Wenn das nicht geschehen wäre - Anny von Panhuys - E-Book

Wenn das nicht geschehen wäre E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Warum musste Paul ausgerechnet als Letzter die Werkstatt verlassen, müde wie er war? Hätte er doch den Stecker aus der Steckdose gezogen, dann hätte dieser verflixte Wärmestrahler nicht weiterlaufen können! Wäre doch der Sack, der über lauter Krimskrams lag, nicht verrutscht und, wie seine Verlobte Elisabeth und seine Mutter ergänzen: hätte er sich doch nicht selber angeklagt, denn so war es auch mit der Feuerversicherung nichts. Elisabeth zeigt wenig Verständnis für ihren Liebsten. Wegen des finanziellen Schadens wird aus der geplanten Hochzeit erst einmal nichts. Doch dann kommt unerwartet Hilfe durch Pauls Patentante Frau Gregorius. Sie vererbt ihm einen kostbaren Smaragd und einen Ring, die er beide verkaufen soll. Und Paul hat ein zweites Mal Glück: Auf dem Weg zum Goldschmiedemeister verliert er seine Brieftasche mit dem wertvollen Schmuck. Aber eine entzückende Dame, Fräulein von Hahnendorf, bringt ihm wenig später die Brieftasche zurück. Sie ahnt allerdings nicht, dass ihre neugierige Schwester heimlich einen Blick in das Fundstück getan hatte. Besonders das kleine Kästchen hat es ihr angetan. Fasziniert von dem Ring hatte Bianca gar nicht bemerkt, dass etwas herausgefallen war. Die zweite Begegnung Pauls mit ihrer älteren Schwester Brigitte verläuft nicht so harmonisch: Entrüstet weist Brigitte die Schuld für den Verlust des Smaragds von sich – keiner ihrer Familie habe in die Brieftasche geschaut oder gar etwas herausgenommen ...Die heitere Liebesgeschichte des Paul Harnisch, der erst im Unglück Glück hat, dann aber doch wieder Pech (so scheint es wenigstens), muss viele Verwicklungen durchstehen. Wenn die alle nicht geschehen wären ...Anny Freifrau von Panhuys (1879 – nach 1941) ist eine deutsche Unterhaltungsschriftstellerin in der Tradition von Nataly von Eschstruth, Hedwig Courths-Maler und Helene Butenschön ("Fr. Lehne"), die etwa 100 Romane geschrieben hat und auch als Schauspielerin tätig war. Geboren wurde sie am 27. März 1879 als Tochter des Dachdeckermeisters, Dachpappenfabrikanten und Gelegenheitsdichters Ignaz Umouaft in Eberswalde. Durch ihre Adelsheirat wurde sie Freifrau. Panhuys begann um 1915, meist mehrere Romane pro Jahr zu veröffentlichen und war bis zu Beginn der vierziger Jahre literarisch aktiv. 1931 kehrte sie wieder nach Eberswalde zurück, wo sie in der Grabowstraße 28 wohnte. Ihr genaues Todesdatum konnte nicht ermittelt werden. Ihre Bücher wurden auch nach ihrem Tod noch immer wieder neu aufgelegt – vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren – und teils auch ins Niederländische übersetzt. Während die Romane der älteren Nataly von Eschstruth vornehmlich im gehobenen Adelsmilieu spielen, ist Anny von Panhuys' Hauptthema der Niedergang und Bedeutungsverlust des (in ihren Büchern meist verarmten) Adels und sein Streben nach Anschluss an die neue bürgerliche Welt.-

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Anny von Panhuys

Wenn das nicht geschehen wäre

Originalroman

Saga

Wenn das nicht geschehen wäre

© 1950 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592304

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1.

O du kleines, stilles Ackerstädtchen! Ist es nicht, als hättest du den Frieden gepachtet für alle Zeiten? Doch an Markttagen merkt man, du liebst auch das laute Leben. Dann lockst du die Menschen an, die ringsum auf kleinen Gehöften, auf gediegenen Erbhöfen und grossen Gütern wohnen. Sie kommen dich besuchen, und du hältst dann selbstbewusst und ganz von deiner Wichtigkeit durchdrungen Hof. O du kleines, sonst stilles Ackerstädtchen, du bist auch an solchen lauten Tagen reizvoll, wenn Autos und Pferdewagen aller Art — vom altmodischsten Vehikel bis zur sanft federnden Equipage, auf die Grossmama noch mächtig stolz gewesen — durch deine Strassen fahren.

Die Klosterkirche, der alte, noch immer kraftvolle Bau aus frühem Mittelalter, steht feierlich backsteingotisch, als riesiger Hintergrund vor dem Markttreiben, und die Landleute kaufen und verkaufen, sie wandern durch die Strassen und treten in die Läden ein. Markttag ist der grosse Tag der Besorgungen. Und Jahrmarkt ist der allerwichtigste Tag der Besorgungen und zugleich Vergnügungen. Da gibt’s allerlei Spass auf dem Rummel, und die Börse sitzt allen etwas lockerer in der Tasche als sonst.

