Wenn der Rechte kommt - Anny von Panhuys - E-Book

Wenn der Rechte kommt E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Bis über seinen Tod hinaus legt der autoritäre Fabian Hellmann seiner Tochter Brigitte Fesseln an. Für ihn soll eine Frau immer unter der Führung eines Mannes stehen. So erbt die vollverwaiste unscheinbare Frau einen großen Besitz. Doch zum Vormund bestimmt wird bis zur Volljährigkeit Hellmanns Vetter Karl Wendt. Falls Brigitte nicht drei Monate nach ihrer Mündigkeit verheiratet sei, soll er ein Drittel des gesamten Vermögens sowie einen ständigen Wohnsitz auf dem Hof erhalten. Brigitte würde das Geld jederzeit freiwillig geben. Doch ein gemeinsames Leben mit dem groben Ehepaar Wendt sind grausige Aussichten. Die Wendts aber haben mit dieser Erbschaft das große Los gezogen. Wie Habichte sorgen sie dafür, dass Brigitte noch unscheinbarer gekleidet wird und niemals alleine ausgeht. Mit einer Hochzeit ihrer Nichte würden sie den großzügigen Gutshof verlassen müssen. Auch für ihren schmierigen Sohn liegt in Brigitte die Chance seines Lebens. Wenn er sie heiratet, würde er stolzer Gutsbesitzer. In ihrer Verzweiflung wendet sich das Mädchen an Rolf Waldner, der zu Besuch bei ihrem Gutsverwalter ist, und bittet ihn um eine Scheinheirat gegen großzügige Bezahlung. Der junge Mann, den große Geldsorgen drücken, nimmt dankbar an. Doch die Familie Wendt schreckt noch nicht einmal vor Mord zurück, wenn es um ihre Zukunft geht.Meisterhaft schildert Anny von Panhuys das Schicksal einer jungen Frau, die verzweifelt um ihre Freiheit kämpft. Auch eine Scheinehe, die das unheilvolle Testament ihres Vaters entkräftigen soll, rettet sie nicht vor allergrößter Gefahr – bis der Rechte kommt.Anny Freifrau von Panhuys (1879 – nach 1941) ist eine deutsche Unterhaltungsschriftstellerin in der Tradition von Nataly von Eschstruth, Hedwig Courths-Maler und Helene Butenschön ("Fr. Lehne"), die etwa 100 Romane geschrieben hat und auch als Schauspielerin tätig war. Geboren wurde sie am 27. März 1879 als Tochter des Dachdeckermeisters, Dachpappenfabrikanten und Gelegenheitsdichters Ignaz Umouaft in Eberswalde. Durch ihre Adelsheirat wurde sie Freifrau. Panhuys begann um 1915, meist mehrere Romane pro Jahr zu veröffentlichen und war bis zu Beginn der vierziger Jahre literarisch aktiv. 1931 kehrte sie wieder nach Eberswalde zurück, wo sie in der Grabowstraße 28 wohnte. Ihr genaues Todesdatum konnte nicht ermittelt werden. Ihre Bücher wurden auch nach ihrem Tod noch immer wieder neu aufgelegt – vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren – und teils auch ins Niederländische übersetzt. Während die Romane der älteren Nataly von Eschstruth vornehmlich im gehobenen Adelsmilieu spielen, ist Anny von Panhuys' Hauptthema der Niedergang und Bedeutungsverlust des (in ihren Büchern meist verarmten) Adels und sein Streben nach Anschluss an die neue bürgerliche Welt.-

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Anny von Panhuys

Wenn der Rechte kommt

Frauen-Roman

Saga

Wenn der Rechte kommt

© 1951 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592311

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I

Brigitte Hellmer lehnte am Fenster und blickte mit umflorten Augen hinaus.

Unschön und plump legte sich das aus feinem, schwarzem Tuch gearbeitete Trauerkleid um ihre schmale Gestalt, und das straff zurückgerissene blonde Haar ließ die Stirn eckig erscheinen. Wie seltene Juwelen leuchteten die großen grauen Augen aus dem sehr schmalen Gesicht, und die blassen Lippen waren fest zusammengepreßt, als müßten sie viele bittere Worte zurückhalten.

Vor acht Monaten hatte man Brigitte Hellmers Vater zu Grabe getragen, und die reichste Erbin weit und breit sann sich unfroh und verdrossen in ihre Zukunft hinein.

Sie war die Besitzerin des großen Hofgutes, dessen Wohnhaus dem Aussehen und dem Umfang eines Schlosses gleichkam.

Fabian Hellmer war ein Bauer gewesen, ein harter, dickköpfiger Bauer. Sein Vater hatte einst Knechtsdienste auf dem Kreuzhof getan, doch seine kraftvolle, breite Gestalt gefiel der verwitweten Kreuzbäuerin, und sie machte ihn zum Herrn und Besitzer ihres Reichtums. Sein Sohn Fabian war ein rauher Mann gewesen. Ein zartes Stadtfrauchen, das er sich heimholte, starb bald unter seinen groben Händen, und ihr Kind, die schmale Brigitte, ward ein verschüchtertes Mädelchen, das kaum zu antworten wagte, wenn die polternde Stimme des Vaters sie um etwas befragte.

Zwischen Vater und Tochter hatte stets ein Hauch von Fremdsein geschwebt. Fabian Hellmer hatte für seine einzige Tochter eine Erzieherin und später einen Hauslehrer besoldet, aber die Bildung, die Brigitte genoß, hatte sie nur noch empfindlicher gegen die Schroffheiten ihres Vaters gemacht.

Aber die Testamentseröffnung hatte sie, die sich nun fast frei wähnte, von neuem in Fesseln gelegt. Zum Vormund ihrer zwanzig Jahre ernannte Fabian Hellmer seinen Vetter, den ehemaligen Schullehrer und späteren Häuseragenten Wendt. Er erhielt eine Wohnung auf dem Kreuzhof, dazu ein Monatsgeld, und sollte ein Drittel des Vermögens und ständigen Wohnsitz auf dem Hofe erhalten, falls Brigitte nicht drei Monate nach ihrer Mündigkeit verheiratet war.

„Weibsvolk gehört früh unter Männerleitung!“ hieß es in dem Testament.

Brigitte sann jetzt, wie schon so oft vorher, über den letzten Willen des Vaters nach. Ein Drittel ihres Vermögens hätte sie gern hergegeben an Karl Wendt und seine Frau; aber daß die beiden, wenn sie bis zu dem von ihrem Vater genannten Termin nicht heiraten würde, zeitlebens ihre Hausgenossen bleiben sollten, das verdroß sie und schuf ihr Stunden der Angst. Sie haßte den plumpen Onkel und die süßlich und falsch lächelnde Tante, sehnte den Tag herbei, an dem das Paar den Kreuzhof verlassen würde.

Aber dazu war wenig Aussicht; in ihr fast nonnenhaft zurückgezogenes Leben war noch kein Mann getreten, der ihr Herz hätte lauter schlagen lassen. Sie war ja auch häßlich. Tante Matilde sagte es ihr oft, allzudeutlich.

Brigitte starrte durch die Scheiben, ein Auto fuhr vor der kurzen Freitreppe an. Onkel und Tante waren im nahen Frankfurt gewesen. Gleich darauf öffnete sich die Tür.

Die mollige Mathilde Wendt trat ein. „Hast ja noch kein Licht, Gitta, spinnst wohl wieder ein bißchen?“ Sie lachte. „Ich habe dir etwas Hübsches mitgebracht, einen schicken Mantel, er wird dir gut stehen, Kind.“

Ihr Mann trat hinter ihr ein. „Mache Brigitte nicht eitel, Frauchen, mir gefällt an ihr besonders ihre Einfachheit, sie paßt zu ihrem stillen, zurückhaltenden Wesen.“

Die mollige Frau schaltete das elektrische Licht ein. „Wollen auspacken!“ rief sie ihrem Manne zu, der, mit breitem, häßlichem Lächeln um die wulstigen Lippen, einen Pappkarton öffnete und ihm einen schwarzen Mantel entnahm. Die Frau hielt den Mantel hoch. „Bitte, mein Herz, probe gleich einmal an, ich bin sicher, du siehst famos in diesem Modellstück aus.“

Brigitte unterdrückte einen Seufzer. Weshalb die Tante sich immer noch bemühte, sie hübsch anziehen zu wollen? Sie sah ja doch in allem unschön aus.

Sie ließ sich in den Mantel helfen. „Ich mag solche Schulterkragen nicht“, sagte sie müde, „man sieht dick und unförmig darin aus.“

Mathilde Wendt lachte wie über einen Scherz. „Unter uns können wir doch offen reden, Gitta. Du bist hundemager, und so ein Schulterkragen macht breiter, läßt deine Figur üppiger erscheinen.“ Ihre Stimme ward zum zärtlichen Flüstern. „Armes Mädelchen, du bist nun einmal ein häßliches graues Entlein, jetzt sei aber wenigstens klug und versuche so gut auszusehen, wie dir nur irgend möglich. Willst doch einmal heiraten wie alle jungen Mädchen, und wenn du dir ein bißchen Mühe gibst, gefällst du vielleicht einem ...“ Sie zuckte die Achseln. „Na, ja, reiche Mädchen bleiben überhaupt nicht sitzen.“

Himmel, wie oft mußte sie aus dem Munde der Tante ähnliches hören. Sie erwiderte bitter: „Ich möchte nicht um meines Geldes willen geheiratet werden!“

Die hellbraunen, etwas schräg liegenden Augen der Frau blinzelten. „Aber, Brigitte, rede doch nicht dergleichen, die Männer, die um des Geldes willen heiraten, sind die bravsten und abhängigsten.“

„Lassen wir das Thema, Tante, ich jedenfalls möchte keinen Mann, der nur mein Geld heiratet.“

„Dann wirst du damit rechnen müssen, ledig zu bleiben“, brummte Karl Wendt mehr laut als rücksichtsvoll.

