Christel stellt was an - Anny von Panhuys - E-Book

Christel stellt was an E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

In einer deutschen Großstadt lebt Christel Ewald, ein jugendfrisches, bildhübsches Mädchen, Assistentin bei einem Zahnarzt, eine von vielen in dem großen Getriebe unverheirateter junger Mädchen, um die sich die Verehrer scharen. Eines Abends, nach Sprechstundenschluss, hat sie ein kleines Abenteuer, im Grunde ist es eigentlich nur der harmlose Streich eines großen Jungen. Christel nimmt die Sache auch nicht tragisch, aber die lieben Nächsten machen leider eine regelrechte Staatsaktion daraus. Christel gerät in schwere Bedrängnis, doch sie beschließt, sich zu wehren. In der Tat stellt sie allerlei an, um den schuldigen Attentäter zur Rechenschaft zu ziehen. Der stellt sich schließlich selbst, aber dann nimmt die Sache eine ganz andere, überraschende Wendung ... Anny von Panhuys hat einen höchst vergnüglichen Roman über die Geschicke einer sympathischen jungen Frau geschrieben, die der Leser von den ersten Seiten an ins Herz schließt – ein Roman der sehr unterhaltsam zu lesen ist und einfach nur Freude macht!Anny Freifrau von Panhuys (1879 – nach 1941) ist eine deutsche Unterhaltungsschriftstellerin in der Tradition von Nataly von Eschstruth, Hedwig Courths-Maler und Helene Butenschön ("Fr. Lehne"), die etwa 100 Romane geschrieben hat und auch als Schauspielerin tätig war. Geboren wurde sie am 27. März 1879 als Tochter des Dachdeckermeisters, Dachpappenfabrikanten und Gelegenheitsdichters Ignaz Umouaft in Eberswalde. Durch ihre Adelsheirat wurde sie Freifrau. Panhuys begann um 1915, meist mehrere Romane pro Jahr zu veröffentlichen und war bis zu Beginn der vierziger Jahre literarisch aktiv. 1931 kehrte sie wieder nach Eberswalde zurück, wo sie in der Grabowstraße 28 wohnte. Ihr genaues Todesdatum konnte nicht ermittelt werden. Ihre Bücher wurden auch nach ihrem Tod noch immer wieder neu aufgelegt – vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren – und teils auch ins Niederländische übersetzt. Während die Romane der älteren Nataly von Eschstruth vornehmlich im gehobenen Adelsmilieu spielen, ist Anny von Panhuys' Hauptthema der Niedergang und Bedeutungsverlust des (in ihren Büchern meist verarmten) Adels und sein Streben nach Anschluss an die neue bürgerliche Welt.-

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Anny von Panhuys

Christel stellt was an

Roman

Saga

Christel stellt was an

© 1950 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711570197

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1.

Das Wartezimmer bei dem Zahnarzt Dr. Wendeck war sehr altmodisch eingerichtet. Wendeck hatte die Praxis seines Vaters übernommen und in der Wohnung wie in den Berufsräumen fast alles in dem früheren Zustand belassen. So wie heute hatte es schon bei seinem Vater ausgesehen. Inzwischen hatte Wendeck auch schon die Fünfzig überschritten und war seit zwanzig Jahren kinderloser Witwer. Er schien ein immer freundlicher, liebenswürdiger Mensch, war in Wirklichkeit aber ein nörgelnder, grämlicher Herr, sobald er keinen Patienten vor sich hatte.

Christel Ewald, seine Helferin, kannte ihn so, wie ihn seine Patienten nicht kannten.

Sie konnte ein Lied von dem unangenehmen Dr. Wendeck singen. Aber er besaß eine sehr große Praxis und zahlte ein gutes Gehalt, und wenn man zwei Jahre in solcher Stellung ausgehalten hat, hält man auch noch länger aus. Allerdings, tief drinnen im Herzen trug Christel fast ständig den Wunsch mit sich herum, bald einmal hier herauszukommen aus diesen Räumen, in denen sie sich oft wie eine Gefangene vorkam. Und dieser Sehnsucht hing Christel heimlich mit Seufzern nach, wenn Dr. Wendeck brummte, sie wäre zu langsam, oder rügte, sie wäre nicht bei der Sache gewesen. — —

Es war eines Abends, Anfang des Herbstes, Christel dachte schon an den Heimweg und an das Abendbrot, weil sie bereits Hunger verspürte, und stand seit vielleicht zwei Minuten untätig am Fenster des Wartezimmers. Um diese Zeit verlief sich kein Patient mehr hierher, wenn ihn nicht unerträgliche Zahnschmerzen oder ein zerbrochenes Gebiß dazu zwangen. Allerdings saß drinnen bei Dr. Wendeck noch eine Dame, die ein paar Goldplomben bekommen hatte und heut zum letzten Male bestellt worden war. Sobald die Patientin gegangen sein würde, durfte sie nach dem Auskochen der zahnärztlichen Instrumente auch verschwinden, dachte Christel Ewald mit einem kleinen frohen Aufatmen.

