Wirren um Liebe - Anny von Panhuys - E-Book

Wirren um Liebe E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Die Geschichte zweier junger Frauen auf der Suche nach der großen Liebe: Als Regine den Studenten Dieter in ihrer Wohnung seinen Rausch ausschlafen lässt, um ihm einen Skandal zu ersparen, geschieht allerdings genau das. Schließlich sieht sich Dieter gezwungen, sich mit Regine zu verloben. Dabei liebt er doch eigentlich Marlene, die ihn jedoch wegen eines angeblichen Grafen hat sitzen lassen. Aber auch Marlene hat Pech in der Liebe, und so ist es schließlich ein alter Familienring, der die Probleme entwirrt...-

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Anny von Panhuys

Wirren um Liebe

Frauenroman

Saga

Wirren um LiebeCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1953, 2020 Anny von Panhuys und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726629460

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1.

Regina Ißberg erwachte zu früherer Morgenstunde als sonst. Ihr war es, als hätte irgendein lautes Geräusch sie aus dem Schlaf gerissen.

Sie setzte sich im Bett auf und lauschte angespannt hinaus. Und nun hörte sie ganz deutlich etwas, das einem plumpen Fall glich.

Sie befand sich allein in der Wohnung. Die Eltern waren für ein paar Tage nach Klein-Demsdorf zu Verwandten gefahren; sie wollten erst heute nacht zurückkehren, und die Aufwärterin pflegte morgens nie vor sieben Uhr zu kommen. Eben schlug die Standuhr im Wohnzimmer die fünfte Stunde. Doch es war Juni und draußen längst völlig hell.

Durch die nicht fest geschlossenen Läden schoben sich hellgoldene Stäbe, die nicht greifbar und doch fest umrissen waren. Frau Sonne hatte ausgesandt.

Regina Ißberg war kein feiges Mädel, und møt dem Wort „Furcht“ stand sie nicht auf de und du Mit ihren zwanzig Jahren wußte sie, was Sport bedeutete. Im Rudern, Fechten, Turnen, Schwimmen und sogar im Boxen war sie geübt, und ihr schlanker, doch kräftiger und gesunder Körper hätte sich keine kleinliche Schwäche verziehen.

Also aus dem Bett heraus und die Läden aufgestoßen!

Das Licht der hellen, frohen Morgensonne drang jetzt mit aller Macht ein. Regina warf den Bademantel über den blauweißen Schlafanzug, und während sie mit der Rechten glättend über das einfach gescheitelte Haar fuhr, trat sie auf die Diele hinaus.

Von jenseits der Korridortür vernahm sie ganz eigentümliche Laute, die sie nicht recht unterbringen konnte. War es Stöhnen, Grunzen oder gar Schnarchen? Es klang häßlich und mißtönend.

Regina zog nachdenklich die schmalen goldbraunen Haarbögen hoch, die sich wie kleine Brücken über die hellgrauen Augen spannten, und legte ein Ohr an die Spalte der Tür, die nach dem Flur hinausführte. Die befremdenden Laute schienen sich jetzt in ein Stöhnen verwandelt zu haben.

Jedenfalls hielt Regina für nötig, sofort die Flurtür zu öffnen und sich zu überzeugen, was eigentlich in aller Herrgottsfrühe in dem sonst so ruhigen Westendhause los war, in dem es nur drei Wohnungen gab. Im Erdgeschoß wohnte Chemiker Doktor Ißberg, ihr Vater, dem das Haus gehörte, im ersten Stock Frau Lindner, die Witwe eines Arztes, mit ihrem jüngsten Sohn, dem Ingenieur, und den zweiten Stock hatten Gerhards mit ihrer halberwachsenen Tochter inne. Der Mann war ein gutgestellter Versicherungsagent.

Vielleicht war einem der Mieter ein Unfall zugestoßen?

Der Schlüssel drehte sich herum; die Sicherheitskette klirrte leicht, als sie entfernt wurde. Regina drückte die Klinke nieder und erschrak vor dem, was sie sah.

Dicht vor ihrer Flurtür, mit dem Kopf auf der untersten Treppenstufe, lag Dieter Lindner vor ihr, der Student aus dem ersten Stock. Der Hausflur war völlig hell, und in der scharfen Beleuchtung der Morgenfrühe sah das regelmäßige Gesicht des jungen Menschen seltsam fahl und schlaff aus. Seine Hautfarbe spielte ins Graue hinüber.

Unschlüssig, was sie tun sollte, verharrte Regina Ißberg abwartend, als glaube sie, der regungslos Daliegende müsse in der nächsten Sekunde die Augen aufschlagen und ihr erklären, was eigentlich los wäre. Aber er regte sich nicht. Die sonderbaren Töne setzten wieder ein und entpuppten sich als Schnarchen. Auch machte sich ein Geruch von Alkohol deutlich bemerkbar, und Regina begriff mit einemmal, um was es sich hier handelte — um keinen Unfall, sondern um einen Menschen, der zuviel getrunken hatte und einfach umgefallen war vor lauter Alkohol und jetzt vor ihrer Tür lag, ohne eine Ahnung davon zu haben, wo er sich befand.

