Die echte und die falsche Doralies - Anny von Panhuys - E-Book

Die echte und die falsche Doralies E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Der temperamentvollen Doralies, die ihren Vater manchmal zärtlich "Fritzchen" nennt, liegt damenhaftes Benehmen überhaupt nicht. So beschließt Fritz Wolfram, sein Töchterchen für drei Monate nach Berlin zu schicken. Im Haushalt des Justizrats von Stäbnitz würde sie schon ein paar Benimmregeln lernen. Für Doralies ist das die Katastrophe schlechthin. Sie kann jetzt nicht weg, wartet sie doch heimlich auf ihren geliebten Lutz, von dem ihr Vater nichts weiß. In ihrer Verzweiflung kommt sie auf eine ungewöhnliche Idee, die auch gleich in die Tat umgesetzt wird. Ihre Freundin Regina, die ihr so ähnlich sieht, soll an ihrer Stelle als falsche Doralies nach Berlin fahren. Sie selber versteckt sich bei "Hänschen" alias Haushälterin Frau Hensel, bis der Vater seine längere Reise antritt. Doch der erst so erfolgreiche Plan gerät aus den Fugen. Die sensible Regina leidet unter der Lüge gegenüber der so liebenswürdigen Familie Stäbnitz. Ihr schlechtes Gewissen und ein Gespräch des Justizrats mit seinem Adjutanten Peter Konstantin über das Lügen verleiten sie zu einer überstürzten Flucht. Zuhause ist Doralieses Abenteuer schnell aufgeflogen, nur den Namen ihrer verschwundenen Freundin nennt sie nicht. Regina aber hat Glück, als der alte Jurist Freese sie auf der Straße aufliest und ihr eine Stelle anbietet. Eines Tages sieht sie zu ihrem Schreck Peter Konstantin ins Büro kommen ...Herzerfrischend ist das Abenteuer einer geplanten Verwechslung, das zwei Freundinnen in die Tat umsetzen. Doch während die eine schnell auffliegt, aber so ihr Glück findet, lebt die andere mit einer Lüge weiter und trifft nur deshalb den Mann ihres Lebens!-

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Anny von Panhuys

Die echte und die falsche Doralies

Roman

Saga

Die echte und die falsche Doralies

© 1945 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592342

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Doralies Wolfram ging nachdenklich durch die Strassen der kleinen Stadt. Doralies kannte ganz Mooshausen, und ganz Mooshausen kannte sie. Auf ihren Vater, den berühmten Schriftsteller, waren die Mooshausener sogar sehr stolz. Er wohnte draussen vor der Stadt, im sogenannten Schlösschen.

Plötzlich stand sie Regina Graven gegenüber, die eben um eine Ecke gebogen war. Die beiden Mädchen begrüssten sich herzlich. Sie waren ziemlich gleich gross und schlank, auch waren beide blond; aber das Blond Reginas schimmerte rotgolden. Ihr Gesicht hatte fast ein wenig strenge Linien, von griechischer Reinheit, die aber gemildert wurden durch die tiefblauen, etwas schwärmerisch blickenden Augen und den weichen, schön geschnittenen Mund. Die Mädchen reichten sich die Hände.

Doralies fragte:

„Hast du immer noch keine Arbeit gefunden, Gina?“

Die Freundin schüttelte traurig mit dem Kopfe.

„Ich werde auch keine finden! Hier nicht und wo anders, wo ich fremd bin, noch weniger. Vielleicht könnte ich noch eher in einer sehr grossen Stadt, wie Berlin, unterkriechen, aber es ist doch ein Risiko, so aufs Geratewohl dorthin zu reisen. Und dann die weite Fahrt; meine paar Groschen brauche ich selbst zu sehr.“

Doralies gab ihr einen freundschaftlichen kleinen Stoss:

„Aber Gina! Wozu bin ich denn deine Freundin? Wenn du Geld brauchst, bin ich zuständig! Hundert Mark Spargeld habe ich liegen, und wenn’s nötig ist, gibt nur Vater immer etwas.“

Regina wehrte sich:

„Nein, Doralies! Geld nehme ich nicht von dir! Ein Weilchen geht es ja auch noch. Aber es ist schrecklich, von morgens bis abends beschäftigungslos zu sein. Die Arbeit bei Justizrat Dörfler hat mir dazu noch Freude gemacht. Er hat mich auch ungern entlassen; aber schliesslich — seine Nichte steht ihm näher als ich. Sie hat auch Maschinenschreiben und all das gelernt, was so ’n Bürowurm, wie unsereins, braucht.“

Die beiden Mädchen gingen nebeneinander her, bogen in die Promenade ein, den Wall, wie dieser Weg aus längst vergangener Festungszeit des Städtchens hiess. Arm in Arm spazierten sie dahin, und die kleinen Füsse schritten wie auf einem Teppich, über das dürre Laub der Ahornblätter, die von den Bäumen gefallen. Manchmal raschelte es aus dem Naturteppich leise auf, und das klang wie verhaltenes Seufzen.

