Christa Wolf - Jörg Magenau - E-Book

Christa Wolf E-Book

Jörg Magenau

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Beschreibung

Christa Wolf (1929–2011) wuchs in der Zeit des Faschismus auf, ihr Weg ins Erwachsenenleben verlief parallel zum Entstehen einer sozialistischen Gesellschaft in der DDR. Früh wurde sie mit ihren Büchern, Reden und Aufsätzen zu einer moralischen Leitfigur – auch im Westen. Nach der Wende geriet sie jedoch als «Staatsdichterin» in die Kritik. So erzählt diese Biographie nicht nur von einer bedeutenden Autorin, sondern weit mehr: eine deutsch-deutsche Geschichte.

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Jörg Magenau

Christa Wolf

Eine Biographie

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Von vorn anfangenGoldene NüsseDie Pflicht, glücklich zu sein: Kindheit in LandsbergDas verlorene LachenFlucht ohne Wiederkehr – Ankunft im SozialismusWir heißen euch hoffenDas Lachen Brechts: Studienjahre in Jena und LeipzigDer Endsieg des ProletariatsAufstrebende Kritikerin mit KlassenstandpunktSchreib, Christa! Schreib!Die Wahrheit als Waffe: Funktionärin mit Moral und FrustrationenDialektik der AufklärungPerspektivlos und ineffizient: Margaretes Gespräche mit der StasiStadt auf sieben HügelnEinmal Moskau und zurück: Das wiedergefundene LachenBewährung in der ProduktionEinmal Bitterfeld und zurück: Ankunft im sozialistischen AlltagWir sind stolz auf Dich!Geteilter Himmel, geteilte Kritik: Die Verteidigung der HerzländerWir brauchen Weltoffenheit!Die mauergeschützte Idylle: Kleinmachnower FreundschaftenDie weggeschlagenen HändeVerlierergefühle: Das 11. ZK-Plenum im Dezember 1965Unter Generalverdacht«Nachdenken über Christa T.» und der Prager FrühlingMach’s nicht zu scharf, HeinzEin untröstlicher Verleger am Küchentisch: Immer noch «Christa T.»Zeit, in der wir lebenStillhalten und Abstand nehmen: Die Entdeckung der WeltSeelsorgerin und ÄrztinSchreiben als Therapie: Kindheitsmuster und Krankheiten zum TodeBedenken in einer VerfahrensfrageNach der Biermann-Ausbürgerung: Christa Wolf sagt etwas ProduktivesWer bleibt?Mit dem Rücken zur Wand: Wer nicht mehr schreiben kann, muss gehenDie Literatur als SehnsuchtsorganNeue Heimat jenseits der Systeme: Von der DDR nach Deutschland«Einverstanden. Erich Honecker»Überwachen und Loben: Die neue Sprache und der BüchnerpreisFriede, Frauen, FeierstundenIm Zentrum des Untergangs: Kassandra Wolf sieht schwarzSchlechte NachrichtenEin Störfall im Kräutergarten und andere KatastrophenO Täler weit, o Höhen!Der Anfang vom Ende, Atemnot und ein rauschendes FestComing OutDer kurze Herbst der Anarchie oder Die Schule der DemokratieLiteratur als KriegsschauplatzEinfach zu naiv: Muh und mäh oder Die Frage, was bleibt?Unordnung und spätes LeidFundstücke im Archiv, Befunde in eigener Sache: Medea und die StasiAbendlichtDie Zeit der Wunder ist vorbei: Nachruhm zu LebzeitenLeibhaftig bis zuletztDinosaurier mit Schutzengeln: Wohin sind wir unterwegs?AnmerkungenBibliographie1. Werke Christa Wolf2. Quellen3. Sonstige LiteraturTafelteil
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Von vorn anfangen

«Eine Art Mit-Schrift wäre mein Schreibideal. Ein Griffel folgte möglichst genau der Lebensspur, die Hand, die ihn führte, wäre meine Hand und auch nicht meine Hand, viele und vieles schriebe mit, das Subjektivste und das Objektivste verschränkten sich unauflösbar, ‹wie im Leben›, die Person würde sich unverstellt zeigen, ohne sich zu entblößen, der Blick betroffen, jedoch nicht vom Bodensatz ungeklärter Ressentiments getrübt, nicht kalt, anteilnehmend, so unsentimental wie möglich, verdiente sich so vorurteilsfreie Aufmerksamkeit –»

Christa Wolf 19941

Eine beliebte hypothetische Frage lautet, ob man sich ein anderes Leben gewünscht hätte als das, das man hatte. Es ist ein Gedankenspiel, eine Phantasieflucht, um versuchsweise in andere, glücklichere Rollen zu schlüpfen. Zu verbessern gäbe es immer etwas, und Wünsche, die unerfüllt blieben, gibt es auch. Christa Wolf musste sich in einem Fernsehinterview zu ihrem 70. Geburtstag mit dieser Frage auseinandersetzen, und sie antwortete darauf wie fast alle Menschen mit Nein. So wie es war, so soll es auch gewesen sein – wie sonst? Da saß sie auf einem Gartenstuhl vor ihrem Sommerhaus in Mecklenburg, sehr gelassen, sehr freundlich, ein wenig zerbrechlich wirkend und doch ihrer selbst kraftvoll gewiss. Dieser Frau, das konnte man sehen, war nichts mehr anzuhaben. Wer so viele Angriffe auf die eigene Person und die eigenen Werke in zuverlässiger Regelmäßigkeit überstanden hat, ist nicht so leicht zu erschüttern. Wer so viele Hoffnungen begraben hat, braucht sich auch vor dem eigenen Leben nicht mehr zu fürchten.

Schwerer tat sich Christa Wolf mit der Zusatzfrage, ob sie ihr gelebtes Leben noch einmal genau so leben wollte. Da war ein Erschrecken in ihrem Gesicht zu erkennen, ähnlich dem, das sie einmal bei Anna Seghers als Reaktion auf dieselbe Frage beobachtet hatte. Noch einmal dieses Leben? Noch einmal den Glauben an die sozialistische Utopie? Noch einmal die mühsamen, schmerzhaften Emanzipationsversuche, das Ringen um Freiheit im Schatten der Ideologie? Noch einmal all die zermürbenden Auseinandersetzungen mit Parteibonzen und Ästhetikwächtern? Wieder zurück ins geteilte Deutschland mit Kalten Kriegern hüben und drüben, wo jedes Buch unweigerlich zwischen die Fronten geriet? Christa Wolf antwortete prompt. Ein bisschen klüger, ein bisschen geschickter würde sie im Wiederholungsfall schon gerne sein. Aber dann wäre es ja nicht mehr dasselbe Leben. «Also, es geht nicht», sagte sie pragmatisch. «Man muss das Leben nehmen, das man hat, und versuchen, das Beste daraus zu machen, so lange wie es eben geht.»

Viele würden ebenso antworten. Und doch klingt darin die stets wiederkehrende Grundmelodie dieses Lebens an, lieber am Vertrauten festzuhalten, als den großen Ausbruch zu wagen, und eher das beste Mögliche zu praktizieren, als für das unmögliche Beste alles aufs Spiel zu setzen. Die Biographie Christa Wolfs ist eine Chronik fortgesetzter Verabschiedungen. Sie lässt sich auch als beharrliches Festhalten, als Dabeibleiben oder nur als Dableiben beschreiben. Kontinuität und Brüche bedingen sich gegenseitig. «Ernüchterung» ist der Begriff, der ihr Leben am hartnäckigsten begleitet. Welten liegen zwischen dem sozialistischen Sturm und Drang der Bescheidwisserin der fünfziger Jahre und der vorsichtig gewordenen Siebzigjährigen im Mecklenburger Garten. Die Summe der Niederlagen, Irrtümer und Enttäuschungen ergibt in ihrem Fall kein falsches Leben, sondern ein aufrichtiges.

«Das Leben», sagt Christa Wolf entsagungsvoll, «ist nicht auf ‹Glück› angelegt.»2 Die Erfahrungen der Aufbruchszeit des Sozialismus, die zum Glück geradezu verpflichtete, hinterließ ihr ein Misstrauen gegen allen verordneten Optimismus. Wer Christa Wolf und ihre Werke später zu charakterisieren versuchte, hob gewöhnlich ihren «elegischen Ton» hervor oder bezeichnete sie, wie Marcel Reich-Ranicki es tat, kurz und brutal als «Deutschlands humorloseste Schriftstellerin»3. Dieses Urteil verkennt ihren sublimen, niemals polternden Humor. Ironie ist allerdings nicht ihre Sache. Ihr Schreiben ist dominiert von Trauer, Ernst und Sorge. Der Horizont ihres Schreibens ist jederzeit «Wahrheit», verstanden als ein Zustand subjektiver Wahrhaftigkeit. Vom Glück, das so viele Menschen als persönliches Lebensziel nennen, sagt sie in durchaus marxistischer Tradition: «Glück? Was ist das? Ein Zentralphänomen der Trivialliteratur, dem sie übrigens ihre große Aufmerksamkeit verdankt. In ihren entfremdeten Lebensverhältnissen sehnen sich die Menschen nach ‹Glück› – ganz verständlich. Nur dass diese Sehnsucht sich unter den heutigen gesellschaftlichen Umständen aus der kleinbürgerlichen Moral speist mit ihrer Sucht nach Harmonie und ihrem Geschick, die Konflikte der Realität zu verdrängen.»4

In der Geschichte «Unter den Linden» erzählt Christa Wolf aber doch von einer Begegnung mit dem Glück. Die Erzählung entstand 1969 in einer Phase tiefer Niedergeschlagenheit und Depression. Die Auseinandersetzung mit dem Glück hatte hier eine kathartische Funktion. Sicherheit und die Überwindung der Zweifel erscheinen als Bedingung des Glücks. Am Ende aber gelingt es nur im Traum. Da begegnet der Erzählerin eine junge Frau, die in ihrer Schönheit, Lockerheit und Fröhlichkeit all das repräsentiert, was sie sich immer vergeblich gewünscht hatte. «Nie vorher», heißt es da, «hatte eine Begegnung mich so getroffen. Diese Frau würde niemals vom Glück verlassen sein. Alles, was anderen misslang, würde ihr glücken. Nie, nie konnte sie Gefahr laufen, sich zu verfehlen.»5 Im Erwachen wird der Erzählerin dann klar, dass es sie selbst war, der sie da begegnete, und dass der Sinn dieser «Bestellung» darin lag, sich selbst «wiederzufinden»6.

