehrer dieses Beitrags. »Die ganze Partei, die ganze Armee und das ganze Volk sollten dieses brillante Werk gewissenhaft und gründlich studieren«, ermahnte er am 25. Dezember 1976 die versammelten Parteimitglieder. Einen Tag danach veröffentlichte Renmin Ribao(2)»Über die zehn großen Beziehungen« zur Feier von Mao Zedong(13)s Geburtstag. Ein breiter Konsens über die Notwendigkeit einer nachhaltigen, wirtschaftlichen Entwicklung nach einem Jahrzehnt des Chaos erhielt dadurch quasi die offizielle Billigung.[28]

Hua(16) brauchte Deng nicht, um eine pragmatischere Herangehensweise an die Wirtschaft einzuläuten. Wie die meisten konnte er es kaum erwarten, das Land aus seiner wirtschaftlichen Erstarrung zu erlösen. Er verlor keine Zeit und forderte im November 1976 eine Steigerung der Exporte, um die gestiegenen Importe ausländischer Technologie(3) zu bezahlen.[29]

Auch das signalisierte eher eine Rückkehr zu den Tagen vor der Kulturrevolution(13) als einen Schritt nach vorn. Es handelte sich um ein Modell, das auf dem von Stalin(3) vor etlichen Jahrzehnten entwickelten Schema basierte: Man nehme Getreide vom Land, verkaufe es auf dem internationalen Markt und nutze die eingenommenen Devisen, um schlüsselfertige Fabriken, die möglichst sofort in Betrieb genommen werden können, zu kaufen und um aus einer agrarisch geprägten tiefsten Provinz ein industrielles Zentrum zu machen. Um mehr Getreide zu beschaffen, hatte Stalin Dorfbewohner in staatliche Kolchosen getrieben und das Land kollektiviert(2). Bis 1932 starben schätzungsweise sechs Millionen Menschen einen (3)Hungertod wegen des Abzugs enormer Vorräte(1) an Weizen, Mais und Roggen, sowie Milch, Eier und Fleisch vom Land, um den Fünfjahresplan(3) zu finanzieren. Selbst als Dorfbewohner gezwungen waren, Gras und Baumrinde zu essen, wurden riesige Industriestädte aus dem Boden gestampft. Moskau wurde umgebaut, mit Hunderten von Projekten, die der Skyline von New York(1) Konkurrenz machen sollten. Luxushotels, neue Bahnhöfe, eine nagelneue Metro und eine Reihe beeindruckender Wolkenkratzer verschlugen Tausenden von ausländischen Geschäftsleuten den Atem, die eifrig in der Hauptstadt Verträge abschlossen. Albert Kahn(1), der Direktor eines Büros amerikanischer Architekten, leitete den Bau Hunderter Fabriken und wurde so zum »Industriearchitekten für den Ersten und Zweiten (4)Fünfjahresplan«.[30]

So wie Stalin(4) die Vereinigten Staaten hatte überholen wollen, wollte auch der Vorsitzende Mao 1958 unbedingt sein Land mit einem »(3)Großen Sprung nach vorn« vor seine Konkurrenten katapultieren. Die Exporte wurden angekurbelt, zumal die Wendung »größere Importe und größere Exporte« zum Schlagwort jener Zeit wurde. Um mehr Lebensmittel vom Land zu beschaffen, wurden Dorfbewohner in riesige Volkskommunen(2)