Doralies erzählte von den Arbeitslosen und der vielen Not. Regina Graven meinte:

„Hübsch von dir, die Sympathie mit den Arbeitslosen. Aber eigentlich geht es dich doch nichts an.“

Doralies zuckte mit den Achseln:

„Wenn sich jeder bloss um das kümmern wollte, was ihn ganz persönlich anginge, sähe es traurig aus auf der Welt. Dann geschähe nichts Gutes und nichts Grosses mehr. Tue nicht so klein, Gina! Bist ja auch ein anständiges Weibsbild; bloss ein bisschen verängstigt durch deine Notlage jetzt — durch Sorge vor der Zukunft. Ein Jammer, dass unsere Väter sich zuletzt so spinnefeind gewesen, was bei Vater und auch etwas bei dir nachwirkt, sonst könntest du bei uns im Schlösschen wohnen.“

Die beiden Mädchen hatten gemeinsam das städtische Lyzeum besucht und, wenn auch Regina Graven zwei Jahre älter war, sich stets ausgezeichnet verstanden. Grosse Sympathie hatte die beiden zusammengeführt, und die ernstere Regina hatte immer guten Einfluss ausgeübt auf die stets zu Streichen aufgelegte, sehr verwöhnte, vorlaute Doralies Wolfram.

Dann kam der böse Tag, an dem man Franz Graven, den Prokuristen der Mertenschen Fabrik, einsperrte wegen schwerer Unterschlagung. Alles sprach gegen ihn, und auch sein guter Freund Wolfram trat nicht für ihn ein. Frau Graven starb vor Aufregung an Herzschlag, das Kind, die dreizehnjährige Regina, kam zu Fremden in Pflege, und Franz Graven sass ein halbes Jahr lang im Zuchthaus, bis sich seine Unschuld herausstellte. Dann gab es eine böse Auseinandersetzung zwischen den ehemaligen Freunden vor Zeugen. Franz Graven verzieh es dem andern nie, dass er nicht zu ihm gehalten in seinen schwersten Stunden. Er starb sehr bald und unversöhnt mit Fritz Wolfram. Aber die beiden Mädchen hingen aneinander und hielten zusammen.

Fritz Wolfram wusste es, aber mischte sich nicht ein; es drückte ihn zuweilen, Reginas Vater Unrecht getan zu haben, aber der hätte ihm seine allzu bitteren Wahrheiten nicht vor anderen sagen dürfen. Das hatte ihn gedemütigt, darüber empörte er sich noch jetzt, wenn er daran dachte.

Sie waren ja einmal Schulfreunde gewesen — Franz Graven und er. Aber er war früh in die Welt hinausgefahren, ein bisschen Vermögen hatte ihn frei gemacht, sein Leben so zu gestalten, wie es ihm gefiel. Die ganze Welt hatte er bereist, sich in Amerika mit einer reichen, exzentrischen Frau verheiratet, die sich in seiner Heimat, nachdem er sich hier das sogenannte Schlösschen gekauft, gar nicht wohl gefühlt und ihm schliesslich davongelaufen war. Er war damals durch seine vielgelesenen Bücher schon ein reicher und unabhängiger Mann geworden. Die Frau hatte ihm in der Ehe zu viele Stunden vergällt durch ihre Launen, zu viele Arbeitsstunden zerstört; er jammerte ihr nicht nach, als sie wieder heimgefahren nach Amerika. Die Hauptsache war, sie hatte das Kind nicht mitgenommen. Leichtfertig war sie und oberflächlich, ohne jede seelische Tiefe, stellte er fest, sonst hätte sie das Kind, das damals erst drei Jahre alt war, nicht im Stiche gelassen. Manchmal dachte er an May wie an einen kurzen Traum, der aufregend gewesen wie ein Alpdruck; im übrigen war er ein gesunder und optimistischer Mensch, der nichts allzu schwer nahm. Manchmal war er auch ein bisschen verträumt und phantastisch, aber das kam seinen Arbeiten zugute.

Er hatte dann lange nichts mehr von seiner Frau gehört, nur im Anfang hatte sie ihm geschrieben:

„Ich werde Dich nie mehr stören, denn wir passen nicht zueinander, aber ich werde auch nicht mehr heiraten. Scheidung ist in meinen Augen verwerflich. Es gefällt mir nicht, eine geschiedene Frau zu sein. Ich will auch die Gattin des berühmten Wolfram bleiben.“

Bald darauf erfuhr er ihren Tod. Ein Herzschlag — mitten im Tanz — hatte ihr ruheloses Leben jäh beendet.

Er dachte nicht daran, seinem Mädelchen eine Stiefmutter zu geben. Er wollte es selbst erziehen. Und das Resultat war ein etwas eigenwilliges, zu allerlei impulsiven Handlungen bereites Mädel. Er lachte nur, wenn man ihm irgendeinen Streich von Doralies erzählte, und seine Wirtschafterin, die schon im Hause gewesen, als Doralies geboren wurde, lachte mit ihm.

Berta Hensel, von Doralies „Hänschen“ genannt, war ganz vernarrt in Doralies, und wer ein Wort gegen Doralies zu äussern wagte, hatte es mit ihr verdorben. —

Doralies kam, nachdem sie noch allerlei Umwege mit Regina gemacht, nach Hause. Es war höchste Zeit. Man wartete schon auf sie mit dem Mittagessen. Frau Hensel nahm sie unten in der kleinen Eingangshalle gleich in Empfang. Sie warnte:

„Dein Vater ist schlechter Laune, Doralies! Er fragt schon immerzu nach dir!“ Sie blinzelte pfiffig. „Hast wohl wieder mal was ausgefressen — nicht wahr?“

Doralies schüttelte mit dem Kopfe, dass die bis zu den Schultern reichenden Locken nur so flogen.