Die «Schwierigkeit, Ich zu sagen» – so ein zentrales Motiv in ihrem Werk –, ist für einen kurzen, traumhaften Moment aufgehoben. Die Erzählerin ist ganz bei sich: Utopie der Übereinstimmung mit sich selbst. Außerhalb des Traums jedoch kann es eine solche Ankunft beim eigenen Ich nicht geben. Welches «Ich» aus der langen Reihe verschiedener Personen, die eine Biographie ausmachen, wäre dem zugrunde zu legen? Wann ist der Mensch er selbst, wenn er erst aus der Summe seiner sich wandelnden Erscheinungsbilder begreifbar wird? Man kann mit Äußerlichkeiten beginnen, wie es der Schriftstellerkollege und Freund Günter de Bruyn tat, als er 1972 ein Porträt über Christa Wolf schreiben sollte. Wie ein Maler ging er die Aufgabe an und versuchte, das Gesicht zu schildern, dem er die Herkunft aus der Region östlich der Oder ansehen zu können glaubte. «Das Haar ist dunkel. Die Brauen, weil auch dunkel, sind deutlich herausgehoben; tief angesetzt beschatten sie Augen schwer erkennbarer Färbung. Grau, grün, blau, graugrün, graublau? Bezeichnend die Nase: schon vom Ansatz her Tendenzen zur Breite. (…) Passend dazu dann die Flächen, groß, ausgedehnt, die Stirn, die Wangen.»7 Am Ende des Besuches aber resignierte der Porträtist. Er musste erkennen, dass er mehr in dieses Gesicht hineinlas, als sich darin entdecken ließ, dass die Freundlichkeit und die offene Aufnahme, die er bei der Familie Wolf erfuhr, ihn auf sich selbst zurückwarfen. De Bruyn schrieb: «Vor dem Gesicht, das er erforschen wollte, stand er wie vor dem eignen Gewissen. Er kann verstehen, dass mancher das nicht mag. Der wehrt sich dann mit Anschuldigungen – und charakterisiert sich selbst.»8 Also blieb das Porträt Fragment und ist gerade dadurch sprechend. Die emotionale Mischung aus Eingeschüchtertheit, Erleichterung und schließlich Bewunderung, die sich im Besucher einstellte, ist typisch für Begegnungen mit Christa Wolf.

Eine Tendenz zur Gemeindebildung umgibt ihre Person wie ein heiliges Rauschen. Ostdeutsche sehen in ihr eine Fürsprecherin des «Es kann doch nicht alles schlecht gewesen sein»-Bewusstseins, eine Jeanne d’Arc, die das «Recht auf die eigene Biographie» und selbstbewusste Ost-Identität verkörpert. Für Frauen ist sie ein Vorbild selbstverständlichen weiblichen Selbstbewusstseins und Vertreterin einer humaneren, «weiblichen» Rationalität: eine sanfte Feministin. Für die traditionelle Linke ist sie die gelernte Kassandra, deren zuverlässige Warn- und Mahnrufe sich mit reflexhaft düsterem, antikapitalistischem Kopfnicken begleiten lassen. Grün-Alternative finden in ihren Büchern die gesundheitsfördernde Vollkornmischung aus Selbstverwirklichungsbestrebungen, Umweltbewusstsein, Weiblichkeit und Friedenssehnsucht. Für Literaturfreunde ist sie eine Art weiblicher Heinrich Böll des Ostens, in ihrer internationalen Bedeutung und weltweiten Anerkennung unter den deutschen Gegenwartsautoren wohl nur mit Günter Grass zu vergleichen.

Wer Verehrung produziert, produziert zugleich Feindschaft. «Ich bin eine Figur, auf die man vieles projizieren kann», sagte Christa Wolf in einem Gespräch, das ich 1994 für die Wochenzeitung «Freitag» mit ihr führte.9 Da lagen die heftige Debatte um ihre Stasi-Mitarbeit Ende der fünfziger Jahre und ihre Erzählung «Was bleibt» noch nicht weit zurück. Vor 1989 im Westen eher als kritische DDR-Autorin wahrgenommen, galt sie nach der Wende plötzlich als «Staatsdichterin» und Repräsentantin des Systems, für dessen Veränderung sie sich doch eingesetzt hatte. Weil Christa Wolf moralische Integrität und subjektive Aufrichtigkeit nicht nur propagierte, sondern repräsentierte, eignete sie sich so gut für Angriffe, die auf mehr zielten als bloß auf die Literatur. Und umgekehrt schien mit ihrem Bekenntnis, einmal die informelle Mitarbeiterin «Margarete» gewesen zu sein, schlagartig auch ihre Literatur erledigt.

Gerade deshalb lohnt es sich, entlang ihres Lebens die Geschichte der DDR noch einmal zu erzählen: als politische Biographie einer Autorin, die sich in die Kämpfe ihrer Zeit stets eingemischt hat. Ob als mutige Opponentin auf dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965, bei den Protesten gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 oder als Rednerin auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989: Stets war Christa Wolf an exponierter Stelle dabei, auch wenn sie dabei gelegentlich wie in Thomas Brussigs Satire «Helden wie wir» mit der biederen Eislauftrainerin Jutta Müller verwechselt werden konnte. Für Brussig und die jüngere Generation aus der DDR hatte sich ihr vorsichtiges Agieren bereits überlebt. Sie, die mit der DDR nichts mehr zu tun haben wollten, konnten auch mit der Haltung loyaler Dissidenz, die bis zuletzt nicht auf Überwindung, sondern auf die Verbesserung der DDR-Gesellschaft zielte, nichts mehr anfangen.

Mit dem historischen Abstand zu den überhitzten Debatten der Wendezeit sind auch die einfachen Antworten veraltet, die, selbst ideologisch und moralisierend, sich kaum für die lebensweltliche Vielfalt und den Widerspruch zwischen Anpassung und Veränderungswille interessierten. Christa Wolf ist seltsam unbeschadet aus dem Getümmel hervorgegangen. Unbeschadet, aber nicht unberührt: Sich mit ihrer ganzen Person ein- und auszusetzen gehört seit je zu ihren Prinzipien; ihr Schreiben und ihr politisches Handeln sind stets Methoden der Lebensbewältigung, sodass sich «Person» und «öffentliches Wirken», «Leben» und «Schreiben» nicht trennen lassen. Repräsentierte Heiner Müller für viele die kalte, zynische Vernunft des Intellektuellen, so steht Christa Wolf für wärmende Zuwendung und emotionale Fürsorge. Man wird sehen, ob solche Zuschreibungen haltbar sind. Die Funktion als moralische Mutter der Nation hat sie in dem Maße eingebüßt, in dem die hypertrophe Rolle der Schriftsteller und Intellektuellen des Ostens als ersatzweiser Öffentlichkeit und einer Instanz für Trost und Kritik sich historisch erledigt hat. Auch «den Westen» als außen liegenden Verstärker gibt es nicht mehr. Der Resonanzraum des öffentlichen Sprechens ist verschwunden. Doch die Gemeinde blieb.

Als ich Christa Wolf mit dem Plan einer Biographie konfrontierte, lehnte sie höflich, aber bestimmt ab. Dafür sei es noch zu früh, man möge sich doch gedulden, bis sie einmal nicht mehr da sei. Noch habe sie einiges vor und betrachte ihr Leben und ihr Werk nicht als abgeschlossen. Die Erfahrungen, die sie nach der Wende mit der (west)deutschen Öffentlichkeit gemacht hatte, trugen dazu bei, dass ihr bei der Vorstellung einer Biographie unbehaglich wurde. Doch wem ginge es anders? Man muss nicht allzu viel Phantasie aufbringen, um sich vorzustellen, dass es nicht sehr angenehm ist, zum Gegenstand erhoben und zum Objekt gemacht zu werden. Dabei wollte sie gegen einen Autor, der als Westler, als Mann und einer jüngeren Generation zugehörend ihr denkbar fremd gegenübertrat, noch nicht einmal Einwände erheben. Christa Wolf, deren Literatur stets auf die Stärkung des Subjekts gerichtet ist und allen Versuchen entgegenarbeitet, den anderen zum Objekt zu machen, hätte es gerne mit Anna Seghers gehalten und allein das Werk sprechen lassen. Schließlich aber akzeptierte sie, dass sie als wichtige Figur der Zeitgeschichte und als Autorin von überragender Bedeutung auch ein biographisches Interesse ertragen müsse. Und da sie es nicht verhindern könne, wolle sie wenigstens dazu beitragen, dass die Fakten stimmen.

Die Gespräche mit ihr und Gerhard Wolf wurden von Mal zu Mal offener. Bei Kaffee und Keksen saßen wir in ihrem Arbeitszimmer, wo die Fotografien von Heinrich Böll, Friedrich Schlotterbeck, Rosa Luxemburg und der Mutter Herta Ihlenfeld im Bücherregal stehen. Unentwegt klingelte im Flur das unduldsame Telefon: die Töchter, die Enkel, Freunde, Redaktionen. Christa Wolf liebt es, von Menschen und Gesprächen umgeben zu sein. Wenn sie manchmal stöhnt, dass ihr das eigentlich zu viel sei, dann ist das nicht so gemeint. Ohne den Trubel wäre es noch viel schlimmer.