Herbstjahrmarkt! Vom Rummel dudelte die Karusselmusik, und ab und zu wehten abgerissene Tonfetzen in ein Haus am Wall. Es war ein einstöckiges, älteres, aber sehr solide gebautes Haus mit einem Laden, zu dem eine Stufe hinaufführte. In einem grossen, geschmackvoll zurechtgemachten Schaufenster sah man Funkgeräte, Lautsprecher und Lampen. Über der Tür stand:

Paul Harnisch

Ingenieur und Elektromeister

Installation und Radio

Kraftanlagen und Ankerwicklung

Das Geschäft war heute sehr besucht. Paul Harnisch hatte alle Hände voll zu tun. Seine Mutter und Elisabeth Römer, seine Schreibhilfe und seit kurzem seine Verlobte, unterstützen ihn beim Verkauf. Radio war längst kein Vorrecht mehr für einzelne. Jeder, auch der kleinste Kossäte, wollte darüber unterrichtet werden, was in Deutschland und in der Welt vorging, und bei Paul Harnisch kaufte man gut, wurde fachmännisch von ihm beraten. Als es zu dunkeln begann, wurde der Laden leer und es war, als ob mit den letzten Kunden auch die Spannkraft der drei, die den ganzen Tag über so eifrig bedient hatten, verschwunden wäre.

Paul Harnisch war gross und schlank, doch dabei breitschultrig. Sein Haar war hellbraun und lag sehr straff zurückgekämmt über einem Gesicht, dessen scharfer Schnitt durch die dunklen Brauen noch stärker betont wurde. Hellgraue Augen hatte er und die Linien seines Mundes waren ein wenig weich geschwungen.

Er verliess zuerst den Laden, und seine Mutter, die ihm sofort folgte, fand ihn in der Wohnstube am offenen Fenster.

Sie schalt gutmütig:

„Wir haben Anfang Oktober, Paul, und es ist gegen Abend draussen schon kühl, da sollte man ein warmes Zimmer eigentlich zu schätzen wissen.“

Er schloss das Fenster, das er eben geöffnet hatte, sehr geräuschvoll. So wie jemand, der inneren Zorn, den er mühsam verbeissen muss, an einem Gegenstand auslässt.

Frau Harnisch war mittelgross und mollig. Ihr Haar lag in graublonden Zöpfen um den Kopf. Sie hatte seit den Mädchentagen ihre Frisur niemals geändert. Nun zupfte sie den Sohn am Rockausschlag.

„Jungchen, Jungchen, das kann und darf nicht so weitergehen mit dir. Den ganzen Tag und mindestens noch die halbe Nacht quälst du dich mit der unglückseligen Geschichte herum.“ Sie sah zu ihm auf. „Da stehst du vor mir, guckst ’runter auf mich, und ich muss dir immer wieder zureden, wie ’nem Hosenmatz.“ Sie drückte ihn auf einen Stuhl. „Ich finde, wenn man von unten nach oben ’rauf reden muss, geht dabei eine Menge von der Autorität verloren! Und die brauche ich, wenn ich dich zur Vernunft bringen will. Das muss ich aber, denn ich mag’s nicht mehr mit ansehen, wie du dich kaputt machst — und Elisabeth sieht auch schon ganz trübselig aus.“ Sie legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Wir haben Pech gehabt, Paul, aber uns selbst ist wenigstens nichts geschehen. Wir sind gesund, und mit dem Pech müssen wir fertig werden. Ich predige dir das immer wieder und hoffe, du bringst endlich die Kraft auf, dich aus dem ewigen Drandenken herauszureissen. Die Kundschaft ist dir doch nicht weggelaufen, und das ist schliesslich das Allerwichtigste.“

Er lachte kurz auf. Es klang bitter.

„Ach, Mutter, du meinst es ja gut mit mir und ich erkenne das gewiss an. Ich bin dir auch dankbar für jedes liebe Wort, aber so einfach, wie sich das mit dem, was die Kundschaft betrifft, anhört, ist es leider nicht.“ Er presste zwischen den Zähnen hervor: „Verdammt schwer ist es sogar. Natürlich, Funkgeräte sind genügend da, und ich kann auch jederzeit nachbestellen. Aber die Werkstatt ist zum Teufel, und ein paar der Arbeiter sind zunächst brotlos geworden durch meinen sträflichen Leichtsinn. Alles Material ist verbrannt, und die Feuerversicherung kann mir nicht helfen, ich trage allzu klar die Schuld an dem Unglück. Das weiss ich natürlich und habe es auch sofort erklärt —“

„Ja, so überklug bist du gewesen!“ kam es von der Tür her. Elisabeth Römer stand dort, und die sehr hohe Stimme, die einem Kinde anzugehören schien, kippte vor Erregung über.

„Du brauchst ihm das, was Paul selbst am besten weiss, nicht immer noch von neuem zu bestätigen, Elisabeth. Du hilfst ihm dadurch bestimmt nicht.“ Frau Harnisch sagte es verweisend.

Elisabeth trat langsam näher. Sie hatte einen eigentümlichen Gang. Sie wippte beim Gehen abwechselnd immer ein wenig nach rechts und nach links. ‚Schmetterlingsgang’ nannte es Paul in zärtlichen Augenblicken. Elisabeth fand die Bezeichnung verdreht, aber sie behielt das für sich. Sie wandte sich an Frau Harnisch:

„Ach, Schwiegermutter, du tust, als ob Paul ein armer Pechvogel wäre, den man nur bedauern müsste oder mit Trostworten füttern. Ich denke etwas anders darüber. Schuld hat er nun mal an dem Unglück, aber es hat nicht bloss ihn getroffen. Dich und mich auch. Mich nicht mal zu knapp. Mit dem Heiraten im Januar ist’s doch nun wahrscheinlich Essig geworden, und es war vorher alles so schön und glatt in Ordnung.“

Ein paar Tränen drängten sich aus ihren hellbraunen Augen, die nicht besonders gross waren, aber jenen eigenen, sanften Ausdruck hatten, weshalb man sie allgemein mit ‚Rehaugen’ bezeichnet. Rehaugen bei Menschen sind nicht immer der Spiegel der Seele. Aber wer das nicht am eigenen Leibe erfahren hat, glaubt es nicht.