„Ich? Bewahre, Hänschen! Was du aber auch immer gleich von mir denkst.“

Sie nahm die Treppenstufen mit ein paar langen Sätzen.

Frau Hensel rief ihr nach:

„Wo willst du denn hin, Doralies? Dein Vater wartet ja schon unten im Esszimmer auf dich!“

„Ach so, Hänschen!“ Mit einem Schwung sass Doralies auf dem Geländer und rutschte mit erschreckender Schnelligkeit und verblüffender Sicherheit darauf hinunter, landete dicht vor Frau Hensel, gab ihr einen kleinen Klaps und verschwand dann hinter eine der nächsten Türen.

Frau Hensel lächelte ihr zärtlich mütterlich nach. Sie war Witwe, und ihr einziges Töchterchen war ganz jung gestorben; nun bildete sie sich manchmal ein: so wie Doralies sähe vielleicht ihr Mädelchen aus, das jetzt auch gerade neunzehn Jahre alt wäre.

Fritz Wolfram ging ein bisschen nervös im Esszimmer, in dem bereits gedeckt war, auf und ab. Er war etwas über Mittelgrösse, schlank und dunkelhaarig. Seine Augen waren schwarz, sein Gesicht hatte die ausgeprägten Züge eines Schauspielers. Er war äusserlich das, was man einen interessanten Mann nennt.

Als Doralies eintrat, hielt er in seinem Hin- und Herwandern inne, begann ohne Umschweife:

„Du hast mich wieder eine geschlagene Stunde warten lassen! Du weisst doch, wie ungehörig das ist!? Du willst dich durchaus nicht in die Ordnung fügen. Ich habe das Gefühl, als wäre es gut für dich, wenn du für einige Zeit unter die Leitung einer Frau gehörtest, die dir durch Beispiele klar macht, was man tun darf und was nicht.“

Es klopfte.

Frau Hensel erschien, gefolgt von dem Mädchen; beide trugen Tabletts mit Speisen.

Fritz Wolfram bestimmte:

„Wollen zunächst essen. Später werde ich dir erklären, für was ich mich deinetwegen entschieden habe.“

Doralies war ziemlich lustig während der Mahlzeit. Ihr verschlug nichts so leicht den Appetit. Was ihr der Vater gesagt hatte, störte sie wenig. Alle paar Wochen erklärte er ihr, sie gehöre einige Zeit unter die Leitung einer Frau, die ihr durch Beispiele klarmache, was man als junge Dame tun dürfe. Darauf gab sie längst gar nichts mehr.

Ihr Vater aber war während der Mahlzeit ziemlich einsilbig und schien nachzudenken.

Nach Tisch sagte er:

„Jetzt komm, bitte, mit in mein Zimmer. Ich habe eingehend mit dir zu reden.“

Sie lachte:

„Ach, Fritzchen, das hat wohl Zeit. Ich möchte ...“

„Was du jetzt möchtest, interessiert mich gar nicht, Doralies. Du kommst jetzt erst mit in mein Zimmer. Im übrigen sollst du mich nicht ‚Fritzchen‘ nennen. Ich mag es nicht.“

„Du hast es sehr gern!“ gab sie zurück. „Aber du bist schlechter Laune! Eine Laus ist dir über die Leber gelaufen, und die Laus bin ich!“

Er zwang sein Lachen zurück.

„Komm! Ich habe nicht viel Zeit!“

Er ging voran, sie folgte und murmelte:

„Du bist heute wirklich komisch, Fritzchen!“

Er hörte es — aber er schwieg.

Das Arbeitszimmer des berühmten Romanschriftstellers war eine Weltausstellung im kleinen. Er hatte auf seinen weiten Reisen, die vor seiner Heirat lagen, von überall, wo er gewesen, etwas mitgebracht. Aus Palästina und Kairo, aus Bombay und Kalkutta, aus Java und Griechenland, aus Italien und Spanien. Immer hatte er Fernenweh gehabt, bis er die blonde Frau genommen. Da wurde er sesshaft. Und wenn sie ihn auch bald verlassen und er seitdem heimisch geblieben und heimattreu, barg doch das Arbeitszimmer alle Sehnsüchte seiner jungen Jahre. Wenn er hier schrieb, fiel sein Blick auf alle die Andenken, und das beschwingte seine Phantasie.

Doralies nahm an einem Tischchen Platz, spielte nachlässig mit einem dolchartigen Messer, das der Vater einst aus Toledo heimgebracht. Sie fragte:

„Was gibt’s nun, Vati?“

Er nahm auch Platz.

„Ich habe mich entschlossen — weil ich es für notwendig halte —, dich für ein Vierteljahr fortzuschicken, und zwar zu einem guten Bekannten nach Berlin, damit du ein bisschen Benehmen lernst. Ich selbst verstehe es anscheinend nicht, dir das beizubringen. Du weisst, ich kenne in Berlin eine Dame, mit der ich hier in Mooshausen als Kind gespielt, doch hat sie keine Verwandten mehr hier. Vor zehn Jahren war ich zuletzt bei ihr in Berlin. Sie besuchte mich vor sechs Jahren hier. Seitdem stehen wir in gelegentlichem, freundschaftlichem Briefwechsel. Sie schwärmt für meine Romane und fragte schon mehrmals an, ob sie nichts für dich tun könnte, und ob du nicht ein Weilchen bei ihr leben möchtest. Ich bin überzeugt, sie nimmt dich mit offenen Armen — wie eine Tochter — auf. Da sie selbst kinderlos ist ...“

Er konnte nicht weitersprechen. Doralies war so lebhaft aufgesprungen, dass der kleine Tisch schwankte und das Dolchmesser mit hartem Schlag auf den Teppich fiel. Sie hob es auf und behielt es in der Hand.