Pfui Teufel! drängte es sich unwillkürlich über Reginas Lippen. Sie bückte sich und schüttelte den Schlafenden derb an der Schulter. Der schien nichts zu fühlen; er bewegte sich gar nicht, nur das laute Schnarchen ließ vorübergehend nach.

In Reginas Kopf ballten sich die Gedanken wirr zusammen und wurden zu einem Schmerz, den sie spürte — bis dort, wo das kleine pochende Etwas saß, das man Herz nannte.

Dieter Lindner, dem sie sich heimlich zugeneigt, dessen Gruß sie immer wie eine Liebkosung berührt hatte, lag betrunken vor ihr, war so jählings umgerissen worden vom Alkoholteufel, daß ihm nicht mehr Zeit genug geblieben war, an seine Menschenwürde zu denken.

Die Tränen traten ihr in die Augen und ließen für die Dauer von Sekunden alles um sie herum verschwinden, den stillen Hausflur mit den etwas plump gemalten Landschaften an den Wänden, die Treppe und den Mann, der sich so hart gebettet, weil die Treppe, die er vordem oft mit ein paar Sprüngen genommen hatte, heute ein unüberwindliches Hindernis für ihn gewesen war.

Regina schrak zusammen. War nicht eben ganz oben im Hause eine Tür gegangen? Vielleicht würde nun gleich Herr Gerhards die Treppe herunterkommen, der irgendeinen Frühzug benutzen wollte. Heiße Scham überflutete sie bei dem Gedanken, es könne außer ihr noch jemand Dieter Lindner in dem häßlichen Zustand vollständiger Trunkenheit sehen. Auch an seine Mutter dachte sie, die gute liebe Frau, die so stolz auf ihren Jüngsten war. Ihre anderen Kinder waren verheiratet, und sie hatte einmal gesagt, wie sich Regina erinnerte: Wenn mein Dieter heiratet, muß es eine ganz Besondere sein. Er ist so ein Prachtmensch! Und da lag der „Prachtmensch“, sah grau und alt aus und schlief seinen Bombenrausch auf dem Hausflur aus, hatte sich als Kopfkissen die unterste Treppenstufe gewählt.

 

Regina hatte noch den Nachhall einer im zweiten Stock einschnappenden Tür im Ohr, und alles, was sie dachte, schloß sich so rasend schnell dem an, daß sie schon einen Entschluß faßte, ehe sie von oben noch einen Schritt vernahm. Sie wollte nicht, daß jemand Dieter Lindner in seinem jetzigen Zustand sähe. Es war genug, daß für sie ein Ideal ins Wanken geraten war. Niemand durfte über Dieter Lindner lachen oder spotten. Das Recht dazu mochte sie keinem zugestehen. Sie wußte auch sofort, was sie tun mußte, um es zu verhüten.

Sie hielt sich nicht eine einzige Sekunde mehr mit Überlegen auf, sondern tat, was ihr geboten erschien.

Regina Ißberg war kräftig, aber Dieter Lindner konnte sie natürlich nicht tragen. Sie könnte ihn nur hineinziehen in die Wohnung, ruckweise, Zentimeter um Zentimeter, das müßte gehen, wenn sie sich anstrengte.

Sie bückte sich, packte den vor ihr Liegenden unter den Armen und schleifte ihn, der nur ein paar unverständliche Laute von sich gab, mit kurzen Rucken, wie einen schweren Koffer, hinein in die Diele. Dann holte sie den Hut, der neben Dieter Lindner gelegen hatte, und drückte die Wohnungstür leise ins Schloß. Ihr Herz pochte heftig infolge des Kraftaufwandes, aber ihr Vorhaben war gelungen, Dieter Lindner würde keinem anderen Hausbewohner mehr das häßliche Schauspiel bieten, das er ihr geboten hatte, und darauf allein kam es an.

Sie reckte sich; der Rücken schmerzte ihr, aber was machte das schon?

Sie wandte sich von der Tür ab und blickte gerade hinein in Dieter Lindners weitaufgesperrte Augen, diese Augen, die ihr immer so besonders gefallen in ihrem tiefen satten Blau. Jetzt blickten sie etwas stier; aber selbst da blieben sie schön.

Dieter Lindner saß jetzt auf dem Fußboden, und sein Gesichtsausdruck war unbeschreiblich. Er starrte Regina unverwandt an und mühte sich krampfhaft, herauszufinden, wo er sich befand und wie Regina Ißberg zu ihm gekommen sein könnte. Ein Büschel seiner blonden Haare hing ihm strähnig in die Stirn.