Von der DDR sprach sie in Anekdotenform, manchmal mit einem Kopfschütteln, oft lachend. Das Land, dem die Kämpfe ihres Lebens gegolten haben, lag in weiter Ferne, in tiefer Vergangenheit. In staunenswerter Abgeklärtheit blickte sie darauf zurück. Zur Materialfülle aus Interviews und Briefen, Zeitungsartikeln, Bibliotheken füllender Sekundärliteratur und Archivmaterial, mit denen ich mich beschäftigte, kamen so die Informationen aus erster Hand, Geschichten und Anekdoten, die Christa und Gerhard Wolf zumeist gemeinsam erzählten, indem sie sich dabei immer wieder ins Wort fielen: Lass mich mal erzählen, da warst du doch gar nicht dabei!

Nicht alle Erinnerungen ließen sich eindeutig rekonstruieren. Von manchen Erlebnissen oder Gesprächen blieb Jahrzehnte später nur noch die Atmosphäre übrig oder ein Gefühl. Manchmal widersprachen sich die beiden und gerieten mit der Chronologie der Ereignisse durcheinander. Das bleibt nicht aus nach fünfzig Jahren gemeinsamen Lebens. In ihrer Literatur misstraut Christa Wolf hartnäckig linearen Handlungsabläufen. Erinnerungen sind anarchisch und halten sich nicht an die Chronologie. Jede Gegenwart ist durchsetzt von Vergangenheiten. Eine Biographie muss das Leben trotzdem als Kontinuum erzählen, selbst wenn klar ist, dass es sich dabei um eine Konstruktion handelt. Nicht nur das Werk, auch das Leben handelt mit Fiktionen. So autobiographisch das Material vieler ihrer Bücher ist, so inszeniert und kalkuliert sind manche Äußerungen zur Person in Interviews und Selbstauskünften. Es ist im Nachhinein oft nicht zu entscheiden, was nun als «wahr» genommen werden kann. Im Zweifelsfall steckt die Wahrheit in der Summe der entworfenen Bilder, je widersprüchlicher, umso echter. Die Aufrichtigkeit persönlicher Briefe steht dem wahnhaften Wirklichkeitsfetischismus der Stasi-Akten gegenüber, in denen sich erstaunlich viel Unsinn findet. Die Wolfs haben, als sie 1992 ihre sogenannten «Opfer»-Akten einsehen konnten, einen ganzen Koffer mit Kopien gefüllt, den sie mir zu lesen gaben. Seltsame Situation, als Gast in ihrem Wohnzimmer zu sitzen, dort die Überwachungshinterlassenschaften eines voyeuristischen Staates zu studieren und damit Einblicke in Lebensdetails zu erhalten, die Gästen normalerweise verschlossen bleiben. Manchmal kam Christa Wolf herein, setzte sich dazu und sagte: Scheußlich, was? Es war eine ermüdende Lektüre, bei der in der Fülle der Nebensächlichkeiten rasch der Blick fürs Ganze verloren geht. Das Ganze aber ist: ein exemplarisches deutsches Intellektuellenleben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Erzählungen über die DDR kranken häufig daran, dass sie von ihrem Ende aus erzählt werden und dass das Wissen um das Scheitern des Sozialismus ihnen als Voraussetzung zugrunde gelegt wird. Man muss dennoch, um den Handlungen der in ihre Zeit eingebundenen Personen gerecht zu werden, von vorn und mit offenem Ende erzählen. Noch ist nichts entschieden. Sonst könnten alle Hoffnungen nur falsch gewesen sein. Alle Taten wären immer schon verfehlt, und die, die früher lebten, wären immer die Dummen. Wäre es so, könnte man sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sparen. Also versuchen wir es und fangen ganz von vorne an.

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Goldene Nüsse

Die Pflicht, glücklich zu sein: Kindheit in Landsberg

Im September 1997 besuchte Christa Wolf die polnische Stadt Gorzów Wielkopolski, die einst, als sie am 18. März 1929 hier geboren wurde, Landsberg an der Warthe hieß und zu Deutschland gehörte. Es war nicht der erste Besuch in ihrem Geburtsort nach 1945, doch nie zuvor empfand sie deutlicher, wie stark die emotionale Bindung an den Ort der Kindheit nachgelassen hatte. Die achtundsechzigjährige Schriftstellerin kehrte in eine Stadt zurück, die ihr fremd und seltsam vertraut erschien. Die Brunnenmarie, früher das Landsberger Wahrzeichen und Treffpunkt der Liebespaare, stand plötzlich wieder originalgetreu auf dem Marktplatz, obwohl sie doch in den letzten Kriegsmonaten zerstört worden war. Christa Wolf hatte sie bei früheren Besuchen schmerzlich vermisst, wenn sie auf dem leeren Platz neben der Marienkirche stand, in der sie konfirmiert worden war.

Nun, 1997, saß sie zu einer Lesung auf der Bühne des alten Stadttheaters. Der polnische Staatspräsident persönlich begrüßte sie und freute sich: «Sie gehören ja zu uns.»10 Es gab Rosen, einen Handkuss und eine Plakette. Die roten Plüschsessel im Zuschauerraum waren dieselben wie früher und wirkten ziemlich durchgesessen. Christa Wolf atmete den Staub ein, der in der Luft hing, und erkannte den Geruch wieder, den sie schon als Kind wahrgenommen hatte, als sie in der Vorweihnachtszeit ins Theater kam, um dem Märchen von der Schneekönigin zu lauschen.

Am Ende der Lesung aus «Kindheitsmuster» erhob sich ein Mann, um zu erzählen, wie er ihren Schulweg nachgegangen sei. Ein anderer kam auf die Bühne, um der berühmten Tochter der Stadt eine Tüte mit Nüssen zu überreichen, die er im Hof ihres Elternhauses geerntet habe. Christa Wolf verstand, dass dies ein symbolischer Akt sein müsse, und bedankte sich gerührt, obwohl im Garten ihres Elternhauses nie ein Nussbaum gewesen war. Später, so berichtet sie nicht ohne Humor, habe sie das Geschenk wie «goldene Nüsse aus dem Märchen» mit Andacht gegessen.11 Denn wer weiß, ob der Geschmack der Nüsse nicht doch irgendwie zur Kindheit dazugehört, selbst wenn er sich erst so spät einstellte. Nie wieder, sagte sie im Theater in Gorzów Wielkopolski, habe sie sich irgendwo so zu Hause gefühlt wie hier als Kind.

Was ist Wirklichkeit? Welche Bruchstücke der Erinnerungen – eigene und fremde – sind wahr? Und welche Bilder, auch wenn sie sich im Nachhinein verwandeln, bestimmen doch ein Leben? Zu den prägenden Eindrücken der frühen Jahre gehört zweifellos die karge, flache Landschaft der Region. Der Fluss gehört dazu, die Kiefern, die Seen, der trockene, kontinentale Sommer. Die Trauerweide hinter dem Café im Stadtpark bleibt für sie der schönste Baum auf der Welt. Und Landsberg selbst, diese «mittelgroße, eigentlich eher kleine Stadt jenseits der Oder», gibt mit der nachgemachten deutschen Backsteingotik zeitlebens das «Muster für Städte» vor, auch wenn oder gerade weil dort keine außergewöhnlichen Sehenswürdigkeiten zu entdecken sind. Ein anderer Hintergrund für das eigene Leben wäre für Christa Wolf jedenfalls nicht vorstellbar gewesen.12

Heimat ist ein Geschmack oder ein Gefühl und grundiert alles, was folgt. In ihrem autobiographischen Roman «Kindheitsmuster» ist Christa Wolf diesen Grundierungen nachgegangen. Über keinen anderen Lebensabschnitt hat sie sich ausführlicher geäußert als über diesen, fernstliegenden, wenn auch unter der schützenden Maske der Fiktion und versehen mit der mahnenden Vorbemerkung, alle Figuren und Ereignisse seien Erfindungen der Erzählerin. Das stimmt insofern, als alle Erinnerung mit Erfindung zu tun hat. Es ist falsch, weil der ganze Roman ein Ringen um Aufrichtigkeit demonstriert und stets auch die verschlungene Funktionsweise der Erinnerung selbst in den Blick zu bekommen versucht.

«Das Milieu, das ich in ‹Kindheitsmuster› beschrieben habe, ist authentisch», sagte Christa Wolf einmal, «die äußeren Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin, kann man schon daraus abziehen.»13 Das Mädchen, das sie einmal war und das ihr nun in der Erinnerung wiederbegegnete, erschien ihr dabei jedoch so fremd, dass sie ihm einen anderen Namen gab: Nelly Jordan. Nur so, indem sie die eigene Herkunft von sich weghielt, konnte sie sich ihr nähern. Nur so ließen sich Aussagen treffen über die Kindheit im Nationalsozialismus und die Prägungen, die daraus resultierten: eine durchschnittlich angepasste, durchschnittlich glückliche Kindheit in einer durchschnittlichen Provinzstadt in einer außerordentlichen Epoche.