Sie sehnte sich heraus aus der ihr heute ganz besonders drückend erscheinenden Atmosphäre der moosgrünen Plüschgarnitur, die dem Wartezimmer etwas Muffiges gab. Dem jungen Mädchen fiel ein, daß sie noch eine Karteieintragung machen mußte. Mit einem letzten Blick auf die belebte Straße wandte sie sich vom Fenster ab. Also, an die kleine Arbeit gegangen! Christel schraubte die eben gelöste Kapsel des Füllfederhalters sofort wieder fest, denn eben klingelte es ziemlich heftig an der Korridortür. Da die Wirtschafterin sich um diese Zeit in der Küche befand, eilte Christel hinaus, um zu öffnen.

Na, wer verläuft sich denn jetzt noch hierher? ärgerte sie sich dabei. Dr. Wendeck hatte vorhin geäußert, er müsse nach dem Abendessen noch zu einer wichtigen Besprechung in die Friedrichstadt.

Christel überzeugte sich durch das Guckloch der Korridortür, wer draußen stand. Das junge Mädchen sah ein Männergesicht vor sich. Gut geschnitten war es, vielleicht ein wenig kantig, und zwei dunkle Augen schienen gerade hinein in die ihren zu blicken. Sie hörte ein ungeduldiges Hüsteln und öffnete.

„Gerade, wenn man Eile hat, muß man am längsten warten!“ klang es ihr ärgerlich entgegen.

Der Sprechende hatte vergessen, zu grüßen; er mußte es also wirklich sehr eilig haben, stellte Christel fest und fragte nach dem Wunsch des Herrn.

Der lange, etwas düstere Wohnungsflur wurde ständig von einem Wandarm erhellt, und die beiden Menschen schauten sich nun wie prüfend an. In den dunklen Männeraugen blitzte es auf. Donnerwetter, war das ein Mädel, das vor ihm stand! Er spürte einen ordentlichen Ruck durch seinen Körper gehen und fand es viel wichtiger, das bildhübsche Geschöpf noch ein paar Sekunden länger stumm zu bewundern als zu reden. Aber dann entschloß er sich doch, den Mund aufzutun, und sagte mit einem netten, jungenhaft frohen Lachen:

„Ich wollte gern einen Zahnnerv getötet haben. Er quält mich schon längere Zeit, aber vorhin setzte der Schmerz so toll ein, daß ich mich entschloß, den Quälgeist beseitigen zu lassen.“

Christel schüttelte bedauernd den Kopf.

„Der Herr Doktor ist noch beschäftigt und gleich danach will er fortgehen. Die Sprechstunden sind längst vorbei.“ Es tat ihr fast leid, so antworten zu müssen.

Der schlanke Besucher, der ungefähr sechs-, höchstens aber achtundzwanzig Jahre alt sein mochte, gefiel ihr. Die dunklen Augen paßten gut zu dem herben Gesicht. Er hatte etwas beinah Verwegenes an sich, das Frauen an Männern gern haben.

Er lachte wieder. „Sie sehen aus, als wenn Sie die rechte Hand des Zahngewaltigen sind, bitte, sorgen Sie dafür, Schwester, daß das rebellische Biest heute noch zur Ruhe gebracht wird.“ Er machte eine Handbewegung nach seiner rechten Wange und deutete damit an, wo das ‚rebellische Biest‘ zu suchen wäre. Gleichzeitig wandte er sich dem Wartezimmer zu, dessen Tür Christel vorhin weit offen gelassen hatte. Seinen Hut hatte er abgenommen und hielt ihn noch in der Linken.

Christel sagte eifrig:

„Es hat wirklich keinen Zweck für Sie, zu warten, mein Herr. Dr. Wendeck hat heute beim besten Willen keine Zeit mehr, aber wenn Sie um die nächste Straßenecke rechts gehen, werden Sie wieder einen Zahnarzt finden.“ Eigentlich hätten die wenigen Worte wohl genügt, aber das Lachen auf seinem Gesicht reizte Christel, noch hinzuzufügen: „Gar so schlimm scheint der Schmerz übrigens nicht zu sein, sonst wären Sie wohl kaum so vergnügt.“ Christel lächelte dabei. Sie konnte nicht anders. Wie ein frischer Hauch von Lebensfrohsinn umwehte es den späten Patienten. Frohsinn aber liebte sie, wo er ihr auch begegnete.

Dr. Wendeck war brummig, und die Großmutter, bei der sie seit dem Tode der Eltern lebte, sah die Welt und das Leben nur in der Vergangenheit, mit zweiundzwanzig aber hält man es mehr mit Gegenwart und Zukunft, und wenn Christel ein Lachen ins Ohr klang, wurde sie leicht davon angesteckt.

Der Besucher hatte schon die Schwelle des Wartezimmers überschritten. Christel huschte an ihm vorbei und breitete leicht die Arme aus. Sie hatte manchmal etwas zu lebhafte Bewegungen.