Elisabeths Gesicht war klein und sehr ebenmässig, das Haar dunkelbraun und gelockt. Sie war sehr stolz darauf, dass ihr die Natur Dauerwellen geschenkt hatte. Und noch einen Vorzug besass die kleine, zierliche Elisabeth Römer. Ihr Lächeln war von ganz besonderem Reiz. Sie verzog nur ein klein wenig den Mund, und dann bildeten sich sofort zwei tiefe Grübchen in den Wangen.

Diese Grübchen hatten es dem grossen, breitschultrigen Paul Harnisch sehr bald angetan.

„In die Grübchen habe ich mich vergafft. Mutter,“ hatte er gesagt, als er ihr erklärte, er liebe Elisabeth Römer und würde sie heiraten, auch wenn sie kein einziges Stückchen Wäsche mit in die Ehe brächte. Frau Harnisch hatte darauf erwidert: Viel brächte Elisabeth Römer auch kaum mit, denn was sie verdiene, gehe für neue Kleider und hochhackige Schuhe drauf! Er dagegen lachte: „Ein junges hübsches Mädel muss eitel sein. Ich liebe Elisabeth gerade so, wie sie ist!“ Frau Harnisch hörte aus jedem Wort heraus, dass es keinen Zweck mehr hatte, dem Sohn abzuraten, wie sie es gern getan hätte. Sie würde dabei nur einen Teil seiner Liebe und seines Vertrauens aufs Spiel setzen, und so antwortete sie denn: „Du bist neunundzwanzig Jahre, also alt genug, dir deine Lebensgefährtin selbst zu wählen. Ich habe keine besonderen Gründe, dass du Elisabeth nicht nehmen sollst.“

Eigentlich hatte sie doch besondere Gründe, aber die genügten nicht, denn er würde sie nicht beachten. Er hatte es ja nicht getan, als sie flüchtig darauf hingewiesen: Was Elisabeth verdiene, gehe für neue Kleider und hochhackige Schuhe drauf!

Also hatte sich Paul Harnisch mit Elisabeth Römer verlobt, deren Eltern lange tot waren, und die bei einer Tante lebte, die in den Häusern der Bürger und daheim Wäsche ausbesserte und manchmal auch neue anfertigte.

Als Elisabeth mit tränenfeuchten Augen vor dem Manne stand und ihn anklagend anschaute, kam er sich ganz erbärmlich vor.

Er bat: „Hilf mir doch mit Güte und Zureden, wie es Mutter tut, Elisabeth.“ Dann fuhr er erregt fort: „Ich habe das Schlimme doch nicht mit Absicht getan, nicht wahr? Ich bin ja schon beinahe irrsinnig vor lauter Selbstvorwürfen, und das ist wahrhaftig Strafe genug.“ Er erhob sich mit einem Ruck. „Du lieber Gott, die Tatsachen ändern sich nicht, und wenn ich sie auch noch tausendmal von neuem erzähle. Ich war an dem Abend wie verblödet vor Übermüdung. Es hatte soviel zu tun gegeben, dazu ist mir vielleicht sogar die Freude etwas zu Kopf gestiegen, weil ein Tag hinter mir lag, den ich als einen besonders erfolgreichen für mein junges Geschäft buchen durfte. Vater war ein kleiner Klempnermeister und sein Lädchen nur winzig, und nun zeigte sich allmählich — an dem bewussten Tag aber ausnahmsweise deutlich — für mich die Aussicht, dass unser Name zu einer grossen Firma werden könnte.“

Er lief quer durch das grosse, etwas altmodisch eingerichtete Zimmer.

„Himmel, musste ich als letzter, der hinten die Werkstatt verliess, duselig und ermüdet, wie ich war, vergessen, den Stecker aus der Steckdose zu nehmen, so dass der verflixte kaputte Wärmestrahler sich noch immer betätigen konnte und den frisch gewickelten Anker weiter trocknete. Und der Sack, den ich über den Krimskrams gelegt hatte, damit keine Wärme fürs Trocknen verloren gehen sollte, ist dann verrutscht...“

Elisabeth vollendete ungeduldig: „ ... und schliesslich hat die Heizspirale den verrutschten Sack berührt und entzündet. So entstand das Feuer. Aber das wissen wir ja alles, und du erzählst es ausserdem jedem, der’s hören will. Kein Mensch hätte vielleicht daran gedacht, wenn du dich nicht selbst angeklagt hättest — und mit der Feuerversicherung war’s natürlich nichts.“

Frau Harnisch mischte sich ein:

„Du sollst nicht so reden, Elisabeth, du beleidigst Paul damit. Er hat leichtsinnig und fahrlässig gehandelt und deshalb kein Anrecht auf eine Versicherung. Du darfst seine Ehrlichkeit aber nicht als Dummheit hinstellen.“

„Mutter, Elisabeth meint es nicht so,“ entschuldigte der Sohn das zierliche Wesen, über dessen Gesicht ein Hauch von rosigem Puder lag, der verbarg, wie blass es darunter geworden war.

