Das Bettlermädchen - Alice Munro - E-Book

Das Bettlermädchen E-Book

Alice Munro

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Beschreibung

Es gibt keinen besseren Einstieg in die wunderbare Welt der Alice Munro als ›Das Bettlermädchen‹, so Jonathan Franzen. Eines der Hauptwerke der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro endlich wieder lieferbar – in neu durchgesehener Übersetzung Munro entfaltet, einzigartig in ihrem Werk, in diesem Band die Geschichte zweier Frauen, Flo und Rose, über mehrere Jahrzehnte: Rose wächst bei ihrer Stiefmutter Flo in einer kanadischen Kleinstadt auf. Als sie den Muff des Alltags nicht mehr erträgt, zieht sie in die Welt, fängt an zu studieren, heiratet, hat Affären und macht Karriere beim Fernsehen. Flo bleibt in der Provinz zurück und vertreibt sich die Zeit mit Bingo-Spielen. Mit ihrem unvergleichlichen Gespür für die Herzensbildung ihrer Figuren hat Alice Munro mit dem ›Bettlermädchen‹ ein frühes Meisterwerk geschaffen.

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Seitenzahl: 408

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Alice Munro

Das Bettlermädchen

Geschichten von Flo und Rose

Roman

Aus dem Englischen von Hildegard Petry

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungEine Fürstliche AbreibungPrivilegEine halbe GrapefruitWilde SchwäneDas BettlermädchenPechVorsehungSimons GeschichteBuchstabierenWas glaubst du, wer du bist?

Für G. Fn.

Eine Fürstliche Abreibung

Eine fürstliche Abreibung. Das war Flos Versprechen. Du wirst eine richtig fürstliche Abreibung kriegen.

Das Wort »fürstlich« zerfloss Flo auf der Zunge, es wurde immer festlicher. Rose hatte das Bedürfnis, sich Dinge auszumalen, ausgefallenen Gedanken nachzugehen, das viel stärker war als das Bedürfnis, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten, und statt sich die Drohung zu Herzen zu nehmen, grübelte sie: Wodurch wird eine Abreibung fürstlich? Ihr fiel eine von Bäumen gesäumte Prachtstraße ein, eine Menge feierlicher Zuschauer, weiße Pferde und schwarze Sklaven. Jemand kniete, und das Blut schoss heraus wie kleine Fahnen. Ein grausames und doch großartiges Ereignis. Im wirklichen Leben erreichte man diese Würde bei weitem nicht, nur Flo versuchte, dem Ereignis eine Art erhabenen Anschein von Notwendigkeit und Bedauern zu geben. Rose und ihr Vater waren bald über alles Vorstellbare hinaus.

Ihr Vater war Meister der fürstlichen Abreibungen. Die von Flo waren nie der Rede wert; das waren nur leichte Klapse, die sie austeilte, während ihre Gedanken anderswo waren. Geh mir aus dem Weg, sagte sie dann. Kümmer dich um deine Angelegenheiten. Mach nicht so ein Gesicht.   

Sie wohnten hinter einem Laden in Hanratty, Ontario. Sie waren zu viert: Rose, ihr Vater, Flo und Roses kleiner Halbbruder Brian. Der Laden war eigentlich ein Haus, das Roses Eltern gebaut hatten, als sie heirateten und hier eine Reparaturwerkstatt für Polstermöbel aufmachten. Ihre Mutter verstand etwas von Polsterei. Rose hätte von ihren Eltern geschickte Hände, ein Gefühl für Stoffe, ein Auge für die besten Methoden des Ausbesserns erben müssen, hatte es aber nicht. Sie war ungeschickt, und wenn etwas entzweiging, konnte sie es nicht schnell genug zusammenfegen und wegwerfen.

Ihre Mutter war gestorben. Eines Nachmittags hatte sie zu Roses Vater gesagt: »Ich habe ein Gefühl, das ich nicht recht erklären kann. Es ist, als hätte ich ein gekochtes Ei in der Brust, mit Schale.« Sie starb noch am gleichen Abend, sie hatte ein Blutgerinnsel in der Lunge. Rose war damals ein Säugling in einem Korb, deshalb konnte sie sich natürlich an nichts von alldem erinnern. Sie hörte es von Flo, die es von ihrem Vater gehört haben musste. Bald danach kam Flo zu ihnen, übernahm Rose in ihrem Korb, heiratete ihren Vater und richtete vorn einen Kolonialwarenladen ein. Rose, die das Haus nur als Laden gekannt hatte, die nur Flo als Mutter gekannt hatte, stellte sich die beinahe sechzehn Monate, die ihre Eltern hier gelebt hatten, als eine geordnete, viel ruhigere und eher festliche Zeit mit einem leichten Anklang von Wohlstand vor. Sie besaß von damals nur ein paar Eierbecher, die ihre Mutter gekauft hatte, verziert mit Weinreben und Vögeln, fein gezeichnet wie mit roter Tinte; das Muster fing an zu verblassen. Es gab keine Bücher oder Kleider oder Bilder von ihrer Mutter mehr. Ihr Vater musste sie weggeschafft haben, vielleicht auch Flo. Flos einzige Geschichte über ihre Mutter, die von ihrem Tod, war seltsam widerstrebend. Flo mochte Details über das Sterben: was die Leute sagten, wie sie sich wehrten oder aufzustehen versuchten oder fluchten oder lachten (manche taten so was), aber wenn sie sagte, Roses Mutter habe von einem hartgekochten Ei in der Brust gesprochen, gab sie dem Vergleich einen etwas albernen Klang, als sei ihre Mutter jemand gewesen, der glaubte, man könne ein ganzes Ei auf einmal hinunterschlucken.

Ihr Vater besaß hinter dem Laden einen Schuppen, in dem er Möbel reparierte und aufarbeitete. Er flocht Sitze und Lehnen für Stühle, besserte Korbwaren aus, füllte Risse, setzte Beine wieder an, und das alles ganz ausgezeichnet und geschickt und günstig. Darauf war er stolz: die Leute durch so sorgfältige Arbeit, so geringe, ja fast lächerliche Preise zu verblüffen. Während der Depression konnten die Leute sich vielleicht nicht leisten, mehr zu bezahlen, aber er behielt die Gewohnheit während des Krieges und auch während der Wohlstandsjahre nach dem Krieg bei, bis er starb. Er sprach nie mit Flo darüber, was er verlangte oder was noch ausstand. Als er gestorben war, musste sie hinausgehen, den Schuppen aufschließen und alle möglichen Papierfetzen und zerrissene Briefumschläge von den großen, gefährlich aussehenden Haken nehmen, die er als Ordner benutzte. Sie merkte, dass manches davon überhaupt keine Rechnungen oder Quittungen waren, sondern Aufzeichnungen über das Wetter oder kurze Notizen über den Garten, eben Dinge, die aufzuschreiben ihm in den Sinn gekommen waren.

25. Juni, neue Kartoffeln gegessen. Aufschreiben. Düsterer Tag, 1880, nichts Übernatürliches. Aschewolken von Waldbrand.

16. Aug. 1938. Wahnsinniges Gewitter am Abd., Blitz schl. Pres. Kirche. Turberry Tsp. Gottes Wille? Eingemachte Erdbeeren wegen Säure. Alle Dinge sind lebendig. Spinoza.

Flo dachte, Spinoza müsse wohl eine neue Gemüsesorte sein, die er anpflanzen wollte, wie Broccoli oder Auberginen. Er hatte oft irgendwas Neues probiert. Sie zeigte Rose den Zettel und fragte, ob sie wisse, was Spinoza sei. Rose wusste es oder hatte zumindest eine Ahnung – sie war damals schon halb erwachsen –, aber sie antwortete, sie wisse es nicht. Sie war in einem Alter, das sie glauben ließ, sie könne es nicht ertragen, noch irgendetwas über ihren Vater oder über Flo zu erfahren; sie schob jede neue Entdeckung verwirrt und verschreckt beiseite.