„Bitte, gehen Sie wieder, mein Herr, ich sagte Ihnen doch, es hat gar keinen Zweck, zu warten.“

Er sah sie an. Wahrhaftig, das hübscheste Mädel, das ihm bisher vor die Augen gekommen, war dies schlanke und doch kräftige Geschöpf in dem schneeweißen Schutzkittel. In dem feinen Gesicht von entzückender Regelmäßigkeit standen ein paar sehr große Augen von leuchtendem Blau, die Zähne waren einfach blendend und das leicht gewellte braune Haar hatte goldenen Glanz. Sie trug es etwas zurückgebürstet, aber man konnte sich denken, wie es sich locker und weich um die Stirn bauschen mochte, wenn Christel nur lose mit dem Kamm darüber hinstrich. Und wie sanft war die Linienführung des Mundes. So rein, so knospenhaft, so ... Er schaute wie gebannt auf den Mund und das Lächeln, das er als Ermutigung auffaßte. Er vergaß, warum er hierhergekommen, junges Blut überlegt nicht immer erst genau, was es tun darf, sondern tut es gleich. Es klang dicht an Christel Ewalds Ohr:

„Sie sehen noch so ungeküßt aus, Schwester!“ Und im gleichen Augenblick fühlte Christel, wie sich zwei Arme um ihren Körper legten, sie ein wenig hochrissen, und fast gleichzeitig preßte sich ein heißer Männermund so fest auf ihre Lippen, daß ihr der Atem stockte. Sie wandte dem Arbeitszimmer Dr. Wendecks den Rücken zu und hatte das leise Öffnen der Tür überhört. Im Rahmen derselben erschien eine sehr elegante Dame, die mit leicht geöffnetem Mund auf ihrem Platz verharrte, und hinter ihr baute sich die eckige Gestalt Dr. Wendecks auf. Seine Brauen waren drohend zusammengezogen, und er machte ein paar Bewegungen mit den langen Armen, die sehr viel bedeuten konnten. Vorläufig verschlug ihm jedoch das Erstaunen die Sprache.

Das alles hatte sich blitzgeschwind und lautlos abgespielt.

Christel war so benommen, daß sie, die im allgemeinen schnell Entschlossene, sich nicht im geringsten wehrte. Aber der Fremde hob jetzt den Kopf und sah das wie versteinert dastehende Paar. Und jetzt spürte er auch den ekelhaften Schmerz im hohlen Zahn wieder, fast gleichzeitig stieß ihn das Mädel mit ganz überraschender Kraft zurück.

Er brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, jetzt würde Unangenehmes für ihn heraufziehen wie ein böses Wetter mit Blitz und Donner. Den Hut trug er noch in der Linken; er hatte ihn unwillkürlich krampfhaft festgehalten, und mit einem Sprung erreichte er den Korridor. Schnell drückte er die Türklinke nieder und lief die Treppen hinunter. Als er etwas überhastet aus dem Haus trat, fuhr eben eine leere Taxe vorbei. Anrufen, Fahrziel nennen und das Hineinspringen erforderten zusammen nur Sekunden. Gerade als oben im ersten Stock der Zahnarzt Dr. Wendeck mit Vorwürfen über ihr skandalöses Benehmen auf Christel Ewald losfuhr, sauste unten die Taxe schon fort, und die langjährige Patientin mit den blitzenden Goldplomben sagte kichernd:

„Ich hätte Ihnen so‘n kesses Betragen gar nicht zugetraut, Fräuleinchen.“

Dr. Wendeck geleitete die noch immer belustigt Lachende bis zur Treppe.

Als er zurückkam, pflanzte er sich vor Christel auf und hielt ihr den Zeigefinger drohend dicht vor die Nase. Er fauchte:

„Schön bloßgestellt haben Sie sich und mich dazu, Fräulein Ewald! Meiner Praxis bös geschadet haben Sie! Was bedeutet die Unverschämtheit? Wie durften Sie ihren Liebhaber hierherbestellen zu Kußstudien? Das übersteigt doch wirklich alle Grenzen der Möglichkeit!“

Sie hatte ihn unterbrechen wollen, aber es war ihr nicht gelungen. Seine grauen Augen hinter den scharfen Brillengläsern hatten sie bei dem Versuch so vernichtend angeblitzt, daß sie ihn noch ein Weilchen toben ließ. Er schloß schließlich empört:

„So kann man sich also in einem Menschen täuschen, und für Ihren Lebenswandel hätte ich die Hand ins Feuer gelegt!“ Es klang fast etwas tragisch.

Christel fand die Tonart eher komisch und hätte beinah gelacht, so wenig wohl ihr nach dieser Strafpredigt auch zumute war. Sie richtete sich gerade auf.