Berühmtheiten hat Landsberg keine vorzuweisen – außer eben Christa Wolf, der man dafür «goldene Nüsse» überreichte. Der Philosoph Friedrich Schleiermacher war einmal kurz zu Besuch, Victor Klemperer wurde hier geboren, die Familie zog aber so früh weg, dass ihm keine persönlichen Erinnerungen an die Stadt an der Warthe blieben. Klemperers Vater war Rabbiner, vielleicht ja in ebenjener Synagoge, an deren Zerstörung Christa Wolf sich in «Kindheitsmuster» erinnert. Keine zehn Jahre alt war Nelly am 9. November 1938, als die Synagoge brannte und es sie dorthin zog, weil sie unbedingt die rauchende Ruine sehen wollte. Zu ihrem Entsetzen kamen Leute aus dem abgebrannten Gebäude, Juden, die versuchten zu retten, was noch zu retten war. Was ein Rabbiner ist, wusste Nelly noch nicht.14

Gottfried Benn war während des Zweiten Weltkrieges als Offizier und Truppenarzt in der damaligen General-von-Strantz-Kaserne stationiert, die Landsberg burgartig überragte. Einhundertsiebenunddreißig Stufen hatte die Treppe, die dort hinaufführte – Benn hat sie gezählt. Für ihn war Landsberg «eine Stadt im Osten». Christa Wolf fand diese geographische Einordnung geradezu lachhaft, als sie in Benns «Roman eines Phänotyps. Landsberger Fragment» darauf stieß. Für sie als Kind begann der Osten weit weg, in Bromberg oder in Königsberg. Die eigene Heimatstadt lag wie jede Heimatstadt im Mittelpunkt der Welt. In «Kindheitsmuster» zitiert sie Benn als Beispiel für den fremden Blick, der Seltsamkeiten entdeckt, die sie nicht wiederzuerkennen vermag: «Straßen, die Hälfte im Grund, die Hälfte auf Hügeln, ungepflastert; einzelne Häuser, an die kein Weg führt, unerfindlich, wie die Bewohner hineingelangen; Zäune wie in Litauen, moosig, niedrig, nass.»15

Die elterliche Wohnung in einem Eckhaus am Sonnenplatz 5 kann Benn damit nicht gemeint haben. Am Neubau in der Soldiner Straße muss es allerdings einen Lattenzaun um den Vorgarten gegeben haben. Noch im Juli 1971, bei der ersten Reise aus der DDR zurück in die polnische Heimatstadt, kann Christa Wolf dessen Reste ausmachen. Am Sonnenplatz unterhielten die Eltern, die Kaufleute Otto und Herta Ihlenfeld, ihr erstes Lebensmittelgeschäft und dekorierten die Schaufenster mit Kathreiner Malzkaffee und Knorr Suppenwürsten. Hier kam 1932 der Bruder Horst zur Welt, von hier aus ging Christa, gerade sechs Jahre alt geworden, Ostern 1935 zum ersten Mal zur Schule, um Lesen und Schreiben zu lernen und den Hitlergruß. Der ging ihr so sehr in Fleisch und Blut über, dass es ihr nach 1945 schwerfiel, «Guten Tag» und «Auf Wiedersehen» zu sagen. Aber auch die Lieder der Zeit – «Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren» – setzten sich hartnäckig im Gedächtnis fest. «Die Lieder sind das Schlimmste gewesen», sagt die Kinderärztin Vera Brauer aus Christa Wolfs Debüterzählung «Moskauer Novelle» zu ihrem russischen Freund Pawel. «Man vergisst sie so schwer. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man misstrauisch jeden Ton bewachen muss, der einem von den Lippen will?»16

Der Vater, Otto Ihlenfeld, ist im späteren Urteil der Tochter ein weicher Mensch.17 Weil es die Umstände erforderten, war er schon 1933 in die NSDAP eingetreten oder vielmehr sanft in die Partei hineingeglitten: Der Ruderclub, dem er angehörte, wurde im Zuge der Neuordnung der Sportvereine in die entsprechende NSDAP-Gliederung integriert. Nazis waren die Eltern aber nicht. Die Ihlenfelds gehörten zum aufstrebenden, arbeitsamen Mittelstand und waren in protestantisch geprägtem Ethos darauf bedacht, als ordentliche Mitglieder der Gesellschaft nicht aufzufallen. Die dreißiger Jahre waren für sie Friedensjahre und eine sorglose Zeit des Wohlstands. Das Geschäft ging gut. Man konnte sich eine neue, rotbraune Sesselgarnitur leisten und ein Mende-Radio statt des billigen Volksempfängers – nicht um womöglich nach verbotenen Sendern zu suchen, sondern eher aus Statusgründen. Das Radio holte Max Schmelings Niederlage gegen Joe Louis in die heimische Küche und ließ den Vater fast verzweifeln. Das Geheul des Sportreporters scheint mehr Emotionen aufgewühlt zu haben als das übliche Geschrei der Nazis, das nicht recht in die Behaglichkeit passte. Im Wohnzimmer standen ein schwarzes Buffet, ein Blumenständer, die Anrichte. Die Neubaupläne für die oberhalb der Stadt gelegene Soldiner Straße lehnte die Mutter zunächst als größenwahnsinnig ab. Am 1. September 1936 zog die Familie jedoch ins neue, weiß gestrichene Haus und verlegte auch das Lebensmittelgeschäft hierher. Christa konnte vom Fenster ihres Zimmers aus weit über die ganze Stadt, über die Seen und Wälder der Umgebung blicken.

Eine sehr frühe Erinnerung gilt jenem Tag im Jahr 1934, an dem «der Führer» Landsberg besuchen sollte. Die Geschäfte hatten geschlossen, die Straßenbahn fuhr nicht mehr, auf den Straßen drängte die erwartungsvolle Menge. Hitler kam dann doch nicht, weil er in benachbarten Städten aufgehalten wurde. Dennoch bleibt die allgemeine Erregung ein unauslöschliches Erlebnis. Die Fünfjährige «fühlte, was der Führer war. Der Führer war ein süßer Druck in der Magengegend und ein süßer Klumpen in der Kehle, die sie freiräuspern musste, um mit allen laut nach ihm, dem Führer, zu rufen, wie es ein patrouillierender Lautsprecherwagen dringlich forderte.» Sie verstand nicht, worum es ging und was die Leute miteinander redeten, aber «die Melodie des mächtigen Chors hat sie in sich aufgenommen, der sich durch viele kleine Schreie hineinsteigerte zu dem ungeheuren Schrei, in den er endlich ausbrechen, zu dem er sich endlich vereinigen wollte. Wenn sie auch zugleich ein wenig Angst davor hatte, verlangte es sie doch sehr danach, diesen Schrei zu hören, auch von sich selbst. Wollte wissen, wie man schreien und wie man sich mit allen eins fühlen konnte, wenn man den Führer sah.»18

So verläuft die erste Begegnung mit der Masse als erotisches Erlebnis und Wunsch nach Vereinigung. Darin ist sie jenem ganz anderen Massenereignis vergleichbar, das Christa Wolf am 4. November 1989 als Rednerin vor einer Million Zuhörern auf dem Alexanderplatz sieht. Da steht sie auf dem Podium und spricht über die «Sprache der Wende» und ist überzeugt von der Verbundenheit der Intellektuellen mit dem Volk. Die beiden so gegensätzlichen Erlebnisse markieren den großen historischen Bogen dieser Biographie, eine Bewegung, die von der kollektiven Selbstaufgabe für den Führer bis hin zu jenem kurzen historischen Augenblick reicht, als «das Volk» glaubte, sein Geschick selbst in die Hand nehmen zu können, und die Schriftstellerin sich als dessen Stimme empfand.

Christa Wolf kann sich nicht erinnern, in ihrer Kindheit Menschen getroffen zu haben, die sich kritisch über Hitler oder den Nationalsozialismus geäußert hätten?19 Das stimmt nicht ganz, denn immerhin ist von der Mutter der legendäre Satz «Ich scheiß auf euren Führer» überliefert. Gesprochen wurde er am Abend des 25. August 1939 in Gegenwart des Briefträgers, der Otto Ihlenfeld den Einberufungsbescheid überbrachte. Und im Jahr 1944 erhielt die Mutter Besuch von zwei Herren im Trenchcoat, nachdem sie im Laden, laut und vernehmlich, in Gegenwart mehrerer Kundinnen, die Meinung vertreten hatte, dass der Krieg verloren sei. Die beiden Herren bestellten sie zu einer Aussprache ins Haus der Gestapo, ließen die Angelegenheit aber schließlich auf sich beruhen. Man muss solche verärgerten Äußerungen nicht als Zeichen besonderer Zivilcourage interpretieren, eher entsprachen sie dem pessimistischen Naturell der Mutter, die von Christa Wolf als «Schwarzseherin» und «Kassandra hinterm Ladentisch» beschrieben wird, die eben so ihre «Stimmungen» hatte.20

Sehr bewusst handelte die Mutter allerdings, als sie die Kinder zum Nachhilfeunterricht zu einem Studienrat schickte, der vom Schuldienst suspendiert wurde, weil er angeblich Jude war. Dazu gehörten im Jahr 1942 Mut und eine selbstverständliche humanistische Grundhaltung, die sich gegenüber der nationalsozialistischen Rassenideologie immun zeigte. «Wie eine Löwin» habe ihre Mutter sich für die Kinder geschlagen, wenn es nötig war, «und wir haben sie sehr, sehr geliebt. Sie war streng in dem Sinne, dass sie Grundsätze hatte und auch innerlich als Frau kein leichtes Leben hatte.»21 Sie war selbst so erzogen worden, dass ihr alles Sinnliche als Sünde erschien, und diese Haltung gab sie nun an die Tochter weiter.

Christa wuchs in mildem protestantischem Geist der Rechtschaffenheit auf, wurde jedoch, wie sie rückblickend meint, nicht gerade «überströmend gefühlvoll»22 erzogen: «Ich war ein gut erzogenes, aber aufmüpfiges Kind. Jedenfalls hat meine Mutter mir immer gesagt – ich bin am 18. März, dem Jahrestag der Revolution von 1848 geboren – ‹du bist ein richtiges Revolutionsbaby›, weil ich ganz bestimmte Standpunkte einfach nicht aufgab. Sie hatte mir beigebracht, nicht zu lügen. Und das habe ich eben dann auch nicht gemacht. Das war manchmal sehr anstrengend, für sie und für mich natürlich auch. Aber da war ich vollkommen unbelehrbar. Gott sei Dank ist das bei meinen Töchtern und Enkelkindern nicht so gewesen. Aber ich habe ihnen auch nicht gesagt: Ihr sollt nicht lügen. Ihr dürft eure Mutter nicht anlügen.»23