„Ich fahre nicht nach Berlin zu Frau von Stäbnitz! Was soll ich denn da? Ich verspüre gar kein Verlangen danach, mich erziehen zu lassen. Ich bleibe hier bei dir! Ich will nicht fort von dir!“

Er war einen Augenblick gerührt und beinah bereit, nachzugeben; doch schon im nächsten Moment sagte er sich, dass er jetzt nicht schwach werden durfte. Doralies brauchte frauliche Erziehung. Ihr ganzes Wesen war zu burschikos. Unter dem Einfluss der liebenswürdigen, weltgewandten Frau von Stäbnitz würden sich die Ecken und Kanten ihres Wesens abschleifen. Der Gatte von Edda Stäbnitz war einer der bekanntesten Anwälte Berlins, der schon in vielen schweren und ungewöhnlichen Kriminalfällen als glänzender Verteidiger gerühmt worden war. In ganz jungen Jahren war zwischen Edda Stäbnitz und Fritz Wolfram nicht nur Kinderfreundschaft, sondern so etwas wie Liebe gewesen, so eine erste, etwas sentimentale Liebe, für die auch das leiseste Wort zu rauh ist. Dann zogen Eddas Eltern nach Berlin, die seinen starben; er folgte dem lockenden Ruf in die weite Welt. Da zerfloss das hauchfeine Gespinst, das beinah wie Liebe ausgesehen; es war nicht lebensfähig gewesen, und es blieb als festes Gewebe die Freundschaft. Die hielt, auch wenn man sich nicht sah.

Doralies wiederholte, weil ihr Vater zu lange schwieg:

„Ich bleibe hier! Ich will nicht fort von dir!“

Fritz Wolfram machte eine beschwichtigende Bewegung mit der Hand.

„Nicht so stürmisch, Wildling! Du musst dich in die Trennung finden. Vorausgesetzt, Frau von Stäbnitz will dich bei sich aufnehmen, was ich aber kaum bezweifle. Uebrigens bleibe ich auch nicht hier. Ich wollte schon lange mal wieder ein bisschen in die Welt hinaus und beabsichtige, gleich nach dir aufzubrechen. Nach Afrika hinüber. In Tanger wohnt ein lieber Freund von mir. Ich will dort Studien machen für meinen neuen Roman. Ich schreibe noch heute an Frau von Stäbnitz und bitte um telegraphische Antwort. Triff immer deine Vorbereitungen, und wenn du noch etwas nötig hast, dann sage es, dann wird es angeschafft. Was dir nicht sehr nötig fehlt, kauft dir Frau von Stäbnitz in Berlin.“

Doralies schluchzte auf:

„Das kann doch nicht dein Ernst sein, Vati! Ich will doch nicht weg! Und ich kann auch nicht weg!“

Er trat auf sie zu, legte leicht und behutsam den Arm um ihre Schultern.

„Wer wird so erregt sein über ganz harmlose Dinge?! Du hast den Blick ganz falsch eingestellt, Kind. Was ich wünsche, geschieht doch nur zu deinem Besten. Du musst einmal in andere Verhältnisse, wo du erkennst, dass, wenn du auch hier in Mooshausen wer bist, doch auch anderswo Menschen leben, damit du begreifen lernst: es darf nicht jeder tun, was ihm passt. Ich erinnere dich nur daran, wie du beim Sommerfest im Kasino alle jungen Leute, die beim Pfänderspiel nicht über die von dir zu hoch gespannte Schnur zu springen wagten, laut ‚Feige Bande!‘ tituliertest, und dem Kutscher Schnöderhahn, weil er seinen Wagen zu voll geladen, so dass ihn das Pferd nicht ziehen konnte, gleich die Peitsche weggerissen hattest und auf ihn losschlugst. Du sorgst seit Jahren für die Unterhaltung der Mooshausener Kaffeekränzchen und Stammtische. Jetzt soll da mal Schluss gemacht werden, mein liebes Kind. Ich habe zuviel geschrieben, mich in einer Beziehung nicht so um dich kümmern können, wie ich es hätte tun müssen, und das soll jetzt nachgeholt werden. Als feine, weltgewandte junge Dame wirst du nach einigen Monaten zurückkommen.“

Doralies entzog sich dem Vater.

„Du bist herzlos! Ich will doch nicht weg!“ Sie stampfte mit dem Fuss auf: „Will, will, will nicht weg!“

Er wandte sich ab.

„Du beweist durch dein Benehmen nur, wie richtig mein Entschluss ist. Geh jetzt, Doralies! Ich werde gleich an Frau von Stäbnitz schreiben.“

„Wirst ja sehen, was aus der Geschichte wird, wenn du so dickköpfig bleibst, Fritzchen!“ platzte sie heraus, und dann verschwand sie, nachdem sie das Dolchmesser, das sie noch immer in der Hand gehalten, derb auf den Tisch geworfen.

Der berühmte Mann sah ihr kopfschüttelnd nach und dachte, ob er Edda von Stäbnitz überhaupt zumuten durfte, sich mit der ungebändigten und unberechenbaren Doralies zu befassen. Ganz reibungslos würde das wohl kaum abgehen.