Elisabeth tupfte ein paar Zornestränen fort.

„Deine Mutter verkennt mich leider, Paul. Ich habe dich doch so lieb.“

Die Rehaugen blickten zärtlich und scheu, die Grübchen waren plötzlich auch da, und ein verliebter Mann war trotz allem Pech — wenigstens ein paar Minuten lang — glücklich.

Frau Harnisch entfernte sich, um in der Küche das Abendbrot vorzubereiten, und drinnen im Wohnzimmer drängte sich Elisabeth an Paul heran und liess sich von ihm wie ein Kind in die Arme nehmen. Er flüsterte ihr dabei ins Ohr:

„Es wird ja alles, alles wieder gut werden. Wollen aber jetzt nicht mehr davon reden, ich möchte gar nichts denken ... als nur an dich.“

Die Ladenklingel meldete Kundschaft an. Es fehlten nur noch ein paar Minuten an sieben Uhr.

Elisabeth machte sich aus den Männerarmen frei, zupfte flüchtig und gewohnheitsmässig an ihrer Frisur herum und ging in den Laden. Sie kehrte gleich darauf zurück.

„Die Wirtschafterin von Frau Gregorius war da. Du sollst, wenn’s dir irgend möglich ist, heute noch zu ihr kommen. Vor halb neun wäre es ihr am angenehmsten. Um neun pflegt sie schlafen zu gehen.“ Sie spöttelte: „Wahrscheinlich will sie etwas am elektrischen Licht in Ordnung gebracht haben, das darfst du umsonst und nebenbei tun. Dafür ist sie deine Patin, bloss fürs Berappen ist die Ollsche nicht.“

Er schüttelte den Kopf.

„Die ‚Ollsche’ ist eine liebe, alte Frau, und dass sie nicht viel Geld hat, dafür kann sie nichts. Wenn ich ihr einen Gefallen erweisen kann, tue ich’s sehr gern. Früher hat sie meinen Eltern oft ausgeholfen, und mir hat sie, als sie es noch konnte, auch manche Mark zugesteckt.“

Elisabeth erwiderte nichts, und da es eben sieben Uhr schlug, meinte sie, dass sie jetzt wohl nach Hause gehen könne, sie wäre sehr müde vom vielen Bedienen.

Er nickte und brachte sie bis vor die Tür. Das Gutenachtsagen bei Frau Harnisch vergass Elisabeth nicht nur heute, das hatte sie schon öfter vergessen.

* * *

2.

Kurz nach acht Uhr — er hatte sehr schnell zur Nacht gegessen — sass Paul Harnisch seiner Patin gegenüber. Fünfundachtzig Jahre zählte die alte Dame, und ihr Gesicht war verschrumpelt wie ein Borsdorfer Apfel.

Sie nahm seine Hand und begann zu reden. Ein bisschen heiser und brüchig. Sie sprach von seinem Pech, von dem man ihr erzählt, und wie sie nachgedacht hätte, um ihm beizustehen; denn die Werkstatt müsse allerschnellstens wieder aufgebaut werden. Ob sie ihm in allem helfen könne, wisse sie zwar nicht, aber etwas für ihn tun könne sie bestimmt.

Sie lächelte, und dabei spielten zahllose Fältchen um Augen und Mund.

„Weisst ja, Paulemann, dass die alte Gregorius, ehe sie den Pfarrer Gregorius heiratete, eine von der Bühne gewesen ist ... und keine ganz Unbekannte. Ein seltsames Paar, nicht wahr — der Gottesmann und die Schauspielerin. Ja, wo die Liebe hinfällt. Es war ein Roman, den ich nie bereute erlebt zu haben. Du weisst, ich besitze kein Vermögen, das Sparen lag mir früher ganz und gar nicht, und wenn ich nicht die Pension bekäme ...“ Sie brach ab. „Das heisst, — von Wert habe ich noch etwas, — ich wollte es aufheben bis zu meinem letzten Tag, weil ich mich so schwer davon trenne. Aber ich sehe nun ein, ich muss dir helfen. Meine drei Jungen sind tot, kein Verwandter von mir bleibt zurück, wenn ich für immer gehen werde. Und du hättest das, was ich meine, später doch bekommen.“

Paul Harnisch, dessen Hände die alte Frau noch immer hielt, wehrte ab:

„Sie sollen sich meinetwegen keine Sorgen machen, liebe Frau Gregorius. Ich möchte wirklich nicht, dass Sie sich deshalb auch nur mit einem einzigen schweren Gedanken belasten.“

„So schlimm ist’s ja gar nicht, Paul. Lass gut sein, wir wollen das, was ich eben gesagt habe, und was sich vielleicht etwas feierlich anhörte, nicht so tragisch nehmen.“ Sie liess seine Hände los. „Jetzt hör zu, Paulemann, du ganz grosser Bengel. Weisst du, ich habe dich immer sehr gern gemocht, und so ein Altchen wie ich darf dir ja ruhig eine Liebeserklärung machen. Also, ich habe noch aus meiner Glanzzeit einen Brillantring mit einem reinen, dreikarätigen Solitär, und ausserdem einen losen Stein, einen Smaragd, der ziemlich wertvoll ist. Ein Maharadscha hat mich mal spielen sehen an einem kleinen Hoftheater, wo ich gastierte. Ein alter Herr war’s; wie der Gandhi hat er fast ausgesehen. Kein einziges Haar mehr hatte er, wie man sagte, auf dem Kopf. Aber der Turban tat da gute Dienste. Er war zu Besuch bei dem Landesfürsten und hat mir den Stein in einem Strauss Rosen geschickt. An dünner Goldkette hing er. Mein Mann konnte das Schmuckstück aber nicht leiden und ärgerte sich, wenn ich es trug. Er behauptete, es wäre Unheil damit verbunden. In Wirklichkeit schien ihm der Anhänger wohl zu prunkvoll für seine Pfarrersfrau.“

Sie kicherte. So leise und fern klang das Kichern, als käme es hinter dem Rollschreibtisch hervor oder hinter dem Eckschrank mit dem sorgsam gepflegten Porzellan.

Sie tat plötzlich geheimnisvoll.

„Die Inder haben allerdings eine Menge los mit sonderbaren und unerklärlichen Dingen, und eigentlich stimmte es, was mein Mann vorgebracht hatte, um mir den Smaragd zu verleiden ... Immer, wenn ich ihn trug, geschah nämlich irgend etwas sehr Unangenehmes oder Schlimmes in der Familie. Mir graute schliesslich auch davor. Ich hätte den Stein später öfter verkaufen können, aber ich mochte mich trotz meines Mannes und meiner eigenen Abneigung dagegen nicht davon trennen, weil er so schön war. Jetzt aber soll es geschehen. Von heute an gehört dir der Smaragd und der Ring, und du sollst beides verkaufen. Wenn du willst, und der Smaragd genug bringt, brauchst du den Ring nicht zu veräussern und kannst ihn zum Andenken behalten. Ich möchte dir auch angeben, wo du beides wahrscheinlich loswerden wirst. Vor einigen Jahren zeigte ich nämlich den Stein gelegentlich einem Goldschmiedemeister, der ihn sofort für mich unterbringen wollte. Mit ein paar Zeilen von mir, die ich schon schrieb, fährst du zu ihm — er wohnt knapp eine Stunde Bahnfahrt von hier entfernt — und danach wird alles für dich wenigstens leidlich in Ordnung kommen.“

Sie seufzte zufrieden.

„So, nun habe ich meine Litanei angebracht und bitte dich, mir mit keinem Wenn und Aber zu kommen, die darf es zwischen uns beiden nicht geben. Ich bin auch immer sehr müde, wenn’s auf die neunte Stunde zugeht, und es ist schon neun Uhr vorüber.“

Sie langte von einem kleinen Tisch neben sich eine Schmuckschachtel und reichte sie Paul Harnisch.

Er nahm die Gabe zögernd entgegen, doch die Verlockung, sich vielleicht dadurch bald aus seiner bedrängten Lage retten zu können, war fast überstark. Dennoch stammelte er verlegen: „Liebe, gute Frau Gregorius, aber ...“

Sie kicherte wieder: „Hör auf, mein Junge, es lohnt nicht, dass du mehr sagst, wenn du schon mit dem dummen ‚Aber’ anfängst.“ Sie erklärte: „Im Kästchen liegt die Adresse des Goldschmieds, geh zu ihm, er ist ein netter Mensch. Und jetzt klingele, bitte.“

Mechanisch drückte Paul Harnisch auf die Tischglocke, und sofort trat Frau Wolle ein, die dem Altfrauchen die Wirtschaft führte.

Frau Gregorius sagte mit ihrer wie zersprungen klingenden Stimme:

„Frau Wolle, Sie sollen für alle Fälle Zeuge sein, dass ich meinem Patenjungen, den Sie ja kennen, heute einen Brillantring und einen Smaragd, das ist ein grüner Edelstein, geschenkt habe. Ich meine, es ist gut, für diese Schenkung eine Zeugin zu haben, falls es Kuddelmuddel gäbe, wenn ich nicht mehr selbst da sein sollte.“

Die Haushälterin nickte ein paarmal langsam und feierlich.

„Ich werde es nicht vergessen, Frau Gregorius.“

Sie wusste, wenn Altfrauchen einmal für immer die Augen schloss, blieb ihr das schöne, warme Heim als Dank, weil sie getreu hier ausgehalten.

Frau Wolle verliess das Zimmer, und Paul Harnisch öffnete das Kästchen. Da lagen auf rotsamtenem Futter ein Ring mit einem klaren, funkelnden Brillanten und ein ziemlich grosser grüner Stein, der ihm eigentlich noch viel besser gefiel, weil von ihm ein Leuchten und Strahlen ausging, das etwas Phantastisches an sich hatte und ihn förmlich hypnotisierte.

„Jetzt geh, Paulemann,“ bat die alte Dame, „ich bin sehr, sehr schläfrig.“

Altfrauchen war so müde, dass sie, nachdem Paul Harnisch kaum gegangen war, sich gleich von Frau Wolle zur Ruhe bringen liess ... So müde war sie, dass sie am nächsten Morgen gar nicht mehr aufwachte. Ihr Körper lag im Bett, die Augen waren fest geschlossen, ihre Seele aber hatte sich in der Nacht auf die Wanderung nach dem Jenseits gemacht.

Drei Tage später schritt Paul Harnisch hinter ihrem Sarge her.

Und auch seine Mutter fand sich auf dem Friedhof ein. Sie war der alten Dame unendlich dankbar für die Hilfe, die sie ihrem Sohn hatte zuteil werden lassen.

Im Laden am Wall aber lächelte die zierliche Elisabeth Römer sehr zufrieden vor sich hin. Die Schwierigkeiten, die ihre Ehe mit Paul Harnisch wahrscheinlich für längere Zeit hinausgeschoben hätten, schienen beseitigt. Ihr lag daran, recht bald zu heiraten. Sie hatte das Wohnen bei der Tante satt, und da sie noch minderjährig war, musste sie noch ein ganzes Jahr bei ihr aushalten, falls sie nicht heiratete.

Schon am nächsten Tage fuhr Paul Harnisch nach der Stadt, wo der Goldschmiedemeister wohnte.

Sein Auto, mit dem er oft Motoren, Arbeitsmaterial und Rundfunkgeräte befördert hatte, war bei dem Brand, der das Werkstatthaus bis auf die Grundmauern zerstört hatte, ebenfalls vernichtet worden. Also, benutzte er die Eisenbahn — einen der Frühzüge. Um halb acht hatte er schon seinen Bestimmungsort erreicht.

Der Herbstmorgen war sonnig aber etwas frisch. Paul Harnisch entschloss sich daher, ein Stündchen spazierenzugehen. In einer Stunde konnte er dann wohl schon den Goldschmiedemeister besuchen; jetzt waren die meisten Geschäfte noch nicht geöffnet.

Fachmännisch prüfte er die Schaufenster der Radio- und Installationsgeschäfte der Stadt, die viermal so gross war wie das Städtchen, aus dem er kam, und während er die Auslagen anschaute, überlegte er, ob er wohl einige Tausender aus dem Verkauf des Smaragds lösen würde.

Ihm war so hoffnungsvoll zumute und so leicht. Er dachte auch an Elisabeth und wie lieb sie gestern abend zu ihm gewesen war, als sie gesagt hatte: ‚Wenn nur alles halbwegs klappt, werden wir Januar doch noch heiraten, nicht wahr?’ Er hatte es darauf nicht fertiggebracht, nein zu sagen, oder dass man lieber noch etwas warten wolle, wie es ihm der Verstand angeraten. Bewahre! Geküsst hatte er sie dafür — lange und selbstvergessen geküsst. Herrgott! War er närrisch verliebt in das Püppchen.

Er mochte keine Schaufenster mehr betrachten und bog nun in einen schmalen, sehr kurzen Verbindungsweg zwischen Hauptstrasse und Promenade ein. Er war schon öfter in dieser hübschen Stadt gewesen und wusste ein wenig Bescheid, ohne dass er hier andere als nur ein paar geschäftliche Bekanntschaften besass.

Nachdem er den Verbindungsweg durchschritten, begann die Promenade, löste sich aus einem kleinen, noch sommerlich grünen Platz. Er betrat den Platz, von dem aus ein schöner Blick auf einen Teil der pietätvoll gepflegten Altstadt frei wurde. Rings von Wald umgeben, war die Stadt anmutig wie kaum eine andere der Kurmark. Paul wandte den Schritt nach links, wäre er nach rechts gegangen, würde er seinem Schicksal begegnet sein.

* * *

3.

An der Promenade lag das Haus, das vielleicht eine grosse Villa, vielleicht aber auch ein kleines Schloss genannt werden konnte. Es stand in einem weiten Garten, und im Spätherbst und Winter, wenn man vollen Durchblick auf das Gebäude hatte, schien es, als wäre der umfangreiche Platz davor eigens nur dazu angelegt worden, damit sich recht viele Menschen darauf versammeln sollten, die dem vornehmsten Haus der Stadt Bewunderung schuldig wären.

Über dem ersten Stockwerk las man das Wort: ‚Princesita’. Nur wenige wussten, wenn sie die durch Wind und Wetter verwischten Buchstaben, die einstmals golden glänzten, entziffert hatten, damit etwas anzufangen. Und es lag doch der Klang des gleichen deutschen Wortes darin und drängte sich hervor. ‚Princesita’ war spanisch und hiess auf deutsch: ‚Prinzesschen’.

Eigentlich passte der Name nicht recht für das dunkelgraue Haus, das allerdings dereinst schneeweiss gewesen war. Der Himmel mochte wissen, wie lange schon kein Maurergerüst hier mehr aufgebaut worden war, um fleissigen Arbeitern als Stützpunkt zu dienen beim Säubern und Anstreichen. Aber schön und vornehm war Villa Princesita trotzdem. Die Städter nannten den Bau ‚Schloss’, und weil sie mit dem spanischen Wort so schwer fertig wurden, betitelten sie ihn kurz ‚Unkenschloss’. Das sprach sich glatt und einfach aus, und es klang auch ein wenig geheimnisvoll, so dem Geschmack der meisten entsprechend. Es hörte sich so angenehm gruselig an, und dafür haben viele Menschen nun einmal eine ganze Menge übrig.

Im Park, der sich hinter dem Haus bis an die Waldberge heranschob, gab es einen Teich, in dem der Wassergott aus Sandstein, mit dem Dreizack bewaffnet, im Schmuck seines mächtigen Haares und Bartes, sich mit seinen nackten, sandsteinernen Wasserweiblein allerlei von der Zeit erzählte, als sie hierhergebracht wurden. Beinahe anderthalb hundert Jahre waren seitdem vergangen. Wie waren sie damals bestaunt worden von den Menschen, die in der Villa Princesita ein und ausgingen.

Oberst a. D. Johann von Hahnendorf hatte das Haus erbaut für seine junge Frau, eine Prinzessin Juanita Torres y de Oviedo, die er zufällig auf einer Reise kennengelernt hatte, und die ihn dann nach wenigen Ehejahren plötzlich verliess und nicht mehr aufzufinden gewesen war. Niemand war ihr je wieder begegnet, niemand wusste, wo sie geblieben war, und das Gerücht ging damals um, sie wäre mit einem anderen Mann in die weite Welt gegangen. Mit einem Manne ihrer Heimat, der sie besser verstand als der rauhbeinige, derbe deutsche Soldat, der viel älter als sie gewesen. Andere hatten sogar geäussert, Johann von Hahnendorf hätte seine schöne Frau aus Eifersucht umgebracht.

Von alledem redete Herr Wassergott mit seinen nackten Nixen, und sie lächelten dann zusammen seltsam wissend. Wenn sich der Mond hoch oben über den Waldbergen zeigte, dort, wo die vielen Wege in die Oberheide führen, konnte man das Lächeln deutlich erkennen, und die Unken konzertierten dazu in einförmiger Unermüdlichkeit.

Wenn um diese Zeit noch Spaziergänger an der Villa vorbeigingen, lächelten sie wohl auch, und es sagte einer zum anderen: „Hörst du das Gequake und Geunke? Unheimlich ist das, ich möchte hier nicht wohnen.“

Die aber hier wohnten, hörten es wahrscheinlich kaum noch.

Von jenem Oberst a. D. Johann von Hahnendorf, der das Haus seinem Neffen vermacht hatte, stammte der jetzige Besitzer ab, und er musste ums liebe tägliche Brot arbeiten. Das Haus war längst eingeteilt in Mietswohnungen. Vier Parteien lebten darin: Der Hausbesitzer und Buchhalter Erich von Hahnendorf, die Schriftstellerin Walborg, Studienrat Treller und der frühere Zirkusdirektor Michael. Er hatte sich ins Privatleben zurückgezogen, und sein Sohn führte das Manegenzepter über Artisten und Tiere und all das Drum und Dran eines grossen Wanderzirkus.

Das Laub an den Bäumen leuchtete hier und dort noch sommerlich grün durch die gelben und bräunlichen Herbstblätter, die ein Malerpinsel rot und golden betupft zu haben schien. Hinter dem kleinen Park stieg der Wald bergan, und wenn man zu den rückseitigen Fenstern der Villa hinausschaute, war der Anblick des Waldes, der sich terrassenförmig aufbaute, immer wieder schön. Das fanden alle Mieter, die im Unkenschloss ihr Heim aufgeschlagen hatten. Wer einmal darin wohnte, würde es kaum leichten Herzens verlassen. Die Räume waren hoch und gross, es war Platz darin für viele Möbel, und man wohnte hier still wie auf einer abgeschiedenen Insel.

Die Sonne sah nicht mehr so liebenswürdig sommerwarm aus, sie blinzelte nicht mehr so lebhaft mit ihren Strahlenaugen. Kühler, zurückhaltender war ihr volles, leuchtendes Antlitz, aber dennoch reizvoll wie nur jemals. Frau Sonne kann nie reizlos sein. —

Frau Kulkow fegte mit einem derben Besen die schmale Steintreppe ab, die seitlich ins Haus führte und zehn Stufen zählte. Die Parterreräume lagen ziemlich hoch. An der Vorderseite befand sich eine Freitreppe, aber sie wurde niemals benutzt. Sie verharrte in bequemer Untätigkeit, und die zwei Fabeltiere, die rechts und links von ihr auf niedrigen Sockeln lagerten, schienen aufzupassen, dass sich kein unberusener Fuss hier heranwagte. Sphinxe waren es, mit grausamen, hart geschnittenen Frauenköpfen und kräftig herausmodellierten Löwenleibern.

Witwe Emma Kulkow bewohnte zwei Zimmer und Küche im Kellergeschoss, das aber nicht sehr in die Tiefe ging. Vom rückseitigen Eingang führten einige Stufen nach unten. Die Fenster versteckten sich nur etwa zu einem Drittel unter der Erde. Frau Kulkow hatte freie Wohnung und kümmerte sich dafür um alle Hausarbeiten.

Zum Haus gehörten noch Harras, der Schäferhund mit dem goldbraunen und schwarzen Fell und der gelben Halskrause, der Hahnendorfs getreuer Vasall war, dann der Dackel Waldi, der bei Fräulein Walborg daheim war, die Katze Minka, die Studienrats gehörte, und der Papagei des Zirkusdirektors. Frau Kulkow besass nur eine Schildkröte, und die rührte sich tagelang nicht vom Fleck. Frau Kulkow hing an dem Tier, das ihr seliger Mann ihr einmal mitgebracht hatte, aber die Ruhe des kleinen, langsamen Freundes brachte ihre quecksilbrige Beweglichkeit — sie war fünfzig Jahre — oft in Harnisch, und dann schimpfte sie: „Biest, komm doch mal endlich aus die Ecke raus — oder soll ick dir vielleicht ’nen Motor insetzen lassen?“ Die Schildkröte hiess Pluto. Wie ihr Mann auf den Namen verfallen war, mit dem man nur sehr grosse Hunde zu benennen pflegte, wusste sie nicht, und die Schildkröte wusste es auch nicht, aber sie war nun mal so getauft, und es störte sie nicht.