Militante Ehrlichkeit war das eine, eine Verpflichtung zur Dankbarkeit das andere; Dankbarkeit dafür, es einigermaßen gut zu haben, und folglich die moralische Pflicht, glücklich zu sein. Diese emotionale Grundhaltung der Kindheit sollte lange, vielleicht das ganze Leben lang, nachwirken, entfaltete sich aber besonders prächtig in der Gründungszeit der DDR. Wo bald das Paradies auf Erden etabliert sein würde, wäre es unverzeihlich gewesen, nicht fröhlich zu sein und dankbar dafür, am Aufbau der neuen, besseren Welt mitwirken zu dürfen. Eingeübte Kindheitsmuster: Nirgendwo wird die Verpflichtung aufs Glück deutlicher als an Weihnachten, dem christlichen Fest familiärer Zusammengehörigkeit. Christa erfuhr das, als einmal ein Akkordeon als Hauptgeschenk unter dem Weihnachtsbaum stand. Das Dienstmädchen hatte ihr den schwarzen Kasten, der im Kleiderschrank versteckt worden war, allerdings schon Wochen vorher gezeigt, und eigentlich war ihr längst klar, dass sie gar keine Lust hatte, das Akkordeonspiel zu erlernen. Nun aber musste sie Überraschung vortäuschen und eine Begeisterung heucheln, die direkt und rettungslos in ungeliebten Akkordeonunterricht mündete.24 Dienstag für Dienstag besuchte Christa im Kriegsjahr 1943 eine «mopsgesichtige» Musiklehrerin und stümperte dort mit einiger Mühe Lieder wie «Es hatt’ ein Bauer ein schönes Weib» oder «Lustig ist das Zigeunerleben» auf dem Instrument – protestantische Pflichterfüllung in Dankbarkeit.25

Mit der Kirche als Institution unterhielt die Familie Ihlenfeld jedoch keine ausgeprägte Beziehung, auch wenn Katholizismus irgendwie als «falsch» erschien. Zur Konfirmation im Jahr 1943 schickten die Eltern Christa eher aus Rücksicht auf die Großeltern als aus innerer Überzeugung. Christa war diese Veranstaltung äußerst zuwider. Nur ungern besuchte sie den Konfirmandenunterricht. Mit Ekel betrachtete sie die gefalteten Hände des Pfarrers und verweigerte ihrerseits Händefalten und devotes Kopfsenken beim Gebet. Als die Konfirmanden am Festtag würdevoll Einzug in die Kirche hielten, schnitten sie, hinter dem Altar vor den Blicken des Pfarrers und der Gemeinde geschützt, Grimassen und schüttelten sich in lautlosem Gelächter. Die kirchliche Zeremonie hatte keine tiefere Bedeutung für eine Jugend, die längst den Inszenierungen des Nationalsozialismus verfallen war. Dessen Glaubensartikeln gegenüber hätte man sich ähnliche Respektlosigkeiten nicht erlaubt.

In der Schule lernte Christa Sprüche wie «Seele ist Rasse von innen gesehen. Rasse ist Seele von außen gesehen». Als sie sieben Jahre alt war, hörte sie dort zum ersten Mal das Wort «Konzentrationslager» in der volkstümlichen Variante «Konzertlager». Im Biologiebuch der Oberschülerin waren, wie es üblich war, die Vertreter «niederer Rassen» in abschreckenden Darstellungen abgebildet. Rassenwahn und Prüderie gehörten untrennbar zusammen: Die Biologielehrerin, eine blonde, schüchterne Frau, dozierte ausführlich über den Darwinismus und die naturgewollte Überlegenheit der nordischen Rasse, errötete aber, wenn sie über Pollen und Samen sprechen musste.

Christa Ihlenfeld war eine ordentliche, eifrige Schülerin mit einem Hang zum Strebertum und dem Bedürfnis, die Beste zu sein. In den Anfangskapiteln von «Nachdenken über Christa T.» beschreibt Christa Wolf die Stimmung im Jahr 1944, als Christa Tabbert, die «Neue», in die Klasse kommt und erst einmal mit Missachtung aufgenommen wird. Christa Ihlenfeld war schon seit 1939 Mitglied des BDM, hatte ein Ausbildungslager des Jungmädelbundes in Küstrin absolviert, sich in der Hitler-Jugend bei Gesängen und Geländespielen durch besonderen Eifer hervorgetan und war so zur «Führeranwärterin» herangewachsen, ein Angebot, das sie gegen den Widerstand der Mutter annahm. Besonders lustvoll war der Gebrauch des Wortes «Kameradschaft», das ein Gefühl der Zugehörigkeit versprach. Die Passagen in «Kindheitsmuster», die von diesen Empfindungen handeln, bereiten der erwachsenen Erzählerin vernehmliche Beklemmungen. Hier, wo das Mädchen, das sie «Nelly» nennt, ihr am fremdesten ist, rückt es der Sozialistin, die sich zu Beginn der siebziger Jahre noch als Teil der DDR und einer fortschrittlichen Weltbewegung begreift, zugleich bedrohlich nahe. Irgendwann, heißt es in «Kindheitsmuster», hatte sie verstanden, «dass Gehorchen und Geliebtwerden ein und dasselbe ist». Dazu gehörte auch die Erfahrung, dass man sich «beliebt machen muss, um geliebt zu werden».26

Eine Erziehung, die nicht auf Selbständigkeit, sondern auf Gehorsam zielte, führte dazu, dass allein die Anerkennung durch andere, durch die Autoritäten, das Selbstwertgefühl stabilisierte. So buhlte Christa ganz besonders um die Zuneigung eines Lehrers, der in SA-Uniform erschien. Er unterrichtete ausgerechnet Religion und war der Ansicht, dass auch Jesus Christus, lebte er heute, ein Anhänger des Führers wäre. Um ihm zu gefallen, stimmte Christa ihm zu. Sie glaubte ihm, denn nur so war seine Liebe zu gewinnen. Und doch erinnert sie sich auch an das Gespräch mit Freundin Helga auf dem Schulhof, in dem die beiden Mädchen, etwa zehn Jahre alt, sich kopfschüttelnd darüber verwunderten, dass es so viele Menschen gebe, die eben nicht glaubten, was der Lehrer sagte.27 Es muss ihnen also durchaus bewusst gewesen sein, dass man auch ganz anders denken kann. Das Weltbild war nicht restlos geschlossen.

Den Wunsch, jederzeit geliebt zu werden, hält Christa Wolf für eine generationsspezifische Prägung. 1987, in ihrer Rede zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises, sprach sie vom «Hang zur Ein- und Unterordnung», der ihrer Generation geblieben sei, von «Autoritätsgläubigkeit» und «Angst vor Widerspruch».28 Diese Haltung, so die Schriftstellerin 1988, habe ihre Generation «in eine andere Gesellschaft mit hinübergenommen (von der sie, nebenbei gesagt, sehr gefördert wurde), und von der sich, soweit ich sehen kann, gar nicht so viele Generationsgenossen wirklich frei machen konnten. (…) Meine Generation hat früh eine Ideologie gegen eine andere ausgetauscht, sie ist spät, zögernd, teilweise gar nicht erwachsen geworden, will sagen: reif, autonom. (…) Da ist eine große Unsicherheit, weil die eigene Ablösung von ideologischen Setzungen, intensiven Bindungen an festgelegte Strukturen so wenig gelungen ist.»29

Christa Wolf spricht häufig von ihrer «Generation», wenn sie sich selbst meint. Der Generationsbegriff funktioniert wie eine Hülle, die das eigene Ich als größeres Allgemeines schützend umgibt. Es kräftigt die Stimme, «wir» zu sagen statt «ich». Tatsächlich aber ist Autoritätsgläubigkeit weit weniger generationstypisch, als Christa Wolf behauptet. Unterschiedlich sind bloß die Autoritäten, an die die verschiedenen Generationen sich heften, und damit auch die Schuldhaftigkeit, die sich daraus ergibt. Auch im Nationalsozialismus gab es für Jugendliche andere Optionen als fanatisiertes Mitläufertum, sodass die vereinheitlichende Rede von der «Generationserfahrung» mehr verbirgt als erklärt.

Mit Kunst – vor allem mit Literatur – kam Christa Ihlenfeld von zu Hause aus kaum in Berührung. Im pragmatischen Elternhaus war der Kunstsinn wenig ausgeprägt. Die Vorfahren waren Bauern, Arbeiter, Beamte und Handwerker. Der Großvater mütterlicherseits, pensionierter Reichsbahner, hatte es niemals weiter gebracht als bis zum Fahrkartenknipser und war wegen Trunkenheit frühzeitig aus dem Dienst entlassen worden. Auch wenn sie «den Büchern früh verfallen» war, wusste Christa nicht, was Literatur ist oder sein könnte.30 Wilhelm Busch, der wie in jedem deutschen Wohnzimmer auch in dem der Ihlenfelds mit einer zweibändigen Ausgabe vertreten war, gehörte zu ihrer ständigen Lektüre. Die Todesarten, die in «Max und Moritz» so genüsslich zelebriert werden, zogen sie an und stießen sie ab.31 Karl May fand sie langweilig, sie bevorzugte eher Lessings Theaterstücke – vielleicht ein Hinweis darauf, dass schon die jugendliche Leserin sich weniger für Handlungselemente als für die Intentionen der Figuren interessierte.32 Mit «Gier und Genuss» verschlang sie wahllos, was gängig und verfügbar war, nicht unbedingt Nazibücher, jedoch all das «verschwommen-schwülstige Zeug» von Autoren wie Binding, Carossa, Jelusich, Grimm oder Johst.33 Sie las alte Heldensagen, Siegfried oder Beowulf, und erinnert sich an eine Illustration, auf der ein riesiger, ausgerissener Arm von der Decke hing. Die beklemmende, düstere Atmosphäre missfiel ihr, aber sie wusste zugleich, dass ihr diese Geschichten doch gefallen sollten. Die Neigung, etwas zu akzeptieren, was sie eigentlich ablehnte, prägte die Kindheit und prägte über die Kindheit hinaus.