In dem Schuppen standen ein Ofen und ein paar einfache Regale mit Dosen voller Farbe und Firnis, Schellack und Terpentin, Krüge mit eingeweichten Pinseln und auch einige dunkle klebrige Fläschchen mit Hustentropfen. Warum mochte ein Mann, der ständig hustete, dessen Lungen im Krieg eine Portion Gas abbekommen hatten (dieser Krieg wurde in Roses frühester Kindheit nicht der Erste, sondern der Letzte Krieg genannt), seine Tage damit verbringen, die Ausdünstungen von Farbe und Terpentin einzuatmen? Damals stellte man solche Fragen nicht so oft wie heute. Auf der Bank vor Flos Laden saßen ein paar alte Männer aus der Nachbarschaft, schwatzten und dösten bei dem warmen Wetter, und einige von diesen Männern husteten ebenfalls die ganze Zeit. In Wirklichkeit starben sie langsam und unauffällig an dem, was man ohne jeden klagenden Unterton die »Gießerei-Krankheit« nannte. Sie hatten ihr ganzes Leben lang in der Gießerei der Stadt gearbeitet, nun saßen sie still da mit ihren verwüsteten gelben Gesichtern, husteten, kicherten, ergingen sich in ziellosen Obszönitäten über vorbeigehende Frauen oder ein junges Mädchen auf einem Fahrrad.

Aus dem Schuppen hörte man nicht nur Husten, sondern auch Reden, ein fortwährendes Murmeln, vorwurfsvoll oder ermutigend und gewöhnlich gerade noch unterhalb der Lautstärke, bei der man einzelne Worte vernehmen konnte. Es wurde langsamer, wenn ihr Vater ein heikles Stück Arbeit vor sich hatte, und steigerte sich zu freudigem Tempo, wenn er etwas weniger Anspruchsvolles tat, wie Abschleifen oder Anstreichen. Hin und wieder brachen einige Worte durch und hingen klar und ohne Sinn in der Luft. Wenn er merkte, dass sie heraus waren, kam zur Tarnung ein schnelles kleines Husten, ein Schlucken, ein angespanntes, ungewohntes Schweigen.

»Makkaroni, Peperoni, Botticelli, Bohnen …«

Was mochte das bedeuten? Rose wiederholte solche Dinge gern für sich. Sie konnte ihn nie fragen. Der Mensch, der diese Worte sprach, und der Mensch, der als ihr Vater zu ihr sprach, waren nicht derselbe, obwohl sie den gleichen Raum einzunehmen schienen. Es würde von allerschlechtestem Geschmack zeugen, eine Person wahrzunehmen, die angeblich nicht da war; das würde nicht verziehen werden. Trotzdem lungerte sie herum und horchte.

Die wolkengekrönten Türme, hörte sie ihn einmal sagen. »Die wolkengekrönten Türme, die prachtvollen Paläste.«

Das war, als schlüge eine Hand gegen Roses Brust, nicht um ihr weh zu tun, sondern um sie in Erstaunen zu versetzen und ihr den Atem zu nehmen. Dann musste sie laufen, sie musste weg. Sie wusste, dass sie genug gehört hatte, und außerdem – wenn er sie erwischte? Es wäre schrecklich.

Das war wie die Geräusche aus dem Badezimmer. Flo hatte gespart und ein Badezimmer einbauen lassen, aber es war kein Platz da, wo man es einrichten konnte, außer in einer Ecke der Küche. Die Tür schloss nicht richtig, und die Wände waren nur aus Hartfaserplatten. Die Folge war, dass selbst das Abreißen eines Blattes Toilettenpapier oder ein Aufstehen für die, die in der Küche arbeiteten oder sprachen oder aßen, deutlich hörbar war. Jeder kannte die intimsten Geräusche der anderen, nicht nur in ihren explosiveren Augenblicken, sie kannten auch ihre innersten Seufzer und ihr Gebrumme und ihre Geständnisse und Erklärungen. Und sie waren alle äußerst prüde Leute. So schien niemand etwas zu hören oder gar zu horchen, und es wurden keine Anspielungen gemacht. Die Person, die die Geräusche im Badezimmer verursacht hatte, stand in keiner Verbindung zu der Person, die dann herauskam.

Sie wohnten in einem armen Teil der Stadt. Es gab Hanratty und West-Hanratty und dazwischen den Fluss. Das hier war West-Hanratty. In Hanratty reichte das soziale Gefüge von Ärzten und Zahnärzten und Anwälten bis zu Gießereiarbeitern und Fabrikarbeitern und Bierkutschern; in West-Hanratty reichte es von Fabrikarbeitern und Gießereiarbeitern bis zu den großen unbedacht wirtschaftenden Familien gelegentlicher Alkoholschmuggler und Prostituierter und erfolgloser Diebe. Rose stellte sich ihre Familie als auf beiden Seiten des Flusses stehend und so nirgendwohin gehörend vor, aber das stimmte nicht. West-Hanratty war da, wo der Laden war und wo sie waren, ganz am Ende der Hauptstraße. Gegenüber war die Werkstatt des Schmieds, die zu Beginn des Krieges mit Brettern zugenagelt worden war, und ein Haus, das früher auch einmal ein Laden gewesen war. Das Schild für »Salada-Tee« war nicht aus dem Vorderfenster genommen worden; es blieb da als prächtige und interessante Dekoration, obwohl es drinnen keinen »Salada-Tee« mehr zu kaufen gab. Es gab nur ein kleines Stückchen Gehsteig, das zu rissig und abschüssig zum Rollschuhlaufen war. Dabei sehnte Rose sich nach Rollschuhen und malte sich oft aus, wie sie gewandt und elegant in einem Schottenrock dahinsausen würde. Es gab eine einzige Straßenlampe, eine blecherne Blume; damit hörten die Reize auf, und es kamen schmutzige Straßen und morastige Plätze, Vorgärten voller Abfälle und seltsam aussehende Häuser. Die Häuser sahen seltsam aus wegen der Versuche, sie vor dem Einsturz zu bewahren. Bei einigen hatte man das nie versucht. Die waren grau und verrottet und schief und bröckelten in eine Landschaft voller buschbestandener Senken, Froschtümpel, Schachtelhalme und Nesseln. Die meisten Häuser aber waren mit Dachpappe, ein paar frischen Brettern, Blechstücken, glattgehämmerten Ofenrohren, ja selbst mit Pappe zusammengeflickt. Natürlich war das alles in den Tagen vor dem Krieg, Tagen, deren Armut in späteren Zeiten legendär wurde. Rose erinnerte sich nur an ganz unbedeutende Dinge – bedrohlich aussehende Ameisenhaufen und hölzerne Stufen und ein trübes, interessantes, fragwürdiges Licht über der Welt.

 

 

Anfangs bestand ein langer Waffenstillstand zwischen Flo und Rose. Roses Wesen entwickelte sich wie eine stachelige Ananas, aber langsam und ganz im Geheimen wurde es von einem harten Stolz und Misstrauen überdeckt, so dass etwas entstand, was sie selbst überraschte. Bevor sie alt genug war, um in die Schule zu gehen, und während Brian noch im Kinderwagen lag, hielt sich Rose mit den beiden im Laden auf. Flo saß auf dem hohen Stuhl hinter dem Ladentisch, Brian schlief vorn beim Fenster; Rose kniete oder lag auf den breiten knarrenden Dielen und malte mit Buntstiften auf Stücke von braunem Papier, das zu zerrissen oder zu formlos war, um zum Einwickeln noch brauchbar zu sein.