„Herr Doktor, Sie gehen von völlig falschen Voraussetzungen aus. Vor allem, ich weiß gar nicht, wer der Mensch vorhin gewesen ist, ich habe ihn heute zum erstenmal in meinem Leben gesehen.“

Dr. Wendeck wartete nicht erst ab, bis sie ihre Verteidigung vorgebracht hatte, sondern polterte: „Um so schlimmer haben Sie sich benommen, Fräulein Ewald! Ein anständiges Mädchen läßt sich nicht so mir nichts, dir nichts von einem Unbekannten küssen, noch dazu öffentlich in dem Wartezimmer eines Zahnarztes.“

Schon wieder reizte er Christel zum Lachen. Sie war wütend, und doch saß ihr das Lachen nahe. Sie wurde nicht mehr klug aus sich selbst, denn eigentlich war die dumme Geschichte, die der Fremde verschuldet, eher zum Heulen, aber dazu verspürte das junge Mädchen nicht die geringste Neigung. Sie erklärte möglichst ruhig:

„Der Herr kam vorhin und wollte einen Zahnnerv getötet haben. Ich erwiderte ihm, Sie hätten heute abend keine Zeit mehr dazu, er solle zu einem anderen Zahnarzt gehen, und dann hat er mich plötzlich umgefaßt und geküßt. Ich kann jedenfalls gar nichts für die Unverschämtheit des Menschen.“

Dr. Wendeck sah sie sehr ungläubig an.

„Und gesagt hat er nichts?“

Christel nickte: „O doch, gesagt hat er auch etwas!“ Es war ihr peinlich, die Worte des Fremden zu wiederholen, aber sie tat es, weil sie bei der Wahrheit bleiben wollte.

Dr. Wendeck strich fahrig über seine Stirn und über sein dünnes Grauhaar, sah dann auf ihren Mund, als bemerkte er ihn heute zum erstenmal.

Glühende Röte ergoß sich über Christels Gesicht bei diesem Blick. Sie wandte unwillkürlich den Kopf zur Seite, murmelte:

„Ich muß noch etwas auf einer Karteikarte vermerken.“ Sie nahm den Füllfederhalter zur Hand und wollte die Notiz machen, an deren Ausführung sie vorhin das Klingeln des Fremden gehindert.

Aber auch jetzt kam sie nicht dazu, ihren Vorsatz auszuführen. Dr. Wendeck lächelte spöttisch:

„Eine ganz nette Filmidee, Fräulein Ewald, die Sie mir als Erlebnis aufhängen wollen. Ich gehe wenig ins Kino, aber ich denke mir, solche Szenen werden einem da vorgesetzt. Vielleicht haben Sie den eben verzapften Unsinn von dem Fremden, seinem Kußüberfall, seiner ulkigen Erklärung dafür, samt dem tapferen Davonlaufen in ähnlicher Weise im Kino gesehen.“ Seine Stimme wurde schärfer. „Sie werden diesen Helden, mit dem Sie leider auch eine meiner treuesten Patientinnen überraschte, in Wirklichkeit sehr gut kennen. Dem Herrchen hat‘s zu lange gedauert, unten vor dem Haus auf Sie zu warten, und er wollte mal gucken, wie‘s hier oben stand. Falls er mich angetroffen, hätte er eben eine Ausrede vom Stapel gelassen. Das Alleinsein verlockte Sie beide zum Leichtsinn, und Sie vergaßen, wo Sie sich befanden. Weil Sie dann überrascht wurden, versuchten Sie die Sachlage, die eigentlich klar genug war, zu verdrehen und mir ein Märchen aufzutischen. Ich aber glaube längst nicht mehr an Märchen, Fräulein Ewald, ich hegte schon als Kind meine Zweifel. Ich weiß aber Bescheid, weil ich nämlich auch mal ein junger Mann gewesen bin.“

Zorn schoß in Christel hoch. Ihr Gesicht Dr. Wendeck wieder voll zuwendend, sprudelte es über ihre Lippen:

„Das kommt mir auch wie ein Märchen vor, ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Sie einmal ein junger Mann gewesen sein sollen.“

Hinter den scharfen Brillengläsern fing es gefährlich an zu blitzen, und gleich darauf begann der Donner zu grollen. Wenigstens ähnelte ihm jetzt Dr. Wendecks Stimme.

„Ich kündige Ihnen wegen ungebührlichen Benehmens, Fräulein Ewald.“

Christel schauerte zusammen. Du lieber Himmel, ihr war zumute, als hätte der grämliche, grauhaarige Herr eben einen Eimer mit eiskaltem Wasser über ihrem Kopf ausgeleert. Wie oft hatte sie sich hier fortgesehnt, aber die jähe Erfüllung ihres Wunsches traf sie schwer, traf sie so, daß sie Dr. Wendeck ganz verdattert ansah. Sie wollte sprechen und brachte doch kein Wort hervor. Ganz tief holte sie Atem. Ihr Mut von kurz zuvor hatte sie verlassen, und sie biß sich so derb auf die Lippen, daß es ihr weh tat, weil sie allzu rasch etwas gesagt, was besser unausgesprochen geblieben wäre. Ratlosigkeit spiegelte sich auf ihren Mienen.

Dr. Wendeck ging mit raschem Schritt auf sein Arbeitszimmer zu.