Er nahm an seinem Schreibtisch Platz und stützte den Kopf in beide Hände. Vielleicht war es gescheiter, das Experiment zu unterlassen, Doralies hierzubehalten und selbst auch hierzubleiben. Aber nein, das wäre töricht; danach würde ihm Doralies erst recht auf der Nase herumtanzen. Darauf durfte er es nicht ankommen lassen, und ausserdem — die Afrikareise reizte ihn. Er war seit vielen Jahren nicht mehr sehr weit von seiner Heimat fort gewesen.

Wie eine Vision stieg Algier vor ihm auf. Er glaubte Moscheen zu sehen, Palmen senkten tief die Wedel; in weichen Wüstensand versank sein Fuss. Er hatte nach langen Jahren wieder Fernenweh, und er musste es heilen, weit draussen in der Welt.

Er liess die Hände sinken und stand auf, setzte sich an das Tischchen, das die Schreibmaschine trug, spannte einen Bogen ein und schrieb mehrere Seiten voll.

Edda von Stäbnitz sollte genau wissen, was er von ihr wünschte, und deshalb musste er ihr Doralies auch vorher bis in die kleinste Charaktereinzelheit ganz ausführlich schildern.

„Hänschen, komm schnell mit in meine Zimmer!“

Doralies stand in der Küchentür und riss die gute Frau Hensel aus einer Instruktionsstunde, die sie dem kleinen Dienstmädchen gab, das sich nur tagsüber hier im Hause aufhielt. Willig folgte die mollige, grauhaarige Frau mit dem etwas derben, aber gutmütigen Gesicht ihrem Liebling. Schon auf der Treppe fragte sie angstvoll: „Was ist denn nur, Doralies?“

Sie erhielt keine andere Antwort als ein dumpfes Stöhnen, das sie erst recht beunruhigte. Endlich waren die Räume erreicht, die Doralies bewohnte. Im zweiten Stock drei Zimmer, eins immer hübscher als das andere.

Doralies zog ihre Vertraute in das Schlafzimmer. Weisse Lackmöbel gab es hier, mit Grün abgesetzt, weisse Mullgardinen mit riesigen grünen Kleeblättern, einen breiten Teppich in Grün mit rosigen Blumen und ein weisses Bett mit grünseidener Steppdecke.

Der Länge nach warf sich Doralies auf das Bett und erzählte mit dumpfer Stimme, als bezichtige sie den Vater einer finsteren Tat, dass sie fort solle für Monate nach Berlin zu Frau von Stäbnitz.

Berta Hensel kniff die kleinen Augen ein; sie taten ihr plötzlich weh und sie sagte leise: „Dein Vater wird sich das noch sehr überlegen. Es wird nichts so heiss gegessen, wie es gekocht wird. Er hat heute seinen schlechten Tag.“

Doralies schluckte. „Ich fahre auf keinen Fall nach Berlin!“

Berta Hensel zuckte die Achseln. „Wenn’s deinem Vater damit Ernst ist, wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben, Doralies.“

Doralies richtete sich ein wenig auf und antwortete, jede Silbe betonend: „Mag es ihm die ernsteste Angelegenheit der Welt sein — ich werde nicht gehen.“

Sie liess sich wieder zurückfallen, lag nun mit fest geschlossenen Augen da. Sekundenlang rührte und regte sie sich nicht.

Frau Hensel bekam es mit der Angst zu tun. Wenn Doralies nicht gerade schlief, pflegte sie nie so still zu liegen. Fast unheimlich wirkte die Regungslosigkeit auf die Frau. Sie fragte ängstlich: „Fehlt dir etwas, Doralies?“

Die schlug die Augen auf, die grossen wunderschönen Braunaugen, und machte eine Bewegung der Abwehr.

„Nachgedacht habe ich, Hänschen!“ Sie schloss wieder die Augen, murmelte: „Ich muss einen Ausweg finden, damit ich hierbleiben kann, wenn es diesmal, wie es scheint, wirklich zum Aeussersten kommt.“

Plötzlich sprang sie hoch, ihre Augen leuchteten, und der hübsche, kecke Mund sass ganz übermütig in dem weichen Gesicht.

„Ich habe es!“ jubelte sie. „Jetzt bin ich gerüstet.“ Sie umfasste die grauhaarige Frau. „Hänschen, wir brauchen uns nicht trennen, wir bleiben zusammen, und wenn Vati wegreist nach Afrika, werden wir beide hier äusserst gemütlich zusammen hausen. Fein wird das!“ Sie lachte. „Ich habe doch immer glorreiche Ideen!“

Die Wirtschafterin sah ein bisschen bedenklich aus.

„Ehrlich gestanden, traue ich deinen glorreichen Ideen nicht so ganz, Doralies.“

Das blonde Mädel strahlte über das ganze Gesicht.