Er wollte sprechen, wahrscheinlich eine Frage tun, aber Regina hörte jetzt die Schritte, vor denen sie sich vorhin gefürchtet, die Treppe herunterkommen und bedeutete ihm, zu schweigen. Verwundert schüttelte er den Kopf, hielt aber den Mund, bis die Person draußen vorbei war.

Etwas heiser fragte er: „Wie komme ich denn hierher? Mir scheint, ich befinde mich in Ihrer Wohnung.“

Er erhob sich ungeschickt und versuchte krampfhaft, Haltung zu bewahren, aber ihm war verflixt flau zumute. Die Diele mit den hellen Eichenmöbeln schien sich mitsamt der hübschen Regina Ißberg um ihn zu drehen wie ein Karussell.

Er brummte: „Stehen Sie doch endlich mal still, wenn ich mit Ihnen spreche!“

Hellauf lachte das Mädel. War es Übermut, Spott, Zorn oder alles zusammen? Es genügte jedenfalls, ihn ziemlich stark zu ernüchtern, erreichte ungefähr die gleiche Wirkung, als hätte man ihm eine Kanne eiskaltes Wasser über den wirren Kopf geschüttet.

Er stand plötzlich viel gerader, fuhr sich mit der Rechten über das Haar, das sich, durch tägliches Bürsten an eine bestimmte Lage gewöhnt, sofort fügte.

„Warum lachen Sie mich aus?“ fuhr er Regina an.

Sie warnte: „Seien Sie vorsichtig und sprechen Sie nicht zu laut, es könnte draußen gehört werden. Und damit Sie Bescheid wissen, ich habe Sie hier zu uns hereingeschleift, weil Sie draußen schlafend auf dem Flur vor unserer Tür lagen. Ich wollte nicht, daß irgendwer Sie in dem abscheulichen Zustand sähe.“

„Sie wollten das nicht?“ wiederholte er und schüttelte verständnislos den Kopf. „Es kann Ihnen doch gleichgültig sein, in welchem Zustand jemand mich sieht.“

Er wollte zur Tür. Da entdeckte sie, daß er neben dem rechten Ohr blutete. Sie stellte sich ihm in den Weg.

„So, wie Sie jetzt aussehen, sollten Sie nicht hinauf zu Ihrer Mutter gehen. Waschen Sie sich lieber erst. Sie bluten an einem Ohr und sehen außerdem so aus, daß Ihre Mutter, falls sie schon auf sein sollte, sehr erschrecken würde. Das müssen Sie ihr ersparen. Gehen Sie in unsere Badestube und machen Sie sich dort zurecht. Unsere Aufwärterin kommt erst gegen sieben Uhr. Jetzt befindet sich niemand außer uns beiden in der Wohnung. Meine Eltern sind verreist, also kann keiner von Ihrer jetzigen Verfassung etwas erfahren.“

Er machte eine Bewegung, als wollte er sich auflehnen gegen ihre nüchterne, ruhige Anordnung, aber er biß sich auf die Lippen und schwieg. Da drüben der schmale Gang führte in die Badestube, die Wohnungseinteilung war ja im ersten Stock bei seiner Mutter die gleiche wie hier. Ohne noch eine Silbe zu äußern, setzte er sich in Bewegung, und Regina hörte gleich darauf, wie der Riegel vor die Tür der Badestube geschoben wurde.

Sie kehrte in ihr Schlafzimmer zurück und trat vor den Spiegel. Erst jetzt wurde sie sich wieder dessen bewußt, daß sie Dieter Lindner im Bademantel und mit offenen Zöpfen gegenübergestanden hatte. Trotzdem nickte sie sich zufrieden zu. Ganz ordentlich sah sie aus, aber nun wollte sie sich doch lieber rasch waschen und anziehen.

Das tat sie denn auch, und zehn Minuten später war sie tadellos angekleidet, trug nun einen einfachen dunkelgrauen Rock und eine weiße dünne Bluse mit viereckigem Ausschnitt. Ein goldenes Kettchen mit einem Glückskleeblatt aus grünem Email lag um den schlanken Hals und ihr glattgescheiteltes Braunhaar war im Nacken zum Knoten zusammengenommen. Ein rosiges, frisches und kräftiges Jungmädel war sie. Sie warf nur einen sehr flüchtigen Blick in den Spiegel und ging dann hinüber ins Wohnzimmer, dessen Tür weit hinter sich offen lassend, so daß man sie von der Diele aus sehen konnte, und wartete, bis sich durch den schmalen Gang von der Badestube her Schritte dem Wohnzimmer näherten.

Dieter Lindner trat bei ihr ein.

Er sah sehr sauber aus und duftete nicht mehr nach Alkohol. Sein Kragen war freilich noch verknittert, die Augen waren verschwommen und der Haltung mangelte die natürliche Straffheit, die Regina immer so besonders an Dieter Lindner gefallen hatte.

„Ich danke Ihnen für Ihre Güte, Fräulein Ißberg, und bitte um Verzeihung für die Umstände, die ich Ihnen bereitet habe“, sagte er.