«Lückenloser kann die Absperrung von aller Literatur der Zeit nicht erdacht werden, als sie uns zugefügt wurde, bis zu unserem sechzehnten Jahr», schreibt Christa Wolf in ihrem großen Essay «Lesen und Schreiben» von 1968, wieder einmal im Pluralis der Generation. «Denn was wir zu lesen bekamen, was wir massenhaft verschlangen, (…) das alles war nicht nur vordergründig auf Chauvinismus und Kriegsbegeisterung und ein von Grund auf verkehrtes Geschichtsbild angelegt (monströse Historien waren es zumeist, die ich aus der Schulbibliothek entlieh): Hintergründig hemmte es, sicherlich erfolgreich, das Erwachsenwerden, das Reifen des kritischen Verstandes und verständiger, nicht von übelsten Vorurteilen und Ressentiments verkrüppelter Gefühle.»34 Und doch werden Christa Wolf später von Freunden und Feinden immer wieder Eigenschaften zugeschrieben wie Ernsthaftigkeit, Reife und eine ausgeprägte «Erwachsenheit»35. Man kommt nicht umhin, darin eine bewusste Reaktion auf die Hemmnisse der Jugend zu sehen.

In «Lesen und Schreiben» benennt Christa Wolf aber auch die moralische Grenze dessen, was sie literarisch mitzutragen bereit war. Dabei kommt sie auf ein eindrückliches Lese-Erlebnis zu sprechen, das sie auch in «Kindheitsmuster» aufgenommen hat.36 Die Heldin des Buches hieß Christine Torstensen, ein Mädchen «nordisch-wertvoller Rasse». Ihre Heldentat bestand darin, die Leichen der Pestkranken im eigenen Lager zu küssen und zu umarmen, um sich anschließend, den Bazillus im Leib, dem Feind hinzugeben und ihm so die Pest zu bringen. Der Satz, der die Grenze des Erträglichen bezeichnete, ist im Roman und im Essay identisch: «Das nicht.» In «Kindheitsmuster» mischt sich allerdings auch eine Spur Begeisterung in die Beklommenheit der Lesenden.

«Das nicht» war auch der Gedanke der Dreizehnjährigen, nachdem sie in einer Zeitschrift einen Bericht über eine Einrichtung des «Lebensborns» gelesen hatte, wo blonde Frauen sich blauäugigen SS-Männern hingaben, um reinrassige Kinder zu zeugen und dem Führer zum Geschenk zu machen. Hier kollidierte die geforderte Moral der Führerhingabe mit dem häuslichen Protestantismus und der mütterlichen Mahnung, sich nicht «wegzuwerfen» – ein Konflikt, der immerhin partielle Nicht-Übereinstimmung mit offiziellen Überzeugungen ermöglichte.37

Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch die Lektüre von Erich Maria Remarques «Im Westen nichts Neues», ein stockfleckiger Pappband, der rätselhafterweise auf der Kommode der Großmutter lag, die selbst nie Bücher las. Das Buch gehörte in die Kategorie «Das ist nichts für dich». Christa las es auf dem Sofa der Großeltern und erfuhr darin die bestürzende Neuigkeit, dass auch deutsche Soldaten im Krieg sterblich sind, ja sogar ziemlich elend an einem Bauchschuss krepieren können. «Vielleicht», schreibt sie im Rückblick, «war dieser Tote der erste, gegen dessen Schicksal ich mich unwillkürlich auflehnte.»38

Im Deutschunterricht kam sie mit solchen Stoffen gewiss nicht in Berührung; die Deutschlehrerin war es aber, die in ihr den Wunsch weckte, selbst Lehrerin zu werden. Diese Frau, überzeugte Nationalsozialistin, wurde von Christa Ihlenfeld ebenso bewundert, wie sie sich von ihr bestärkt und bestätigt fühlte. In «Kindheitsmuster» beschreibt sie die Lehrerin als klein und dunkel, unverheiratet und selbstbewusst. Sie entsprach kein bisschen dem Ideal einer deutschen Frau und war die Einzige weit und breit, die als Intellektuelle durchgehen konnte.

Die Bewunderung für die Deutschlehrerin korrespondierte mit den frühen Versuchen zu schreiben; Christa war eine der wenigen, die nicht nur über «Volk ohne Raum», sondern auch über ein eher zartes Thema wie «Der erste Schnee» Aufsätze schreiben konnte. Schreiben entsprach dem kindlichen Wunsch, sich zu verwandeln, eine andere zu sein und die Begrenztheit des eigenen Lebens zu überwinden. Deshalb war auch die verlogene Familien-Idylle nicht falsch, die sie mit Blick auf die liebende Zustimmung der Lehrerin verfasste, sondern der Entwurf eines anderen, geeigneteren Lebens. «Ich habe früh versucht, die Verwandlung zu vollziehen, auf weißem Papier: Der Schmerz über die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Lebens ließ sich mildern», erinnert sich Christa Wolf 1965.39 Man muss die kindlichen Versuche nicht zu Anfängen des Schreibens stilisieren. Das Motiv der Verwandlung aber, das ihnen zugrunde liegt, und der Wunsch nach Anerkennung werden für die Schriftstellerin Christa Wolf ein Schreib-Impuls bleiben.

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Das verlorene Lachen

Flucht ohne Wiederkehr – Ankunft im Sozialismus

Der Kriegsbeginn ist für Christa Wolf ein holzschnittartiges Erinnerungsbild: Soldaten, exakt in Reihen ausgerichtet, die Gewehre eine gedachte Linie bildend, werden am Haus der Ihlenfelds vorbei in Richtung Osten befördert, während sie selbst, zehn Jahre alt, ihnen Zigarettenschachteln zuwirft. Die Stimmung zu Hause war gedrückt. Kein Kriegsrausch. Der Vater ist an der Front. Ende August wurde er eingezogen, am 1. September stand er als Posten an der deutsch-polnischen Grenze und öffnete früh um halb fünf den Schlagbaum.

Dass der Vater nur durch Zufall nicht zum Mörder wurde, erzählt Christa Wolf in «Kindheitsmuster». Da beschreibt sie Nellys Entsetzen über ein Telefongespräch des Vaters, der für ein paar Tage auf Heimaturlaub zu Hause war. Ein Freund aus seiner Infanterieeinheit rief ihn an und teilte ihm mit, dass vorgestern fünf Geiseln erschossen worden seien. Aschgrau sei das Gesicht des Vaters da gewesen. «Schade, dass du nicht dabei warst»40, habe der Freund gesagt. Nach dem «Polenfeldzug» wurde der Jahrgang des Vaters, 1897, demobilisiert, sodass er, «garnisonsdienstverwendungsfähig Heimat», als Unteroffizier in die Schreibstube des Wehrbezirkskommandos in Landsberg versetzt wurde. Später musste er französische Kriegsgefangene bewachen und geriet, mit ihnen auf der Flucht westwärts, am 30. Januar 1945 in sowjetische Gefangenschaft.

Lange Zeit war der Krieg in der Landsberger Provinz kaum spürbar. Erst 1944, als die Fliegeralarme immer länger und die Fahnenappelle immer schwächlicher wurden, näherte er sich der Stadt. Da schien die Bevölkerung nur noch aus Soldaten, Kriegswitwen und Luftwaffenhelfern zu bestehen, aber man konnte auch noch ins Kino gehen. Im Nachmittagsprogramm lief der Propagandafilm «Die goldene Stadt». Am 20. Juli 1944 trugen die BDM-Mädchen, zum Zeichen ihrer «unverbrüchlichen Treue» zum Führer, Uniform mit schwarzem Dreieckstuch und geschürztem Knoten.41 Noch war der Glaube an den Endsieg ungebrochen. Doch in den folgenden Monaten trafen immer mehr Flüchtlinge aus dem Osten ein, ganz und gar Fremde, auf deren Vorbeiziehen sich blicken ließ, als hätte man nichts damit zu tun.

Um der geliebten Deutschlehrerin zu imponieren, hilft Christa einem Flüchtlingstreck beim Abladen. Der Säugling, der ihr heruntergereicht wird und den sie der Mutter weitergibt, ohne dass ihr etwas auffällt, ist tot; sie bemerkt es erst am Schrei der Mutter und fällt vor Entsetzen in Ohnmacht. Wochenlang liegt sie mit einem «Nervenfieber» im Bett. Wie noch oft in ihrem Leben reagiert sie mit Krankheit auf eine bedrohliche Situation, flüchtet sich in ein Fieber, das den Blick vernebelt und die Wirklichkeit schemenhaft erscheinen lässt. Draußen verstärken sich die Flüchtlingsströme. Die Namen der Dörfer und Städte ihrer Herkunft, die sie den Landsbergern zurufen, werden immer bekannter. Bald wird auch der Name Friedeberg genannt, Wohnort der Freundin Christa Tabbert – «Christa T.». Jetzt ist klar, dass die Grenze zwischen «denen» und einem selbst gefallen ist, dass man dazugehört und sich einzureihen hat ins Schicksal der Flüchtlinge.42

Am 29. Januar 1945 besteigen Christa und ihr Bruder Horst den mit einer Plane überzogenen Pritschenwagen, den ein Onkel organisiert hat. Die Geschwister haben gegen die Kälte mehrere Pullover und Mäntel übereinandergezogen. Inmitten all des aufgestapelten Hausrats wirken sie selbst wie Sachen, die schnell verpackt und aufgeladen wurden. Vom Stadtrand her sind die ersten Schüsse zu hören, die Garnison ist bereits im Eilmarsch abgerückt. Auch Tante und Großeltern sind an Bord. Herta Ihlenfeld aber bleibt im letzten Moment zurück, die Mutter lässt den Wagen mit den Kindern und der Verwandtschaft davonfahren. Eine Kurzschlussreaktion: Sie kann sich nicht losreißen vom Haus und von all den Dingen, die das bisherige Leben ausmachten und die nun in einer unbetretbaren Vergangenheit versinken sollen. Man lässt doch sein Hab und Gut nicht einfach im Stich! Das Führerbild, das im Herrenzimmer hing, hatte sie bereits im Ofen der Zentralheizung verbrannt. Den Wagen hatte sie bepackt mit sinnlosen Gütern, die auf der Flucht nach und nach verloren gingen: keine Zeit, darüber nachzudenken, was man brauchen könnte. Das Familienalbum mit den Fotos aus glücklichen Kindertagen blieb zurück, so wie das ganze bisherige Leben.43