„Ich ordne heute alles selbst. Sie brauchen sich nicht mehr aufzuhalten.“ Bissig warf er ihr über die Schulter hin zu: „Lassen Sie ihren mutigen Helden nicht länger warten und bedanken Sie sich bei ihm für das, was Ihnen jetzt vielleicht unangenehm ist. Übrigens, wenn Ihr Märchen zum Teil stimmen sollte ... Sie haben es dem Monsieur sehr leicht gemacht. Ich rate Ihnen, ziehen Sie den Burschen nur ordentlich am Ohr. Ein anständiger Kerl läßt ein Mädel nicht in solcher zweifelhaften Lage zurück und gibt Fersengeld.“

Klapp! machte die Tür zum Arbeitszimmer, hinter der Dr. Wendeck verschwunden war.

Christel starrte mit weitgeöffneten Augen darauf, als rechnete sie mit Dr. Wendecks Wiedererscheinen. Wohl mehrere Minuten verharrte sie so, dann aber machte sie ihre Eintragungen fertig. Danach zog sie den Mantel an, setzte den kleinen kecken Hut auf und verließ etwas benommen die Wohnung. Auf der Treppe blieb Christel stehen. Die Pille, die sie hinunterschlucken mußte — bildlich ausgedrückt — saß ihr wie ein schmerzhaft fühlbarer Fremdkörper im Halse. Großchen würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie die schlimme Nachricht von der Kündigung hörte. Christel umfaßte das Treppengeländer und rührte sich nicht. Monatlich hundertzwanzig Mark bedeuteten schließlich keine Kleinigkeit. Man war nicht sicher, ob man in einer neuen Stellung soviel erhalten würde. Dr. Wendeck hatte ja sogar für das nächste Vierteljahr Zulage versprochen. Vielleicht fände sich sobald überhaupt keine neue Stellung. Dann säße man da mit schwerem Kopf und konnte auf den Frechling, den Fremden, dem man das alles verdankte, schimpfen von morgens bis abends. Christel blickte sich um. Ein heimliches Hoffen, Dr. Wendeck könnte sie vielleicht zurückrufen, war plötzlich in ihr erwacht. Wie schön, wie schön, wenn er ihr sagen würde: ‚Sie dürfen bleiben!‘ Doch niemand rief sie, und sie glaubte zu wissen, weder morgen noch später würde Dr. Wendeck die drei für sie so inhaltsschweren Worte sprechen. Er hielt meist an seinen einmal gefaßten Entschlüssen fest.

Ein mattes Lächeln huschte um ihren Mund. So oft hatte sie gewünscht, das hohe Mietshaus in der Großen Frankfurter Straße nicht mehr betreten zu brauchen, wie ein Glück war ihr das erschienen, — und jetzt, wo sie schon in wenigen Wochen keinen Schritt mehr hierhin zu tun brauchte, hätte sie am liebsten laut geweint. Wahrhaftig, jetzt war es soweit, jetzt brannten die Tränen hinter ihren Lidern und setzten ihr zu. Sie warf den Kopf zurück. Heulen? Fiel ihr nicht ein, das hätte gerade noch gefehlt. Sie hatte nichts begangen. Die dumme Antwort, die sie Dr. Wendeck gegeben, wäre natürlich besser unterblieben, aber — Dr. Wendeck hätte sie auch nicht wie eine Lügnerin und leichtsinnige Person behandeln dürfen.

Ein neuer Gedanke verdrängte plötzlich alles andere. Christel war eingefallen, der Übeltäter von vorhin könnte draußen vor dem Haus auf sie warten, um sich bei ihr zu entschuldigen. Sie verspürte Herzklopfen, und alles schien ihr mit einemmal gar nicht mehr besonders schlimm.

2.

Christel trat auf die Straße und ihre Blicke suchten gründlich den Bürgersteig vor dem Hause ab. Nach rechts und links schaute sie, auch hinüber auf die andere Straßenseite, aber die Elektrischen und Autos nahmen ihr die weite Sicht. Sie schlenderte erst ein paarmal ganz langsam hin und her und schob sich dann mit einem Trupp Menschen auf die gegenüberliegende Straßenseite. Aber der Fremde tauchte auch dort nicht auf. Er würde überhaupt nicht auftauchen. Der Himmel mochte wissen, in welchem Viertel er sich jetzt schon befand.

Berlin war ja so riesengroß, und — eigentlich hatte Dr. Wendeck recht, der Held hatte ‚Fersengeld‘ gegeben. Ein feiger, unverschämter Geselle war er, der sie in eine peinliche Lage gebracht und dann prompt im Stich gelassen hatte, anstatt alles aufzuklären, wie es seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen. Sie seufzte. Ein tolles, nein, nur ein albernes Erlebnis hatte sie heute gehabt, und es lohnte gar nicht, darüber nachzudenken. Es mußte ihr genügen, daß sie unschuldigerweise die Folgen zu tragen hatte. Um eine neue Stellung sollte sie sich kümmern und darum, wie sie Großchen die unangenehme Neuigkeit beibringen konnte.

Jemand berührte Christels Schulter. Sie schrak zusammen und drehte hastig den Kopf herum. Sie hatte wahrhaftig geglaubt, der Fremde wäre es, und sagte nun nur langgedehnt:

„Ach, du bist’s, Fränze!“

„Das klingt fast, als hätte ich dir eben eine ganz große Enttäuschung bereitet“, lächelte Franziska Dorner. Sie war groß, mattblond und hatte schmale, lebhafte Augen. Sie wußte, daß sie nicht hübsch war, und spöttelte manchmal darüber.