Es klang kalt und gleichgültig, als hätte er sich den Satz, während er sich im Badezimmer befand, immer wieder vorgesprochen, bis er ihn auswendig konnte.

Ein bißchen mehr Freundlichkeit und Wärme hätte ich doch wohl verdient, dachte Regina. Sie sah ihn an.

„Sie brauchen mir gar nicht zu danken. Mir lag eben daran, meines Vaters Haus sauber zu halten. Wenn jemand Sie so, wie Sie draußen lagen, gefunden, hätte man vielleicht gesagt: Schöne Mieter hat Doktor Ißberg.“

Nicht im mindesten hatte sie gedacht, was sie eben behauptet, aber sie hatte sich geärgert über seinen allzu gleichgültigen Dank.

Er aber war schon nüchtern genug, um sich gekränkt zu fühlen. Mit einer sehr förmlichen Verbeugung sagte er:

„Ich darf aus demselben Grund — ich meine, weil Sie Ihres Vaters Haus sauber zu halten wünschen — wohl auch hoffen, daß Sie das Abenteuer von heute früh gegen jedermann verschweigen werden.“

Sie neigte den Kopf.

„Damit dürfen Sie natürlich rechnen, ich verspreche es Ihnen fest; selbst meine Eltern sollen nichts davon erfahren.“

Den Hut in der Hand, erwiderte er: „Ich danke Ihnen für das Versprechen und will jetzt gehen.“ Er grüßte, und sie begleitete ihn bis zur Tür.

Da — gerade, als sie diese öffnete und oeide zusammen im Türrahmen standen, sahen sie sich Frau Gerhard aus dem zweiten Stock gegenüber, die soeben fortgegangen war und eben das Haus wieder betreten hatte. Sie pflegte seit kurzem täglich mit der Schäferhündin Diana einen kurzen Frühausgang zu machen.

Regina war, als müsse sie sich vor den immer etwas dreisten Augen Frau Else Gerhards in ein Mauseloch verkriechen.

Sie wurde rot bis zu den Schläfen — vor diesen Augen und vor dem niederträchtigen Lächeln, das um den schmalen Frauenmund lag.

Frau Gerhard grüßte und meinte: „Oh, sind Ihre Eltern schon von der Reise zurück, Fräulein Regina?“

Sie besann sich keinen Augenblick. Heute würden Vater und Mutter ja wiederkommen, aber erst nach Mitternacht. Mochte die so abscheulich Lächelnde ruhig glauben, sie wären schon hier.

Sie nickte also: „Gerade sind sie angekommen, und Herr Lindner, der schon heute morgen zum Baden gegangen war, kam gerade zurecht, um den Koffer vom Auto reintragen zu helfen.“

Wie auf ein scharfes Kommando versch wand das Lächeln, das Regina so sehr beleidigte, und freundlich sagte der schmallippige Mund: „Wir scheinen das Haus der Frühaufsteher zu sein. Ihre Frau Mutter, Herr Lindner, sah ich von der Straße aus auch schon zum Fenster hinausschauen.“

Dieter Lindner nahm mit ein paar Sätzen die Treppe. Er war jetzt vollkommen nüchtern und begriff, in welche peinliche Lage Regina Ißberg durch ihn hätte kommen können. Zum Glück renkte sich, wie es schien, noch alles ein.

Frau Gerhard nickte Regina zu und schnalzte mit der Zunge: „Komm, Diana! Komm, mein gutes Hundchen!“

Regina schloß die Wohnungstür und blieb in der Diele stehen mit fest verschlungenen Händen.

Die unvermutete Begegnung war noch leidlich gut abgegangen, aber seit dem abscheulichen Lächeln Frau Gerhards war es, als läge ein Alpdruck auf ihrer Brust.

Der Tag hatte nicht gut begonnen.

2.

Drei Stunden später traf Frau Gerhard, als sie in der Nachbarschaft einkaufte, die Aufwärterin von Ißbergs bei einer Gemüsehändlerin und meinte: „Jetzt muß gleich wieder mehr eingekauft werden für die Mahlzeiten, nicht wahr, weil Herr und Frau Doktor Ißberg zurückgekommen sind?“

Die Schwemmert schüttelte den Kopf.

„Die sinn noch janich zurück, Herr und Frau Doktor kommen erst heute nacht wieder.“

Else Gerhard stutzte und fragte schnell: „Wissen Sie genau, daß sie noch nicht wieder da sind? Mir war es doch so, als wären sie heute früh vorgefahren.“

„Ausgeschlossen! Ick war ja heute früh schon in alle Zimmer bei Doktors un hab sie nich jesehn, und Fräul’n Rejina hat jesagt, heut nacht sind se erst widder hier. Die muß et doch wissen.“

„Natürlich, die muß es wissen“, gab Frau Gerhard in so sonderbarem Ton, zu, daß Frau Schwemmert dachte: Eine ganz komische Frau, die Frau Gerhard. Machte die sich lustig über sie? Sie mochte die Gerhard mit ihrer Neugierde überhaupt nicht.