„Wenn du mir treu beistehst, Hänschen, muss alles gut gelingen. Und nun pass mal auf — jetzt erkläre ich dir die Sache, und nachher wirst du davon gerade so begeistert sein wie ich.“

Sie drückte Berta Hensel auf einen Stuhl nieder und hockte sich mit verschränkten Beinen auf den Bettrand. Sie warnte: „Keinen Ruf des Erstaunens von dir geben, Hänschen! Vati könnte an der Tür vorbeigehen, trotzdem er wohl kaum hier ’raufkommt. Wollen ganz leise sprechen, besser ist besser.“

Sie bog den Kopf ein wenig vor und begann gedämpft und eifrig auf die Frau einzureden, die aber schon nach wenigen Sätzen lebhaft abwinkte und trotz der Warnung vorhin ziemlich laut sagte:

„Bitte, halte ein, Doralies — du kannst doch nicht im Ernst daran denken, solchen Unfug in Szene zu setzen. Ich mache sowas auf keinen Fall mit. Also mit meiner Hilfe brauchst du nicht zu rechnen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist nicht zu glauben, was dir immer für Unfug einfällt.“

Doralies zog leicht die Brauen hoch, und das war bei ihr stets ein Zeichen von Unzufriedenheit.

„Hänschen, nimm dich ein bisschen zusammen und höre mich ruhig bis zu Ende an. Musst nicht so vorschnell urteilen.“ Sie holte tief Atem. „Also, Henselchen, mach’ mir keinen Kummer! Du hast mich doch lieb, und ich möchte nicht daran zweifeln müssen. Höre jetzt aufmerksam weiter zu.“

Sie sprach wieder eifrig auf Frau Hensel ein, die sie mehrmals unterbrechen wollte, was ihr aber nicht gelang. So musste sie Doralies denn reden und sich genau und ausführlich einen Plan erklären lassen, der ihr wie ein toller Karnevalsscherz erschien, und den sie beim besten Willen nicht ernst nehmen konnte.

Endlich war Doralies fertig und blickte nun die Aeltere abwartend an.

Frau Hensel verzog den Mund.

„Etwas Unmöglicheres als das, was du dir ausgeheckt hast, gibt es nicht mehr. Na, ich verbrenne mir nicht die Finger daran, und dir rate ich, nicht weiter darüber nachzudenken.“ Sie erhob sich. „Und jetzt muss ich in die Küche.“

Doralies schnellte wie eine Feder hoch.

„Du bleibst noch, Hänschen, die Geschichte muss doch durchgesprochen werden. Und vor allem, sie muss erst mal in deinen Kopf ’rein. Du sollst mich verstehen, sollst mich begreifen und zugeben: es wird alles gut verlaufen, wenn die paar Beteiligten den Mund halten und frisch und mutig an die Sache herangehen. Deine Rolle ist ausserdem ganz leicht. Viel mehr als den Mund zu halten brauchst du ja nicht.“ Sie streichelte die rotgeäderten Wangen der allzeit Getreuen. „Oder möchtest du mich eine Weile loswerden? Liegt dir daran?“

Sie wusste genau, mit welcher Hingebung die Frau an ihr hing, und war überzeugt, nun hatte sie in ihr eine empfindliche Stelle berührt.

Aber der Erfolg war nicht der erwartete. Frau Hensel murrte: „Du weisst schon, wie du mich kirremachen kannst! Aber hast dich diesmal geirrt, Doralies. So weh es mir auch wäre, wenn du monatelang fort von hier müsstest, lasse ich mich doch nicht auf solchen Schwindelschnack ein. Uebrigens kannst du sicher sein, Regina Graven lacht dich aus und erklärt dich für verrückt, wenn du bei ihr mit deinem Plan ’rausrückst.“

Doralies schüttelte den Kopf.

„Bewahre, mit Gina werde ich bestimmt einig, und mit dir muss ich’s auch werden.“ Sie machte ein paar Schritte durch das Zimmer, blieb vor der Wirtschafterin stehen; ihre Augen, die eben noch beinah übermütig gefunkelt, hatten mit einem Male einen seltsam tiefen Blick, und die helle Stimme zitterte ein wenig, als sie bekannte: „Ich will ja nicht aus Trotz hierbleiben, Henselchen, nicht aus Eigensinn oder übertriebener Sentimentalität. So sehr ich an unserem Nest und am Schlösschen hänge, deshalb wäre ich doch ganz gern für ein paar Wintermonate nach Berlin gesockt. Ich hätte mich bei Frau von Stäbnitz wahrscheinlich doch bald ganz unmöglich gemacht und wäre dann schnellstens wieder zurückgekommen. Nein, Hänschen, der Hase liegt ganz woanders im Pfeffer. Und wo, das will ich dir auch anvertrauen.“ Noch leiser wurde die Stimme. Nur noch wie ein Hauch glitt es in Berta Hensels Ohr: „Lutz kommt bald! In zehn bis zwölf Tagen; seine Mutter hat es mir letzthin erzählt.“

„Lutz kommt?“ klang es als fragendes Echo zurück.

Doralies nickte eifrig und bestätigte mit jubelndem Unterton in der Stimme und diesma ganz unvorsichtig laut: „Ja, denk nur, Lutz kommt!“

Einen Augenblick verharrte die Frau schweigend, dann sagte sie zögernd, als geschähe es gegen ihren Willen, als handle sie unter einem Zwange: „Ja, wenn Lutz kommt, ist das natürlich wohl was anderes.“

Doralies atmete sehr laut und befriedigt auf.

„Ich wusste ja, dass du mich verstehen würdest.“

Sie sahen sich beide an und lächelten.

Berta Hensel wurde gleich wieder ernst: „Trotzdem, Doralies — es geht nicht, ich kann nicht mithelfen.“

Doralies hatte plötzlich Tränen in den Augen, und langsam zogen die ersten glitzernden Tropfen gross und wichtig die weichen Wangen hinunter. Ein Anblick, der Frau Hensel durch und durch ging. Doch blieb sie äusserlich noch fest, innerlich hatte sie schon nachgegeben.