Es gab oft erstaunte Gesichter, wenn Frau Kulkow Besucher ermahnen musste, vorsichtig aufzutreten, weil Pluto gerade dort schlief, wohin sie den Fuss setzen wollten.

Das waren die Bewohner der Villa Princesita oder des Unkenschlosses.

Frau Kulkow fegte also die seitlich gelegene zehnstufige Treppe und säuberte sie von den rötlichen Blättern des wilden Weins, der über das Dach und die Säulen des Treppenvorbaus rankte.

Sie sang dabei:

„Im Unkenschloss, da geht es um,

Da schleicht es über die Treppe,

Und in der bösen Geisterstund’,

Da rauscht eine seidene Schleppe.

Die Spanierin kommt in ihr Haus,

Um ein Uhr muss sie wieder hinaus:

In den Garten, in den Wald, in die weite Welt,

Irgendwo in ein Grab unterm Himmelszelt!“

Es war etwas vor drei Viertel acht, und Erich von Hahnendorf trat eben mit seiner Tochter Brigitte aus der Haustür. Er sagte ein wenig ärgerlich:

„Ich habe Sie doch schon zum soundsovielten Male gebeten, den Blödsinn nicht mehr zu singen, Frau Kulkow. Jedesmal versprechen Sie es mir, und ein paar Tage darauf höre ich den Quatsch von neuem.“

Frau Kulkow konnte ganz grossartig treuherzig dreinschauen mit ihren schwarzbraunen Kulleraugen.

Sie antwortete: „Ick nehme mir ja ooch immer vor, det Lied nich mehr zu singen, aber et is so jeheimnisvoll un traurig. So jefühlvoll. Un sowat jefällt mir. Et singt sich immer wie von janz alleene.“

Er zuckte die Achseln: „Wenn ich bloss herausbekäme, wer den Unsinn verbrochen hat, dem Kerl haute ich eine runter, nach der ihm solch Dichten ein für allemal verginge.“

Brigitte machte ein scheinheiliges Gesicht.

„Nach dem Versprechen wird sich der Dichter sicher nicht bei dir melden, Vati.“

Die Frau griente. Herrn von Hahnendorfs zweite Tochter Bianka hatte ihr das Lied beigebracht, und Emma Kulkow vermutete auch in ihr die Dichterin. Aber klatschig war die Kulkown nicht, wenn es sich um ihren Liebling Bianka handelte. Bewahre, für die wäre sie im wahren Sinn des Wortes durchs Feuer gegangen. Das junge Mädchen hatte ihr die Wohnung vermittelt beim Vater. Nein, auf Bianka liess sie nichts kommen.

Kaum waren die beiden ausser Sicht, sang Emma Kulkow vergnügt weiter:

„Im Unkenschloss, da geht es um,

Da klopft’s nachts an die Türen.

Prinzesschen bittet: Macht mir auf,

Lass euer Herz doch rühren!

Macht ihr nicht auf im alten Haus,

Muss ich um ein Uhr wieder hinaus:

In den Garten, in den Wald, in die weite Welt,

Irgendwo in mein Grab unterm Himmelszelt.

Im Unkenschloss, da geht es um,

Da bleibt jede Tür verriegelt.

Es raunt durchs Haus: Du brachst die Treu,

Dein Schicksal ist besiegelt.

Komm täglich um Mitternacht nur ins Haus!

Um ein Uhr musst du doch wieder hinaus:

In den Garten, in den Wald, in die weite Welt,

Irgendwo in dein Grab unterm Himmelszelt.“

„Bravo!“ lobte eine lachende Stimme. Die Schriftstellerin, Fräulein Walborg, klein wie ein Gnomenweibchen mit grossem Kopf und kurzen Beinen, stand hinter Frau Kulkow und strahlte über das ganze liebe und immer freundliche Gesicht.

„Hat’s Ihnen so jut jefall’n, Fräulein Walborg? Sie vastehn ja wat von Poesie,“ fragte Emma Kulkow und sah fast stolz aus.

„Ich hab’ das Ding schon öfter von Ihnen gehört, Kulkown,“ lächelte die jämmerlich kleine Sechzigerin. „Ich finde es ulkig. Woher stammt es eigentlich?“

Emma Kulkow dachte: ‚Das werde ich dir gerade auf die Nase binden, damit du’s gelegentlich an Biankas Vater weitergeben kannst!’ Sie zog die Schultern hoch.

„Wie kann ick det wissen, ick hab et mal wo aufjeschnappt. Aber wo, det hab’ ick vajessen!“

„Es scheint schon alt zu sein,“ stellte die Walborg fest und ging weiter die Treppe hinunter. Ihr Dackel Waldi trollte hinterher. Schwarz war er, krummbeinig, und sein zu langer Leib erinnerte an eine auseinander gezogene Handharmonika. Fräulein Jutta Walborg und ihr Dackel waren stadtbekannt.