Die Leute, die in den Laden kamen, waren meist aus der Nachbarschaft. Auch ein paar Leute vom Land schauten auf dem Heimweg aus der Stadt herein und ein paar Leute aus Hanratty, die über die Brücke kamen. Einige Leute waren immer auf der Hauptstraße, in den Läden oder draußen, als ob es ihre Pflicht wäre, ständig sichtbar zu sein, und ihr Recht, willkommen geheißen zu werden. So zum Beispiel Becky Tyde.

Becky Tyde kletterte auf Flos Ladentisch und verschaffte sich Platz neben einer offenen Schachtel voll krümeliger, mit Marmelade gefüllter Küchlein.

»Sind die eigentlich gut?«, sagte sie zu Flo und begann frech, eines zu essen. »Wann wirst du mich einstellen, Flo?«

»Du könntest ja im Metzgerladen arbeiten gehen«, sagte Flo unschuldig. »Du könntest doch dort bei deinem Bruder arbeiten.«

»Roberta?«, sagte Becky mit gekünstelter Verachtung. »Du glaubst, ich würde für ihn arbeiten?« Ihr Bruder, der den Metzgerladen betrieb, hieß Robert, wurde aber oft Roberta genannt wegen seiner unterwürfigen und nervösen Art. Becky Tyde lachte. Ihr Lachen war laut und lärmend wie eine Maschine, die auf einen zukommt.

Sie war eine Zwergin mit großem Kopf und lauter Stimme, mit dem geschlechtslosen Gehabe eines Maskottchens, mit einer roten Samtmütze und einem schiefen Hals, der sie zwang, den Kopf immer zur Seite zu neigen, so dass sie immer seitlich von unten schaute. Sie trug kleine, glänzend polierte Schuhe mit hohen Absätzen, richtige Damenschuhe. Rose betrachtete ihre Schuhe, während sie vor allem Übrigen an ihr, ihrem Lachen und ihrem Hals, Angst hatte. Sie wusste von Flo, dass Becky Tyde als kleines Mädchen Kinderlähmung gehabt hatte, deshalb war ihr Hals schief, und sie war nicht weitergewachsen. Man konnte kaum glauben, dass sie einmal anders gewesen war, dass sie jemals normal gewesen war. Flo sagte, sie sei nicht blöde, sie habe genauso viel Verstand wie die anderen, aber sie wisse, dass sie sich alles leisten könne.

»Weißt du, dass ich einmal hier draußen gewohnt habe?«, sagte Becky und bemerkte jetzt Rose. »He! Du da! Hab ich nicht hier draußen gewohnt, Flo?«

»Wenn das stimmt, dann war es vor meiner Zeit«, sagte Flo, als ob sie von nichts wüsste.

»Das war, bevor es mit der Nachbarschaft so bergab ging. Entschuldige, dass ich das sage. Mein Vater baute sein Haus hier draußen, und er baute sein Schlachthaus, und wir hatten einen Obstgarten von einem halben Morgen.«

»Ach ja?«, machte Flo mit ihrer beschwichtigenden Stimme, die voll falscher Freundlichkeit, beinahe Unterwürfigkeit war. »Warum seid ihr dann weggezogen?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass es mit der Nachbarschaft so bergab ging«, sagte Becky. Sie konnte sich ein ganzes Küchlein auf einmal in den Mund stecken, so dass ihre Backen aufgebläht waren wie bei einem Frosch. Mehr sagte sie nie.

Flo wusste trotzdem Bescheid und alle andern auch. Jeder kannte das Haus aus roten Ziegeln mit der abgerissenen Veranda und dem Obstgarten, soweit er noch existierte; er war voll mit dem üblichen Gerümpel – Autositzen und Waschmaschinen und Sprungfedern und Schrott. Das Haus würde trotz dem, was darin passiert war, nie unheimlich aussehen, weil es von so viel Trümmern und Durcheinander umgeben war.

Nach Flos Ansicht war Beckys alter Vater ein ganz anderer Metzger als ihr Bruder. Ein schlechtgelaunter Engländer. Und ganz anders als Becky, was das Mundwerk anging. Er redete nicht. Ein Geizhals, ein Familientyrann. Nachdem Becky Kinderlähmung gehabt hatte, wollte er sie nicht mehr zur Schule gehen lassen. Man sah sie selten außerhalb des Hauses, nie außerhalb des Hofes. Er wollte nicht, dass die Leute hämisch über sie herzogen. Das sagte Becky dann vor Gericht aus. Ihre Mutter war damals schon tot und ihre Schwester verheiratet. Zu Hause waren nur Becky und Robert. Oft hielten die Leute Robert auf der Straße an und fragten ihn: »Was ist mit deiner Schwester, Robert? Geht es ihr denn jetzt besser?«

»Ja.«

»Arbeitet sie im Haus? Macht sie dir das Essen?«

»Ja.«

»Und ist dein Vater gut zu ihr, Robert?«

Man erzählte sich nämlich, dass der Vater sie beide schlug, dass er alle seine Kinder geschlagen hatte und seine Frau auch, dass er Becky jetzt noch mehr schlug wegen ihrer Verwachsungen, von denen manche sogar glaubten, er habe Schuld daran (sie hatten keine Ahnung von Kinderlähmung). Die Geschichten hielten sich hartnäckig und wurden weiter ausgeschmückt. Man nahm jetzt an, Becky sei versteckt gehalten worden wegen einer Schwangerschaft, und man glaubte, der Vater des Kindes sei ihr eigener Vater. Dann sagten die Leute, das Kind sei geboren worden, und man habe es weggeschafft.

»Was?«

»Weggeschafft«, sagte Flo. »Sie sagten immer, geh und hol dir deine Lammkoteletts bei Tyde, lass dir schön zarte geben! Es war höchstwahrscheinlich alles erlogen«, sagte sie bedauernd.

Es konnte sein, dass Rose, die die Bewegung des Windes verfolgte, wie er die alte zerfetzte Markise entlangstrich und sich in den Rissen verfing, durch diesen Tonfall des Bedauerns und der Vorsicht in Flos Stimme aufmerksam wurde. Wenn Flo eine Geschichte erzählte – diese war nicht die einzige, nicht einmal die unheimlichste, die sie kannte –, senkte sie den Kopf und gab ihrem Gesicht einen weichen und gedankenvollen, schmerzlichen und misstrauischen Ausdruck.

»Ich sollte dir diese Dinge eigentlich gar nicht erzählen.« Es sollte noch mehr kommen.

Drei nichtsnutzige junge Männer, die sich beim Mietstall herumtrieben, taten sich zusammen – oder wurden von recht einflussreichen und respektablen Männern aus der Stadt zusammengebracht – und planten, den alten Tyde im Interesse der öffentlichen Moral mit Reitpeitschen zu traktieren. Sie schwärzten ihre Gesichter. Sie hatten sich Peitschen besorgt und einen Viertelliter Whisky für jeden, zum Mut machen. Es waren: Jelly Smith, der Pferderennen besuchte und trank; Bob Temple, ein Ballspieler und Mann fürs Grobe, und Hat Nettleton, der bei einem städtischen Transportunternehmen arbeitete und seinen Spitznamen Hat von der Melone hatte, die er aus Eitelkeit, aber auch wegen der komischen Wirkung trug. Er war immer noch dort angestellt; den Namen hatte er behalten, wenn auch nicht die Melone, und man konnte ihn häufig in der Öffentlichkeit sehen – fast so oft wie Becky Tyde –, wie er Kohlensäcke lieferte, die sein Gesicht und seine Arme schwärzten. Das hätte dazu führen müssen, dass man über seine Geschichte nachdachte, aber dazu kam es nicht. Die Gegenwart und die Vergangenheit, die anrüchige melodramatische Vergangenheit der Geschichten Flos, waren zwei ganz verschiedene Dinge, wenigstens für Rose.

