Tricks - Alice Munro - E-Book

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Alice Munro

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Beschreibung

Nobelpreis für Literatur 2013 Tricks, acht meisterliche Erzählungen von Alice Munro: Geschichten über Ausreißer, Entscheidungen, Leidenschaften und Verfehlungen. Wieder beweist Alice Munro besonderes Gespür für das Geheimnis ihrer Figuren, jenen rätselhaften Bereich, wo Selbstbetrug auf Hoffnungen, gefährliche Illusionen auf die kleinen Tricksereien des Alltags treffen. Der Leser kommt in ihren Geschichten seinem eigenen Leben so nah, dass er schwindlig wird vor Herzleid und Glück.

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Alice Munro

Tricks

Acht Erzählungen

Aus dem Englischen von Heidi Zerning

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]AusreißerEntscheidungBaldSchweigenLeidenschaftVerfehlungenTricksIIIKräfteGönne Dante eine PauseDas Mädchen in der MatrosenbluseEin Loch im KopfEin Quadrat, ein Kreis, ein SternFliegen auf dem Fensterbrett

Zur Erinnerung an meine Freundinnen

Mary Carey

Jean Livermore

Melda Buchanan

Ausreißer

Carla hörte das Auto kommen, bevor es die Kuppe der kleinen Anhöhe erreichte, die hier in der Gegend als Berg galt. Das ist sie, dachte sie. Mrs. Jamieson – Sylvia – zurück von ihrem Urlaub in Griechenland. Hinter der Stalltür hervor – weit genug drinnen, sodass sie nicht ohne weiteres zu sehen war – beobachtete sie die Straße, auf der Mrs. Jamieson vorbeifahren musste, denn ihr Grundstück lag an derselben Straße wie das von Clark und Carla, eine halbe Meile weiter.

Wenn es jemand war, der in ihre Einfahrt einbiegen wollte, dann müsste er jetzt die Fahrt verlangsamen. Trotzdem hoffte Carla immer noch. Gib, dass sie es nicht ist.

Aber sie war es. Mrs. Jamieson wandte einmal den Kopf um, nur kurz, denn sie hatte genug damit zu tun, das Auto zwischen den Schlaglöchern und Pfützen, die der Regen im Schotter hinterlassen hatte, hindurchzusteuern, aber sie nahm nicht die Hand vom Lenkrad, um zu winken, sie entdeckte Carla nicht. Carla erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen braungebrannten, bis zur Schulter entblößten Arm, sonnengebleichte Haare, jetzt eher weiß als silberblond, und ein Gesicht, auf dem sich Entschlossenheit, Ärger und Belustigung über die eigene Verärgerung spiegelten – genau die Miene, mit der Mrs. Jamieson eine solche Straße in Angriff nehmen würde. Als sie den Kopf umwandte, blitzte kurz etwas auf – nachfragend, hoffnungsvoll –, vor dem Carla zurückschreckte.

So.

Vielleicht wusste Clark es noch nicht. Wenn er am Computer saß, kehrte er dem Fenster und der Straße den Rücken zu.

Aber vielleicht machte Mrs. Jamieson sich noch einmal auf den Weg. Vielleicht hatte sie auf der Fahrt vom Flughafen nicht angehalten, um Lebensmittel einzukaufen, und merkte erst zu Hause, was sie brauchte. Dann konnte es sein, dass Clark sie sah. Und nach Einbruch der Dunkelheit würde in ihrem Haus Licht zu sehen sein. Aber jetzt im Juli wurde es erst spät dunkel. Vielleicht war sie so müde, dass sie gar nicht erst Licht anmachte und sich früh schlafen legte.

Andererseits konnte sie anrufen. Jeden Augenblick.

*

Dieser Sommer brachte nichts als Regen und noch mehr Regen. Morgens beim Aufwachen ließ sich als Erstes der Regen vernehmen, laut auf dem Dach des mobilen Eigenheims. Die Reitwege waren tief verschlammt, das Gras triefnass, und das Laub der Bäume schickte auch in jenen Momenten Schauer herunter, in denen es einmal nicht in Strömen goss und die Wolken sich zu verziehen schienen. Wenn Carla hinausging, setzte sie jedes Mal einen hohen alten australischen Filzhut mit breiter Krempe auf und stopfte ihren langen, schweren Zopf ins Hemd.

Niemand meldete sich für geführte Ausritte, obwohl Clark und Carla überall herumgefahren waren und Reklamezettel angebracht hatten, auf sämtlichen Campingplätzen, in den Cafés, auf der Anschlagtafel im Fremdenverkehrsbüro und an allen sonstigen Orten, die ihnen eingefallen waren. Nur wenige kamen für Reitstunden, und das waren Stammkunden, nicht die Horden von Schulkindern in den großen Ferien, die Busladungen aus den Ferienlagern, die sie im vorigen Sommer über die Runden gebracht hatten. Und sogar die Stammkunden, mit denen sie fest rechneten, fielen aus, weil sie in Urlaub gefahren waren, oder sie sagten einfach ihre Stunden ab, weil das Wetter so abschreckend war. Wenn sie zu spät anriefen, berechnete Clark ihnen die Stunde trotzdem. Zwei von ihnen hatten sich beschwert und ganz aufgehört.

Es kam immer noch ein wenig Geld durch die drei Pferde herein, die bei ihnen in Pension waren. Diese drei und ihre vier eigenen befanden sich jetzt draußen auf der Weide und grasten unter den Bäumen. Sie schienen überhaupt keine Notiz davon zu nehmen, dass der Regen gerade eine Pause einlegte, wie er es oft am Nachmittag für eine Weile tat. Gerade lange genug, um Hoffnungen zu wecken – die Wolken wurden weißer und dünner und ließen eine diffuse Helligkeit durch, die sich nie in richtigen Sonnenschein verwandelte und meistens schon vor dem Abendbrot wieder verschwunden war.

Carla war mit dem Ausmisten des Pferdestalls fertig. Sie hatte es in aller Ruhe getan – sie mochte den Rhythmus ihrer täglichen Pflichten, den lichten Raum bis zum hohen Dach des Stalls, die Gerüche. Jetzt ging sie hinüber zur Reitbahn, um nachzuschauen, wie trocken der Boden war, für den Fall, dass der Fünf-Uhr-Schüler tatsächlich erschien.

Die meisten der ständigen Regenschauer waren weder besonders heftig gewesen noch von starkem Wind begleitet worden, aber in der vergangenen Woche hatte sich plötzlich alles geregt, und dann war ein Sturmwind durch die Wipfel gefegt, gefolgt von einem nahezu waagerecht peitschenden Wolkenbruch. Das Unwetter hatte nur eine Viertelstunde gedauert. Aber Äste lagen auf der Straße, Stromleitungen waren gerissen, und ein großes Stück des Plastikdachs über der Reitbahn hatte sich gelöst. Am Ende der Reitbahn hatte sich eine Pfütze, tief wie ein Teich, gebildet, und Clark hatte bis nach Einbruch der Dunkelheit eine Rinne gegraben, damit sie abfloss.

Das Dach war noch nicht repariert. Clark hatte Zaundraht gespannt, damit die Pferde nicht in den Schlamm gerieten, und Carla hatte eine kürzere Bahn abgesteckt.

Clark fahndete gerade im Internet nach einer Gelegenheit, billig an Dachmaterial heranzukommen. Ein Ausverkauf zu für sie erschwinglichen Preisen oder jemand, der so etwas privat abzugeben hatte. Er weigerte sich, zu Hy und Robert Buckleys Baumarkt in der Stadt zu gehen, den er Räuber Buckleys Saumarkt nannte, weil er ihnen zu viel Geld schuldete und mit ihnen im Streit lag.

Clark stritt sich nicht nur mit den Leuten, denen er Geld schuldete. Seine Freundlichkeit, die anfangs so unwiderstehlich war, konnte plötzlich ins Gegenteil umschlagen. Es gab Orte, die er wegen eines Krachs nicht mehr betrat und zu denen er immer Carla hinschickte. Der Drugstore war ein solcher Ort. Eine alte Frau hatte sich vorgedrängelt – das heißt, sie hatte noch etwas geholt, was sie vergessen hatte, war zurückgekommen und hatte sich vor ihn gestellt statt ans Ende der Schlange, und er hatte sich beschwert, und die Kassiererin hatte zu ihm gesagt: »Sie hat ein Lungenemphysem«, und Clark hatte geantwortet: »Ach ja? Und ich habe Hämorrhoiden«, und der Geschäftsführer war geholt worden und fand seine Reaktion fehl am Platz. Und in der Raststätte an der Fernstraße war der angekündigte Frühstücksbonus nicht gewährt worden, weil es nach elf Uhr vormittags war, und Clark hatte protestiert und dann seinen Becher Kaffee zum Mitnehmen auf den Boden fallen lassen – und nur knapp, so behauptete das Personal, ein Kind in seiner Karre verfehlt. Er sagte, das Kind sei eine halbe Meile weit weg gewesen und er habe den Becher fallen lassen, weil er keinen Untersatz mit Henkel bekommen habe. Das Personal sagte, er habe keinen Untersatz verlangt. Er sagte, den brauche er nicht ausdrücklich zu verlangen.

»Du gehst immer gleich in die Luft«, sagte Carla.

»So sind Männer eben.«

Sie hatte nichts zu seinem Streit mit Joy Tucker gesagt. Joy Tucker war die Bibliothekarin aus der Stadt, die ihr Pferd bei ihnen in Pension gegeben hatte. Das Pferd war eine hitzige kleine braune Stute namens Lizzie – Lizzie Borden sagte Joy Tucker zu ihr, wenn sie zu Scherzen aufgelegt war. Gestern war Joy herausgekommen, gar nicht zu Scherzen aufgelegt, und hatte sich darüber beschwert, dass das Dach immer noch nicht repariert war und dass Lizzie elend aussah, als hätte sie sich eine Erkältung geholt.

Dabei fehlte Lizzie überhaupt nichts. Clark hatte sich – für seine Verhältnisse – bemüht, Joy zu beschwichtigen. Aber diesmal war Joy Tucker in die Luft gegangen und hatte gesagt, dass Clarks Hof eine Klitsche war und dass Lizzie etwas Besseres verdiente, und Clark hatte erwidert: »Machen Sie doch, was Sie wollen!« Joy hatte Lizzie nicht – oder noch nicht – weggeholt, wie Carla es erwartet hatte. Aber Clark, der vorher die kleine Stute zu seinem Liebling erklärt hatte, wollte nun nichts mehr von ihr wissen. Das verletzte Lizzie, und als Folge davon war sie widerborstig, wenn sie bewegt wurde, und stellte sich an, wenn ihre Hufe ausgekratzt wurden, was jeden Tag notwendig war, damit sich keine Pilzkrankheiten bildeten. Carla musste aufpassen, nicht von ihr gezwickt zu werden.

Aber für Carla war das Schlimmste, dass Flora fort war, die kleine weiße Ziege, die den Pferden im Stall und auf der Weide Gesellschaft geleistet hatte. Seit zwei Tagen war sie spurlos verschwunden. Carla befürchtete, dass verwilderte Hunde oder Kojoten oder vielleicht sogar ein Bär sie erwischt hatten.

Sie hatte letzte Nacht und in der Nacht davor von Flora geträumt. Im ersten Traum war Flora mit einem roten Apfel im Maul an ihr Bett gekommen, aber im zweiten Traum – gestern Nacht – war sie fortgelaufen, als sie Carla kommen sah. Ihr eines Bein schien verletzt zu sein, aber sie rannte fort. Sie führte Carla zu einem Stacheldrahtverhau, wie er auf Schlachtfeldern vorkam, und dann schlüpfte sie – Flora – hindurch, trotz des verletzten Beins, glitt einfach hindurch wie ein weißer Aal und verschwand.

Die Pferde hatten Carla über die Reitbahn gehen sehen und waren alle an den Zaun gekommen – trotz ihrer wasserdichten warmen Decken sahen sie durchnässt aus –, damit sie sich auf dem Rückweg mit ihnen beschäftigte. Sie redete leise mit ihnen und entschuldigte sich dafür, mit leeren Händen gekommen zu sein. Sie streichelte ihre Hälse und rieb ihre Nasen und fragte sie, ob sie etwas über Flora wussten.

Grace und Juniper schnaubten und stupsten, als würden sie den Namen erkennen und ihre Besorgnis teilen. Aber dann drängte sich Lizzie dazwischen und stieß Graces Kopf weg von Carlas tätschelnder Hand. Obendrein zwickte sie die Hand. Carla musste sich die Zeit nehmen, um mit ihr zu schimpfen.

*

Noch bis vor drei Jahren hatte Carla mobilen Eigenheimen keine Beachtung geschenkt. Sie nannte sie auch nicht so. Wie ihre Eltern hätte sie die Bezeichnung »mobiles Eigenheim« für hochtrabend gehalten. Manche Leute hausten eben in Wohnwagen, und fertig. Und ein Wohnwagen war wie der andere. Als Carla hier einzog, als sie sich für dieses Leben mit Clark entschied, fing sie an, die Dinge in neuem Licht zu sehen. Danach begann sie, »mobiles Eigenheim« zu sagen, und sah sich um, wie die Bewohner es jeweils ausgestattet hatten. Was für Gardinen sie sich hingehängt hatten, wie sie die Holzteile angestrichen hatten, welche ehrgeizigen Terrassen oder Veranden oder Anbauten sie hinzugefügt hatten. Sie konnte es kaum erwarten, solche Verbesserungen selbst vorzunehmen.

Clark war mit ihren Ideen einverstanden gewesen, anfangs. Er hatte neue Eingangsstufen gebaut und viel Zeit damit verbracht, sich nach einem schmiedeeisernen Geländer dafür umzutun. Er beschwerte sich mit keinem Wort darüber, dass Geld dafür ausgegeben wurde, Farbe für die Küche und das Badezimmer zu kaufen oder Stoff für Vorhänge. Ihre Malerarbeiten waren Murks – sie wusste zu der Zeit noch nicht, dass man die Türen von Küchenschränken zum Anstreichen aushängen muss. Oder dass es besser war, Vorhänge zu füttern, damit sie nicht so ausblichen wie ihre.

Doch dann hatte Clark sich energisch dagegen gesträubt, dass sie den Teppichboden herausriss, der einheitlich in allen Zimmern lag und an dessen Erneuerung ihr am meisten gelegen hatte. Er war in braune Quadrate aufgeteilt, jedes mit einem Muster aus Schnörkeln und Ornamenten in Dunkelbraun, Rostbraun und Gelbbraun. Lange Zeit hatte sie gedacht, dass sich auf jedem Quadrat dieselben Schnörkel und Ornamente in derselben Anordnung befanden. Als sie dann mehr Zeit hatte, sogar viel Zeit, um sie zu betrachten, kam sie zu dem Schluss, dass es vier verschiedene Muster gab, die zu identischen größeren Quadraten zusammengefügt waren. Manchmal konnte sie die Anordnung ohne weiteres erkennen, manchmal musste sie sich anstrengen, um sie auszumachen.

Sie tat das, wenn es draußen regnete und Clarks schlechte Laune auf dem gesamten Innenraum lastete und er für nichts Augen hatte als für den Computerbildschirm. Besser, sie ging dann in den Stall und dachte sich etwas aus, was sie dort tun konnte oder längst hätte tun müssen. Die Pferde weigerten sich, sie anzuschauen, wenn sie unglücklich war, aber Flora, die nie angebunden war, kam dann zu ihr, schubberte sich an ihr und sah mit ihren glänzenden gelbgrünen Augen zu ihr auf, mit einem Ausdruck nicht unbedingt von Mitgefühl, eher von kameradschaftlicher Spottlust.

Flora war ein halbwüchsiges Zicklein gewesen, als Clark sie von einer Farm heimbrachte, zu der er gefahren war, um billig an Pferdegeschirr zu kommen. Die Leute dort gaben die Landwirtschaft oder zumindest die Tierhaltung auf und hatten ihre Pferde verkauft, konnten aber ihre Ziegen nicht loswerden. Er hatte davon gehört, dass eine Ziege über die Fähigkeit verfügt, in einem Pferdestall für eine entspannte und friedliche Stimmung zu sorgen, und er wollte es ausprobieren. Eigentlich sollte sie eines Tages gedeckt werden, aber sie zeigte nie irgendwelche Anzeichen von Brunst.

Anfangs hielt sie sich ganz an Clark, folgte ihm auf Schritt und Tritt, tanzte, damit er sie beachtete. Sie war agil, anmutig und aufreizend in ihren Bewegungen, und ihre Ähnlichkeit mit einem arglosen, verliebten jungen Mädchen brachte Clark und Carla zum Lachen. Aber als sie älter wurde, fing sie an, sich eher Carla anzuschließen, und in dieser Anhänglichkeit zeigte sie sich plötzlich viel reifer, weniger verspielt, brachte sogar so etwas wie einen leisen und ironischen Sinn für Humor auf. Carlas Verhalten den Pferden gegenüber war sanft und zurechtweisend und eher mütterlich, aber ihre Beziehung zu Flora war ganz anders, denn Flora gestattete ihr kein Gefühl von Überlegenheit.

»Immer noch keine Spur von Flora?«, fragte sie, als sie die Stallstiefel auszog. Clark hatte eine Anzeige »Ziege entlaufen« ins Internet gestellt.

»Bis jetzt nicht«, sagte er, in geistesabwesendem, aber nicht unfreundlichem Ton. Er äußerte, nicht zum ersten Mal, die Ansicht, dass Flora vielleicht einfach fortgelaufen war, um sich einen Bock zu suchen.

Kein Wort über Mrs. Jamieson. Carla setzte den Kessel auf. Clark summte vor sich hin, wie er es oft tat, wenn er am Computer saß.

Manchmal gab er dem Gerät Antworten. Bockmist, sagte er zum Beispiel als Reaktion auf ein Problem. Oder er lachte – konnte sich aber nicht erinnern, was so komisch gewesen war, wenn sie ihn hinterher fragte.

Carla rief: »Willst du Tee?«, und zu ihrer Überraschung stand er auf und kam in die Küche.

»So«, sagte er. »So, Carla.«

»Was ist?«

»Sie hat angerufen.«

»Wer?«

»Ihre Majestät. Königin Sylvia. Sie ist gerade zurückgekommen.«

»Ich hab das Auto gar nicht gehört.«

»Ich hab dich nicht gefragt, ob du's gehört hast.«

»Also weshalb hat sie angerufen?«

»Sie will, dass du kommst und ihr hilfst, das Haus in Ordnung zu bringen. Hat sie jedenfalls gesagt. Morgen.«

»Was hast du ihr gesagt?«

»Ich hab ihr gesagt, geht klar. Aber du rufst besser an und bestätigst es.«

Carla sagte: »Ich sehe gar nicht ein, wieso, wenn du schon zugesagt hast.« Sie goss Tee in beide Becher. »Ich habe ihr Haus direkt vor ihrer Abreise geputzt. Ich weiß nicht, was da so bald zu tun sein soll.«

»Vielleicht sind Waschbären ins Haus gelangt und haben alles auf den Kopf gestellt. Man kann nie wissen.«

»Ich brauche sie nicht jetzt sofort anzurufen«, sagte sie. »Ich will meinen Tee trinken und ich will unter die Dusche.«

»Je eher, desto besser.«

Carla nahm ihren Tee mit ins Badezimmer und rief ihm zu: »Wir müssen in den Waschsalon. Selbst wenn sie trocken werden, riechen die Handtücher muffig.«

»Nicht das Thema wechseln, Carla.«

Sogar nachdem sie unter die Dusche gegangen war, stand er draußen vor der Tür und redete laut auf sie ein.

»So kommst du mir nicht davon, Carla.«

Sie befürchtete schon, dass er immer noch draußen stand, als sie herauskam, aber er saß wieder am Computer. Sie zog sich an, als wollte sie in die Stadt – sie hoffte, wenn sie erst einmal hier herauskamen, in den Waschsalon gingen, sich etwas aus dem Cappucino-Laden holten, dann konnten sie vielleicht anders miteinander reden, dann war eine Lockerung möglich. