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Die besten Texte der Pubertier-Ära mit sieben neuen Episoden
Die ersten Warnzeichen der Pubertät sind kaum wahrnehmbar und noch leicht zu übersehen. Fast unbemerkt wird der Nachwuchs zunächst muffelig und maulfaul, dann aufmüpfig und liebeskrank. Doch bald ist die Verwandlung zum Pubertier perfekt und es kommt zu glanzvollen Auftritten bei Partys und Popkonzerten, aber auch auf dem heimischen Sofa, von dem sie nicht mehr wegzudenken sind. Doch in dem Moment, wo man glaubt, den Anblick der Pickelcreme im Bad und die Diskussionen über mangelnde Wokeness im Griff zu haben, ziehen die Pubertiere einfach aus und machen die Eltern damit von einem auf den anderen Tag zu Ältern. Und was nu?
In den besten Texten der Pubertier-Ära spannt Jan Weiler einen weiten Bogen und erzählt von Besuchen im Pubertier-Labor, dem Leben zwischen Teenagern und der leisen Verzweiflung ratloser Eltern.
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Seitenzahl: 176
Veröffentlichungsjahr: 2025
JAN WEILER
MEIN LEBEN ZWISCHEN PUBERTIEREN
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© 2025 by Jan Weiler
Copyright © by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Einband- und Innenillustrationen: © Till Hafenbrak
Umschlaggestaltung: Teresa Mutzenbach
unter Verwendung einer Illustration
von © Till Hafenbrak
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-33889-3V001
www.heyne.de
Meine Kinder sind schon vor einiger Zeit ausgezogen, und das hat durchaus Vorteile. Zum Beispiel stört mich niemand mehr beim Schreiben. Keiner kommt rein und beschwert sich, weil das Sweatshirt noch nicht gewaschen wurde. Oder weil es gewaschen wurde. Oder weil es dafür nicht auf links gedreht wurde. Oder weil es anschließend gebügelt oder weil es eben nicht gebügelt wurde.
Niemand schickt eine WhatsApp aus seinem Zimmer und bestellt einen Kakao, weil er leider nicht in der Lage dazu sei, ihn selbst zu machen (Jungsversion) oder weil niemand das so toll könne wie ich (Mädchenversion). Es liegt nichts mehr im Flur herum, sämtliche Jacken sind aufgehängt, man stolpert nicht mehr über Schuhe oder Skateboards. Kein nervtötender Hip-Hop mehr aus Bluetooth-Boxen, keine Diskussionen über die richtige Dosierung von Parfüm. Im Kühlschrank befinden sich ausschließlich Lebensmittel, die ich gerne esse. Der Zucker- und Fettgehalt der Einkäufe ist deutlich zurückgegangen. Der Unterhaltungswert im Alltag allerdings auch. Das ist der Nachteil.
Sosehr mir die endlosen Debatten übers Gendern, über Cannabiskonsum oder Tattoos an Hälsen früher auf den Geist gegangen sind: Sie sind immer noch besser, produktiver und inspirierender als die museale Stille um mich herum. Manchmal höre ich jetzt die Lieblingsmusik der Kinder und mache sie laut, damit mir irgendwas auf die Nerven geht.
Hier und da kommen meine gealterten Pubertiere (27 und 23 Jahre sind sie jetzt alt) noch zu Besuch. Meistens sind sie dann pleite und möchten Pasta. Ich habe den Verdacht, dass sie meine Kochkünste und den prunkschatzartigen Zuschnitt meiner Lebensmittelvorräte mehr vermissen als mich. Sie bestreiten dies zwar, fragen aber nachdrücklich, ob ich die Schokolade noch brauche, die sie nach Art gut ausgebildeter Trüffelschweine aufstöbern, egal wie gut ich sie vor ihnen verstecke. Wenn wir dann beim Essen zusammensitzen, ist es beinahe wie früher. Sie beschweren sich über meine Frisur, meine Musik und meine Angewohnheit, heißes Essen anzupusten. Ich bin am Ende des Abends froh, wenn sie abhauen, und ich wünsche mir sehr, dass sie bald wiederkommen.