Die Leute der Gegenwart passten nicht in die Vergangenheit. Zum Beispiel Becky, das Wundertier der Stadt und der Liebling aller, harmlos und bösartig, so wie sie heute war, konnte doch niemals der Gefangenen des Metzgers ähnlich sein, der verkrüppelten Tochter, die nur ein weißer Fleck am Fenster war: stumm, geschlagen und geschwängert. Auch zu dem Haus ließ sich nur eine äußerliche Verbindung herstellen.

Die jungen Männer, die die Prügelattacke durchführen sollten, trafen sich vor Tydes Haus, nachdem alle schon zu Bett gegangen waren. Sie hatten ein Gewehr, aber sie verschossen ihre Munition im Garten. Sie riefen nach dem Metzger und schlugen gegen die Tür; schließlich brachen sie sie auf. Tyde vermutete, sie seien hinter seinem Geld her, also packte er einige Scheine in ein Taschentuch und schickte Becky damit hinunter, vielleicht weil er dachte, die Männer würden vom Anblick eines kleinen schiefhalsigen Mädchens, einer Zwergin, berührt oder erschreckt werden. Aber damit gaben sie sich nicht zufrieden. Sie kamen die Treppe herauf und zogen den Metzger unter seinem Bett hervor. Er war noch im Nachthemd. Sie zerrten ihn nach draußen und stellten ihn in den Schnee. Es war vier Grad unter null, eine Tatsache, die später vor Gericht vermerkt wurde. Sie hatten vor, ein Scheingericht abzuhalten, aber sie wussten nicht, wie man das machte. Also fingen sie an, ihn zu schlagen, und droschen immer weiter auf ihn ein, bis er umfiel. Sie nannten ihn »Metzgers Fleisch« und schlugen weiter auf ihn ein, während sich sein Nachthemd und der Schnee, auf dem er lag, rot färbten. Sein Sohn Robert sagte vor Gericht, er habe die Prügelei nicht mit angesehen. Becky sagte, Robert habe zuerst zugesehen, sei dann aber weggelaufen und habe sich versteckt. Sie selbst habe alles von Anfang bis Ende mit angesehen. Sie sah, wie die Männer schließlich weggingen und ihr Vater seinen mühsamen, blutigen Weg durch den Schnee und die Stufen der Veranda hinauf machte. Sie ging nicht hinaus, um ihm zu helfen, und sie öffnete die Tür erst, als er davor stand. Warum nicht?, fragte man sie vor Gericht, und sie antwortete, sie sei nicht hinausgegangen, weil sie nur ihr Nachthemd angehabt habe, und sie habe die Tür nicht aufgemacht, weil sie die Kälte nicht ins Haus lassen wollte.

Der alte Tyde schien inzwischen wieder zu Kräften gekommen zu sein. Er schickte Robert los, um das Pferd anzuschirren, und ließ sich von Becky Wasser heiß machen, damit er sich waschen konnte. Er zog sich an und nahm alles Geld mit sich und setzte sich ohne jede Erklärung an seine Kinder in den Schlitten, fuhr nach Belgrave, wo er das Pferd in der Kälte angebunden stehen ließ, und nahm den Frühzug nach Toronto. Im Zug benahm er sich auffällig, stöhnte und fluchte, als ob er betrunken wäre. Er wurde einen Tag später in den Straßen von Toronto aufgegriffen, besinnungslos vor Fieber, und ins Krankenhaus gebracht, wo er starb. Er hatte noch das ganze Geld bei sich. Als Todesursache wurde Lungenentzündung angegeben.

Aber die Behörden bekamen Wind davon, sagte Flo. Der Fall kam vor Gericht. Die drei Männer, die das getan hatten, wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Ein Witz, sagte Flo. Innerhalb eines Jahres waren sie alle wieder frei, waren begnadigt worden, und man hatte ihnen Stellen besorgt. Und warum? Weil zu viele Einflussreiche in die Sache verwickelt waren. Und es schien, als ob Becky und Robert kein Interesse daran hatten, dass Gerechtigkeit geübt wurde. Sie blieben gut versorgt zurück. Sie kauften ein Haus in Hanratty. Robert übernahm den Laden. Becky begann nach der langen Zeit des Eingeschlossenseins ein vergnügtes und für alle sichtbares Leben in der Gesellschaft zu führen.

Das war alles. Flo beendete diese Geschichte, als hätte sie genug davon. Sie zeigte niemanden in einem guten Licht.

»Stell dir das vor«, sagte Flo.

Flo musste damals Anfang dreißig gewesen sein. Eine junge Frau. Sie trug die gleichen Kleider, die eine Frau von fünfzig oder sechzig oder siebzig hätte tragen können: bedruckte Hauskleider, bequem um Hals und Arme wie um die Taille; Schürzen, ebenfalls bedruckt, die sie abnahm, wenn sie aus der Küche in den Laden ging. Das war damals die übliche Art Kleidung für eine arme, wenn auch nicht gänzlich verarmte Frau; es war aber in gewisser Weise auch eine absichtliche Wahl. Flo verachtete Hosen, sie verachtete den Kleidungsstil von Leuten, die mit der Mode zu gehen versuchten, sie verachtete Lippenstift und Dauerwellen. Sie trug ihr schwarzes Haar gerade geschnitten und eben lang genug, dass sie es hinter die Ohren klemmen konnte. Sie war groß, aber feingliedrig, mit schmalen Gelenken und Schultern, einem kleinen Kopf, einem blassen, sommersprossigen, beweglichen, affenähnlichen Gesicht. Wenn sie es der Mühe wert befunden und das Geld dafür gehabt hätte, hätte sie eine blasse, zerbrechliche, gepflegte Anmut ausstrahlen können; Rose erkannte dies später. Aber sie hätte überhaupt eine ganz andere Person sein müssen; sie hätte lernen müssen, der Versuchung zu widerstehen, Grimassen zu schneiden, vor anderen, und auch, wenn sie allein war.

Roses früheste Erinnerungen an Flo waren von ungewöhnlicher Weichheit und Härte. Das weiche Haar, die langen, blassen, weichen Wangen, der weiche, fast unsichtbare Flaum vor den Ohren und über dem Mund. Die Eckigkeit ihrer Knie, die Härte ihres Schoßes, die Flachheit ihrer Brust.

Wenn Flo sang:

Oh, das Summen der Bienen in den Zigarettenbäumen

Und der Sodawasser-Fontäne …

dachte Rose an Flos Leben vor der Heirat mit ihrem Vater, als sie im Café der Union Station als Kellnerin gearbeitet hatte und mit ihren Freundinnen Mavis und Irene nach Centre Island gefahren war, als ihr Männer in dunklen Straßen nachgingen und sie wusste, wie man Münztelefone und Aufzüge benutzte. Rose hörte in ihrer Stimme das unbekümmerte, gefährliche Leben der Städte, die direkten Antworten aus Kaugummi kauenden Mündern. Und wenn sie sang:

Und langsam, langsam stand sie auf,

Nahm langsam seine Hände

Und sagte nur: ›Du junger Mann,

Bald geht’s mit dir zu Ende‹

dachte Rose an ein Leben, das Flo jenseits des heutigen, früher, gehabt hatte, das ausgefüllt und märchenhaft war, und in dem Barbara Allen und Becky Tydes Vater, Gewalttätigkeiten und Sorgen wirr zusammenfanden.

 

 

Die fürstliche Abreibung. Wie kam es dazu?

Vielleicht an einem Samstag im Frühling. Noch keine Blätter an den Bäumen, aber die Türen offen für die Sonne. Krähen. Gräben voll fließendem Wasser. Hoffnungsvolles Wetter. Samstags ließ Flo oft Rose den Laden führen – es ist schon ein paar Jahre her, das sind die Jahre, in denen Rose neun, zehn, elf, zwölf Jahre alt war –, während sie selbst über die Brücke nach Hanratty ging (in die Stadt raufgehen, nannten sie das), um einzukaufen und Leute zu treffen und ihnen zuzuhören. Unter den Leuten, denen sie zuhörte, waren die Frau von Rechtsanwalt Davies, die Frau des anglikanischen Rektors Henley-Smith und die Frau des Pferdedoktors McKay. Sie kam nach Hause und machte deren geschwätzige Stimmen nach. Scheusale machte sie aus ihnen, verrückt, angeberisch und selbstgerecht.

Wenn sie mit dem Einkaufen fertig war, ging sie in das Café des Queen’s Hotel und aß ein Eis. Welche Sorte? Rose und Brian wollten das wissen, wenn sie heimkam, und sie waren enttäuscht, wenn es nur Ananas war oder Karamell, sie freuten sich, wenn es ein Eisbecher mit Schokoladensoße und Nüssen oder Sahne war. Flo rauchte dann eine Zigarette. Sie hatte ein paar fertige bei sich, so dass sie sie nicht in der Öffentlichkeit drehen musste. Rauchen war das Einzige, was sie sich leistete, obwohl sie es bei jedem anderen als Angeberei bezeichnet hätte. Es war eine Gewohnheit aus der Zeit ihrer Berufstätigkeit in Toronto. Sie wusste, dass es herausfordernd wirkte. Einmal, im Queen’s Hotel, kam der katholische Priester zu ihr herüber und gab ihr Feuer, bevor sie ihre Streichhölzer herausnehmen konnte. Sie dankte ihm, ließ sich aber auf kein Gespräch ein, damit er nicht versuchen konnte, sie zu bekehren.

Ein anderes Mal sah sie auf dem Heimweg an der Stadtseite der Brücke einen Jungen in einer blauen Jacke stehen, der offenbar ins Wasser schaute. Achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Keiner, den sie kannte. Mager, schwächlich aussehend. Sie merkte, etwas war mit ihm los; sie sah es gleich. Ob er hineinspringen wollte? Als sie gerade auf gleicher Höhe mit ihm war, was tut er – er dreht sich einfach um und zeigt sich ihr, die Jacke und die Hose offen. Wie musste er unter der Kälte gelitten haben, es war ein Tag, an dem Flo ihren Mantelkragen eng am Hals zusammenhielt.

Als sie sah, was er in der Hand hatte, sagte Flo, war alles, was sie zuerst denken konnte: Was tut er hier draußen mit einer Wurst?

Sie konnte so etwas sagen. Es kam ganz echt heraus, klang nicht wie ein Witz. Sie betonte immer, dass sie schmutziges Gerede nicht mochte. Es konnte passieren, dass sie hinausging und die alten Männer, die vor dem Haus saßen, anschrie.  

»Wenn ihr bleiben wollt, wo ihr seid, solltet ihr lieber eure Mäuler sauber halten!«

Also, an einem Samstag. Aus irgendeinem Grund geht Flo nicht in die Stadt, sie hat beschlossen, daheimzubleiben und den Küchenfußboden zu scheuern. Vielleicht ist sie deswegen schlechtgelaunt. Vielleicht ist sie sowieso schlecht aufgelegt wegen säumiger Kunden oder der aufgekratzten Frühlingsstimmung. Die Streiterei mit Rose hat schon angefangen, dauert schon eine Ewigkeit wie ein Traum, der wieder und wieder in anderen Träumen auftaucht, der über Berge und durch Tore führt, quälend unscharf und dicht bevölkert und vertraut und zerfließend. Vor dem Putzen schleppen sie alle Stühle aus der Küche, sie müssen auch ein paar Vorräte für den Laden wegräumen, ein paar Kartons mit Konserven, Dosen mit Ahornsirup, Petroleumkannen, Essigkrüge. Sie bringen das alles hinaus zum Holzschuppen. Brian, der zu dieser Zeit fünf oder sechs ist, hilft ihnen beim Dosen schleppen.

»Ja«, sagt Flo und fährt an unserem Ausgangspunkt fort, den wir etwas aus den Augen verloren haben. »Ja, und diese schmutzigen Sachen, die du Brian beigebracht hast.«

»Was für schmutzige Sachen?«

»Und er weiß es ja nicht besser.«

Von der Küche zum Holzschuppen geht es eine Stufe hinunter, ein Stück Teppich liegt darauf, so abgetreten, dass Rose sich nicht erinnern kann, das Muster je gesehen zu haben. Brian verschiebt ihn beim Büchsenschleppen.

»Zwei Vancouvers«, sagt sie leise.

Flo ist wieder in der Küche. Brian schaut von Flo zu Rose, und Rose sagt wieder mit ein bisschen lauterer Stimme, in einem aufmunternden Singsang: »Zwei Vancouvers …«

»In Rotz gesotten«, ergänzt Brian, der sich nicht mehr beherrschen kann.

»Zwei saure Arschlöcher …«

»… geschlungen zu Knoten!«

Das also. Die schmutzigen Sachen.

Zwei Vancouvers in Rotz gesotten,

Zwei saure Arschlöcher geschlungen zu Knoten!

Rose kannte das schon jahrelang, sie lernte es an ihrem ersten Schultag. Sie kam nach Hause und fragte Flo, was ist ein Vancouver?

»Eine Stadt. Weit weg von hier.«

»Was noch außer einer Stadt?«

Flo fragte, was sie damit meine – was noch? Wie konnte man sie kochen, sagte Rose, die sich dem gefährlichen Augenblick, dem köstlichen Augenblick näherte, in dem sie das Ganze vortrug.

»Zwei Vancouvers in Rotz gesotten / Zwei saure Arschlöcher geschlungen zu Knoten!«

»Du fängst gleich eine!«, rief Flo erwartungsgemäß wütend. »Sag das noch einmal, und du kriegst eine gescheuert!«

Rose konnte sich nicht bremsen. Sie summte leise, versuchte, die harmlosen Wörter laut zu sagen, summte über die anderen weg. Es waren nicht so sehr die Wörter Rotz und Arschloch, die ihr Spaß machten, obwohl sie natürlich schon komisch waren. Es war das Sauer-Einlegen und das Verschlingen und diese unvorstellbaren Vancouvers. Sie sah sie vor sich, sie sahen aus wie Tintenfische, die in der Pfanne zucken. Das Taumeln der Vernunft; ein Funke Wahnsinn.

Es ist ihr erst kürzlich wieder eingefallen, und sie hat es Brian beigebracht, um zu sehen, ob es die gleiche Wirkung auf ihn hat, und das ist natürlich der Fall.

»Oh, ich hab dich gehört!«, sagte Flo. »Ich hab das gehört! Und ich warne dich!«

So ist sie. Brian begreift die Warnung. Er rennt weg, hinaus aus dem Schuppen, um zu tun, was ihm Spaß macht. Er ist ja ein Junge, dem es freisteht zu helfen oder nicht, dabei zu sein oder nicht. Nicht in den Kampf um den Haushalt verwickelt. Sie brauchen ihn ohnehin nicht, außer um ihn gegeneinander einzusetzen, sie merken kaum, dass er geht. Sie machen weiter, müssen weitermachen, können einander nicht in Ruhe lassen. Wenn es so scheint, als hätten sie aufgegeben, warten sie in Wirklichkeit nur ab und laden sich neu auf.

Flo holt den Putzeimer und die Bürste und den Lappen und die Matte für ihre Knie, eine schmutzige rote Gummimatte. Sie fängt an, den Fußboden zu bearbeiten. Rose sitzt auf dem Küchentisch, dem einzigen Platz, auf dem man noch sitzen kann, und lässt die Beine baumeln. Sie fühlt das kühle Wachstuch, weil sie Shorts trägt, die engen verwaschenen Shorts vom letzten Sommer, die sie aus dem Sack mit den Sommersachen ausgegraben hat. Sie riechen ein bisschen muffig, weil sie den Winter über weggepackt waren. Flo kriecht unter den Tisch, schrubbt mit der Bürste, wischt mit dem Lappen. Ihre Beine sind lang, weiß und muskulös, mit blauen Venen überzogen, als ob jemand mit Tinte Flüsse darauf gezeichnet hätte. Eine ungewöhnliche Energie, ein heftiger Widerwille drückt sich im gleichmäßigen Scheuern der Bürste auf dem Linoleum, dem wischenden Geräusch des Lappens aus.

Was haben sie einander zu sagen? Es ist eigentlich ganz unwichtig. Flo redet von Roses vorlauter und frecher Art, ihrer Schlampigkeit und Hochnäsigkeit. Ihrer Neigung, anderen Arbeit zu machen, ihrer mangelnden Dankbarkeit. Sie erwähnt Brians Unschuld, Roses Verkommenheit. Oh, denk nur nicht, dass du jemand bist, sagt Flo, und einen Augenblick später: Was denkst du denn, wer du bist? Rose widerspricht und argumentiert mit einer ausgesprochen giftigen Sachlichkeit und Sanftmut, sie spielt theatralische Uninteressiertheit. Flo verliert die Fassung und wird ihrerseits verblüffend theatralisch, sie sagt, sie opfere ihr Leben für Rose. Sie habe ihren Vater mit einem kleinen Mädchen dasitzen sehen und gedacht, was wird der Mann nun machen? Also habe sie ihn geheiratet, und nun sei sie hier, hier auf den Knien.

In diesem Augenblick läutet die Glocke und kündigt einen Kunden im Laden an. Da der Streit noch im Gange ist, darf Rose nicht in den Laden gehen und den Kunden bedienen. Flo steht auf und zieht die Schürze aus, sie stöhnt – aber nicht versöhnlich, es ist ein Stöhnen, dessen Verzweiflung Rose nicht teilen darf – und geht hinaus und bedient. Rose hört, dass sie mit normaler Stimme spricht.

»Ist wohl auch Zeit! Sicher doch!«

Sie kommt zurück, bindet sich die Schürze wieder um und ist bereit, weiterzumachen.

»Du denkst nie an jemand anderen, nur an dich! Du denkst nie daran, was ich tue.«

»Ich hab dich auch nie gebeten, irgendwas zu tun. Hättest du nur nie was getan. Ich wäre sehr viel besser dran.«

Rose sagt es und grinst Flo an, die sich noch nicht wieder auf den Küchenboden gekniet hat. Flo sieht das Lächeln, packt den Putzlappen, der am Eimerrand hängt, und wirft damit nach Rose. Vielleicht wollte sie ihr Gesicht treffen, aber er landet auf Roses Bein, und sie hebt den Fuß, nimmt ihn und schlägt ihn lässig gegen den Knöchel.

»Also gut«, sagt Flo. »Jetzt reicht es.«

Rose sieht ihr nach, wie sie zur Tür des Holzschuppens geht, hört sie durch den Schuppen stampfen, im Durchgang anhalten, wo das Fliegengitter noch nicht eingehängt ist und die Windfangtür offen steht, die mit einem Stück Ziegel festgeklemmt ist. Sie ruft Roses Vater. Sie ruft ihn mit einer warnenden, auffordernden Stimme, als müsste sie ihn gegen ihren Willen auf eine schlechte Nachricht vorbereiten. Er wird schon wissen, was los ist.

Der Linoleumfußboden in der Küche hat fünf oder sechs verschiedene Muster. Es sind Reste, die Flo umsonst bekommen und erfinderisch zurechtgeschnitten und zusammengefügt und mit Blechstreifen und Reißzwecken am Rand befestigt hat. Während Rose wartend auf dem Tisch sitzt, schaut sie auf den Boden, auf diese hübsche Anordnung von Rechtecken, Dreiecken und irgendeiner anderen Form, an deren Namen sie sich zu erinnern versucht. Sie hört, wie Flo aus dem Holzschuppen zurückkommt, wie sie über das knarrende Brett geht, das über dem schmutzigen Boden liegt. Sie geht langsam und wartet auch. Sie und Rose können so nicht weitermachen.

Rose hört ihren Vater hereinkommen. Sie erstarrt, ein Zucken läuft durch ihre Beine, sie fühlt, wie sie auf dem Wachstuch zittern. Ihr Vater, der von einer friedlichen, befriedigenden Aufgabe weggerufen wurde, weg von den Worten, die ihm durch den Kopf gehen, weg von sich selbst, ihr Vater muss jetzt etwas sagen. Er sagt: »Also. Was ist los?«

Flo spricht mit veränderter Stimme. Stark, verletzt, entschuldigend, scheint sie hier und jetzt entstanden zu sein. Es tue ihr leid, ihn von seiner Arbeit weggerufen zu haben. Nie hätte sie das getan, wenn Rose sie nicht in den Wahnsinn getrieben hätte. Wieso in den Wahnsinn? Mit ihren Widerworten und ihrer Unverschämtheit und ihrem schrecklichen Mundwerk. Was Rose zu Flo gesagt habe, sei derart, dass ihr eigener Vater, hätte sie, Flo, das je zu ihrer Mutter gesagt, sie nach Strich und Faden verprügelt hätte.

Rose versucht sich einzumischen, zu sagen, das ist nicht wahr.

Was ist nicht wahr?

Ihr Vater hebt die Hand, schaut sie nicht an, sagt: »Sei still!«

Wenn Rose sagt, es ist nicht wahr, meint sie, nicht sie habe hier angefangen, sie habe nur geantwortet, sie sei von Flo gereizt worden, die jetzt, wie sie glaube, die gröbsten Lügen erzähle und alles so verdrehe, wie es ihr passe. Rose schiebt ihr Wissen darüber beiseite, dass alles, was Flo gesagt oder getan hat, alles, was sie selbst gesagt oder getan hat, tatsächlich überhaupt nichts bedeutet. Es geht um den Streit selbst, und der kann nicht aufhören, kann niemals aufhören, außer, wenn es so weit gekommen ist wie jetzt.

Flos Knie sind schmutzig trotz der Matte. Der Putzlappen hängt noch immer über Roses Fuß.

Ihr Vater wischt sich die Hände ab, während er Flo zuhört. Er lässt sich Zeit. Er begreift nur langsam, kommt mühsam vorwärts, ist vielleicht drauf und dran, die Rolle zurückzuweisen, die er zu spielen hat. Er mag Rose nicht ansehen, aber bei jedem Geräusch oder jeder Bewegung von ihr hebt er die Hand.

»Hierbei brauchen wir keine Zuschauer, das ist mal sicher«, sagt Flo, und sie geht hinaus, um die Ladentür zu schließen, und hängt ins Schaufenster das Schild, auf dem steht: »Bin gleich zurück«, ein Schild, das Rose mit viel Phantasie für sie gemalt hat, mit schön geschwungenen Buchstaben in Schwarz und Rot. Beim Zurückkommen macht sie die Tür zum Laden zu, dann die Tür zur Treppe, dann die Tür zum Holzschuppen.

Ihre Schuhe haben Spuren auf dem sauberen, noch nassen Teil des Fußbodens hinterlassen.

»Ach, ich weiß nicht«, sagt sie jetzt mit einer nach dem Gefühlsausbruch zerbrechlich klingenden Stimme. »Ich weiß nicht, was man mit ihr anfangen soll.« Sie schaut an sich herab und mustert ihre schmutzigen Knie (sie folgt Roses Augen) und reibt sie heftig mit den bloßen Händen, so dass sie den Schmutz noch mehr verschmiert.

»Sie demütigt mich«, sagt sie und richtet sich auf. Nun hat sie sie, die Erklärung. »Sie demütigt mich«, wiederholt sie mit Genugtuung. »Sie hat keinen Respekt.«

»Das stimmt nicht!«

»Sei still, du!«, sagt ihr Vater.

