Lumpenelse - Anny von Panhuys - E-Book

Lumpenelse E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Auf das "von" kann Frau Ottilie Falkenstein verzichten. Wenn sie wollte, könnte sie jeden Abend im schwerseidenen Kleid in die Oper gehen. Stattdessen lebt sie lieber von ihrem Laden, der Lumpen, Alteisen und Papier ankauft und das nicht schlecht. Für ihre sensible Tochter ist diese Existenz in der dunklen, verrufenen Altstadtgasse schrecklich. "Lumpenelse" rufen ihr die Straßenjungen nach, die nicht begreifen können, warum so jemand die Höhere Töchterschule besucht. Auch der vornehme Herr, der sich eines Tages in den Laden verirrt und ihr vorsichtige Komplimente macht, nennt sie so. Voller Zorn ruft ihm Fee ein "Pfui" hinter her und wendet sich ab. Doch Axel von Rechberg kann diese seltsame junge Frau nicht vergessen. Überraschenderweise trifft er sie eines Tages im Haus seines Onkels, des Bankiers Eduard Römer. Römers Tochter Maria ist die beste Freundin von Fee Falkenstein. Und wenn auch das von allen erwartete Verlöbnis mit Maria stattfindet, neben Fee kann Maria für Axel nicht bestehen. Für Fee ist der junge Mann, der bei den Römers einmal die Nachfolge seines Onkels antreten soll, weiterhin eine Unperson. Maria aber ahnt in ihrer Güte, dass Axel nicht nur mit der Banklehre bei ihrem Vater unglücklich ist. Eines Tages schreibt sie ihm einen langen Brief ...Tief ergreifend schildert der Roman das Schicksal einer jungen Frau, die das Leben auf den falschen Platz gestellt hat, bis die Liebe, einer alten Prophezeiung gemäß, ihr den richtigen zuweist.-

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Anny von Panhuys

Lumpenelse

Roman

Saga

Lumpenelse

© 1953 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592243

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1.

„Lumpen, Alteisen, Knochen, Papier,

Die höchsten Preise, die zahl’ ich dafür!“

sang eine absichtlich allzu laute Knabenstimme. Aufdringlich klangen die Worte in die Stille des dumpfen Lädchens, dessen Tür offenstand, um Luft einzulassen, wenn es auch nur die verbrauchte Luft der schmalen Altstadtgasse war.

Else Falkenhein unterdrückte einen Seufzer. Die Mutter, die eben in einer Ecke alte Zeitungen nachwog, hätte sich nur wieder geärgert über das dumme Getue, wie die robuste Frau alles nannte, was sie nicht begriff. Und die Tochter begriff sie fast niemals. Frau Ottilie Falkenhein war sehr zufrieden mit ihrem Leben, mit ihrer Person, und verstand das scheue und gedrückte Wesen ihrer Tochter ganz und gar nicht. Beim Himmel, welchen Grund hatten sie, die beiden alleinstehenden und aufeinander angewiesenen Frauen denn eigentlich, sich zu beklagen? Tausenden von Menschen ging es in dieser wirren, aufregenden Zeit hundeschlecht. Alles ward von Tag zu Tag teurer. Das Hungergespenst erschien jetzt so manchem, der noch vor wenigen Jahren im eigenen Auto durch die Strassen der Stadt gefahren war. Ottilie Falkenhein, Richard Falkenheins Witwe und Inhaberin des von ihm hinterlassenen Lumpenhandels, dagegen konnte sich mit ihrer Tochter am Sonntag die teuerste Loge im Opernhaus leisten und darin in einem schwerseidenen Kleide Platz nehmen, wenn es ihr beliebte. Natürlich verplemperte sie ihr Geld nicht für solchen Blödsinn. Von dem Gesinge in der Oper verstand sie doch nichts, und als ihr Mann sie in den ersten Ehejahren ein paarmal dorthin mitgenommen hatte, war sie müde und abgespannt wieder nach Hause gekommen. Der Komiker in „Meisters Singspielhalle“ gefiel ihr besser, da gab es doch etwas zu lachen, und man wusste, was man für sein Geld hatte!

Vorläufig galt es noch zu verdienen, tüchtig zu verdienen, die sich bietenden Gelegenheiten zu ergreifen. Das Geld lag heutzutage im wahren Sinn des Wortes auf der Strasse. Die schmutzigen, üblen Lumpen, die allerdings schon früher ganz netten Verdienst abgeworfen hatten, verwandelten sich jetzt förmlich in Gold.

Lumpen, Felle, altes Eisen und altes Papier! — Niemals hätte sie geahnt, welche Reichtümer darin steckten.

Später, wenn das Ausruhen kam, wollte sie sich auch des Wörtchens „von“ vor ihrem Namen wieder bedienen, wozu sie volles Recht besass, jetzt passte es allerdings nicht, jetzt stand es nur in den amtlichen Urkunden, und schon ihr Mann hatte im gewöhnlichen Leben keinen Gebrauch davon gemacht. Sein Vater war ein kleiner Schreiber gewesen, der gleichfalls keinen Wert mehr auf den Adel gelegt hatte. Nur Else konnte sich manchmal darüber freuen wie ein Kind über ein heimlich gehaltenes, besonders liebes Spielzeug, das man niemand zeigt. In der Schule war auf besonderen Wunsch ihres Vaters das „von“ vor ihrem Namen fortgeblieben, obwohl es in ihrem Geburtsschein stand. So kannten die Mitschülerinnen nur eine Else Falkenhein. Alle, ausser einer — alle, ausser Maria Römer!

Ottilie Falkenhein war mit dem Nachwiegen der alten Zeitungen fertig.

„Es sind dreihundert Pfund. Meinert soll das Papier nachher in den Keller schaffen“, sagte Frau Ottilie, sich aus ihrer gebückten Haltung zu ihrer imposanten Höhe aufrichtend. „Ich muss jetzt in die Küche, sonst verbrutzelt das Fleisch.“ Eine kleine Pause. „Else, hast du nicht gehört? Träumst du schon wieder?“

Die mütterliche Stimme klang ungeduldig. Das schmale, blonde Mädchen strich sich mit schneller Bewegung das flimmernde krause Stirnhaar zurück, und ihre Augen richteten sich wie in leichtem Erschrecken auf die in wuchtiger Üppigkeit vor ihr stehenden Frau.

„Ich habe gehört, Mutter, was du gesagt hast — natürlich. Geh nur in die Küche. Ich bleibe im Laden. Wenn Meinert kommt, soll er das Papier in den Keller tragen.“

Frau Ottilie lächelte schnell versöhnt.

„Na, weisst du, geträumt hast du doch wieder, wenn du auch gehört hast, was ich sagte.“

In einer kleinen Aufwallung von Zärtlichkeit, die diese sonst kühle und äusserst nüchterne Geschäftsfrau zuweilen beim Anblick ihrer zarten und hübschen Tochter überfiel, zupfte sie sie leicht an dem mattgoldenen Haargespinst.

„Lass gut sein! Ich weiss, du passt nicht recht hierher, aber vielleicht kommt einmal ein Prinz vorbei und macht dich zu seiner Prinzessin.“ Sie lachte. „Ob’s gerade ein Glück wäre? Denn Prinzen haben heutzutage nicht mehr viel. Die meisten, die sich in die neue Zeit nicht haben hineinfinden können, sind arme Luder geworden.“ Sie reckte sich. „Meine Tochter kann Ansprüche machen. Deine Mutter, Else, hat verstanden, alten Lumpenkram in wertvolle Aktien und gediegene Devisen zu verwandeln, und im Kassenschrank der Schmuck, den ich gelegentlich und unter der Hand kaufte, ist auch nicht zu verachten. Bist ’ne gute Partie, Elschen, brauchst nicht zu träumen! Ist ja doch alles dummes Zeug! Wenn man reich ist, darf man leben. Wer Geld hat, hat Macht. Aber zunächst wollen wir noch ein paar Jahre das Wort Verdienen gross schreiben, dann können wir tun, was uns Spass macht.“

Sie tätschelte flüchtig die Schulter der Tochter und verschwand durch die Tür, die aus dem Laden in die Wohnräume führte.

Von draussen klang es wiederum, fast noch lauter und aufreizender als vorhin:

„Lumpen, Alteisen, Knochen, Papier,

Die höchsten Preise, die zahl’ ich dafür!“

Und nach einem Weilchen rief die helle Knabenstimme das entsetzliche Wort, das Else, trotzdem sie es seit einiger Zeit zu hören gewohnt war, noch immer wie ein scharfer Peitschenschlag traf. Zwei-, nein, dreimal rief die helle Knabenstimme „Lumpenelse!“

Röte flammte über ihr zartes Gesicht, es entriss sich ihr ein leises Stöhnen.

Wie ein Mal der Schande haftete ihr der Name an, schon aus der Schulzeit; und ihr war oft, als schleppe sie ständig eine Kette am Bein hinter sich her, die klirrte und klirrte, deutlich klirrte — das schlimme Wort: „Lumpenelse!“

Es gab damals vier Mädel in der Klasse, die Else hiessen, und die anderen Kinder legten jeder von ihnen, um sie zu unterscheiden, einen Spitznamen bei.

Die eine nannte man die „Blumenelse“. Sie war die Tochter eines Grossgärtners. Eine andere rief man „Müllerelse“. Ihr Vater besass die Mühle. Dann taufte man noch die „Rektorelse“, und als man nach einer näheren Bezeichnung für sie suchte, überschrie eine feine, kleine Schulkameradin alle anderen: „Das ist die Lumpenelse!“

Sie hätte das kleine Geschöpf erwürgen mögen für seine Erfindungsgabe!

Die anderen lachten, als sie ihren Zorn sahen.

„Dein Vater handelt doch mit Lumpen, und eigentlich gehörst du gar nicht in eine höhere Schule!“ spöttelte die Vornehmste der Klasse.

Da hatte sie ergeben den blonden Kopf gesenkt. Doch als sie zu Hause ihren Jammer klagte, lachten die Eltern, und der Vater meinte: „Eigentlich haben die kleinen Kröten recht, und ‚Lumpenelse’ finde ich riesig komisch!“

Komisch nannte der Vater, was ihr so schmerzlich weh tat! Es war ihr erster, grosser Kinderschmerz; es blieb davon eine Wunde zurück, die noch immer offen war, noch immer blutete.

Von jenem Tag an war sie die „Lumpenelse“, war es geblieben. Es hatte sich breitgemacht, das Wort, hatte sich an sie geklammert, und sie duckte sich scheu, wenn es laut ward.

Als sie es zuerst hörte, war sie acht Jahre gewesen. Heute war sie achtzehn Jahre, und seit drei Jahren lag die Schulzeit hinter ihr. Damals, als der Vater starb, meldete die Mutter sie von der Schule ab.

„Hast genug gelernt“, äusserte sie zu Else. „Für unsere Lumpen hat das doch keinen Wert. Ich brauche dich jetzt daheim!“

Von da an stand sie im Laden und half der Mutter, die eins der bestgehenden derartigen Geschäfte in der grossen Stadt besass. Eine wahre Goldgrube war das Geschäft der Frau Ottilie Falkenhein, so klein und schmutzig das Lädchen auch wirkte.

„Mir braucht niemand in die Karten zu gucken“, pflegte Frau Ottilie zu sagen und behielt trotz ihres sich ständig mehrenden Reichtums Laden und Wohnung in der elenden Altstadtgasse.

Else lebte in den dumpfen, immer halbdunklen Räumen, lebte wie in einem stumpfen grauen Traum, aus dem sie doch einmal erwachen musste.

Wie herrlich würde es sein, dieses Erwachen, fernab der engen, armseligen Gasse, fernab dem muffigen Lumpengeruch, irgendwo in heller, reiner Umgebung! Wie herrlich würde es sein, ein neues Leben zu beginnen und zu vergessen, dass es einmal eine Lumpenelse gab.

Ein plumper, vierschrötiger Mensch stapfte herein, Tobias Meinert, das Faktotum und die rechte Hand der geschäftstüchtigen Frau Falkenhein. Auch seine Frau arbeitete bei ihr. Er stand bei seiner Brotherrin hoch in Gunst und pflegte von ihr zu sagen: „Der gerissenste von allen Altwarenhändlern hier in Frankfurt ist ein Weib, ist meine Chefeuse. Hut ab vor ihr! Die haut den Deibel übers Ohr, wenn er sich mit ihr in ein Geschäft einlässt.“

Meinert hatte einen hochbeladenen Handwagen mit lumpengefüllten Säcken vor der Tür stehen, die er von Privaten abgeholt.

„Ist die Mutter da?“ fragte er kurz.

Er hatte nicht viel für die schmale, zierliche Else übrig. Dieses blonde zarte Menschenkind störte ihm das Bild der Frau, zu der er mit einer gewissen Verehrung emporblickte. So ein mageres Spätzchen, so ein blasses Wachspüppchen sah man ja gar nicht neben der breiten, rotwangigen Ottilie Falkenhein!

„Mutter ist in der Küche. Wenn Sie die Säcke im Hof abgeladen haben, möchten Sie das Papier in den Keller bringen“, entledigte sich Else in ihrer leisen Art des mütterlichen Auftrags.

Meinert brummte etwas und ging. Er schob den Handwagen durch den Hausgang in den engen Hof und kam dann wieder, um das Papier wegzuräumen.

Else trat an die Ladentür. Meinert umschwebte immer ein Geruch von Fäulnis, und sie wollte einen Augenblick Luft schöpfen. Es war Frühling, und ein linder, erfrischender Odem hatte sich auch in die enge Gasse verirrt. Strahlender Sonnenschein umwob all die altersgrauen, verwitterten Häuschen mit schimmerndem leuchtendem Glanz. Doppelt düster sahen sie aus in dieser grellen Helle. Ihre finsteren Torbögen waren wie riesige dunkle Mäuler, die furchterregend offenstanden und die armseligen Menschlein, die sich nahten, zu verschlingen drohten.

Else blickte gedankenlos die Gasse hinauf und hinab und bemerkte den Jungen nicht, der, in der Nachbarschaft wohnend, sie so oft durch seine Frechheit ärgerte.

„Guten Tag, Lumpenelse!“ Mit dem lauten Ruf trabte er eben, höhnisch grinsend, an ihr vorbei, gerade als von der anderen Seite ein schlanker, vornehm aussehender Herr kam. Er konnte deutlich das jähe Erröten des Mädchens beobachten, fing einen traurigen Blick aus zwei grossen Augen auf, dann schloss sich mit rasselndem Läuten die Tür des kleinen Ladens.

Unwillkürlich blieb Axel von Rechberg stehen. Hatte er die liebreizende Blondine auch erst bemerkt, nachdem der Gassenjunge „Lumpenelse!“ gerufen, so schien ihm doch, seit sich die niedrige Tür hinter ihr geschlossen, all der Sonnenschein ringum verschwunden. Er hätte den Bengel ohrfeigen mögen, der das süsse Ding verscheucht hatte.

Er las das grosse Schild, das im Schaufenster hing: Zahle die höchsten Preise für Lumpen und Felle, Alteisen, Metalle. Grössere Posten werden aus der Wohnung abgeholt. Über der Tür stand: Friedrich Gollingers Nachfolger.

Eine breite, wuchtige Frau trat aus dem Laden, hinter ihr ein vierschrötiger Mensch. Axel von Rechberg hörte, wie die Frau, über die Schulter gewandt, in den Laden zurückrief: „Wir gehen zum Wantalowicz hinüber, Else! In ’ner halben Stunde spätestens bin ich wieder da.“

Axel von Rechberg blickte den zweien nach, die jetzt den Fahrweg überquerten und auf der gegenüberliegenden Seite in eins der verwahrlosten und ältesten Häuser der ganzen Gasse traten. Alte Röcke und Stiefel hingen vor der Tür, sollten Sehnsüchte nach ihrem Besitz wachrufen. Ein Trödlerladen niedrigster Ordnung.

„Lumpenelse!“

Die vier Silben klangen noch immer in Axel von Rechbergs Ohr, aber nicht mehr, wie im ersten Augenblick, hart und hässlich, sondern eher wie ein leises, heimliches Singen. Der Spottname schien ihm zu einem Märtyrerkranz zu werden, aus dem rote Rosen sprossten und ein entzückendes Köpfchen umrahmten. Braune Augen blickten erschreckt. Über zarte Wangen glutete Scham.

Ohne weiter zu überlegen, drückte Axel von Rechberg die Klinke nieder. Das rasselnde Läuten erwachte.

Aus dem Hintergrund des Lädchens löste sich ein schmales Figürchen.

„Sie wünschen, mein Herr?“ wollte Else Falkenhein fragen, aber sie brachte kaum die Hälfte des Satzes hervor, denn sie erkannte jetzt in dem Eintretenden den fremden Herrn, der Zeuge ihrer Erniedrigung gewesen war.

„Lumpenelse!“ sauste und brauste es in ihren Schläfen. Mit tiefgesenkten Wimpern stand sie vor Axel von Rechberg.

Der Mann lächelte.

„Mein Fräulein“, begann er, „ich habe vielleicht in Kürze allerlei zu verkaufen, wofür dieses Geschäft Verwendung hat, und ich möchte Sie bitten, mir die Preise zu nennen, die Sie zur Zeit zahlen.“

Else blickte nicht auf.

„Dann müsste ich erst wissen, um was es sich handelt“, erwiderte sie leise.

„Natürlich!“ Er lächelte stärker. Der alberne Vers, der jetzt überall auf den Strassen gesungen wurde, zuckte ihm durch den Sinn. Fast übermütig zitierte er den Anfang:

„Lumpen, Alteisen, Knochen und Papier!“

Else trat unwillkürlich einen Schritt zurück. War es nicht Spott, der von den Lippen des Fremden zu ihr hinüberzüngelte und sie flammenheiss verbrannte?

Was wollte der Fremde von ihr?

Er hatte sicher nichts zu verkaufen an Friedrich Gollingers Nachfolger. Sie zu verhöhnen stand er hier in dem immer von leichtem Dämmer erfüllten Laden — sie zu verhöhnen, weil er ihren Spitznamen „Lumpenelse“ aufgefangen hatte.

Ihr Blick hob sich vom Boden, ward gross und dunkel.

„Kommen Sie wieder, wenn meine Mutter hier ist“, sagte sie kurz, „und zwar ungefähr in einer halben Stunde. Sie hat vergessen, mich über die heutigen Tagespreise zu unterrichten.“

Wie süss das Mädchen in seinem Zorn war! Es hatte ihn durchschaut. Aber so überempfindlich brauchte es doch auch nicht zu sein.

Er dachte nicht daran fortzugehen, sondern erwiderte: „Dann nennen Sie mir doch die Tagespreise von gestern, mein Fräulein! Ich möchte nur einen Massstab haben, ehe ich verkaufe.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Sie haben nichts zu verkaufen, und wenn, dann lässt ein Herr wie Sie das durch jemand besorgen.“

Er lächelte noch immer.

„Sind Sie eine so grosse Menschenkennerin, Lumpenelschen?“

Kaum war das Wort seinem Munde entflohen, hätte er es gern zurückgenommen. Aber es war zu spät. Und wie konnte er denn auch ahnen, was er damit anrichten würde? Eigentlich hätte er es wissen müssen, denn er hatte das blonde Mädchen vorhin vor dem Laden genau beobachtet und gesehen, wie der Spottname aus dem Gassenbubenmund sie getroffen.

Weshalb tat er das gleiche?

Totenblass ward das feine Gesicht, und die Augen schauten ihn an mit einem so schmerzvollen Blick, dass ein jähes Mitleid in ihm aufquoll.

Er neigte sich vor, griff nach den kleinen Händen, die matt ineinander ruhten, und streichelte sie. Die kleinen, hilflosen, ihm willig überlassenen Hände rührten ihn.

„Seien Sie mir nicht böse!“ flüsterte er, wollte die weissen Finger an seine Lippen ziehen.

Doch jetzt kam Leben in die Regungslose. Fast ungestüm machten sich die Hände frei.

„Gehen Sie! Gehen Sie auf der Stelle, und beleidigen Sie mich nicht länger! Einer wie mir küsst man nicht die Hand. Wenn man es aber tut, dann nur, um mich damit erst recht zu verspotten.“ Ihre Hände hoben sich flüchtig. „Lumpen habe ich damit sortiert und werde weiter damit sortieren, wenn Mutter und unsere Helfer es nicht allein schaffen können.“ Sie sah ihn mit unbeschreiblichem Blick an. „Ahnen Sie, wieviel Jammer und Elend an schmutzigen Lumpen hängen kann? Ich weiss es, weil ich es manchmal ganz leise daraus weinen höre.“

Er musste denken: Welch ein seltsames Geschöpf war doch das schmale Mädchen, dessen Antlitz jetzt einen leicht visionären Ausdruck trug!

„Liebes Fräulein, vergessen Sie, was mir vorhin über die Lippen schlüpfte, vergessen Sie das Gassenbubenwort!“ bat er.

Das Jungmädchengesicht wandte sich; es trug jetzt einen harten Ausdruck.

„Ich habe Ihnen nichts zu vergeben, Sie gehen mich nichts an! Ich will Ihnen nur noch sagen, dass ich den Gassenbuben das Wort nicht so übel vermerke als Ihnen. In der Schule schon nannte man mich Lumpenelse. Der Spitzname lief mir nach wie mein Schatten. Kinder können sehr grausam sein, ich habe es an mir erfahren; aber sie sind unbewusst grausam. Sie dagegen, der Erwachsene, sind bewusst grausam gegen mich gewesen! Gehen Sie sofort, sonst rufe ich telefonisch meine Mutter herbei! Sie ist nicht weit.“

Der Ärger übermannte Axel von Rechberg. Donnerwetter, spielte sich die Kleine auf! Es war auch töricht von ihm gewesen, in den Laden einzutreten, einem blonden Mädchen nachzulaufen in so ein Altstadthaus, in dem sicher allerlei lichtscheue Elemente wohnten.

„Gehen Sie!“ Scharf betont und feindlich klang es.

Da lachte er ärgerlich auf. „Nun, dann muss ich eben auf die Vergebung verzichten! Immerhin: Nichts für ungut! Und vielleicht auf Wiedersehen, schöne Lumpenelse!“

Er hatte nicht widerstehen können, es ihr noch einmal ins Gesicht zu werfen, das Wort, durch das sie sich beleidigt fühlte. Sie hatte ihm die Tür gewiesen. Das hatte ihn erregt, machte ihn ungerecht. Er war sich vollkommen klar darüber.

Er befand sich bereits am Ausgang und blickte noch einmal flüchtig zurück. Da stand das schlanke Mädchen und sah ihm mit blitzenden Augen nach.

Er fühlte, dass sein Lächeln, das er festzuhalten suchte, krampfig wurde. Warum tat sie ihm plötzlich wieder so bitterleid? Er ward nicht aus sich klug.

„Liebes Fräulein ...“ begann er, schon die Hand auf der Klinke.

Die grossen, dunklen Augen in dem weissen Gesicht schienen sich noch zu vergrössern, die rosigen Lippen öffneten sich.

„Pfui!“ sagte Else Falkenhein laut, und noch einmal „Pfui!“

Da verliess Axel von Rechberg, ohne sich nochmals umzusehen, den kleinen, dämmerigen Laden.

Hätte er sich umgeschaut, würde er vielleicht die Tränen bemerkt haben, die sich unter den langen Wimpern der blonden Lumpenelse hervordrängten und alle Dunkelheit der Augen fortwuschen, sie wieder zu scheuen Rehaugen wandelten. So aber sah er es nicht, ging seines Weges weiter, wollte denken: Dummes Ding! hörte aber immer nur das „Pfui!“ der Verachtung und begriff nicht, dass er nicht davon loskam.

2.

Maria Römer war Elses einzige Freundin. Die Freundschaft datierte noch von der Schule her. Maria hatte keine Mutter mehr. Wer weiss, ob ihr sonst der Umgang mit der Tochter Ottilie Falkenheins erlaubt worden wäre. Ihr Vater kümmerte sich wenig um Maria und liess das ziemlich ernst veranlagte Mädchen tun und treiben, was ihm behagte. Er war froh, wenn er Marias Blick nicht fragend auf sich gerichtet fühlte; denn ihre graublauen Augen schienen ihm auf den Grund der Seele zu schauen.

Eduard Römer war, was man im allgemeinen unter einem Lebemann versteht. Er liebte in seiner freien Zeit Weib, Wein und Kartenspiel, bummelte auch gern ein bisschen und gönnte, wenn es ihm sebst gut ging, jedem das Seine. Er besass ein gutfundiertes Bankgeschäft, das er von kleinsten Anfängen zu hohem Ansehen gebracht hatte, und gehörte zu den reichsten Leuten der Stadt. Seinem Haushalt stand ein ältliches Fräulein vor.

Fräulein Gumpen gegenüber verbarg Maria die Herkunft Else Falkenheins sorgfältig; denn sie wusste genau, sobald die Dame etwas davon erfuhr, würde sie nicht eher rasten und ruhen, als bis der Vater den Umgang für unmöglich erklärte. So wusste Fräulein Gumpen nur, dass Elses Mutter eine Witwe war, die von ihrem Geld lebte. Und sie hatte bisher niemals Interesse gezeigt, mehr zu erfahren. Der Name „von Falkenhein“ klang ihr zu gut.

Maria hing an Else, vielleicht besonders deshalb, weil sie mitempfand, wie wenig die Freundin in dem muffigen Laden der engen Altstadtgasse am Platze war. Sie bewunderte ehrlich die Schönheit Elses, ohne Neid zu empfinden. Sie selbst hatte ein grosszügiges kluges Gesicht, und flockiges, kastanienbraunes Haar gab ihr eine auffallende Note.

Als Maria Römer heute das Lädchen betrat, kam ihr Frau Falkenhein entgegen.

„Ah, gnädiges Fräulein, welche Ehre! Else wird sich freuen über Ihren Besuch. Sie fühlt sich leider nicht wohl und ruht ein wenig!“ Sie führte Maria in die Wohnung und liess sie in Elses Zimmer eintreten.

„Else, du bekommst lieben Besuch!“ Darauf verschwand sie sofort wieder.

Es war ein lauschiges, anheimelndes Zimmer, das Else bewohnte. Niemand hätte in diesem hässlichen, düsteren Hause einen so lichten Raum vermutet. Zu ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte Frau Falkenhein der Tochter die Zimmereinrichtung geschenkt.

Die weissen Möbel waren mit schmalen silbernen Leisten geschmückt. Das Sofa und die dazu passenden niedrigen Sessel überspannte lichtblauer Samt. Dazu gab es noch einen passenden Teppich und einen grossen Spiegel in goldenem Rahmen. Von den niedrigen Fenstern hingen entzückend gemusterte Spitzenstores, durch die man leider auf den engen Hof blickte, wo die Karren standen und ein grämliches Hintergebäude die Lumpenvorräte barg. Trübe Scheiben glotzten herüber, hatten etwas Böses und Feindseliges.

Else hatte auf dem Sofa gelegen. Sie erhob sich bei Marias Eintritt sofort, ein Lächeln ging über ihr schmales Gesicht.

„Wie lieb von dir, heute zu kommen, Maria! Ich habe vorhin so stark an dich denken müssen. Ja, ich hatte grosse Sehnsucht nach dir.“

Maria drückte die Freundin wieder auf das Sofa nieder und zog sich einen Sessel heran.

„Hast du geweint, Fee?“ fragte sie, und ihre Augen forschten in dem Antlitz der anderen.

Sie nannte Else immer Fee; sie fand das zärtliche Wort am bezeichnendsten für die zarte Freundin.

„Bewahre! Weshalb sollte ich weinen?“ gab Else etwas allzu hastig zurück.

„Mache mir nichts vor, Liebste!“ Maria streichelte sanft die Hände der Freundin. „Ich sehe ganz deutlich noch die Tränenspuren.“ Sie blickte teilnahmsvoll. „Haben dich die schmutzigen Lumpen wieder geärgert, meine Fee? Oder hast du dich wieder einmal über den penetranten Gestank empört, der dem Anzug eures sonst braven Tobias Meinert entströmt?“

Elses Lippen zuckten. Sie hätte gern erzählt, was ihr heute geschehen war, hätte der Freundin gern ihr Herz ausgeschüttet, aber es wurde ihr schwer.

Sie verstand sich selbst nicht. Sie hatte doch keinen Grund, einen unverschämten, ihr noch dazu völlig unbekannten Menschen zu schonen. Und nachdem sie sich darüber klar geworden war, brach sich ihre Empörung Bahn.

Maria hatte die gleichaltrige Freundin schweigend angehört. Nun war Else zu Ende. Wie in verhaltenem Schluchzen hatte sie das Letzte gesprochen. Maria strich ihr tröstend über die Stirn.

„Armes Ding! Also war es im Grunde doch wieder einmal dieselbe Geschichte, um die es bei dir immer geht! Sei ruhig, Liebes! Es wird doch auch einmal ein Tag kommen, wo du aus der Umgebung hier, in die du herzlich schlecht hineinpasst, herauskommen wirst. Ihr seid wohlhabend, vielleicht reich. Du wirst irgendeinen Mann heiraten, der aus anderen Kreisen stammt, und die Lumpenelse hat dann aufgehört zu existieren.“

Ihr fiel nichts anderes ein, was sie hätte sagen können.

Else lächelte bitter.

„Du meinst es gut, Maria, und ich bin dir dankbar für jedes liebe Wort. Mutter findet mich überempfindlich; deshalb verberge ich es vor ihr schon seit langem sorgfältig, wenn ich mich wieder einmal wundgestossen.“ Sie fuhr sich mit der Hand über die brennenden Lider. „Weisst du, Maria, meine Eltern hätten mich in die Volksschule schicken sollen; vielleicht hätte ich dort nicht so scharfe Augen bekommen. Ich lernte in der höheren Schule Unterschiede machen, beobachtete zu schroffe Gegensätze zwischen dem Milieu, in dem sich meine Kindheit abspielte, und dem, aus dem die anderen Mädchen kamen. Mein Weg, alle Morgen, war ziemlich weit von der dunkelsten Altstadt bis hinaus in den vornehmen Westen. Ihr anderen wohntet fast alle näher. Und so weit der Weg, rein räumlich gemessen, bis zur Schule, so weit war er auch, wenn man die Entfernung aufs Seelische überträgt.“ Fast laut war ihre bis dahin zu halbem Flüstern gebändigte Stimme. „Ihr alle, die ihr aus euren Villen und grossen, eleganten Mietswohnungen den allmorgendlichen Schulgang antratet, ahntet ja nichts davon, wie weit ich laufen musste bis zu euch. Aus der fernsten, fremdesten Fremde kam ich, aus der Altstadt mit ihren anrüchigen Bewohnern, wo sich Faulenzer und Dirnen verbergen, wo arme, heimatlose Stromer aus den elenden Herbergen krochen, wenn ich zu euch wanderte, um ein paar Vormittagsstunden zu euch zu gehören. Dem Schein nach zu euch zu gehören, denn in Wirklichkeit war ich den meisten eine Art Paria. Endlos war auch mein Heimweg von der Schule. Ich verlängerte ihn noch, denn immer noch viel zu früh betrat ich dieses Haus hier, in dem ich leben musste. Immer noch viel zu früh erzeugte mir der muffige Lumpengeruch den Widerwillen, den ich eigentlich niemals in meinem Elternhause richtig losgeworden bin.“ Sie stöhnte tief auf. „Lumpenelse bin ich, und Lumpenelse werde ich bleiben mein Leben lang, denn die nächsten Jahre geht meine Mutter aus dem allen hier doch nicht heraus, und später — du lieber Himmel, da wehre ich mich wohl überhaupt nicht mehr, da füge ich mich — fühle mich vielleicht ganz wohl hier und spotte über die Sehnsucht, die mich jetzt noch Tag und Nacht fortlocken will.“

Maria nahm den feinen Kopf der anderen zwischen ihre schlanken, doch nervigen Hände.

„Musst dich nicht in Bitternis verlieren, Fee, du darfst es nicht!“ Sie schlug absichtlich einen leichten Ton an. „Bist töricht, so zu sprechen! Wenn man jung und schön ist wie du, gibt es doch eine Menge Hoffnungen! Eine erfüllt sich sicher für dich. Wenn du jetzt die Tochter irgendeiner vornehmen Familie, aber dafür hässlich wärest, stünde es viel schlimmer für dich. Dann würdest du nicht aus Liebe geheiratet werden, wie es doch sicher bei dir einmal geschieht. Also freue dich auf die Erlösung aus der Altstadt durch die Liebe.“

Else entzog ihren Kopf den Fingern der Freundin.

„Lass, Maria, ich bin manchmal grässlich schwerblütig. Heute zerschellt all dein Trost! Sei mir nicht böse. Ich weiss, ich habe dir in dieser Beziehung schon sehr viel Arbeit gemacht.“

Maria lächelte. „Ja, zuweilen bist du ein bisschen unbequem, aber ich hänge an dir, habe dich lieb. Mir ist, als gehörst du in mein Leben.“

Elses zarte Züge waren plötzlich wie erleuchtet von einer starken, inneren Freude.

„Ich wäre ja bettelarm, wenn du dich nicht meiner angenommen hättest, du Liebe, du Gute! Ich bin undankbar, überhaupt zu klagen. Aber manchmal werde ich mit all dem Flachen, Niedrigen, zwischen dem ich meine Tage hinbringen muss, nicht fertig. Dann bedarf es nur eines kleinen Anstosses, und ich werde so klein und verzagt wie heute und quäle dich mit meiner Verstimmung. Doch nun ist’s genug damit! Ich besorge jetzt Kaffee, und später begleite ich dich ein Stückchen.“

Mit leichtem Sprung war Else aus ihrer halb ruhenden Haltung aufgeschnellt und verliess mit raschem: „Entschuldige mich nur wenige Minuten!“ das kleine, lauschige Gemach.

Maria blieb nachdenklich zurück. Sie hätte der Freundin öfter eine Abwechslung verschafft, sie ins Theater oder in ein Konzert mitgenommen, sie eingeladen, aber Else hatte ihr immer wieder gesagt, sie wisse ganz genau, dass sie offiziell nicht der passende Umgang für die Tochter des reichen und angesehenen Bankiers Römer sei, und sie wolle sich nicht in Gefahr bringen, über die Achsel angesehen zu werden.

Frau Meinert, Tobias Meinerts Frau, die im Geschüft und Haushalt half, brachte den Kaffee, stellte dazu Kuchen auf den Tisch und ging dann, der stadtbekannten Bankierstochter mit ehrerbietigem Gruss ihre Achtung bezeigend.

„Mein Vetter ist nun auch vor zwei Tagen angekommen“, begann Maria und trank. „Euer Kaffee schmeckt besser als unserer“, lobte sie. „Ich glaube, unsere Köchin zählt uns die Bohnen zu.“ Und nach dieser kleinen Bemerkung glitt sie wieder zurück. Ja, der Vetter sei jetzt da und habe heute früh seine Lehrlingsstellung im Bankhause ihres Vaters angetreten. Ein etwas alter Lehrling sei er allerdings, denn er sei schon siebenundzwanzig Jahre, aber heutzutage dürfe niemand zu alt für einen neuen Beruf sein, sonst ginge man zugrunde. Nach dem Kriege hätten ja die verschiedenen Berufe eine vollständige Umwertung durchgemacht, und jeder müsse jetzt versuchen, aus dem Chaos, in dem die Vorkriegszeit untergegangen, herauszufischen, was möglicherweise als Sprungbrett für unsere Tage zu verwerten sei. Und wer kein solches Sprungbrett fände, müsse eben einen grösseren Anlauf nehmen.

Maria sprach gern in Bildern. „So einen grösseren Anlauf nimmt nun mein Vetter“, plauderte sie weiter. „Ursprünglich zum Landwirt bestimmt, war er noch Primaner, als er Soldat wurde und in den Krieg ziehen musste. Als er heil und gesund zurückkehrte, war das väterliche, ohnehin schon schwerbelastete Gut noch schwerer belastet. Mein Onkel Werner ist nämlich herzleidend und hat sich nicht so um seinen Besitz kümmern können, wie es notgetan hätte. Einen Inspektor zu halten, langte es zuletzt nicht mehr. Da kam denn mein Vetter zurück und sprang ohne besondere Fachkenntnisse ein, und, wie seine Eltern erzählen, arbeitete unermüdlich. Aber die Karre war verfahren und konnte nicht mehr recht flott gemacht werden. Ein paar Missernten und einiges Pech anderer Art gesellten sich dazu, und es ging nur mühsam weiter. Da machte denn mein Vater den Verwandten klar, dass sie der neuen Zeit Zugeständnisse machen müssten.“ Sie zuckte die Achseln. „Vater hat wohl schon immer einen Sohn vermisst, glaube ich, und wäre sicher sehr froh, eine Hilfe und einen Nachfolger im Geschäft zu haben, der ihm nahesteht. Der Sohn seiner einzigen Schwester kommt natürlich als erster dafür in Frage.“ Sie lächelte Else an. „Jetzt verstehst du wohl, weshalb mein Vetter sich entschlossen hat, als Lehrling in das Bankhaus Römer einzutreten? Nebenbei bemerkt, ist er ein lieber, hübscher Mensch“, schloss sie, und Else schien, als bemerke sie ein Aufleuchten in den meist so kühlblickenden Augen Marias.

Sie nickte nur. Sie wusste nichts zu sagen und dachte bei sich: Ging da wohl schon die Liebe um in dem Herzen der Freundin? Bereiteten sich schon Dinge vor, ihr die einzige Freundin zu rauben? Denn damit musste sie rechnen: Wenn Maria sich verheiratete, würde die Freundschaft zu Ende sein. Marias Mann würde eine „Lumpenelse“ als Freundin seiner Frau kaum gelten lassen.

Maria brach das Thema ab und meinte, sie müsse aufbrechen. Else begleitete sie ein Stück des Weges.

Wie belebt die Gasse war! Manch neidischer Blick traf die beiden elegant gekleideten Mädchen. Denn auch Frau Falkenhein hielt darauf, ihre Tochter für die Ausgänge immer mit tadelloser Kleidung zu versorgen. Der leichte stahlblaue Seidenmantel und das modern geformte Hütchen liessen Elses strahlende Blondheit zu fast verblüffender Wirkung kommen. Maria trug ein neues, rehfarbenes Frühlingskostüm.

Ein Bursche, dem ein aufgeputztes Ding am Arm hing, sagte halblaut: „Die Blonde, Deibel, das wär’ was für meiner Mutter ihren Sohn! Da sitzt Adel und Rasse drin.“

Ein schrilles, eifersüchtiges Lachen seiner Begleiterin gab zuerst Antwort, dann schimpfte sie: „So was sollte sich lieber nach seinem Stand anziehen! Das ist doch der dicken Falkenhein ihre Tochter, is doch bloss die Lumpenelse, also wird die andere auch nicht allzu weit her sein.“

Mit abermaligem keifendem Lachen zog sie ihren Begleiter schnell mit sich fort.

Else suchte den Blick der Freundin.

„Siehst du, Maria, wie ich hier angesehen werde? Und dich versuchte die abscheuliche Person noch mit in den Schmutz zu stossen! Deine Freundschaft wird dir schwergemacht.“

„Sei still, Fee! Vergessen wir die Episode. Sie darf dir keinen Eindruck hinterlassen.“

Eng aneinandergeschmiegt gingen die beiden weiter, bogen bald in eine neuere Strasse ein und plauderten von allerlei Dingen, die ihrer Jugend zu denken gaben.

In der Nähe von Marias Wohnung verabschiedete sich Else und wanderte langsam zurück.

Ein Herr kam ihr entgegen, stutzte flüchtig, drehte sich um.

War das nicht das hübsche, blonde Ding aus der Altstadtgasse, das ihm so energisch die Tür gewiesen hatte, war das nicht die — Lumpenelse?

Aber nein, er täuschte sich! So kleidete sich das im verborgenen blühende Veilchen der Altstadt sicher nicht! Immerhin, es hätte ihn gereizt, der zierlichen Gestalt nachzugehen, um festzustellen, ob die Ähnlichkeit zwischen ihr und dem entzückenden Altstadtmädel wirklich so gross war, wie es ihm eben geschienen. Denn so dumm die Sache war und ihn ärgerte, musste er doch viel zuviel an die junge Schönheit denken, deren Mund ihm ein verächtliches „Pfui!“ nachgerufen.

Leider hatte er jetzt keine Zeit, der jungen Dame im stahlblauen Seidenmantel nachzusteigen; sein Onkel erwartete ihn, und da von Onkel Römer so ziemlich die ganze Zukunft abhing, war Pünktlichkeit ratsam. Überhaupt war er ja nicht nach Frankfurt gekommen, um blonde Mädel zu studieren, sondern um zu lernen, mit Zahlen umzugehen, Bank- und Börsenkenntnisse zu erwerben, ein neues Leben aufzubauen, fernab von dem kleinen Elterngute, an dem doch sein Herz hing.

Er ging jetzt langsamen, schweren Schrittes. Wenn er an daheim dachte, dann wollte der Beruf, in den er sich einarbeiten musste, ihm doch recht schwer scheinen. Eigentlich durfte er sich noch gar kein Urteil darüber anmassen, denn dass er gestern und heute ein paar Stunden im Bankhaus Römer zugebracht hatte, um von Eduard Römer dort allen möglichen Herren als Neffe vorgestellt zu werden, das hatte wohl mit seiner zukünftigen Laufbahn wenig zu tun. Aber ihm schien die Luft in den hohen, weiten Räumen dunstig. Zahlen — endlose, vielstellige Zahlen — füllten sie wie mit einem Nebel. Und die vielen über Schreibtische geneigten Gestalten addierten und multiplizierten, jonglierten mit Schecks und Geldscheinen, dass ihm schon vom blossen Zusehen schwindelig wurde.

Zahlen wurden genannt, dass er vor hellem Neid hätte laut hinausschreien mögen. Eine diesen Bankleuten nur gering scheinende Summe hätte vielleicht genügt, das väterliche Gut wieder auf leidliche Höhe zu bringen; das Weitere hätte er dann allerdings allein tun müssen.

Hätte Onkel Eduard dem Vater Geld zur Verfügung gestellt, würde er das alte Stammgut über Wasser gehalten haben. Aber in dieser Beziehung hatte sich Eduard Römer schwerfällig gezeigt, und die Eltern hatten sich gefügt, waren der Ansicht, der reiche Bankier wisse tausendmal besser als sie, die mit ihrem ganzen Denken und Fühlen noch in einer vergangenen Zeit wurzelten, was für den Sohn das bessere Teil war. Namentlich die Mutter redete ihm zu, und er fügte sich, musste sich aber zusammennehmen, um Eduard Römer nicht schon jetzt rundheraus zu sagen: Lass mich heim nach Herrenhof! Ich glaube kaum, dass ich dir, trotz besten Willens, viel Freude machen werde!

Doch den Mut dazu brachte er niemals auf, denn so liebenswürdig und nett Eduard Römer auch im Umgang war, es gab auch noch eine andere Seite seines Wesens, die zum Vorschein kam, wenn er im Privatbüro seines Bankhauses sass und mit Kunden oder Angestellten sprach und verhandelte. Dann war er ein ganz kühler, glatter Geschäftsmann, und die Augen hinter der Hornbrille konnten so unsäglich nüchtern blicken, so nüchtern, wie sein Mund die schwindelerregendsten Summen nannte.

Wenn er dem Onkel sagen würde: Du, es ist Frühling draussen, und ich bin ein Narr gewesen, dir in dein Geldgewölbe zu folgen. Daheim lacht der Frühling, duftet aus jeder Ackerkrume, jubelt in jedem Vogelsingen! Daheim ist Sonne und erstes frisches Grün. Hier weiss man ja gar nicht, was eigentlich Frühling ist. Ach, Onkel Eduard, lass mich wieder heim, denn ich sehne mich danach, über unser Feld zu reiten, sehne mich nach tausend Dingen, die ich dir nicht erklären kann, weil du mich wahrscheinlich ja doch nicht verstehen würdest! —