Für meine Arbeit war es erst ein wenig bedauerlich, dass sich Nick und Carla nach jahrelanger Bedenkzeit dazu entschlossen haben, erwachsen zu werden. Aber erstens ist das ein andauernder Prozess, der noch eine ganze Weile dauern wird und immer seltener zwar, aber immerhin manchmal Stoff für Geschichten liefert. Und zweitens bedeutet es, dass ich mich künstlerisch so langsam von den Kindern abnabeln und selbstständig werden kann. Endlich unabhängig zu sein, das ist für uns alle jetzt ein guter Plan.
Auch wenn die Pubertät natürlich nie auserzählt ist. Es ist die wohl reichste und spannendste, die tragischste und die ulkigste Zeit des Lebens. Ich habe immer gerne davon berichtet, in kurzen Geschichten, in Büchern und auf der Bühne. Es war eine wundervolle Zeit der Komplizenschaft zwischen mir und dem Publikum.
Manchmal kamen ganze Familien. Alle amüsierten sich gemeinsam, diese Abende machten Spaß – und zwar vor allem deswegen, weil ich die ernsthaften Aspekte der Pubertät in meinem Programm weitgehend ausgeblendet habe. Ich wollte einfach nicht, dass jemand im Publikum sitzt und sich an die bittere Realität des Alltags erinnert fühlt. Denn in Wahrheit ist es ja so: Nie sind Triumphe kurzlebiger und Niederlagen schmerzhafter als in jungen Jahren. Ich finde nicht, dass man Jugendliche ununterbrochen darauf hinweisen sollte. Auch in einem anderen Aspekt stimmten die Pubertier-Kolumnen nie so richtig mit der Lebenswirklichkeit überein. Bei mir gewinnen nämlich immer die Kinder, und das ist in Wahrheit nicht so. Gerade die Machtlosigkeit der Jugend ist eine ihrer schlimmsten Eigenschaften, auch wenn die eine sehr positive Seite hat: Wer nämlich keine Macht hat, der hat auch (noch) keine Verantwortung und kann nicht so zur Rechenschaft gezogen werden wie Väter, die schon wieder eine wichtige Überweisung oder den Namen des neuen Freundes ihrer Tochter vergessen haben.
Jedenfalls ist es nun vorbei. Es wird keine neuen Geschichten über die Pubertiere mehr geben, zumindest nicht von mir. Andere können das jetzt machen. Der Begriff »Pubertier« hat sich zu einer Art Gattungsbegriff entwickelt und steht kurz vor der Aufnahme in den Duden. Mehr kann man als Schriftsteller nicht erreichen, finde ich.
Dieses Buch und auch das dazugehörige Bühnenprogramm rekapitulieren noch einmal die Höhepunkte meiner Tätigkeit als Chronist der Pubertät und seiner Hauptdarsteller. Dafür habe ich alle bis zum Redaktionsschluss erschienenen 945 Kolumnen der Reihe »Mein Leben als Mensch« durchgesehen und diejenigen ausgesucht, die beim Publikum und mir besonders gut ankamen, und dazu jene, die man im Rahmen einer vernünftigen Chronologie benötigt, um einen Bogen zu spannen von den ersten zarten Anfängen dieser wilden Zeit bis zum letzten Besuch meines Sohnes, bei dem er mir erklärte, wie man sich am wirkungsvollsten gegen störenden Partylärm zur Wehr setzt. Es ist ihm jetzt manchmal zu laut. Spießer. Egal.
Als ich damit begann, die Texte für dieses Buch zu bearbeiten, stellte ich fest, dass manche Bezüge nicht gut gealtert sind. Es kommen Personen oder Filme oder Ereignisse vor, an die man sich teilweise gar nicht mehr richtig erinnert. Oder weiß noch jemand, wer Philipp Rösler war? Auch die Teenie-Karriere von Bruno Mars ist längst vorbei. Und die Twilight-Saga spielt heute ebenso keine Rolle mehr wie Facebook. An manchen Stellen habe ich derartige Zusammenhänge sanft aktualisiert, an anderen habe ich sie unverändert gelassen, weil sie mir gefielen. In manchen der Geschichten habe ich etwas gestrichen, vielerorts aber auch etwas hinzugefügt, zum Beispiel Ergänzungen, die ich irgendwann bei Lesungen improvisiert und dann zunächst handschriftlich in die Bühnenmanuskripte geschrieben habe. Manche dieser Seiten sind geradezu erratisch vollgekritzelt, und einiges davon konnte ich nicht mehr entziffern. Meist handelte es sich um Verbesserungen, die ich in Zügen oder Garderoben zwischen die Zeilen gekrakelt und dann doch nicht verwendet habe. Keiner der Texte in diesem Band entspricht jedenfalls der Version, die schon einmal in Buchform erschienen ist.
Bei der Auswahl habe ich zudem bemerkt, dass die Sache mit der Pubertät eigentlich gar nicht mit dem Band Das Pubertier anfing, sondern schon ein wenig früher. Dieses Buch versammelt daher überarbeitete, in Teilen gekürzte oder erweiterte Texte aus den Büchern Mein Leben als Mensch, Mein neues Leben als Mensch, Das Pubertier, Im Reich der Pubertiere, Und ewig schläft das Pubertier, Die Ältern sowie Älternzeit. Außerdem enthält es sieben neue Texte, die bisher in keinem Buch erschienen sind. »Value for money« sagt meine Tochter dazu, wickelt eine Praline aus und beißt hinein. Dann verdreht sie die Augen und seufzt. Das hat sie schon als Kind gemacht – und ich hoffe, das ändert sich nie.
Wie das also alles angefangen hat? Wie aus den Kindern Pubertiere wurden? Vermutlich geschieht das in zahlreichen winzigen Schritten unbemerkt nebenher, sodass man den exakten Moment gar nicht bestimmen kann. Aber es gibt Zeichen. Zum Beispiel traut man ihnen irgendwann mehr zu. In diesem Fall: einen ganzen Abend ohne Eltern und ohne Babysitter zu verbringen. Wobei man zugeben muss, dass die Entscheidung dafür in vielen Familien nicht nur mit dem wachsenden Grad an Vernunft seitens der Kinder zu tun hat, sondern auch mit den erheblichen Kosten, die so ein elterlicher Ausgeh-Abend verursacht. Da tut es gut, zumindest die Babysitterin irgendwann einsparen zu können.
Nachwuchs zu haben ist ein ziemlich teurer Spaß. Man soll sich nicht darüber beklagen, das ist elend und spießig. Und doch muss man diese Tatsache von Zeit zu Zeit berücksichtigen. Es ist in diesem Zusammenhang das schöne Bonmot überliefert, man habe sich seinerzeit über die Geburt des zweiten Kindes sehr gefreut, obwohl man eine neue Kommode für den Flur entschieden dringender gebraucht hätte. Auf jeden Fall lebt finanziell auf größerem Fuße, wer die Bude nicht mit seinem Nachwuchs und dessen Spielsachen, Möbeln sowie Schulfreunden teilen muss.
Und weil das so ist, gingen wir damals nicht mehr sehr häufig aus. Schon für einen simplen Kinobesuch muss ein Familienvater nämlich schwer bemoost sein, und zwar besonders, wenn die Kids nicht dabei sind, denn dann kommen sofort zwei starke Kostenfaktoren zum Tragen: Babysitter und Abendvergnügungsauslastungsgebühren. Unter Letzteren versteht man sämtliche Zusatzentgelte, die anfallen, wenn ein ausgehungertes Ehepaar auf eine deutsche Innenstadt losgelassen wird. Es geht bei diesen seltenen Vergnügungen nämlich nicht nur ins Kino, sondern vorher oder nachher etwas essen und vorher oder nachher etwas trinken. Hinzu kommen Parkgebühren, Benzinkosten, Trinkgelder und so weiter und so fort. Ein stinknormaler Kinobesuch kostet auf diese Weise ganz schnell, klingeling, 150 Euro.
Wir waren daher froh, als Carla uns eröffnete, wir könnten uns fortan den Babysitter sparen, denn sie sei nun alt genug, um auf sich und ihren Bruder Nick aufzupassen. Es sei dafür lediglich eine Aufwandsentschädigung in Höhe von fünf Euro zu zahlen. Sara war begeistert, ich zahlte, wir fuhren in die Stadt. Essen, Kino, Trinken.
Beim Essen ließen wir die Handys auf dem Tisch liegen und sahen alle drei Minuten nach, ob Carla oder Nick einen Notruf absetzten. Beide Telefone schwiegen, und das entspannte mich kein bisschen. Andererseits hatten wir uns vorgenommen, nicht selbst anzurufen, um zu fragen, ob sämtliche Finger noch dran und die Schokobons schon alle seien. Im Kino hatten wir anschließend keinen Handyempfang, was normal, aber ebenfalls nicht gerade beruhigend ist. Als wir den Saal zwei Stunden später verließen, hatte Sara vier neue Sprachnachrichten auf der Mailbox.
Nachricht eins, 20 Uhr 11: »Ja, hallo Mama, hier ist Nick. Wo seid ihr? Bitte ruft mich ganz schnell an. Carla ist eine blöde Kuh, und sie hat gesagt, dass sie der Boss ist. Sie ist aber nicht der Boss. Du bist der Boss. Und ich will jetzt Milchreis. Wenn Carla keinen macht, mach’ ich den selber. Sagst du ihr das mal? Danke.«
Aha. Sara ist bei uns der Boss. Das war die eine Info. Die andere lautete: Unsere Kinder planten die Zubereitung glühend heißer Desserts. Man kann sich damit verbrühen. Man kann den Herd ruinieren. Ich geriet in gelinde Aufregung.
Sara spielte Nachricht Nummer zwei von 21 Uhr 24 ab: »Hi, hier ist Carla. Sag mal, Mama, kannst du mich mal zurückrufen? Wir finden den Grillanzünder nicht. Okay? Danke, tschüssi.«
Waaas? Den Grillanzünder? Was wollten die mit dem Grillanzünder? Milchreis grillen? Vor meinem geistigen Auge lief mein Sohn als menschliche Fackel lachend durch den Garten. Sara ließ Nachricht Nummer drei von 21 Uhr 55 laufen: »Äh, hallo, wieso geht ihr denn nicht dran? Also jedenfalls haben wir überlegt, dass wir heute draußen schlafen, und da wollte ich nur sagen, dass wir die Matratzen in den Garten ans Feuer bringen.« ANSFEUER?
Ich zog den Autoschlüssel aus der Hosentasche. Eigentlich wollten wir noch in diese Bar, in die wir viel zu selten kommen. Man trifft dort immer Leute, die man mag, und ihre Stimmen sind alle viel tiefer als die Stimmen, die man von zu Hause kennt. Ich hatte mich darauf gefreut, aber die Situation erschien mir nun deutlich zu gefährlich. Sara spielte die letzte Nachricht ab, sie war eine Viertelstunde alt und lautete: »Hallo, ich noch mal. Schade, dass ihr nicht drangeht. Ich wollte nur sagen, dass da jetzt noch so Typen gekommen sind, die sind zwar was älter, aber total lustig, und wir sitzen alle gemeinsam am Feuer, und die haben jetzt gefragt, ob sie mal bei uns auf die Toilette können. Da wollte ich fragen, ob das okay ist. Ist doch okay, oder? Die sind voll süß. Also bis.« Da brach die Aufnahme ab.
Drei tausendstel Sekunden später saß ich im Auto. Die Kinder gingen nicht ans Telefon. Unbeschreibliche Bilder im Kopf, panische Geschwindigkeitsübertretungen. Nach 29 Minuten stand ich im Flur und hielt einen Zettel in der Hand: »Hahaha! Reingelegt. Gute Nacht.«
Manchmal ärgerte ich unsere Tochter. Ich weiß schon, das ist nicht nett und führt mittelfristig zu Konflikten. Aber ich war und bin immer noch der Meinung, dass es die Kinder rhetorisch abhärtet. Sie lernen, sich zu wehren und gegenzuhalten. Zumindest bei Carla funktionierte das sehr gut. Sie war schon als kleines Mädchen sehr schlagfertig. Als ich einmal zu ihr sagte: »Wie redest du eigentlich mit deinem Vater?«, antwortete sie: »Wie läufst du überhaupt rum?« Und als ich sie kritisierte, weil sie mit vollem Mund sprach, sagte sie sehr cool: »Dann frag mich nichts, wenn ich grad esse.« Da war sie vier. Und als ich mich wie so häufig einmal mit Tomatensauce bekleckerte, sagte die zehnjährige Carla lakonisch: »Der kleine Papa möchte aus dem Kinderparadies abgeholt werden.« Insofern war es fast schon Notwehr, dass ich sie dann und wann aufzog.
Außerdem macht es nun einmal Spaß, ein Pubertier zu reizen. Sie gehen steil in die Luft und explodieren so wunderschön. Zum Beispiel fragte ich sie während der Lektüre des letzten Bandes von Harry Potter bis zu zehn Mal am Tag, ob denn der böse »Lord Waldemar« schon tot sei.
»Der heißt Voldemort, Voldemort, Voldemort«, kreischte sie irgendwann. Gemein? Vielleicht. Oder ich nervte sie mit einem Scherz über den hübschen amerikanischen Sänger Bruno Mars. Es gab eine Zeit, da hing ihr ganzes Zimmer mit Postern von ihm voll. Das war, nachdem der blöde Vampir ausgezogen war. Die jungen Männer kommen und gehen, auch die zweidimensionalen an der Wand. Egal. Ich fand diesen Bruno nicht mal so übel, trotzdem musste er ständig für Scherze herhalten. Zum Beispiel für den hier: »Warum heißt Bruno Mars nicht Bruno Snickers? Weil er keine Nüsse hat!« Carla fand das schon beim ersten Mal nicht lustig. Eigentlich machte ich solche Scherze nur, weil ich ihre Reaktion in Wirklichkeit sehr mochte. Sie stellte sich dann vor mich und sagte todernst: »Ja, Papa. Der war’s jetzt. Ich schmeiß’ mich weg.«
Aber sie ärgerte mich auch zurück. Als ich mich damals weigerte, mit ihr im Auto nach Stuttgart zu fahren, um dort gegen den Bau des neuen Bahnhofs zu demonstrieren, schleuderte sie mir verächtlich entgegen, ich sei eben so eine richtige »kleinbürgerliche Revolutionsbremse«. Das ist schon ein starkes Stück für jemanden, der mit dreizehn Jahren durchaus schon zu Demos ging, auch wenn er die thematischen Zusammenhänge nicht genau verstand. Und irgendwann musste ich mit ihr Klamotten aussortieren. Und zwar nicht ihre, sondern meine. Sie identifizierte drei Hemden, mit denen ich aussähe wie der Honk am Dorfteich, sowie eine untragbare Hose. »Bitte hol mich nie, nie, nie in dieser absurden Buxe von der Schule ab«, bat sie mich angewidert. Aber wenn wir uns nicht ärgerten, vertrugen wir uns eigentlich ganz gut, Carla und ich.
Und kaum dass sie auf der Welt war, wurde sie auch schon dreizehn Jahre alt. Eine einschneidende Angelegenheit, denn damit war sie über Nacht – täterätäää – ein Teenager. Ich freute mich wahnsinnig darüber und malte morgens ein kleines Bilderrätsel auf ein Blatt Papier. Ich zeichnete einen Teebeutel plus eine Maus und schrieb darüber »Hallo«. Das hängte ich an den Spiegel im Badezimmer. Sie erschien damit am Frühstückstisch und fragte, was das nun wieder solle. Wahrscheinlich vermutete sie eine unbotmäßige Schmähung ihrer Person und war bereits sauer, ohne die Zeichnung überhaupt verstanden zu haben. Ich erklärte ihr, das sei ein Rebus, aber sie sah mich mit einem Blick an, der eine Mischung aus Abscheu und Enttäuschung enthielt und mich verunsicherte. So musste sich der Busfahrer einige Tage vorher gefühlt haben, dem sie tonlos erklärt hatte, sie wolle zum Kurfürstenplatz. Er antwortete, sein Bus fahre zur Münchner Freiheit. Und dann bekam er diesen Blick. Schließlich ging sie zu Fuß und kam zu spät zum Klavier, woran der Typ in dem Bus schuld war. Jedenfalls guckte sie so.
Ich klopfte auf das Papier. »Jetzt sieh doch mal. Das hier ist Tee, und das ist ein Nager. Ein Teeeeee-Nager«, sagte ich. »Aha«, antwortete sie mäßig begeistert. »Und warum malst du dann bitte schön eine Fliegenklatsche und ein Schwein?« Ich war augenblicklich beleidigt, auch wenn ich eingestehen muss, dass bei mir alle Tiere aussehen wie Schweine. Außer ich male Vögel. Die sehen alle aus wie Fledermäuse.
Nach dem Frühstück verkündete Carla, sie habe zehn Kollegen aus der Schule für den Nachmittag zu sich eingeladen. »Zum Kindergeburtstag?«, frohlockte ich. »Nein, zum Chillen«, sagte sie. Dann übergab sie mir eine Einkaufsliste und dekretierte, dass die meisten bei uns übernachten würden, mindestens drei Jungs und vier Mädchen. Sie brächten Schlafsäcke mit, und man würde es sich in ihrem Zimmer gemütlich machen. In Anbetracht der Größe des Raumes nahm ich an, dass es dort sehr, sehr gemütlich werden würde. Alles eine Frage der Einstellung. Ich fragte, ob Lord Waldemar auch eingeladen sei, und bekam ein Brötchen an den Kopf.
Dann ging ich zum Einkaufen. Ich besorgte alles, was auf dem Zettel stand, nur nicht die Alcopops, aber ich nehme an, Carla wollte damit lediglich den Verblödungsgrad ihrer kleinbürgerlichen Revolutionsbremse testen. Sie stand dann in der Küche und rührte in einem großen Topf. Chili con Carne. »Anstatt Kuchen?«, fragte ich arglos, und sie erklärte mir, dass es sich dabei um die Mitternachtssuppe handele. Sie hielt uns einen längeren Vortrag darüber, dass unsere Anwesenheit in ihrem Zimmer unerwünscht sei, egal, was für Geräusche aus ihm drängen. Und dass wir uns einmal, ein einziges Mal nur, benehmen sollten wie richtig coole Eltern. Wir nickten eingeschüchtert, dann klingelte es auch schon an der Tür. Die ersten Gäste kamen.
Sie hatten Schlafsäcke dabei und waren auf die Nacht ungefähr so gut vorbereitet wie Reinhold Messner auf die Besteigung des Nanga Parbat, auch wenn mir ihr Proviant wenig höhentauglich erschien. Chipstüten halten dem Luftdruck nicht stand, sie platzen im Hochgebirge. Dieser wichtige Hinweis wurde von den jungen Menschen achselzuckend hingenommen, bevor sie mit ihrem Krempel die Treppe zu unserer Tochter emporstiegen.
Dort spielte sich wenig Aufregendes ab, soweit man das durch ihre Zimmertür beurteilen konnte. Sie hatte die komplette TV-Serie Glee besorgt, die man sich auf ihrem Laptop ansah. Für einen Moment dachte ich: wie langweilig. So überhaupt null kriminelle oder wenigstens hormonelle Energie. Dann wurde mir wieder klar, dass es sich ja um den dreizehnten und nicht um den sechzehnten Geburtstag handelte, und ich hielt mich mit Kritik über das Nachtprogramm zurück.
Später war gedämpftes Gemurmel und Gekicher und Möbelgerücke zu hören. Zwischendurch klingelte es immer mal wieder, Neuankömmlinge wurden wie Kriegsheimkehrer gefeiert, von Zeit zu Zeit trippelte wer ins Bad. Gegen Abend lockte ich die Meute (per Telefon!) in die Küche, wo ich Pizza servierte, was als ausgesprochen cool bewertet wurde und mir den anerkennenden Blick meiner Tochter eintrug. Die Damen und Herren blieben immerhin fast eine Stunde am Tisch, um dann ins Basislager zurückzukehren und dort pointenlos rumzuhocken.
Sara und ich saßen genau darunter im Wohnzimmer und schauten an die Decke.
»Sie könnten ja ein bisschen tanzen«, sagte Sara.
»Ja. Oder heimlich rauchen«, sagte ich. »Oder zanken.«
Und dann geschah es. Ein Eklat. Endlich! Leben! Wir hörten Türenschlagen und Getrampel, dann wieder Türenschlagen und ein Schloss. Jemand hatte sich im Klo eingesperrt. Ich ging mal gucken. Vor dem Bad standen vier Gäste und unser Pubertier. Auf meine Frage, wer dadrin sei, erklärte Carla, das sei Jenny, und der ginge es nicht so gut. Jenny ist ein sehr korpulentes Mädchen. Hübsches Gesicht und ziemlich kräftig.
Jenny hielt es eine Dreiviertelstunde im Klo aus, was sicher auch an den großartigen uralten Mad-Heften liegt, die ich dort deponiert habe. Als sie den Schlüssel umdrehte und mit tränenverschmiertem Gesicht auftauchte, waren sämtliche Pubertiere zur Stelle, um sie aufzufangen und zu umsorgen. Nur Moritz nicht, der saß auf der Treppe und guckte wie Philipp Rösler nach der Bundestagswahl.
Später habe ich durch investigative Recherche (Facebook) rausgefunden, was sich zuvor abgespielt hat. Es war nämlich so, dass Carla gesagt hat: »Jenny und ich sind wirklich so richtig dicke Freundinnen.« Und darauf hat Moritz fröhlich gerufen: »Na ja, mehr oder weniger.« Und da ist Jenny aus dem Zimmer gestürzt. Die anderen haben sich den Moritz vorgeknöpft, weil das von ihm echt endfies war, die Jenny so krass vor den anderen zu dissen. Ziemlich gut, finde ich.
Hat sich dann aber auch alles wieder eingerenkt. Über Nacht haben wir nicht viel gehört, außer als Simon sich übergeben hat. Zu viel von allem und alles durcheinander, man kennt das ja. Aber sie haben gemeinsam sauber gemacht. Am nächsten Morgen bereitete ich das Frühstück für Carla und ihre Gang vor, und diese erschien schluckweise. Man gab sich schweigsam. Auf meine Frage, wie lange man getagt habe, hieß es, dass es die letzten bis sieben Uhr morgens ausgehalten hätten. Man erinnert sich an so etwas, kann es aber nicht mehr verstehen. Ich persönlich schlafe ja höchst gerne.