Sie war Blumenbinderin in einem Geschäft des Westens, dessen Kundschaft sehr anspruchsvoll war. Von der Natur hatte sie einen wunderbaren Schönheitssinn mit ins Leben bekommen und war stets bereit, alles Schöne, das sie sah und hörte, begierig in sich aufzunehmen. Ihr Chef behandelte sie wie eine Kostbarkeit, weil er wußte, Fränze Dorner war nicht leicht zu ersetzen. Sie war eine der Seltenen ihres Berufs, die um der Blumen willen auf die Welt gekommen zu sein schienen. Die verwöhnteste Kundin stellte sie bestimmt zufrieden. Meisterhaft verstand sie es, Sträuße oder Blumenschmuck für eine Festtafel zusammenzustellen. Wenn ihre schmalen langen Finger die Blumen nur berührten, war es, als ob die sich dabei verwandelten, als ob ein Wunder an ihnen geschähe. Die Farben der Blüten schienen plötzlich leuchtender zu werden, die Stengel schienen sich zu straffen, und die Blätter oder Gräser bogen sich weicher.

Fränze Dorner schob ihren Arm unter den Christels.

„Ich habe bei einer Frau Hanna Bolten — es scheint eine reiche Witwe zu sein — für diesen Abend einen Tisch für eine Geburtstagsfeier zurechtgemacht. Gelbe und weiße Nelken nahm ich dafür, es sah ganz reizend aus. Frau Bolten trägt auch ein gelbes Seidenkleid mit weißem Schleiercape über den Schultern. Die Blumen sollten dazu passen. Anscheinend denkt sie an eine neue Ehe, und der Zukünftige wird heute abend wohl auch an dem duftenden Tisch sitzen. Ich habe gedacht — weil ich mich nun doch in der Nähe befand, wollte ich dich abholen. Beinahe hätte es aber nicht geklappt, du wärst mir fast entwischt. Und jetzt freust du dich nicht mal, Christel, wo wir uns doch in letzter Zeit gar nicht besonders oft sehen konnten. Zudem wollte ich dich einladen, mich in irgendein gutes Speisehaus zu begleiten. Ich habe heut die Spendierhosen an. Mein Chef hatte nämlich vorgestern sein fünfundzwanzigjähriges Geschäftsjubiläum. Er war bei der Gelegenheit nobel, seit vorgestern bin ich um zweihundert Mark reicher.“

„Da gratuliere ich dir herzlich, Fränze“, sagte Christel ein wenig gepreßt. „Ich freue mich mit dir!“

Fränze kniff die Freundin leicht in den Arm.

„Du verstehst es aber großartig, deine Freude zu verbergen“, stellte sie etwas betreten fest. „Jedenfalls scheint heute mit dir nicht viel anzufangen zu sein. Bist wahrscheinlich diesen Morgen mit dem linken Fuß zuerst aus dem Bett gestiegen. Oder war dein Zahnkünstler wieder mal besonders eklig und gallig?“ Sie lachte. „Mach dir nichts draus, schöne Christel, das graue Gestell hat längst vergessen, wie jungen Menschen zumute ist.“

Christel widersprach: „Er behauptet allerdings das Gegenteil. Er meinte gerade vorhin, er wäre auch mal ein junger Mann gewesen.“ Sie blieb stehen und sagte erregt: „Ich hab’ ihm aber geantwortet, das könnte ich mir nicht vorstellen.“

Fränze zog die um zwei Jahre jüngere Freundin mit sich fort.

„Aber Christel, was war da für’n Geist in dich gefahren? Dergleichen darf man doch seinem Chef nicht sagen — selbst wenn du recht haben solltest! Natürlich hat er dir einen ordentlichen Marsch geblasen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Hättest dich nicht wundern müssen, wenn du zum Dank für deine Offenheit aus der Stellung geflogen wärst.“

„Was du doch für eine große Menschenkennerin bist!“ lachte Christel zornig. „Ich bin tatsächlich aus der Stellung geflogen.“

„Kunststück! Wenn du dich so ruppig gegen deinen Brotgeber benommen hast!“ Fränze fragte nun ernst: „Du bist also nun tatsächlich entlassen worden?“

„Ja“, nickte Christel, „in einigen Wochen ist meine Zeit bei Dr. Wendeck um.“

„Aber wie kamst du eigentlich dazu, ihm eine derartige Liebenswürdigkeit an den Kopf zu werfen? War er frech gegen dich, hat er sich in dich verknallt? Das könnte ich sogar begreifen.“

Christel zuckte die Achseln.