Doralies schluchzte auf: „Wenn ich Lutz nicht sehen soll, stelle ich irgend was ganz Schlimmes an, und du wirst dann deine Dickköpfigkeit schwer bereuen. Ich muss Lutz sehen; ein ganzes Jahr war er weg, da drüben in Indien beim Brückenbau, und nun hat er drei Monate frei. Und als er wegging, hat er gesagt: ‚Wenn ich wiederkommen werde, will ich dir’s genau sagen, wie gut ich dir bin — jetzt bist du noch zu jung für die Liebe.‘ Und — dann — hat er mich — geküsst, Hänschen — und dann ist er fortgelaufen, so schnell, als ob er verfolgt würde. In unserem Park war es, ganz hinten an der Mauer, und der Sommer ging zu Ende. Lutz sprang über die Mauer, ich habe ihn dann nicht mehr gesehen; er reiste noch am selben Abend ab. Seine Mutter hat mir seither oft Grüsse von ihm bestellt, ich aber warte seitdem. Jeden Abend, ehe ich schlafen gehe, bete ich für ihn, damit ihm nichts Böses zustösst so weit da drüben, wo’s so heiss ist und wo es Fiebersümpfe gibt und giftige Schlangen.“

Während sie sprach, rannen ihr langsam, aber unaufhörlich dicke Tränen über das Gesicht, das einen beinah verklärten Ausdruck trug. Leise bat sie:

„Hilf mir hierzubleiben, Hänschen. Die ganze Zeit, länger als ein Jahr, habe ich auf das Wiedersehen mit Lutz gewartet und mich mehr darauf gefreut als ein Kind auf Weihnachten. Und nun soll mir die grosse Freude zerstört werden, mir und ihm auch.“ Sie schluckte. „Er muss noch einmal fort, so sehr weit fort, und wenn wir uns vorher nicht sähen, wäre es doch entsetzlich traurig.“

Frau Hensel hatte jetzt auch Tränen in den Augen. Den Jammer ihres Lieblings konnte sie nicht länger mit ansehen. Sie legte ihr eine Hand auf den Arm, tröstete:

„Lass gut sein, Kind! Es wird sich vielleicht doch machen lassen, wie du meinst. Aber ich muss deine Idee erst ein bisschen verarbeiten; mein alter Kopf braucht Zeit dazu.“ Sie holte ein neues, blütenweisses Taschentuch hervor und fuhr ihrem Liebling damit sanft über das Gesicht. „Weine nicht mehr, Doralies, ich verstehe dich — und wenn dich Regina Graven auch so versteht, ist alles in bester Ordnung. Auf mich kannst du dich verlassen, von mir erfährt keiner etwas.“

Sie sassen dann beisammen und flüsterten, trennten sich wie zwei richtige Verschworene. Frau Berta Hensel schlich sich über die Hintertreppe in die Küche hinunter, während Doralies, laut und vergnügt pfeifend, die Vordertreppe benützte. Sie lief unten ihrem Vater in den Weg. Er lächelte: „Jetzt bist du schon wieder quietschvergnügt? Also hast du dich mit der Reise abgefunden — nicht wahr?“

Sie lachte: „Zu Befehl, Vati — mit der Reise habe ich mich abgefunden.“

Er nickte: „Dann sind wir ja wieder einmal einig, Wildling!“

So leicht, wie es sich Doralies vorgestellt, wurde sie mit Regina Graven nicht einig.

Regina wohnte bei einer Beamtenwitwe. Die Möbel ihrer Eltern hatte ihr Vormund, ein sehr nüchtern denkender Handwerksmeister, Stück für Stück damals verkauft, als ihr Vater gestorben und man ihm und seiner Frau das Mädchen zur weiteren Erziehung anvertraut. Als Regina im Frühjahr mündig geworden, mietete sie sich sofort, nach friedlicher Auseinandersetzung mit ihren Pflegeeltern, das Zimmerchen. Mit dem Vormund und seiner Frau hatte sie kein warmes Band verknüpft. Beide waren kaltherzige Pflichtenmenschen, die kein Gramm Herz zu verschenken hatten. Seit beide wussten, dass Regina ihre Stellung verloren hatte, beschrieben sie bei zufälligem Zusammentreffen einen weiten Bogen um sie herum, weil sie fürchteten, um Hilfe angesprochen zu werden. Als Regina das merkte, ging sie ihnen freiwillig aus dem Wege.

Frau Fredorf, bei der sie wohnte, hatte seit kurzem ebenfalls einen misstrauischen Blick, als fürchtete sie, ihre Miete nicht mehr pünktlich zu bekommen. Auch fühlte sich Regina gekränkt und gedemütigt von dem manchmal recht überlegenen Ton der auf ihrer kleinen Pension sicher ausruhenden Frau. Sie überlegte ernstlich eine Uebersiedlung in ein anderes Zimmer, doch hatte sie sich noch nicht entschliessen können. Sie musste sehr haushalten mit dem Rest ihres Spargeldes, und vielleicht fand sie kein so billiges Zimmer mehr.

Nun sass Doralies neben ihr auf dem altmodischen Ledersofa, dessen Bezug mit weissen Knöpfen befestigt war, die sich, wenn man sich anlehnte, unangenehm in den Hinterkopf drückten.