Also Doktor Ißberg und Frau waren noch nicht von ihrer kleinen Reise zurück; Dieter Lindner aber war morgens gegen sechs Uhr aus der Wohnung gekommen. Daß die Schwemmert erst um sieben Uhr anzutreten brauchte, wußte Frau Gerhard ja.

Regina Ißberg hatte demnach gelogen, als sie behauptete, die Eltern wären heute früh zurückgekehrt und der zufällig vom Baden kommende Dieter Lindner hätte den Koffer aus dem Auto in die Wohnung gebracht. Alles war Lüge. Die Schwemmert wußte nichts von der Rückkehr der Eltern Ißberg, und das genügte vollkommen.

Hm, eine sonderbare Geschichte! Man fand sich da nicht gleich zurecht.

Regina Ißberg und Dieter Lindner!!

Frau Gerhard brachte ihre Neuigkeit zuerst bei ihrem Mann an. Dieser, ein stattlicher Vierziger, mit gutmütigem Gesicht machte eine heftig abwehrende Bewegung.

„Else, ich bitte dich, brocke dir und uns kein ungenießbares Süppchen ein. Der Himmel mag wissen, wie sich das alles verhält, jedenfalls geht es uns nichts an. Rede nur niemand gegenüber davon. Sowas kann gefährlich werden, und man lädt sich leicht eine Ehrenbeleidigungsklage auf den Hals. Ich habe viel übrig für Regina Ißberg, und wer sie richtig anguckt, weiß, an dem Mädel ist alles goldecht.“

Die Frau fragte gereizt: „Bei unserer Hansi ist das wohl anders, was? Bei der hält man wohl nicht gleich alles für goldecht, nicht wahr?“

Er lachte: „Hansi ist ein lieber Kerl, aber an Regina Ißberg kann das Küken natürlich noch nicht ran.“ Er wurde ernst: „Du gibst dir freilich alle Mühe, Talmi aus ihr zu machen. Zum Glück entwickelt sie sich in der Beziehung nicht so, wie du es gern möchtest. Taube Nüsse mag ich nicht.“

Sie fuhr gereizt auf ihn los: „Ich bin also in deinen Augen eine taube Nuß, nicht wahr? Ist ja recht nett, was du mir da schon am Vormittag sagst.“ Sie spottete: „Und du bist doch der tauben Nuß nachgelaufen, warst verzweifelt, als sie nicht gleich deine Frau werden wollte.“

Er lächelte versöhnlich: „Laß doch, Else! Wozu die Aufregung? Wir zwei sind vor unserem Ehewägelchen längst gründlich eingefahren. Ich werde nur manchmal widerborstig, wenn ich an Hansi denke. Das Mädel hat Werte, aber du möchtest durchaus ein Püppchen aus ihr machen, und ich will so ’n kerniges Geschöpf zur Tochter haben, wie Regina Ißberg eins ist.“

Sie nickte heftig. „Natürlich, gerade so eine wie die Komödiantin gefällt dir.“

Bums! schlug eine Tür zu, und die junge Hausgehilfin in der Küche zuckte zusammen. Wenn Frau Gerhard eine Wohnungstür zuwarf, war sie nachher immer ziemlich schimpffreudig aufgelegt und ließ ihren Ärger an ihr aus. Richtig, es ging schon los!

Frau Gerhard fegte in die Küche hinein und schrie: „Warum sind noch keine Kartoffeln geschält? Warten Sie vielleicht auf die Unterstützung der Heinzelmännchen? Die gibt’s bloß im Märchen, meine Liebe, die kommen längst nicht mehr, um die Faulheit zu unterstützen.“

Ursel Stolp spürte, wie es unter ihren Lidern brannte. Sie war nicht faul, sie rackerte sich brav ab vom Morgen bis zum Abend, aber nie ward ihr dafür auch nur ein einziges Wort des Lobes zuteil. Und das braucht ab und zu jeder, der sich alle Mühe gibt, seine Arbeit möglichst gut zu machen.

„Sie möchten mir wohl jetzt was vorheulen?“ schalt Else Gerhard. „Das verbitte ich mir. Ich bin nervös und vertrage keine Heulerei. Nehmen Sie sich zusammen und arbeiten Sie.“

Ursels frisches Gesicht war ein bißchen blaß geworden, aber sie weinte nicht. Hart sein muß man! mahnte sie sich selbst. Es lohnte sich nicht, solche Dinge schwer zu nehmen. Sie hatte Pech gehabt mit ihrer ersten Stellung; allzu schlimm war es schließlich nicht. Manchmal war Frau Gerhard ganz nett, und dafür mußte man ab und zu mal einen ungerechten Vorwurf einstecken können.