„Der weiß gar nicht, was Verknallen ist! Und ich glaube, wenn ich dir erzähle, wie die ganze Geschichte, die zur Kündigung führte, angefangen hat, kriege ich eine Mordswut hier mitten auf der Straße, und die Leute blieben stehen.“

Fränzes schmale Grauaugen blickten forschend in das Gesicht der Freundin, die ihr ganz verändert vorkam. Sie machte den Vorschlag: „Es ist wohl am gescheitesten, wir fahren zu mir. Ich habe daheim allerlei zu essen und zu trinken, und dort kannst du ohne Zeugen deiner Mordswut freien Lauf lassen. Wir werden bei euch vorbeigehen, und du sagst deiner Oma Bescheid. Sie kriecht dann eben etwas früher ins Bett. Das tut sie, soviel ich weiß, sogar sehr gern.“

Sie bogen in eine Seitenstraße ein und erreichten den Andreasplatz. Dort wohnte die verwitwete Frau Anke Ewald, geborene Wobbe. Eine schmale, mittelgroße, sich auffallend gerade haltende Frau von sechsundsiebzig Jahren war sie, mit dichtem weißem Haar, das in breiten glatten Scheiteln über der Stirn lag. Die Blauaugen Christels wiederholten sich bei ihr. Sie waren aber nicht mehr so glänzend und so voll Tiefe. Müde schien das Blau, weil sich die Sonne der Jugend längst nicht mehr darin spiegelte. Mit wenigen Worten wurde Frau Ewald davon unterrichtet, daß Christel die Freundin nach Hause begleiten sollte. Die alte Frau nickte.

„Meinetwegen nehmen Sie Christel mit, liebe Fränze, aber behalten Sie das Mädel nicht zu lange bei sich, damit sie morgen früh gut ausgeschlafen hat.“

Sie blickte Christel unwillkürlich genauer an, fragte ernst: „Was gibt es, Christel, du siehst verstimmt aus? Hast du Ärger gehabt?“

Christel dachte: Heraus mußte die Wahrheit doch, also wollte sie lieber gleich Klarheit schaffen. Sie hob die Schultern, erklärte mit trotziger Stimme:

„Dr. Wendeck hat mir gekündigt, Großchen. Nächsten Ersten ist’s zu Ende mit der Herrlichkeit in der Großen Frankfurter Straße. Ich muß mir also eine neue Stellung suchen.“

„Warum hat er dir denn gekündigt, Christel?“ fragte die alte Frau sehr erschrocken. „Ich habe immer angenommen, er wäre sehr zufrieden mit dir. Er wollte dir doch jetzt sogar wieder dein Gehalt erhöhen.“ Sie mußte sich in den Lehnstuhl setzen, der noch vom Schattenhof in den Vierlanden stammte, vom Hof, auf dem sie geboren war und von dem aus sie den Klavierlehrer und Musiker Ewald geheiratet hatte, der sie mitnahm in die große Stadt Berlin. Ihr Leben lang aber hatte sie sich nach der Heimat zurückgesehnt, nach dem Schattenhof in der hamburgischen Landschaft, auf dem die Wobbes gewohnt seit dreihundertundfünfzig Jahren. Sie drängte:

„Rede doch, Christel, ich möchte klarsehen, denn ohne Grund kann dir Dr. Wendeck nicht so Knall und Fall gekündigt haben.“ Sie sprach hochdeutsch, aber im Tonfall ihrer Worte lag noch stark der Rhythmus ihres heimatlichen Dialekts. Frau Ewald schaute die Enkelin forschend an. „Was will er von dir, der Zahnarzt, was hast du ihm nicht recht gemacht?“

Fränze dachte: Schade, nun gab’s heute abend kein Fortkommen mehr von hier, denn sie sah es Christel an, mit ein paar einfachen Sätzen ließ sich das nicht mitteilen, was sie ganz durcheinandergebracht zu haben schien. Fränze stand gerade vor dem braunen Samtsofa. In einer Ecke ließ sie sich nieder. Sofaecken wurden immer von ihr bevorzugt, wenn sie Gelegenheit fand, ihre große kräftige Gestalt darin möglichst behaglich unterzubringen.

Christel aber stand mitten im Zimmer mit lässig hängenden Armen. Plötzlich aber flogen sie hoch, und wie eine Anklage schleuderte das junge Mädchen hinaus:

„Ich habe Dr. Wendeck, wenn er auch nie zugab, daß er mit meinen Leistungen zufrieden gewesen, doch alles recht gemacht. Bis heute, bis der fremde Mensch zu uns hereinschneite und mich küßte. Ich kann doch nichts für seine Dreistigkeit, ebensowenig, daß er einfach davonlief und verschwand, als wenn nichts geschehen wäre, nachdem er das Unheil angerichtet hatte. Deshalb bin ich doch keine Lügnerin!“

Anke Ewalds Augen trafen sich mit denen Fränze Dorners. Es waren zwei fragende, ratlose Blicke, die ineinandertauchten.

Fränze rief Christel laut zu:

„Von was und von wem redest du denn eigentlich, Mädel? Chinesisch würden wir beinah besser verstehen als das, was du uns eben auf Deutsch vorgesetzt hast. Versuche doch, klar und deutlich zu erzählen, was geschehen ist, denn: Dunkel ist der Rede Sinn!“

Christel schüttelte sich so gründlich, als hätte sich irgend etwas an sie angeklammert, das sie loswerden wollte.