»Wenn ich nicht deinen Vater gerufen hätte, würdest du immer noch dasitzen, mit diesem Feixen im Gesicht! Wie soll man anders mit dir fertig werden?«

Rose spürt bei ihrem Vater eine Abneigung gegen Flos Redeschwall, ein bisschen Verlegenheit und Zögern. Sie irrt sich, und sie müsste wissen, dass sie sich irrt, wenn sie glaubt, dass sie sich darauf verlassen kann. Die Tatsache, dass sie Bescheid weiß, und dass er weiß, dass sie es weiß, wird die Dinge keinesfalls besser machen. Langsam wird er warm. Er wirft ihr einen Blick zu. Es ist zunächst ein kalter und herausfordernder Blick, der sie von seinem Urteil unterrichtet, von der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage. Dann wird sein Blick klar. Er füllt sich mit etwas anderem, wie eine Quelle sich auffüllt, wenn man das Laub herausfischt. Er füllt sich mit Hass und Genugtuung. Rose sieht das und weiß es. Ist das nur eine Veräußerlichung des Ärgers, soll sie sehen, wie seine Augen sich mit Ärger füllen? Nein. Hass ist richtig. Genugtuung ist richtig. Sein Gesicht entspannt sich und verändert sich und wirkt jünger, und jetzt hebt er die Hand, um Flo zum Schweigen zu bringen.

»Na gut«, sagt er und meint, es ist genug, mehr als genug, dieser Teil ist zu Ende, es kann weitergehen. Er fängt an, seinen Gürtel zu lockern.

Flo hat sowieso aufgehört. Es fällt ihr genauso schwer wie Rose, zu glauben, dass das, wovon man weiß, es muss geschehen, nun tatsächlich geschehen wird, dass ein Augenblick kommt, wo man nicht mehr zurück kann.

»Also, ich weiß nicht, sei nicht zu streng mit ihr.« Sie geht nervös umher, als denke sie darüber nach, einen Ausweg zu suchen. »Du sollst nicht den Gürtel nehmen. Musst du denn den Gürtel nehmen?«

Er antwortet nicht. Der Gürtel wird abgenommen, nicht übereilt. Er wird an der richtigen Stelle gepackt. Jetzt wirst du sehen. Er geht zu Rose hinüber. Er stößt sie vom Tisch. Sein Gesicht, seine Stimme sind ganz fremd geworden. Er gleicht einem schlechten Schauspieler, der seine Rolle ins Groteske überhöht. Als ob er gerade das genießen und betonen müsste, was beschämend und schrecklich ist. Das heißt nicht, dass er nur vorgibt zu spielen, ohne es eigentlich zu meinen. Er spielt, aber er meint es auch ernst. Rose weiß das, sie weiß alles über ihn.

Sie hat seitdem über Mord nachgedacht und über Mörder. Muss die Sache nun wegen der Wirkung ausgeführt werden, wegen der einen Zuschauerin – die nicht in der Lage sein würde, die Lehre weiterzugeben, nur sie zu registrieren –, um zu beweisen, dass so etwas geschehen kann, dass es nichts gibt, was nicht geschehen kann, dass auch die entsetzlichste Posse gerechtfertigt ist und Gefühle möglich sind, die ihr entsprechen?

Sie versucht wieder, auf den Küchenboden zu schauen, auf dieses durchdachte und beruhigend gleichmäßige Muster, statt zu ihm oder dem Gürtel zu sehen. Wie kann das geschehen angesichts solcher Zeugnisse der Alltäglichkeit – das Linoleum, der Kalender mit der Mühle und dem Bach und den Herbstbäumen, die alten vertrauten Töpfe und Pfannen?

Streck deine Hand aus!

Diese Gegenstände werden ihr nicht helfen, nichts kann sie retten. Sie werden tot und nutzlos, sogar feindlich. Töpfe können Bosheit zeigen, das Linoleummuster kann zu einem heraufgrinsen, Verrat ist die Kehrseite der Alltäglichkeit.

Beim ersten, vielleicht auch erst beim zweiten Durchdringen des Schmerzes weicht sie zurück. Sie will es nicht hinnehmen. Sie rennt in der Küche herum, versucht, die Türen zu erreichen. Ihr Vater versperrt ihr den Weg. Kein bisschen Mut oder Gleichmut ist in ihr, so möchte es scheinen. Sie läuft, sie schreit, sie fleht. Ihr Vater ist hinter ihr her, schlägt sie mit dem Gürtel, wenn er kann, dann lässt er ihn fallen und gebraucht seine Hände. Ein Schlag auf das Ohr, dann einer auf das andere Ohr. Links und rechts, ihr Kopf dröhnt. Ein Schlag ins Gesicht. Gegen die Wand gedrängt, und noch ein Schlag ins Gesicht. Er schüttelt sie und stößt sie gegen die Wand, er tritt ihr gegen die Beine. Sie ist außer sich, wahnsinnig, sie kreischt. Verzeih mir! Oh, bitte, verzeih mir!

Flo schreit auch. Halt! Halt!

Noch nicht. Er wirft Rose zu Boden. Oder vielleicht lässt sie sich auch fallen. Er tritt ihr wieder gegen die Beine. Sie weiß keine Worte mehr, aber sie stößt Laute aus, auf die hin Flo unweigerlich schreit: Wenn jemand sie hört! Ein verzweifelter Ausdruck von Erniedrigung und Niederlage, denn es scheint, dass Rose ihre Rolle mit der gleichen Grobheit, der gleichen Übertreibung spielen muss, die ihr Vater in seiner Rolle zeigt. Sie spielt das Opfer mit einem Selbstmitleid, das seine endgültige, angeekelte Verachtung hervorruft, ja vielleicht hervorrufen soll.

Sie tun, so scheint es, alles, was nötig ist. Sie gehen bis zum Äußersten.

Nicht ganz. Er hat es nie fertiggebracht, sie wirklich zu verletzen, obwohl es Zeiten gibt, in denen sie betet, er möge es tun. Er schlägt sie mit der flachen Hand, und auch in seinen Fußtritten liegt eine gewisse Zurückhaltung.

Jetzt hört er auf, er ist außer Atem. Flo wird wieder einbezogen, er reißt Rose hoch und versetzt ihr einen Stoß in Flos Richtung und gibt einen angewiderten Laut von sich. Flo packt sie, öffnet die Tür zur Treppe, drängt sie die Stufen hinauf.

»Geh jetzt rauf in dein Zimmer! Schnell!«

Rose geht die Treppe hinauf, sie taumelt, sie lässt sich taumeln, lässt sich gegen die Stufen fallen. Sie schlägt ihre Tür nicht zu, weil ein solches Verhalten ihn noch einmal auf sie hetzen könnte, und sie ist schon so schwach. Sie liegt auf dem Bett. Sie kann durch das Loch fürs Ofenrohr hören, wie Flo die Nase hochzieht und ihrem Vater Vorhaltungen macht, wie ihr Vater ärgerlich sagt, dann hätte Flo eben ruhig sein müssen; wenn sie nicht wollte, dass Rose bestraft würde, hätte sie es nicht vorschlagen sollen. Flo sagt, sie habe nie eine solche Prügelei im Sinn gehabt.

Sie streiten darüber hin und her. Flos Stimme wird kräftiger, sie gewinnt ihr Vertrauen zurück. Stufenweise finden sie im Verlauf des Streits wieder zu sich selbst. Bald spricht nur noch Flo; er will überhaupt nichts mehr sagen. Rose muss ihr lautes Schluchzen unterdrücken, um ihnen zuhören zu können, und als sie das Interesse am Zuhören verloren hat und weiterschluchzen will, merkt sie, dass sie es nicht mehr kann. Sie hat einen Zustand der Ruhe erreicht, in dem Gewalttätigkeit als vollständig und endgültig erscheint. In diesem Zustand bekommen Ereignisse und Möglichkeiten eine wunderbare Einfachheit. Entschlüsse sind von einer angenehmen Klarheit. Die Worte, die ihr in den Sinn kommen, sind nicht spitzfindig, selten einschränkend. »Nie« ist ein Wort, das auf einmal zu seinem Recht kommt. Sie wird nie mehr mit ihnen sprechen, sie wird sie nie mehr ohne Ekel ansehen, sie wird ihnen nie verzeihen. Sie wird sie bestrafen; sie wird sie fertigmachen. Eingeschlossen in dieser Endgültigkeit und ihren körperlichen Schmerzen, lässt sie sich in einem seltsamen Behagen treiben, außerhalb ihrer selbst, außerhalb der Verantwortlichkeit.