Regina sagte wie abschliessend: „Es geht nicht, Doralies — beim besten Willen, es geht nicht, so sehr mich ein mehrmonatlicher Aufenthalt in Berlin auch locken könnte. Noch dazu im Hause eines so berühmten Anwalts, wie Stäbnitz einer ist. Du weisst, ich habe juristische Neigungen, und wenn ich gekonnt hätte, würde ich Rechtskunde studiert haben. Wollen das Thema lassen, Doralies, und von anderen Dingen reden.“

Doralies kniff die Aeltere fest in den Arm, nickte befriedigt, als diese laut aufschrie.

„So, mein Herz, das für deine Störrigkeit! Bist ja dumm, Gina, feige und wenig freundschaftlich, wenn du bei deinem Nein bleibst. Stelle dir das doch erst einmal richtig vor! Erstens riskierst du vorläufig gar nichts. Was nachläufig passiert, darüber sollten wir uns beide nicht den Kopf zerbrechen. Du bist stellungslos, sitzt in der kleinen Bude hier bei einer unfreundlichen Wirtin und zerbrichst dir den Kopf, was weiter mit dir geschehen soll. Ich werde schon alles so deichseln, dass keiner was davon merkt, dass du für mich als Doralies Wolfram in Berlin auftrittst — und später ...“ Sie zuckte die Achseln. „Du bist dann aber wenigstens in Berlin, wo du gern hinmöchtest, und kannst dich umschauen, kannst an deine Zukunft denken. Wie ich dir vorhin alles auseinandersetzte, geht die Sache glatt.“ Sie umarmte Regina, küsste sie stürmisch. „Mein Leben lang werde ich dir den Dienst danken, und wenn später alles herauskommt, lachen Vater und Frau von Stäbnitz auch. Denke doch zunächst nicht weiter als deine Nase lang ist. Lutz und ich müssen uns wiedersehen.“ Sie schluchzte: „Wenn du mir nicht hilfst, gibt’s irgendein Unglück. Dann bereust du, dass du so bockig gewesen.“

Regina ging es nicht viel anders wie Berta Hensel: Vor Doralies’ Tränen wurde sie schwach. Sehr schwach sogar. Und im Hintergrund sah sie so vieles, was noch dazu beitrug, sie nachgiebig zu machen. Sie sehnte sich fort von hier und dachte es sich sehr interessant und belehrend, im Hause des berühmten Verteidigers zu leben. Da gab sie nach, erhob nur noch den Einwand: „Ich bin doch aber zwei volle Jahre älter als du!“

Doralies lächelte unter Tränen: „Zwei Jahre sind es mehr, aber das fällt bestimmt nicht auf. Du siehst noch so jung aus. Und unsere Haarfarbe ist blond, wenn deine auch einen starken Stich ins Rötliche hat. Unsere Grösse stimmt zum Glück ziemlich überein und die Taillenweite auch. Also meine Kleider passen dir, und ich werde dir meine besten Sachen einpacken.“ Sie trocknete die letzten Tränen. „Ich komme wieder zu dir, sobald ich erst Bestimmtes weiss. Vater wollte noch heute nach Berlin schreiben. Er fährt ja nach Afrika, also besteht keinerlei Gefahr, dass er nach Berlin kommen und dich sehen könnte. Besonders günstig ist’s vor allem, dass sich unsere Handschriften beinah zum Verwechseln ähneln. Aber das kommt ja öfter vor bei Schülern derselben Schule, und unser gutes Fräulein Bleyl vom Lyzeum, die uns die ersten Buchstaben malen liess, hat immer, solange sie nur konnte, fanatisch darüber gewacht, dass wir uns ihre korrekte Schrift aneigneten. Auch die Aufsätze mussten in ‚Schönschrift‘ sein. Sie behauptete, die heutige Jugend hätte keine Handschrift, sondern ‚eine Pfote‘. Na, sie soll hoch leben! Ihre fixe Idee kommt uns jetzt famos zustatten. Kannst also die Briefe an Vati schreiben. Hierher nach Mooshausen ins Schlösschen. ‚Hänschen‘ wird ihm die Post immer nachsenden, an die von ihm angegebenen Adressen. Die Hauptsache, die Briefe von dir, die er für meine halten soll, müssen den Poststempel Berlin tragen. Oft brauchst du nicht schreiben; Vati weiss, ich bin sehr schreibfaul. Die ersten zwei Briefe, wo es ja noch nicht so sehr darauf ankommt, was ich schreibe, gebe ich dir mit. Kannst daran gleich meine Handschrift auf Kleinigkeiten hin studieren. Briefe, die du nach Berlin erhältst, adressierst du unter Hänschens Namen auch ins Schlösschen. So, das wäre besprochen.“

Sie riss die Freundin empor, wirbelte sie herum.

„Bist ein goldiges Geschöpf, Gina! Ich glaube fest an die Grösse deiner Freundschaft.“

Nachdem Doralies gegangen war, versank Regina Graven in tiefes Nachdenken. Doralies hatte recht, sie riskierte wirklich nichts. Was später geschah, darüber wollte sie sich wirklich jetzt nicht den Kopf zerbrechen.

An diesem Abend noch ging ein Brief Fritz Wolframs an die Jugendfreundin ab, und schon zwei Tage später traf das erwartete Telegramm ein. Frau von Stäbnitz telegraphierte: „Doralies herzlich bei uns willkommen. Freue mich sehr auf sie.“