„Du lieber Himmel, hab Geduld, Fränze, ich bin doch so schrecklich wütend, wenn ich nur daran denke, daß ein fremder Mann, einer, den ich sicher im ganzen Leben nicht mehr wiedersehen werde, mir so geschadet hat.“ Sie stand in ungefähr gleicher Entfernung von der alten Frau wie Fränze und lachte plötzlich böse. „Ich sollte mich ja freuen, daß ich Dr. Wendeck bald nicht mehr zu sehen brauche. Ich finde, selbst wenn er lächelt, ist alles um ihn herum noch grau in grau. Und ich spielte manchmal mit dem Gedanken, ihm kündigen zu können. Man spielt aber oft mit allerlei Gedanken und weiß doch genau, es bleibt nur Spiel.“ Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Ich rede wirklich zuviel um die Geschichte herum, also los, ich werde hübsch der Reihe nach erzählen. Wie ein kurzes Theaterstück ist’s. Der erste Akt davon paßt für ein Lustspiel, der zweite dagegen für ein Trauerspiel.“

Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Dann begann sie in fast kühlem Berichtston von dem Geschehenen zu reden. Sie wurde ein paarmal von ihren Zuhörerinnen unterbrochen, aber sie achtete kaum darauf und war denn auch bald beim Schluß angelangt.

Die alte Frau zog mechanisch den unteren Saum ihrer Schürze wie glättend durch die Finger.

„Das alles ist wirklich kaum glaublich, und wenn Dr. Wendeck für Schwindel hält, was du ihm von dem Fremden sagen konntest, darf man es ihm nicht übelnehmen. Ich glaube dir natürlich, aber ich bin auch deine Großmutter und kenne dich.“

Fränze Dorner schüttelte heftig den Kopf.

„Dr. Wendeck kennt Christel nun auch schon zwei Jahre, und schließlich braucht man sie nur anzusehen, um zu wissen, daß sie nicht lügt.“

Christel rieb ihre Stirn.

„Ganz tolles Kopfweh habe ich bekommen, und das Herz springt mir nächstens zum Halse hinaus, so hoch ist es schon geklettert mit seinem Klopfen.“

Fränze riet: „Wenn es das durchaus tun will, so laß es nur, ich tret’s dann tot und du bist fortan herzlos. Wenn dir der Held deines Abenteuers vielleicht doch noch einmal im Leben begegnen sollte, kannst du dich fürchterlich an ihm rächen.“

„Er wird mir nicht begegnen, dem lag nichts daran, sonst wäre er auf irgendeine Weise vor Dr. Wendeck für mich eingetreten.“ Sie sprang auf. „Sollte es aber doch geschehen, sollte er mir noch einmal über den Weg laufen, dann würde ich ihm eine runterhauen, an die er denken sollte. Ganz gleich wäre es mir, wo ich ihn träfe. Mitten auf der Straße oder im Theater oder im Ballsaal, meinetwegen auch in der Eisenbahn oder im Warenhaus, wenn es drinnen am überfülltesten ist. Ich schwöre, die Ohrfeige erhält er dann von mir.“ Sie hob die Rechte.

„Dergleichen Unsinn beschwört man nicht“, sagte Anke Ewald ernst.

Christel schien es gar nicht gehört zu haben. Sie ließ die Hand wieder sinken und malte sich aus:

„Vielleicht begegne ich ihm am Potsdamer Platz, nachmittags gegen fünf, wenn’s da gerade so recht, recht belebt ist, oder ich entdecke ihn in der Skala, wenn die Werkmeister was vorträgt, oder im Sommer am Wannsee oder ...“ Sie fand nicht gleich weiter.

„... oder in der Kartoffelpufferbäckerei am Bahnhof Friedrichstraße“, half Fränze neckend aus und lachte lustig. „Du bist ja verdreht, schöne Christine. Schließlich verfällst du noch auf die Idee, es wäre fortan dein Lebenszweck, den Menschen zu suchen, damit er zu seiner Ohrfeige kommt.“ Sie tippte sich auf die Stirn. „So schlimm ist das alles doch gar nicht. Wenn du deinem Chef nicht die dreiste Antwort gegeben hättest, hätte er dir überhaupt nicht gekündigt. Ich verstehe dich vollkommen, es ist manchmal geradezu wohltuend, wenn man seinem gepreßten Herzen Luft machen kann, aber es ist nicht immer klug, das zu tun, du kaum mündig gewordenes Lebewesen.“

„Schade um die schöne Stellung!“ seufzte die alte Frau Ewald und setzte beinah stolz klingend hinzu: „Als ich jung war, hätte sich kein Herr solche Frechheit herausgenommen, wie es der Fremde gegen dich gewagt hat.“

„Schade, daß man nicht weiß, wer er ist“, lächelte Fränze. „Ich hätte ihn gern einmal gesehen.“ Sie fragte lebhaft: „Wie sieht er eigentlich aus, Christel?“

Um deren Lippen zuckte es.