In ihrer Erzählung «Blickwechsel» und in «Kindheitsmuster» beschreibt Christa Wolf die Stationen der Flucht und die merkwürdige Veränderung, die dabei in ihr vorging. Es war, als sei es nicht mehr sie selbst, sondern eine Fremde, die da auf dem hart gefrorenen Bettensack auf dem Lkw hockte und durch einen Schlitz in der Plane nach hinten, auf die verschneite Straße spähte, und dort, grau in grau, in kleinen Ausschnitten, die Häuser, Gassen und Straßen ihrer Heimatstadt vorüberziehen sah.44 Sie starrte hinaus und sah sich selbst dabei zu und spürte die Gewissheit des Gedankens: «Das siehst du niemals wieder!»45

In Interviews kommt sie immer wieder auf diese blitzhafte Erkenntnis zu sprechen, die sie damals für sich behalten musste: «Ich wusste im selben Moment, dass ich das nicht aussprechen durfte, weil das ganze Lastauto voller Verwandter war, die ausgerastet wären. Es hieß ja immer, es ist nur für kurz, so lange, bis der Krieg, vielleicht sogar zu unseren Gunsten, beendet ist.»46 Auch für Christa Ihlenfeld hatte der Glaube an den Endsieg neben dieser katastrophalen Gewissheit des endgültigen Abschieds weiterhin als Möglichkeit Bestand. Ein seltsamer, somnambuler Bewusstseinszustand stellte sich ein, in dem das Unverträgliche – Endsieg und endgültige Vertreibung – hart nebeneinander existieren konnte.

Das Motiv der Entfremdung – der Loslösung von allem Gewohnten – äußert sich in «Blickwechsel» als seltsames, irres Gelächter, mit dem die Ich-Erzählerin ihre Verwandtschaft während der Flucht irritiert: «Ich höre wieder das feine Geräusch, mit dem der biedere Zug Wirklichkeit aus den Schienen springt und in wilder Fahrt mitten in die dichteste, unglaublichste Unwirklichkeit rast, sodass mich ein Lachen stößt, dessen Ungehörigkeit ich scharf empfinde.»47 Das Lachen, das die Angehörigen nicht verstehen, weil sie es auf sich beziehen, ist der Sprung in der Welt und im eigenen Ich, jenes «Höllengelächter», das Christa Wolf in der Erzählung «Kein Ort. Nirgends» Heinrich von Kleist in den Mund legen wird: «Warum lacht man? Nicht aus Fröhlichkeit. Wie man bald aufhören wird, aus Trauer zu weinen. Bald werden wir für alles, was uns überkommt, nur noch dieses Gelächter haben.»48 Es ist ein trostloses Gelächter, das seine Unschuld verloren hat und von dem es in «Nachdenken über Christa T.» heißt: «Aber wir lachten nicht, beileibe nicht. Eher warfen wir uns in den nächsten Straßengraben und weinten, das war wenigstens etwas. Die Geschichte von unserem verlorenen und nach Jahren wiedergefundenen Lachen ist eine andere Geschichte.»49

Die Strecke, die der Treck in den ersten, eiskalten Winterwochen der Flucht zurücklegte, führte von der Oder über die Seelower Höhen in großem Bogen nördlich um Berlin herum. Nach drei Wochen fand Herta Ihlenfeld wieder zur Familie, ein kleines Wunder der Wiedervereinigung inmitten des Flüchtlingschaos. In dem Dorf Grünefeld bei Nauen blieb die Gruppe bis Mitte April und nahm Quartier in einer kleinen Stube der Gastwirtschaft.

Die Monate in Grünefeld sind noch einmal ein letztes Atemholen. Christa geht in Nauen zur Schule und fehlt nur zufällig an dem Tag, an dem das Gebäude bombardiert wird. Es ist eine allgemeine Erfahrung: Wer überlebt, überlebt zufällig. Grünefeld ist auch der Ort, an dem Nelly in «Kindheitsmuster» ihr Tagebuch verbrennt. Noch im April 1945 hält sie darin ihre unverbrüchliche Treue zum Führer fest und notiert nachts, im Luftschutzkeller, die Texte von Kampfliedern der Hitler-Jugend. Das Motiv der Tagebuchverbrennung findet sich auch in anderen Werken, in der «Moskauer Novelle», im «Geteilten Himmel», in «Christa T.». Die Heldinnen Vera Brauer, Rita Seidel und Christa T. vollziehen damit einen symbolischen Akt der Reinigung, eine Loslösung von der irregeleiteten Vergangenheit. In «Kindheitsmuster» erscheint die Prozedur dagegen eher als Vorsichtsmaßnahme. Die Vernichtung wird von der Mutter initiiert, die das Tagebuch der Tochter heimlich mitliest und rigoros anordnet: «Das kommt mir jetzt aber weg.»50 Die Rote Armee setzt zu diesem Zeitpunkt bereits zum Sturm auf Berlin an. Grünefeld wird zu einem unsicheren Ort, die nächste Evakuierung steht bevor.

Die Flucht geht nun mit einem Handwagen weiter in nordwestlicher Richtung, den Amerikanern entgegen. Der Weg entsprach in etwa der Route, die auch die KZ-Häftlinge aus Oranienburg bei ihrem Todesmarsch nehmen mussten. Doch die Ihlenfelds waren den Gefangenen um ein paar Tage voraus, sahen also nicht die Tausende von Toten, die am Straßenrand liegen blieben. Der erste Tote, den die Tochter sah, war ein Landarbeiter, der von einem Tiefflieger getroffen wurde, der Vater eines gleichaltrigen Jungen, mit dem sie in einer nahen Scheune Schutz gesucht hatte. Wie sie sich in den Straßengraben warf und die Flugzeuge, die Jagd auf die Flüchtenden machten, über sich hinwegziehen ließ, hat Christa Wolf in «Blickwechsel» beschrieben. Sie lag auf dem Rücken, denn sie wollte sehen, wer auf sie schoss. Erst da fiel ihr ein, «dass in jedem Flugzeug ein paar einzelne Leute saßen», und kaltblütig begann sie sich zu fragen, «ob ihnen das Spaß machte, was sie taten. Übrigens ließen sie bald davon ab.»51

Die direkte Konfrontation mit dem Tod beendete abrupt den Dämmerzustand, in den die Sechzehnjährige sich zurückgezogen hatte, unberührbar geworden und so gefühlstaub, dass ihr Gleichmut zugleich als Tapferkeit erscheinen konnte. In «Nachdenken über Christa T.» fand Christa Wolf dafür die Metapher vom «Ritt über den Bodensee» und verglich die Flucht mit jenem Reiter aus der Ballade Gustav Schwabs, der, als er erfährt, dass er soeben quer über den zugefrorenen See geritten ist, vor Schreck tot vom Pferd fällt.

Die Flucht und die Nachkriegszeit schieben sich wie Nebelstreifen in die Erinnerung. Im Rückblick stellte die Autorin erstaunt fest, dass «zwischen den Lebensepochen der Kindheit – sagen wir: bis sechzehn Jahre – und einer neuen Etappe, wo sich, oberflächlich ausgedrückt, ein ‹neues Weltbild› formiert hatte, eine Art Niemandsland liegt und dass diese beiden Epochen, die jede für sich ziemlich deutlich und klar sind, getrennt sind durch einen Streifen von merkwürdiger Farblosigkeit.»52 Eine Art Verpuppung setzte ein, das Einspinnen in einen Kokon für mehrere Jahre, bis aus dem BDM-Mädchen die junge Sozialistin geworden war. Wie diese Transformation vonstatten ging, lässt sich nur an einigen wenigen Beispielen dokumentieren, die Christa Wolf in Erinnerung geblieben sind und die sie immer wieder erzählt. In diese Zwischenzeit fiel auch die kurze, aber sehr intensive Phase eines «Versuchs mit dem Christentum». Doch diese erste Suchbewegung nach geistiger Orientierung blieb erfolglos: «Das ging nicht.»53

Der Schockzustand, in den sie 1945 fiel, enthielt auch ein latentes Erschrecken über die eigene Schuld – beginnende Ahnung, an das Falsche geglaubt zu haben. Dazu trug das Gespräch mit einem KZ-Häftling an einem Lagerfeuer in der Nähe Schwerins bei, eine Begegnung, auf die Christa Wolf immer wieder zu sprechen kommt, weil sie emblematisch das Vorher und das Nachher scheidet. Erst Jahre später konnte sie diese Szene, die auch in «Kindheitsmuster» geschildert wird54, wirklich begreifen,55 und doch brannte sie sich sofort ins Gedächtnis ein. Die Mutter hatte den Mann, der noch seine gestreifte Häftlingskleidung trug, gefragt, was man ihm denn vorgeworfen habe. Seine Auskunft, er sei Kommunist, beantwortete sie mit dem erstaunten Ausruf: «Aber deshalb allein kam man doch nicht ins KZ!» Dass jemand sich offen dazu bekannte, Kommunist zu sein, war für Christa bereits irritierend. Schließlich kannte sie bis dahin Kommunisten nur als Schreckgestalten nationalsozialistischer Propaganda, und dass das Dienstmädchen der Ihlenfelds in Landsberg aus einer Kommunistenfamilie stammte, war ein Geheimnis, das instinktiv bewahrt werden musste. Noch irritierender aber war die müde Verzweiflung, mit der der Häftling am Feuer den Kopf schüttelte und sagte: «Wo habt ihr bloß alle gelebt.»56 Sein Satz öffnete einen Spalt im Bewusstsein und machte blitzartig erkennbar, dass die friedliche Normalität des Familienlebens eine andere Wirklichkeit ausschloss. Dass nichts zu wissen oder nichts wissen zu wollen keine Gewähr für Unschuld ist.