Wenn sie nun sterben würde? Wenn sie Selbstmord beginge? Wenn sie wegliefe? Jede dieser Handlungen wäre angemessen. Sie muss sich nur entscheiden, wie es zu machen ist. Sie treibt in ihrem klaren Überlegenheitsbewusstsein wie in einem angenehmen Rausch.

Und so wie ein Augenblick kommt, wenn man berauscht ist, in dem man sich völlig heil, sicher, unerreichbar fühlt, und wie dann ohne Warnung und unmittelbar darauf ein Augenblick kommt, in dem man weiß, dass der ganze Schutz unrettbar verflogen ist, auch wenn es noch so aussieht, als sei er noch da, gibt es da einen Augenblick – und es ist der Augenblick, in dem Rose Flos Schritte auf der Treppe hört –, der für sie ebenso Frieden und Freiheit birgt wie auch das sichere Wissen, dass sich der Lauf der Dinge von nun an wie eine Spirale nach unten richten wird.

Flo kommt ins Zimmer, ohne anzuklopfen, aber mit einem Zögern, das zeigt, dass sie es fast getan hätte. Sie bringt ein Döschen Kühlsalbe. Rose nimmt ihren Vorteil wahr, solange sie kann, liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett, weigert sich zu reagieren oder zu antworten.

»Ach, nun komm«, sagt Flo unsicher. »So schlimm ist es doch nicht, oder? Jetzt tu ein bisschen davon drauf, dann wird es dir bessergehen.«

Sie blufft. Sie weiß nicht genau, was für ein Schaden angerichtet wurde. Sie nimmt den Deckel von der Salbe. Rose kann sie riechen. Es ist der vertraute, kindliche, erniedrigende Geruch. Sie will ihn nicht in ihrer Nähe haben. Aber um ihr aus dem Weg zu gehen, dieser großen Portion, bereit in Flos Hand, muss sie sich bewegen. Sie kämpft, widersteht, verliert an Haltung und lässt Flo erkennen, dass wirklich nicht viel passiert ist.

»Na gut«, sagt Flo. »Du hast gewonnen. Ich lasse das hier, und du kannst es drauftun, wann du willst.«

Später dann wird ein Tablett kommen. Flo wird es wortlos abstellen und wieder gehen. Ein großes Glas Schokoladenmilch mit Malzsirup aus dem Laden. Unten im Glas noch ein paar dicke Streifen Malz. Kleine belegte Brote, hübsch und verlockend. Dosenlachs der besten Qualität und vom dunkelsten Rot, viel Mayonnaise. Ein paar Butterkekse aus der Packung, Schokoladenbiskuits mit Pfefferminzfüllung. Roses Favoriten bei belegten Broten, Keks und Kuchen. Sie wird sich abwenden, sich weigern, hinzusehen, aber nachdem man sie mit diesen Leckereien allein gelassen hat, wird sie in elender Verlockung und Beunruhigung, durch den Duft des Lachses, die Vorahnung von knackiger Schokolade, von ihren Gedanken an Selbstmord oder Flucht abkommen; dann wird sie einen Finger ausstrecken, um damit um ein Sandwich zu fahren (die Kruste ist abgeschnitten!), das Heruntergelaufene abzuwischen, mal zu probieren. Dann wird sie sich entschließen, eines davon zu essen, um sich für den Verzicht auf den Rest zu stärken. Eines wird nicht auffallen. Und bald wird sie in ihrer heillosen Verderbtheit alle aufessen. Sie wird die Schokoladenmilch trinken, die Kekse, den Kuchen essen. Mit den Fingern wird sie den Malzsirup unten aus dem Glas kratzen, obwohl sie vor Beschämung schluchzen wird. Zu spät.

Flo wird heraufkommen und das Tablett holen. Sie wird sagen: »Ich sehe, der Appetit ist dir nicht vergangen« oder: »Mochtest du die Schokoladenmilch, war genug Sirup drin?«, je nachdem, wie sehr sie sich selbst gestraft fühlt. Auf alle Fälle wird jeglicher Vorteil verspielt sein. Rose wird dann begreifen, dass der Alltag sie wieder eingeholt hat, dass sie alle beim Essen um den Tisch herum sitzen und die Nachrichten im Radio hören werden. Das kann morgen früh sein, vielleicht auch schon heute Abend. So unpassend und unwahrscheinlich es auch sein mag. Sie werden verlegen sein, aber doch weniger, als man erwarten könnte, wenn man bedenkt, wie sie sich benommen haben. Sie werden sich sonderbar schlaff fühlen, träge wie Genesende, fast zufrieden.

Nach einer solchen Szene waren sie eines Abends alle in der Küche. Es muss Sommer gewesen sein oder wenigstens warmes Wetter, denn ihr Vater redete über die alten Männer, die auf der Bank vor dem Laden saßen.

»Wisst ihr, worüber sie jetzt reden?«, fragte er und deutete mit dem Kopf zum Laden, um zu zeigen, wen er meinte, obwohl sie jetzt natürlich nicht dort waren; sie gingen heim, wenn es dunkel wurde.

»Diese alten Trottel«, sagte Flo. »Worüber?«

Zwischen den beiden war eine Herzlichkeit, die nicht gerade falsch war, aber doch etwas betonter als sonst, wenn sie allein waren.

Da erzählte ihnen Roses Vater, die Männer hätten irgendwo die Idee aufgeschnappt, dass das, was wie ein Stern am westlichen Himmel aussah, der erste Stern, der nach Sonnenuntergang aufging, der Abendstern, in Wirklichkeit ein Luftschiff sei, das über Bay City in Michigan auf der anderen Seite des Huronsees schwebe. Eine amerikanische Erfindung, die man hatte aufsteigen lassen, um mit den Himmelskörpern zu konkurrieren. Sie glaubten, das Ding werde von zehntausend elektrischen Birnen beleuchtet. Ihr Vater hatte ihnen rücksichtslos widersprochen und ihnen erklärt, was sie sähen, sei der Planet Venus, der schon lange vor der Erfindung der elektrischen Glühbirne am Himmel erschienen sei. Sie hatten noch nie vom Planeten Venus gehört.

»Dummköpfe«, sagte Flo. Worauf Rose wusste – und wusste, dass auch ihr Vater es wusste –, dass auch Flo noch nie vom Planeten Venus gehört hatte. Um sie von der Sache abzulenken oder gar um sich dafür zu entschuldigen, stellte Flo ihre Teetasse ab, streckte sich aus, wobei sie den Kopf auf den Stuhl legte, auf dem sie gesessen hatte, und die Füße auf einen anderen (irgendwie brachte sie es fertig, währenddessen sittsam ihr Kleid zurechtzurücken), und lag steif wie ein Brett da, so dass Brian vor Entzücken aufschrie: »Mach es! Mach es!«

Flo hatte Gummigelenke und war sehr stark. In feierlichen oder gefährlichen Augenblicken konnte sie Kunststücke vollbringen.

Sie blieben reglos, während sie sich herumdrehte, ohne die Arme zu gebrauchen, nur mit ihren kräftigen Beinen und Füßen. Dann schrien sie triumphierend auf, obwohl sie das früher schon gesehen hatten.