Frau Schwemmert, die schon seit zehn Jahren die Aufwartung bei Doktor Ißberg besorgte, kam mit ihren Einkäufen nach Hause. Regina trat zu ihr in die Küche, und während die Frau ihre Einkäufe auspackte, fragte Regina leichthin: „Nun, Schwemmerten, gibt’s etwas Neues?“

Sie trug noch immer den Alpdruck von der Begegnung mit Frau Gerhard mit sich herum und hoffte, sich durch oberflächliche Unterhaltung davon befreien zu können.

Sie erhielt von der grauhaarigen Liese Schwemmert die Antwort: „Ach, ville Neuet weiß ick och nich, Fräulein Rejina. Bei’s Einkaufen habe ick die Gerhardsche von oben jetroffen, die hat jefragt, ob Ihre Eltern schon hier sinn.“

Reginas Alpdruck verstärkte sich. Ihr Herz klopfte plötzlich stark und schmerzhaft.

Sie fragte: „Und was haben Sie ihr geantwortet, Schwemmerten?“

Die Frau sah sie etwas erstaunt an.

„Wat sollte ick denn anders antworten, als dett Ihre Eltern erst heute nacht kommen?“

„Ja, was sollten Sie anders antworten!“ echote Regina und sah dabei aus, als wäre es etwas ganz Fürchterliches, was sie bestätigen mußte.

Sie nahm mechanisch die Kohlrabis auf und legte sie wieder hin.

„Sehr schön ist das Gemüse, ich esse es gern, und die Eltern mögen es auch.“

Frau Schwemmert fragte: „Wat is denn mit Sie los, Fräulein Rejina? Sie sehen janz verkwast aus, als wäre Sie nich jut.“

„Mir ist auch wirklich nicht gut“, quälte Regina hervor, ließ die Frau stehen, lief hinüber in ihr Schlafzimmer und grübelte: Was für dummer Schnack konnte aus der Geschichte von heute morgen entstehen, wenn Frau Gerhard nicht den Mund hielt!

Sie wußte, sie könnte es den Eltern nicht erzählen, daß Dieter Lindner so häßlich betrunken gewesen war, und daß sie ihn in die Wohnung geschleift hatte, damit nur niemand ihn so verkommen sehen sollte. Sie würden mit Recht fragen: Was ging denn dich der Mensch an? Und könnte sie antworten: Ich mag ihn so gern und wollte ihm beistehen? Auch seine Mutter tat mir leid!

Nein, sie könnte das nicht antworten.

Sie überlegte und beschloß, Frau Gerhard die Wahrheit zu sagen und sie um Schweigen zu bitten. Auf diese Weise würde sich wahrscheinlich alles am besten aus der Welt schaffen lassen. Ihr blieb auch kein anderer Weg übrig.

Aber hatte sie Dieter Lindner nicht Schweigen versprochen? Durfte sie das Versprechen brechen?

Nein, das durfte sie nicht, ohne durch ihn von ihrem Versprechen entbunden zu sein.

Sie faßte sich an die Stirn. Ihr war, als spüre sie dahinter deutlich das aufgeregte Hin- und Herflattern ihrer Gedanken. Plötzlich mußte sie lachen. Ein kurzes, befreiendes Lachen war es. Mit was für Gedanken plagte sie sich eigentlich herum? Was war denn groß geschehen? Frau Gerhard dachte sicher nicht daran, weiterzuerzählen, was sie gesehen hatte, und wenn sie es doch tun würde, würde Dieter Lindner nicht zögern, jedermann zu erklären, wie er zu seinem Frühbesuch bei ihr gekommen war. Von jetzt an wollte sie nicht mehr daran denken. Sie war von Natur ein so frohgemutes Menschenskind, daß sie nicht leicht über Schwierigkeiten stolperte, und allzu viele waren auch noch nicht auf ihrem jungen Lebensweg gewesen.

Sie freute sich sehr, daß sie Dieter Lindner einen Dienst hatte erweisen können. Und so widerlich ihr Betrunkene auch waren, sie suchte nach Entschuldigungsgründen für ihn. Es wäre traurig gewesen, wenn man im Hause über ihn gelacht hätte.

Weshalb soll ein Mann nicht mal gelegentlich ein paar Glas mehr trinken, als gerade nötig ist? Wahrscheinlich hatte er mit Freunden gefeiert. Und einmal ist keinmal.

Sie entschuldigte das, was sie im ersten Augenblick maßlos erschreckt hatte, und reinigte auf diese Weise ihre Erinnerung von dem abscheulichen Bild, das sich ihr geboten, als sie heute früh auf den Flur hinausgetreten war.

Kurz nach Mitternacht fuhr eine Autotaxe mit den Eltern vor. Sie hatten der Tochter geschrieben, sie möge sie nicht mehr so spät im eigenen Wagen abholen.

Oben im zweiten Stock stand Else Gerhard in einem der dunklen Zimmer und beobachtete die Ankunft von Doktor Ißberg und seiner Frau. Sie freute sich, Regina bei einer so offenkundigen Lüge ertappt zu haben.