In der Nähe Schwerins, in dem Dorf Gammelin, endete die Flucht. Zwei Tage fehlten den Flüchtlingen, um es noch über die Elbe zu schaffen. Ein paar Kilometer weiter westlich, und «mein Leben wäre ein völlig anderes geworden. Und so ist es eben dieses geworden. So waren die deutschen Schicksale.»57 Zufälle, die das Leben bestimmen: Die Amerikaner übergaben Gammelin im Juni 1945 an die Briten, im Juli wurde Mecklenburg insgesamt der sowjetischen Verwaltungszone zugeschlagen. Den Sommer verbrachten die Ihlenfelds «sehr zusammengedrängt auf irgendwelchen Bauernhöfen» in einem «Gefühl von großer Schwere und Bedrückung».58 Vom Vater fehlte jede Nachricht, er galt als tot. Vor den Russen hatten die Frauen gute Gründe, Angst zu haben, eine Beklemmung, die Christa Wolf in «Kindheitsmuster» nicht verschweigt. Lächerlich erschien ihr die russische Propaganda mit roten Spruchbändern über der Straße, Hammer und Sichel und heroischen Filmen aus der Sowjetunion.

Für die ersten Nachkriegsmonate fand sie Arbeit im Bürgermeisteramt als «Schreiberin». Sie genoss es, hier ein bisschen Macht in der Hand zu halten, und bemühte sich mit mäßigem Erfolg, wie eine Zwanzigjährige und eine richtige Respektsperson auszusehen. Eine Einwohnerzählung führte sie als das «neue Fräulein des Bürgermeisters» persönlich durch und unterschrieb die Akten mit großem Ernst «für die Richtigkeit» der erhobenen Daten. Als die Russen im Oktober den politisch belasteten Bürgermeister schließlich seines Amtes enthoben, wurde auch «das Fräulein» entlassen. In einem Lebenslauf, den sie 1955 verfasste, passte Christa Wolf diese Episode den neuen Anforderungen der Zeit an und schrieb: «Ich arbeitete längere Zeit als Schreibkraft des Bürgermeisters und sammelte meine ersten Erfahrungen bei der praktischen Durchführung der Bodenreform.»59 Rigoroser ist die Auskunft, die sie in «Blickwechsel» über die unmittelbare Nachkriegszeit gibt. «Ich hatte keine Lust auf Befreiung»60, heißt es da lapidar.

Ab März 1946 besucht Christa Ihlenfeld die Oberschule in Schwerin. Doch die Normalität ist nicht so leicht wiederherzustellen, wenn die Banknachbarin vor Hunger in Ohnmacht fällt und die Lehrer die Haare der Schülerinnen nach Läusen durchsuchen. Aufsatzthemen dieser Zeit lauteten etwa so: «Persönlichkeiten, die die neue Ordnung aufbauen».61 Schon im Mai musste Christa den Schulbesuch unterbrechen, weil sie an Tuberkulose erkrankte. Typhus hatte sie zuvor schon überstanden, zusammen mit ihrem Bruder. Gemeinsam lagen sie im Krankenhaus, abgemagert bis auf die Knochen, und mussten zusehen, wie ihnen nach dem Fieber die Haare ausfielen.62

Die Tuberkulose ist lebensbedrohlich, aber auch ein Glücksfall, denn sie bedeutet in erster Linie viel freie Zeit und Schonung. Die schönen Tage des Frühlings verbringt Christa lesend unter dem Apfelbaum eines Bauerngartens. Immer noch gehören Carossa, Binding, Griese und Jelusich zu den Autoren ihrer Wahl. Bis ins Jahr 1947 hält sie an dieser verschwommen-schwülstigen Lektüre fest, was ihr später als Indiz dafür erscheint, dass «mein ganzer Wahrnehmungsapparat offensichtlich beschädigt war».63

In diese Monate fällt allerdings auch das literarische und moralische Erweckungserlebnis mit Gedichten von Goethe. Der kleine blaue Band «Wie herrlich leuchtet mir die Natur» war der einzige Gegenstand, der vom Landsberger Leben geblieben war, doch erst jetzt entfaltete er seine «bestürzende Wirkung». Goethes Gedichte, von denen stets ein heilsamer Effekt ausging, setzten ein neues Maß, das in Zukunft nicht mehr unterschritten werden konnte: «Unbewusst, später bewusst, verlangte ich nach dieser Erschütterung. Allmählich, über Jahre, lernte ich es, auf ihr als einem nicht nur ästhetischen, auch moralischen Zentrum meines Lebens zu bestehen.»64 Einige heimlich geschriebene Gedichte waren die unmittelbare Folge dieser Erfahrung, Verse, in denen es um etwas ging, das «Glück» hieß.65 Daneben entstanden Märchen, Erzählungsversuche, Entwürfe zu Stücken und vor allem Tagebuchnotizen.66 Wichtiger als die eigenen Ausdrucksversuche waren jedoch die «Erschütterungen und Einsichten» jener «furchtbaren Bücher», die über die Verbrechen der Nationalsozialisten berichteten, sodass kein Zweifel mehr daran bestehen konnte.

Dem Sommer in Mecklenburg folgte ein Winter im Lungen-Sanatorium, 1947 dann der Umzug nach Bad Frankenhausen/Kyffhäuser. Nachdem der Vater im Sommer 1946 aus sowjetischer Gefangenschaft heimgekehrt war – ausgehungert und auf 85 Pfund abgemagert, kahl geschoren und vollkommen fremd –, übernahm er eine Stelle als Heimleiter eines Kinderheims. Das Gebäude lag sehr schön am Hang des Kyffhäusers, und, besonders erfreulich, es gehörte eine Dienstwohnung in einem Zweifamilienhaus dazu. Nach den Jahren in engen Zimmern und auf fremden Dachböden erschien der Familie diese Aussicht wie das Paradies.

Christa, durch Flucht und Erkrankung zurückgeworfen, besuchte die Oberschule. Im Deutschunterricht nahm man Goethe und Rilke durch, aber auch, weil es eben sein müsse, Anna Seghers’ «Das siebte Kreuz», das in den damals auf Zeitungspapier gedruckten Rowohlt-Rotationsdrucken ausgegeben wurde. Christa las diesen Roman einer Flucht, diese Geschichte eines Kommunisten, mit Spannung und gleichzeitig mit Verwunderung. Das Deutschland ihrer Kindheit war ihr anders, glücklicher erschienen. Hatte es tatsächlich Verfolgung und Unterdrückung unter der glatten Oberfläche der eigenen Erfahrung gegeben, so, wie sie es nun atemlos zur Kenntnis nahm?67 Waren Kommunisten solche Menschen wie dieser zähe, lebenslustige Georg Heisler, der in allen Schichten des Volkes Unterstützung findet? Die Seghers-Lektüre stellte die Weltsicht der Gymnasiastin nachhaltig in Frage.

Unter den Schulkameradinnen, die zwei bis drei Jahre jünger waren als sie selbst, gab es nur wenige Flüchtlinge. Christa entdeckte plötzlich wieder, dass es auch «so etwas wie ein leichtes Leben» gibt. Sie selbst war aus ihrer Kindheit unvermittelt heraus- und ins Erwachsenenleben hineingeschleudert worden, sodass sie im Rückblick sagen konnte: «Ich hatte keine Jugend.»68 Das mag übertrieben sein, doch viel Zeit blieb dem Flüchtlingsmädchen aus dem Osten nicht, bis es 1949 in Frankenhausen das Abitur ablegte. In diese Zeit fallen mehrere Ereignisse, die Christa Wolf später als beginnendes politisches Bewusstsein und «Ende der Gleichgültigkeit» beschreibt. Sie berichtet davon in einem essayistischen Text, einer Auftragsarbeit, die sie 1971, zum 25. Jahrestag der Gründung der SED, schrieb. Vergeblich durchsucht sie darin ihr Gedächtnis nach Hinweisen, was in ihrem Leben an jenem 21. April 1946 geschehen sein könnte – es gibt keine Spiegelung der offiziellen Geschichte im eigenen Nachkriegsalltag. «Die Wahrheit ist», schreibt sie im Ton eines peinlichen Geständnisses, «dass ich erst zweieinhalb Jahre nach jenem 21. April 1946 meine erste marxistische Schrift las.»69

Wieder, wie schon bei der Schilderung der Goethe-Lektüre unterm Apfelbaum, malt Christa Wolf als Kulisse eine ländliche Idylle, eine bäuerliche Genreszene mit Äpfeln: «Es war ein schöner Herbsttag, pfundweis aß ich die kleinen, säuerlichen Äpfel, die meine Großmutter mir ins Fenster reichte, nachts notierte ich mir – falsch, wie man sehen wird – den Titel der Schrift in mein Tagebuch: Feuerbach und die ausgehende klassische Philosophie.»70 Doch die Sätze von Friedrich Engels – «Und so wird im Lauf der Entwicklung alles früher Wirkliche unwirklich» – infizierten die Neunzehnjährige sofort, denn sie stimmten mit ihrer Erfahrung überein. Mit Bleistiftanstreichungen rückte sie dem Text zu Leibe und unterstrich, was ihr bedeutend erschien: «An die Stelle der absterbenden Wirklichkeit tritt eine neue, lebensfähige Wirklichkeit.» Das, so kommentiert die Schriftstellerin 1971, «sollte der Vorgang werden, der dann mein Leben ausfüllte. Ahnte ich es an jenem Abend? Keineswegs.»71

Sätze wie dieser, gesprochen in ungebrochenem Fortschrittsglauben und im kräftigen Selbstbewusstsein einer Sozialistin, die weiß, dass sie auf der richtigen Seite steht, lesen sich nach dem Untergang des Sozialismus nicht ohne Verblüffung. Das historische Gefälle zwischen der überlegenen Erwachsenen und der unwissenden Halbwüchsigen verlängert sich hinter dem Rücken der Autorin von 1971. Ahnte sie damals, wie sehr das Thema der absterbenden Wirklichkeit sie weiter beschäftigen würde bis über das Absterben des Sozialismus hinaus? Keineswegs. Der in der Jugend unterstrichene Satz von Engels hat sich jedenfalls über die Wende hinaus bewahrheitet und erwies prophetischere Qualitäten, als Christa Wolf 1971 ahnen konnte.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Auskunft, die sie 1965