Seine Frau schalt: „Täppischer Bär, deine Wahrheitsliebe in Ehren, aber sie geht doch zu weit.“ Sie klopfte ihn auf die Schulter. „Dein Onkel ist ein guter Kerl und ein Ehrenmann, Gitta, aber er plappert alles heraus, was er denkt, und das ist unklug.“ Sie lächelte. „Ich besitze ja leider denselben Fehler, aber dir kann es nur angenehm sein, denn reiche Menschen bekommen so selten die Wahrheit zu hören. Bei uns beiden brauchst du wenigstens keine Hinterhältigkeiten zu wittern. So, meine liebe Gitta, und nun freue dich über den Herbstmantel, er kleidet dich großartig. Wenn wir ausgehen, ziehst du ihn an, sonst beleidigst du mich, die ich dir doch eine Freude machen wollte.“

Brigitte nickte. „Ich weiß, ich weiß — und wenn dir daran liegt, werde ich den Mantel tragen. Bei einer unscheinbaren Motte, wie ich es bin, ist’s ja ganz gleich, was sie trägt.“

Karl Wendt trat mit wuchtigem Schritt vor sie hin. „Es kann nicht lauter schöne Menschen auf der Welt geben, und wenn mal ein Mädchen nicht heiratet, schadet das auch nichts. Wir leben ja so nett und gemütlich zusammen, und wenn unser Fritz später heimkommt, aus Spanien, wird er dir ein Bruder und Freund werden.“

Brigitte antwortete nicht. Sie hatte gar kein Verlangen nach der Rückkehr von Fritz Wendt, dem Sohn des Paares. Sie wußte nur, daß er als Junge brutal und selbstsüchtig, als junger Mann rücksichtslos und eingebildet gewesen. Seit einem Jahre reiste er für eine spanische Weinfirma in Spanien. Fritz Wendt als Hausgenosse im Kreuzhof reizte sie gar nicht.

Frau Mathilde ging zur Tür. „Ich will mich heute um das Abendessen kümmern, die Wirtschafterin ist sehr nachlässig mit den Mahlzeiten. Es kommt fast gar nichts mehr auf den Tisch, was ich gern esse, trotzdem ich ihr doch meine Wünsche mitteile.“

„Da teile mir deine Wünsche mit, Tante Matilde, damit ich sie unserer guten Marie übermittle, du weißt, sie hält sich immer nur an meine Anordnungen.“

„Das stimmt“, gab die ältere gepreßt zu, und über ein schnelles böses Aufleuchten in ihren Augen triumphierte das gewohnte freundliche Lächeln. „Also, mein Kind, ich danke dir, aber es wäre mir lieber, wenn du der Wirtschafterin endlich klarmachen würdest, daß sie die Anordnungen der Dame, die hier Mutterstelle an dir vertritt, ebenso zu befolgen hat wie deine eigenen.“

„Ich habe mich auf Vaters Wunsch schon als halbes Kind um den Haushalt kümmern müssen. Wozu soll ich das ändern, Tante? Doch hast du bestimmte Wünsche bezüglich der Mahlzeiten, so nenne sie mir, und unsere alte Marie läßt dir braten und backen, was du begehrst.“

„Du bist zu gütig!“ erwiderte die Frau lächelnd und sanft, aber kaum war sie mit ihrem Mann in ihren eigenen Räumen, als sich ihre Mienen veränderten. „So ein Balg, so ein ekliges, dürres Gesteck“, schimpfte sie zornig, „was für einen Ton diese Bauernmarjell anschlägt! Am liebsten hätte ich sie für die unverschämte Antwort geohrfeigt.“

Ihr Mann zuckte die Achseln. „Laß dich nicht zu Dummheiten hinreißen, Mathilde, die du später bereuen müßtest. Dieses eklige, dürre Gesteck, wie du deine Nichte betitelst, ist nun mal das Huhn, das uns goldene Eier legen soll, und wir müssen uns gut mit ihr stellen, müssen verhüten, daß diese Bauernmarjell heiratet, ehe die drei Monate nach ihrer Mündigkeit um sind.“ Er lachte. „Ein ganz blödsinniges Testament hat mein Vetter Fabian gemacht, aber für uns vorteilhaft. Wollen uns nicht selbst um die Vorteile bringen. Brigitte ist anscheinend noch immer arg verschüchtert durch die väterliche Herrschsucht, aber mir ist’s, als sei sie auch nicht ganz frei von Eigensinn.“

„Natürlich ist sie eigensinnig“, ereiferte sich die Frau, „sonst würde sie mir doch nicht solche Antworten gegeben haben, als ich ...“ Sie stockte.

„Als du ihr wieder einmal, wie schon so oft vorher, den Befehl über die Küchenregion aus den Händen winden wolltest, und damit gewissermaßen die Oberhoheit über dieses Haus“, vollendete Karl Wendt ein wenig spöttisch.

Sie sah ihn böse an. „Soll ich denn immer die dumme Liese als Erste hier anerkennen, mich ihren Anordnungen fügen? Ich habe das satt! Du bist ihr Vormund und wirst ihr befehlen, daß sie, weil sie noch viel lernen müsse, das Regiment in meine Hände legt — bis sie mündig sein wird.“

„Jawohl, das tue ich sofort und mache sie dadurch aufsässig, reize ihren Eigensinn. Man kann nie wissen, wie das ausgeht“, wehrte er ab. „Ich bleibe bei meiner Theorie. Wir lassen sie schalten und walten, wie sie mag, und suchen nur zu verhindern, daß sie mit jemand zusammenkommt, der vielleicht als Freier auftreten könnte. Sie will ja nicht ihres Geldes wegen geheiratet werden, also sorgen wir dafür, daß sie möglichst unvorteilhaft aussieht. Übrigens sorgt sie selbst dafür, unsere Aufgabe ist es, das noch zu unterstreichen. Das Mantelmonstrum, das du ihr heute aus Frankfurt mitbrachtest, ist großartig.“ Er lachte kurz auf, ward aber plötzlich ernst und nachdenklich. „Ich meine, Brigitte ist eigentlich gar nicht richtig häßlich. Wenn sie ein bißchen eitel wäre, könnte man da vielleicht Überraschungen erleben.“

„Blödsinn!“ sagte seine Frau schroff. „Sie ist und bleibt eine häßliche Person, doch könnte sie natürlich durch geschmackvolle Kleidung und Haartracht bedeutend vorteilhafter aussehen, womit uns aber nicht gedient wäre.“

„Bewahre“, gab er zurück. „Etwaige Freier müssen in die Flucht geschlagen werden. Sind dann erst die drei Monate nach ihrer Mündigkeit um, sieht die Sache anders aus, dann kann unser Fritz sein Heil bei ihr versuchen. Wenn’s ihm gelingt, Brigitte zu heiraten, wohlverstanden, nachdem wir in den Besitz des dritten Vermögensteiles und unserer lebenslänglichen Wohnung hier gelangt sind, dann hat unsere Familie ausgesorgt. Dann sind wir Herren der Lage, und du brauchst solche Antworten, wie die vorhin, die dich so empörte, nicht mehr zu fürchten.“

Die Frau warf jetzt erst die dunkle Kostümjacke ab, die sie bei der Ausfahrt getragen, der schleierumwallte Trauerhut flog neben die Jacke auf das Ledersofa. Sie schaute sich in dem altmodisch, aber sehr behaglich eingerichteten Wohnzimmer um, und ihr Gesichtsausdruck wurde heiterer.

„Unter uns, Karl, wir dürfen ja wohl mit dem Umschwung in unseren Verhältnissen zufrieden sein. Fritz wird staunen. Jedenfalls fühle ich mich äußerst wohl hier und werde alles tun, daß wir nicht mehr fortbrauchen.“

Der Mann lachte. „Kunststück, sich hier wohl zu fühlen! Wie der Made im Speck, so gut geht es uns hier. Idioten müßten wir sein, wenn wir uns nicht mit Widerhaken hier festklammern würden.“ Er ließ sich in einen sehr bequemen Armstuhl nieder, sein fahles, schwammiges Gesicht sah aus wie ein alt gewordener Vollmond. „Meiner Seele, man hat sich lange genug abgerackert ums dürftige Brot. Wenn einem da plötzlich Kuchen in den Schoß fällt, frißt man ihn natürlich. Der selige Vetter Fabian hat viel für mich übriggehabt, weil ich ihn vor langen Jahren durch meine Zeugenschaft aus ’ner ekligen Prozeßsache herausgehauen habe. Er hat seinerzeit gut bezahlt, auf Dankbarkeit hatte ich nicht mehr gerechnet. Man sieht aber, edle Taten tragen ihren Lohn schon in sich!“

Die Frau verzog hämisch den Mund. „Solche edle Taten nennt man ja wohl Meineid?“

Er sprang auf. Seine breite Gestalt schien zu wachsen. „Schweig, du freches Weib!“ Seine blaßblauen Augen bohrten sich mit stechendem Ausdruck in die ihren. „Sage das nicht noch einmal, du“, zischte er sie an, „wage das nie mehr zu wiederholen, sonst ...“ Er hob drohend die zur Faust verkrampfte Rechte.

Die Frau riß die breiten, dunklen Brauen zusammen. „Spiele dich nicht so auf. Wir beide wissen doch Bescheid.“

Er machte eine zornige Bewegung, ließ die erhobene Hand sinken. „Ich rate dir, mich nicht unnötig zu reizen durch unsinnige und beleidigende Anschuldigungen. Auch nicht einmal im Scherz darf das Wort von eben fallen. Bedenke, daß manchmal auch die Wände Ohren haben.“ Er sank wieder in den bequemen Armstuhl zurück. „Gib mir was zu trinken, damit ich meinen Ärger hinunterspüle.“

Die Frau ging an einen Wandschrank und stellte gleich darauf eine Flasche und ein Glas vor ihn hin. Schwerer Burgunder glühte dunkelblutig im Glase. Karl Wendt goß sich dreimal ein, danach kroch eine fleckige Röte über sein fahles, schwammiges Gesicht.

„Weiß der Teufel, schon um des Weinchens willen lohnt es sich, hier zu leben. Und nun wollen wir uns wieder vertragen, olle Spinatwachtel, du hast es nicht böse gemeint. Schließlich ziehen wir ja beide denselben Karren und kommen am besten vorwärts, wenn wir gleichen Schritt halten.“

Created by potrace 1.10, written by Peter Selinger 2001-2011

Herr und Frau Wendt gingen mit Brigitte spazieren. Brigitte waren diese gemeinsamen Ausgänge ein Greuel. Sie war es von früher gewohnt, allein auszugehen, und sie sehnte sich wieder danach, nahm sich vor, diesen gemeinsamen Ausgängen gelegentlich ein Ende zu machen. Sie trug den schwarzen Mantel mit dem Schulterkragen und sah breit darin aus und eckiger denn je.

„Etwas Unvorteilhafteres für Brigitte hättest du gar nicht finden können“, lobte der frühere Agent sein Ehegesponst leise, als Brigitte einen Augenblick bei einer einfach gekleideten Frau stehenblieb, um einige Worte mit ihr zu wechseln.

Mit einem stillen Leuchten in den Augen schloß sie sich dann wieder dem langsam vorausgegangenen Paar an. Stumm wanderte sie ein Stück des Weges nebenher. Nach einem Weilchen fragte Mathilde Wendt Brigitte, wer die Frau sei, mit der sie eben gesprochen.

Brigitte lächelte. „Eine Kostgängerin unserer Küche, eine arme Witwe mit vier kleinen Kindern, die sie alle brav ernährt. Sie geht aus dem Hause zum Waschen, Putzen und Flicken, aber zuweilen reicht es für die große Familie kaum zum Kaufen von trockenem Brot, und da helfe ich dann aus.“

„Ach so“, ganz lang dehnte Mathilde Wendt die beiden Silben, „ich kann mir denken, daß deine Noblesse dem Weib behagt, da wird sie sich mit der Arbeit auch wohl kaum sehr anstrengen. Wenn sie weiß, sie kann sich auch ohne Anstrengung mit ihren Bälgen satt essen.“

„Pfui, Tante!“ entfuhr es Brigitte in jäh aufwallender ehrlicher Empörung.

Frau Mathilde lächelte sanft. „Mein liebes Kind, du besitzt noch keine Menschenkenntnis und kennst die Verstellungskunst und Gerissenheit dieser anscheinend kindlich aufrichtigen Menschensorte nicht, zu der die Schnorrerin sicher gehört. Und dann, sage einmal, Brigitte, duldete es denn dein Vater, daß du durch gute Bissen die Faulheit unterstütztest?“

Über Brigittes blasse Wangen zog ein rosiger Schleier. „Nein“, bekannte sie ehrlich, „Vater litt es nicht, daß ich armen Leuten half. Er meinte es nicht böse, glaube ich, aber ihm fehlte das Verständnis für die Not anderer, weil er auch von Natur hart gegen sich selbst war und im Wohlstand aufwuchs. Ich mußte meine Unterstützungen heimlich geben, jetzt darf ich es ja offen tun, und darüber bin ich froh.“

Karl Wendt beobachtete, daß seine Frau eine Antwort geben wollte, ein warnender Blick von ihm hieß sie schweigen.

Langsam schritten die drei dahin, und wo sie gingen, wurde Brigitte respektvoll gegrüßt, ihre Begleiter dagegen kaum gemustert.

Der Kreuzhof lag beinahe mitten im Ort, einem Vorstädtchen von Frankfurt am Main. Wenn nicht von ferne zuweilen das Klingeln der Straßenbahn aufgeklungen wäre, hätte man kaum geglaubt, sich so nahe einer großen Stadt zu befinden.

Einst war das Städtchen ein Dorf gewesen, das sich um das Schloß eines uralten Geschlechts aufbaute, aber dort, wo früher das Schloß gestanden, lag jetzt der Kreuzhof, den eine ungefügige Mauer umgab, zu deren Bau man auch Steine von den Trümmern der ehemaligen Schloßruine verwendet hatte. Ein kleiner Turm aus alter Zeit war auch noch vorhanden auf dem jetzigen Hofgut, er schloß sich dem Aufbau des Hauses an, der, auch aus ferner Zeit stammend, gründlich erneuert war.

Eine Stelle der Turmwand zeigte ein plumpes, in die Mauer eingefügtes Holzkreuz, dessen Sinn niemand kannte. Aber der ehemalige Bauernhof führte davon seinen Namen.

Das vor den Toren Frankfurts gelegene Städtchen war sauber und freundlich. Im Sommer wohnten Kurgäste aus Frankfurt hier, die sich keine weite Erholungsreise erlauben durften. Jetzt im Herbst lag der kleine Ort wie schlummernd, und die Schritte der drei hallten auf dem Pflaster wider.

Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, wollte Brigitte endlich einmal allein ausgehen. Sie war ohne Hut, trug einen dünnen Staubmantel über ihrem schwarzen Kleid. Auf der Treppe lief sie der Tante in den Weg.

„Nun, Gitta, wo willst du denn so halb angezogen hin?“ fragte Mathilde Wendt in ihrer so überaus freundlichen Art.

„Ein bissel frische Luft schnappen will ich, Tante, wie ich es früher so gern tat. Wenn ich früher nicht morgens wenigstens einen Marsch von einer Stunde gemacht hatte, schien mir der ganze Tag stumpf und nüchtern.“

„Ich werde dich selbstverständlich begleiten“, entschied die dicke Frau, „doch muß ich mein Haar noch ein wenig brennen, und du mußt einen Hut aufsetzen und ...“

„Ach, Tante, bitte nein, bis wir uns in große Toilette geworfen haben, ist die schöne Morgenstimmung draußen verflogen, bitte, laß mich allein fort. Ich gehe sehr schnell, das Langsamgehen ermüdet mich, statt mich zu erfrischen.“

Frau Mathilde stand sprachlos. Das war ja direkte Aufsässigkeit. Bei solchen Spaziergängen konnte Brigitte eines Tages jemand kennenlernen, der dann später ihr Gatte wurde. Und dann lebt wohl, ihr schönen Träume von einem Drittel des großen Vermögens, von dem ständigen Wohnsitz hier und von einer Ehe zwischen Brigitte und Fritz.

„Auf Wiedersehen!“

Ehe Frau Wendt auch nur Antwort zu geben vermochte, war Brigitte die breite, holzgeschnitzte Treppe hinuntergeeilt, die frei von der großen Diele bis zum dritten Stockwerk des Mittelbaues führte. Gar nicht schnell genug konnte sie dem Bereich der kühlen, hellbraunen Frauenaugen entrinnen.

Die frische Herbstluft draußen tat ihr gut, fegte die umstürzlerischen Gedanken fort, die sich immer in Gegenwart der Verwandten in ihr regten. Gestern hatte die Tante so hart über die armselige Witwe Kramer geurteilt, ihre heutigen Reden paßten dazu. Viel Herz besaß diese Frau nicht, und wenn man schon das Recht hatte, sie zu bevormunden, so ließ sie sich doch ihre persönliche Freiheit nicht länger beschneiden.

Ohne nach rechts oder links Umschau zu halten, eilte Brigritte vorwärts. Sie machte große, hastige Schritte, als fürchte sie, man könnte sie zurückrufen, über einen Feldweg stürmte sie, bergauf war ihr Fuß langsamer.

Sie sehnte sich nach der Bergeshöhe, von wo man den wundervollen Blick ins Tal hatte. Sie atmete tief auf, nachdem sie die Bank erreicht, hinter der dichte Brombeerhecken wie eine dunkle Schutzwand standen. Mit einem Seufzer ließ sie sich auf der Bank nieder und weidete ihre Augen an dem schon so oft gesehenen Bild, das sie doch immer wieder aufs neue entzückte und gefangennahm. Zwar war es Herbst, aber die Wiesen leuchteten noch in sattem Grün, und auch die Bäume prangten meist noch im sommerlichen Kleid. Nur hier und dort flammte herbstliches Laub, schattiert vom hellsten Gelb bis zum leuchtendsten Kupfergold.

Um ein weißes Haus, zu Füßen des Berges, spann wilder Wein seine großen, fast purpurnen Blätter, und ferne zog das Silberband des Mains vorbei an stillen Dörfern und betriebsamen Städten.

Man sah einen Teil von Frankfurt, links ragten die Türme eines hessischen Schlosses, und nahe, ganz nahe wies die Spitze des Bornheimer Kirchleins gegen den wolkenlosen Himmel.

Fast eine Viertelstunde saß Brigitte so, ganz in Anschauen versunken, dann erhob sie sich langsam. Sie wollte mit einem kleinen Umweg heimkehren.

Als sie die Diele betrat, empfing sie der Onkel, der hier auf einem Sessel saß und anscheinend in eine neue Zeitung vertieft war.

„Nun, war der Ausgang nett?“ fragte er, fügte hinzu: „Weshalb hast du denn die Tante nicht mitgenommen, sie läuft auch gerne, und es würde ihr gut tun, weil sie etwas schlanker werden möchte.“

Brigitte erwiderte wahrheitsgemäß: „Ich mache meine täglichen Morgenspaziergänge lieber allein, Onkel, wie ich es früher getan habe. Ich bin seit Vaters Tod nicht mehr am Vormittag draußen gewesen. Heute konnte ich es vor Sehnsucht kaum noch ertragen.“

„Gut, gut, Mädel“, unterbrach er sie, „aber dieser heutige Spaziergang muß vorläufig der letzte sein, den du allein unternimmst. Deine Tante meint, dergleichen passe sich nicht für eine junge Dame, und da mußt du dich doch fügen, nicht wahr?“

„Nein, Onkel Karl, das könnt ihr nicht länger von mir fordern, denn dann würdet ihr mich um die schönste Stunde des Tages betrügen.“

„Na, na, rede nicht gleich so gedrechselt, Brigitte“, sein fahles Gesicht zeigte einen belustigten Ausdruck, „jedenfalls muß ich dich bitten, dich meinen oder Tantes Anordnungen zu fügen. Dein Vater wußte sicher genau, weshalb er mich zu deinem Vormund wählte.“

Brigitte antwortete nicht.

Er sagte nach einem Weilchen: „Wir meinen es in jeder Beziehung gut mit dir, Mädelchen. Tante ist eine gute Seele, und mit mir ist noch jeder ausgekommen, mit mir kann man Pferde stehlen.“

Er versuchte gütig und menschenfreundlich auszusehen, aber die Maske hielt nicht, sein fahles, grobes Selbstsüchtlingsgesicht war zu ausgeprägt.

„Jawohl!“ antwortete Brigitte mechanisch und eigentlich sinnlos, und dann ging sie einfach davon in ihr hübsches, großes Wohnzimmer mit den buntüberzogenen Polstermöbeln und den Schränken aus Birnbaumholz, die schon im Mädchenzimmer der Großmutter mütterlicherseits gestanden. Alte Pastelle hingen hier und Silhouetten, und ein feiner Rosenduft entströmte den Kissen und Vorhängen.

Sie hockte sich in die Sofaecke, starrte unfroh vor sich hin. Man wollte sie weiter behandeln wie ein kleines Pensionsmädchen und ihren Willen weiter binden, fester, als es der tyrannische Vater getan. Dem war es recht gewesen, wenn es sie des Vormittags bei Wind und Wetter hinausgelockt in die Natur.

Am nächsten Vormittag, beim Frühstück, hatte Mathilde Wendt ihre grauen Löckchen schon zierlich gekräuselt. „Ich habe mich bereits auf unseren heutigen Spaziergang eingerichtet, liebe Gitta“, lächelte sie, „wir können nachher sofort aufbrechen. Der Onkel bleibt zu Hause. Aber, bitte, vergiß nicht, den Hut aufzusetzen.

Brigitte wollte streiken, aber den beiden stumm auf sich gerichteten Augenpaaren gegenüber verließ sie der Mut. Also ging sie in dem Mantelungeheuer mit schleierumwogtem Trauerhut neben der ebenfalls in tiefe Trauer gehüllten Tante her.

Im Tannenwäldchen ward die dicke Frau sentimental. Sie hob schnuppernd die Nase. „Ach, hier riecht es nach Weihnachtsbäumen“, sagte sie langsam, „und bei dem Duft erinnere ich mich an so viele glückliche Weihnachtsabende.“ Sie lächelte. „Weihnachtsfreude und Kinderjubel gehören zusammen. Oh, unser Fritzchen war ein herziges Kind. Wie glücklich klatschte der kleine Schelm in die Hände, als er kaum zwei Jahre alt ins Zimmer stolperte, wo wir ihm aufgebaut hatten! Und später, nachdem er größer wurde, wie konnten wir Weihnachten feiern, weil das hübsche, immer zufriedene Kind mit seinem Jauchzen so eine herrliche Stimmung schuf. Noch als junger Mann war er rührend in seiner Weihnachtsfreude, und mir tut das Herz weh, wenn ich an das letzte Fest denke, das er fern von Vater und Mutter verbrachte unter Menschen, die sich kein Tannenbäumchen schmücken, wie wir in Deutschland. Einen innigen Heimwehbrief schrieb er mir damals aus Spanien, darin stand, er wäre am liebsten heimgekommen, wenn ihn nicht das Pflichtgefühl in seiner Stellung festgehalten hätte, in der er unersetzlich ist.“

Unersetzlich ist niemand, mußte Brigitte denken, und sie vermochte sich gar nicht vorzustellen, daß Fritz Wendt, an den sich für sie nur unangenehme Erinnerungen knüpften, so ein unersetzlicher Mensch von Gemüt sein sollte, wie ihn seine Mutter schilderte.

Mochte er sein wie er wollte, es konnte ihr ja gleich sein. Am deutlichsten erinnerte sie sich an seine abstehenden Ohren. Sie hatte ihn ja nur selten gesehen, die Wendts wohnten früher in Berlin und waren erst einige Jahre vor dem Tod ihres Vaters nach Frankfurt übergesiedelt.

Einmal war der Vater mit ihr bei ihnen in Berlin gewesen. Eine Vierzimmerwohnung im Berliner Norden war vor ihrem geistigen Auge lebendig. Auch in Frankfurt, hatten die Wendts in einem billigen Viertel gewohnt, und sie mußten sich eigentlich hier wie im Paradiese fühlen.

Brigitte hörte gar nicht mehr zu, was ihr die dicke Frau noch weiter von ihrem Sohn vorschwärmte. Es langweilte sie, wenn sie auch volles Verständnis für die Mutterliebe besaß, die den übertriebenen Lobreden zugrunde lag.

Die dicke Frau schwieg jetzt auch, und als es etwas hügelan ging, vernahm Brigitte den gleichmäßig keuchenden Atem neben sich wie ein unangenehmes Geräusch, das sie störte.

Am nächsten Vormittag behauptete Brigitte keine Lust zum Ausgang zu haben, und die Tante lächelte froh. „Wozu hast du denn auch ein Auto, wenn wir uns so abstrapazieren wollen? Durch das Laufen wirst du nur noch magerer, und das kann deine Figur nicht mehr vertragen.“

Brigitte nickte zu allem, innerlich aber freute sie sich wie über einen gelungenen Streich, weil sie ihren täglichen Spaziergang um einige Stunden früher gelegt hatte. Kaum daß sich die Sonne hinter den Bergen zeigte, war sie hinausgelaufen in die Morgenfrühe der Natur, hatte lange droben gesessen auf ihrem Lieblingsplatz bei den Brombeerhecken und war doch schon geraume Zeit vor dem Frühstück wieder daheim gewesen.

So wollte sie es von jetzt an täglich halten.

II

Leuchtender mischte der Pinsel des Herbstes schon seine Farben. Die ganze Skala gelblicher Töne flimmerte von den Bäumen des Tales herauf, und Brigitte saß auf der Bank bei den Brombeerhecken und sann, wie sie wohl dem Schicksal zu entgehen vermochte, das Ehepaar Wendt als ständige Hausgenossen bei sich wohnen lassen zu müssen. Sie würde ja bis zu dem von dem Vater festgesetzten Termin bestimmt nicht heiraten.

Von Tag zu Tag wurden ihr die beiden unangenehmer. Sie war keine Menschenkennerin, aber der Ton, den die zwei gegen sie anschlugen, war falsch, das fühlte sie. Und keine Minute ließ man sie unbeobachtet, als fürchte man, sie könne entfliehen.

Bis jetzt hatte das Paar noch keine Witterung von ihren Frühpromenaden. Hoffentlich blieb das auch so. Im Winter allerdings würde sie auf ihre schönen Spaziergänge verzichten müssen.

Ein leises Geräusch hinter ihr riß sie aus ihrer Versunkenheit. Sie blickte auf. Ein Herr näherte sich, stand gleich darauf vor ihr und zog den Hut.

„Gestatten Sie mir, mein Fräulein, ebenfalls hier Platz zu nehmen.“

Brigitte fand nicht gleich eine Antwort. Zu dieser Stunde war sie hier oben noch niemals einem Spaziergänger begegnet. Sie erwiderte kühl, er möge sich nur setzen, er störe sie nicht, da sie sowieso eben hätte aufbrechen wollen.

Der Fremde gefiel ihr nicht, dennoch schien er ihr bekannt. Er war mit schäbiger Eleganz gekleidet, sein Gesicht hatte trotz der Jugend etwas Verlebtes. Der Fremde nahm Platz.

„Ich möchte Sie nicht verscheuchen, mein Fräulein, denn Sie haben, weil Sie zuerst hier saßen, wahrscheinlich um von einer Frühpromenade auszuruhen, größeres Anrecht auf diese Bank als ich. Aber ich bin müde, habe eine weite Reise hinter mir und habe mich heute früh, kaum mit dem Zuge im Hauptbahnhof angekommen, auf den Weg nach hier gemacht. Mit der Elektrischen wollte ich nicht fahren. Nach langer Bahnfahrt vertritt man sich gern gründlich die Füße.“

Unwillkürlich sah sich Brigitte den Herrn, der neben ihr saß, aufmerksamer an. Er gefiel ihr ganz und gar nicht. Seine auffallend hellbraunen Augen hatten einen unangenehm kalten Blick. Wer hatte nur ähnliche Augen? Es fiel ihr nicht ein. Sie wollte sich erheben.

„Bitte, mein Fräulein, darf ich fragen, ob Sie den Kreuzhof kennen, ich möchte nämlich gern wissen, wie lange ich noch bis dahin zu laufen habe, allmählich wird man doch müde. Hoffentlich ist mein Ziel nicht mehr weit?“

Brigitte stutzte. Sie antwortete langsam: „Der Kreuzhof ist von hier in ungefähr einer halben Stunde zu erreichen, glaube ich.“

Sie überlegte, was der Fremde wohl auf dem Kreuzhof zu tun haben konnte. Daß sie selbst die Besitzerin des Gutes war, behielt sie lieber für sich, sonst wollte der Mensch womöglich mit ihr zusammen gehen.

Und nun sagte er auch schon: „Falls wir beide die gleiche Richtung haben, darf ich mich Ihnen vielleicht ein Stück Weges anschließen?“

Brigitte schüttelte den Kopf. „Ich setze meinen Spaziergang noch ein halbes Stündchen fort, ehe ich kehrtmache.“ Sie stand jetzt auf, und auch der Fremde erhob sich.

„Sind Sie vielleicht ein wenig auf dem Kreuzhof bekannt?“ fragte er.

Sie blickte an ihm vorbei. „Ja, ein wenig.“ Das war sicher irgendein zudringlicher Reisender oder Versicherungsagent, der schon in aller Herrgottsfrühe irgendwelche Angebote machen wollte, wovon er sich etwas versprach.

„So, Sie wissen ein bißchen Bescheid, Fräulein? Hm, da möchte ich doch gern fragen, was für eine Art von Menschenkind ist eigentlich die jetzige Besitzerin vom Kreuzhof?“

Brigitte fand die Frage sehr komisch. Fast hätte sie laut aufgelacht. „O, ich kenne sie so gut wie mich selbst“, gab sie zurück, „und ich weiß nicht, ob ich deshalb imstande bin, ein unparteiisches Urteil über sie zu fällen.“

„Wirklich, Sie kennen die junge Dame so gut?“ rief er lebhaft. „Aber, ich bitte Sie, da sollten Sie mir doch meine Frage beantworten, ich verlange damit doch nichts Böses von Ihnen.“

In Brigitte erwachte flüchtiger Übermut und auch eine Regung von Bitternis. Was war Besonderes von der Herrin vom Kreuzhof zu berichten? Sie sah den Fremden mit leichtem Spottlächeln um den Mund an.

„Ja, ich kenne Brigitte Hellmer wie mich selbst, doch es ist nicht viel über sie zu sagen. Vorzüge hat sie keine, Fehler eine ganze Menge. Vor allem ist sie mordshäßlich und mager wie ein Holzstaket, dann ist sie maulfaul, wie man es hier nennt, und unliebenswürdig.“

„Donnerwetter!“ brummte er. „Und das sagen Sie als beste Freundin? Na, an Aufrichtigkeit fehlt es Ihnen nicht. Aber Ihre Schilderung stimmt wohl, ich hörte dasselbe Urteil schon früher von Verwandten.“

Brigitte wandte sich mit kurzem „Guten Morgen“ ab.

Der Fremde sah ihr verdutzt nach. Dumme Pute! schalt er bei sich. Erst schildert sie eine Freundin so herzerquickend offen, und dann fühlt sie sich anscheinend beleidigt, als er ihr Urteil bestätigte, weil man ihm beinahe dasselbe mitgeteilt hatte.

Er stieg langsam den Berg hinab. Es war vielleicht eine Dummheit von ihm gewesen, diese Person mit dem Aschenputteläußeren zu befragen, mit deren Schönheit es auch nicht weit her war. Giftig war sie, das bewies ihr Urteil über die Freundin, und unfreundlich war sie auch.

Brigitte wanderte noch ein Weilchen umher, dann stieg auch sie bergab.

In der Wirtschaft „Zum Falken“, nahe dem Kreuzhof, sah sie zufällig den Fremden hineingehen. Er würde hier wohl Kaffee trinken wollen, da er doch noch nicht so früh Besuch machen konnte. Nun, wenn ihr heute vormittag ein Reisender gemeldet werden würde, ließ sie sich nicht sprechen. Dieser schien es ja besonders auf sie persönlich abgesehen zu haben, wie seine Fragen bewiesen.