Sie mochte Regina nicht leiden, obwohl die ihr niemals etwas getan hatte. Das Frische, Kraftvolle an dem Mädchen störte sie, weil sie selbst es niemals besessen hatte. Sie fühlte sich in einer erkünstelten Atmosphäre am wohlsten und versuchte, ihre Tochter auch dahineinzudrängen.

Nur leistete diese ihr nicht immer Gefolgschaft. Es kam deshalb oft zu kleinen Zusammenstößen. Für moderne Kleidung gab Else Gerhard ein Heidengeld aus, und eitel war sie bis zur Dummheit. Ihrem Braunhaar hatte der Friseur einen goldenen Ton aufzwingen müssen; ihre Brauen waren schmal rasiert und kohlschwarz, und die Lippen brannten immer in korallenroter Lackglut.

Sie schloß leise das Fenster und dachte: Also es spielt wirklich etwas zwischen Regina Ißberg und Dieter Lindner! Beweis: Er kam morgens in aller Frühe aus der Wohnung, in der sich das Mädel allein befunden hatte.

Am nächsten Tage fing sie bei ihrem Mann wieder davon an; er aber gab verärgert zurück: „Ich wiederhole dir, laß die Finger davon, Else! Wir wohnen hier gut und bequem, und ich verspüre keine Lust, umzuziehen. Laß das Mädel da unten in Ruhe. Sie hat ein reines Kleid an.“

Frau Gerhard lachte spöttisch. Sie zupfte die goldüberflimmerten Stirnlöckchen zurecht.

„Ich werde den Mund halten, aber es macht mir Spaß, zufällig Einblick in dieses Verhältnis genommen zu haben. Eine lustige Geschichte ist’s auf jeden Fall, mein Lieber.“

Er zuckte die Achseln. Er hatte seine Geschäfte im Kopf; die kleinlichen Dinge, die seiner Frau „Spaß machten“, störten ihn nur in seinen Gedanken.

3.

Frau Magda Lindner war eine feine schlanke Frau mit blondem krausem Haar, in das die Jahre schon viele Silberfäden eingesponnen hatten. Sie besaß die tiefblauen Augen, die sie auch ihrem jüngsten Sohn vererbt hatte, und war meist guter Laune.

Sie hatte den Sohn mit ängstlichem Gesichtsausdruck empfangen; es war noch nie vorgekommen, daß er die ganze Nacht von Hause fortgeblieben war. Aber dank der gründlichen Behandlung in der Ißbergschen Badestube sah er leidlich aus, und sie ward gleich ruhig, weil alle ihre Ängste, was mit dem Sohn geschehen sein könnte, sich als überflüssig herausstellten. Er hatte die Ausrede gebraucht, er habe mit Freunden zusammengesessen, und weil er seinen Hausschlüssel vergessen, wäre er erst gar nicht heimgekommen, sondern hätte bei einem der Freunde die Nacht verbracht.

Er wußte, seine Mutter haßte unmäßiges Trinken. Wozu nun noch die Wahrheit sagen und ihr wehe tun, wo doch alles in schönster Ordnung war?

In schönster Ordnung? Die verschminkte Frau Gerhard von oben hatte ihn aus der Ißbergschen Wohnung kommen sehen, und Regina Ißberg hatte seinetwegen gelogen, ihre Eltern wären schon da. Regina Ißberg! Ihm schien fast unglaublich, daß es ihr gelungen war, ihn vom Flur in die Wohnung zu schaffen. Eine Kleinigkeit war das bestimmt nicht.

Er lächelte die Mutter an: „Weißt du, ich möchte mich noch ein paar Stunden hinlegen, Mutter. Ich habe auf dem fremden Sofa nur schlechte Nachtruhe gefunden.“

Frau Lindner nickte: „Natürlich, tu das, mein Junge, und schlafe noch. Bis halb acht hast du ja Zeit.“

Sie war froh, daß ihr Sohn gesund vor ihr stand. Sie hatte sich heute früh mit allzuviel Angstgedanken herumschlagen müssen, als sie sein Bett unberührt fand.

Nach der reichlichen Stunde Schlaf aber und ein paar Tassen starken Kaffee ward Dieter Lindner erst das Peinliche des Geschehnisses vom frühen Morgen klar. Ob er sich nochmals bei Regina Ißberg bedanken mußte?

Ach, das hatte er ja getan, daran erinnerte er sich deutlich genug, und ihm wäre verdammt unangenehm gewesen, ihr wieder gegenüberzustehen. Er wollte Regina Ißberg fortan lieber in weitem Bogen aus dem Wege gehen. Allmählich kam er dann wohl über die dumme Geschichte weg.

Anständig hatte das Mädchen ja gehandelt, aber sie hätte sich nicht mit ihm zu befassen brauchen.

Warum hatte er sich denn eigentlich zum erstenmal in seinem Leben so sinnlos betrunken? Wegen eines Mädels, wegen Marlene Staufen, der Nichte vom Konditor Staufen, bei dem er zuweilen gern einen Kaffee getrunken hatte. Sie hatte ihm schöne Augen gemacht und sich sogar von ihm küssen lassen, sich aber plötzlich für einen vor kurzem in der Stadt aufgetauchten sehr eleganten Herrn entschieden.

Da war er in einem Zustand von Trotz und Verzweiflung in eine Kneipe gegangen, in die er zuvor noch nie einen Fuß hineingesetzt hatte. Dort hatte er dann getrunken, wußte nicht mehr, wie er aus der Kneipe bis in das Haus, in dem er wohnte, gekommen war.

Er wusch sich zum zweiten Male sehr ausgiebig und dachte an Marlene Staufen, die ihm verlorengegangen und die in seinen Augen auch jetzt noch das schönste und begehrenswerteste Mädchen weit und breit war. So bald würde er nicht über ihre Treulosigkeit hinwegkommen.

Und derweil sich seine Gedanken auch am Nachmittag noch mit einer Art grimmiger Sehnsucht mit Marlene Staufen beschäftigten, ging die, an die er dachte, durch den dichtgrünen Juniwald neben einem schlanken Herrn her, der vertraulich einen Arm unter den ihren geschoben hatte und ihr erzählte, wie bequem und sorglos sie bald in einem reichen Heim mit ihm leben sollte.

 

Er erzählte: „Ich muß, wie ich dir schon andeutete, um mein Erbe kämpfen, mein Lieb, aber ich werde den Prozeß gewinnen. Mein Anwalt ist seiner Sache völlig sicher. Zwar werden noch einige Monate vergehen, aber dafür lohnt es sich auch nachher.“ Seine dunklen Augen konnten so zärtlich blicken. „Denke doch, Marlene, ein Schloß am Rhein, in der Nähe von Bonn, wird unser werden, mit herrlichen alten Möbeln! Und ein Bankkonto bekommen wir noch dazu. Ich habe mir mein Brot als Künstler verdienen müssen. Was blieb mir weiter übrig? Ich ließ meine Stimme ausbilden. Aber es liegt uns Buttenheims nicht, auf solche Art unser Leben zu gewinnen. Ein Ahne von mir kämpfte im Dreißigjährigen Krieg unter Tilly als einer der tapfersten Generäle und erwarb riesige Landgüter. Er heiratete eine italienische Fürstin, von der wir die dunklen Augen erbten, und ich denke, ihr Bild, das in dem alten Schloß am Rhein hängt, wird dir gefallen. Sie war sehr schön, du aber bist viel, viel schöner als sie.“

Wie betäubt schaute Marlene Staufen den Mann an, der sie so sorgsam über die grasbewachsenen Waldwege geleitete. Sie dachte: Es gibt also wirklich noch Märchen.

Wie ein Märchen war nun das große Glück zu ihr gekommen.

Er küßte sie, und sie grübelte verwirrt: War da nicht einer gewesen, der sie inniger geküßt hatte? Einer, der ihr den Himmel auf Erden versprochen und dem sie kurz und ohne viele Umstände den Laufpaß gegeben hatte, weil sie geblendet worden war von der goldenen Zukunft, die an der Seite Malte Buttenheims ihrer wartete. Sie fand sein Äußeres und sein Auftreten so vornehm und begriff noch kaum, daß sie, gerade sie, von ihm auserwählt worden war unter so vielen Mädchen, die ihm sicher alle gern gefolgt wären, wohin er sie geführt hätte, auch ohne daß als Ziel ein Schloß am Rhein gewinkt hätte.

Seit Malte Buttenheim sie hier in der Konditorei entdeckt, kam er, wie er ihr erzählt hatte, alle paar Tage aus Stettin, um sie zu sehen und sprechen. Er hatte sie gebeten, ihrem Onkel, bei dem sie lebte, noch nichts von der heimlichen Verlobung zu erzählen. Sie müßten erst das günstige Ergebnis des Prozesses abwarten. Dann könne er sich ganz offen um sie bewerben und brauche nicht mit leeren Händen vor ihren Vater hinzutreten.

Sie hatte ein süßes Gesicht, so ein richtiges liebreizendes Oval, lange Wimpern, hellblaue Augen, eine kurze schmale Nase und dichte lichtblonde Haarwellen über einer sehr geraden Stirn. Zwei sanft angedeutete Grübchen in beiden Wangen vertieften sich reizvoll beim Sprechen und Lächeln.

Dieter Lindner schien plötzlich neben ihr her zu gehen und sie anzusehen mit zornigem Blick. Mit so zornigem Blick wie gestern, als sie ihm erklärte, sie liebe einen anderen Mann.

Sekundenlang schnürte ihr unbehagliches Erinnern die Brust zusammen, das Atmen wurde ihr schwer.

Ihr Begleiter fragte: „Was ist dir, Marlenelein? Du siehst mit einemmal so nachdenklich aus.“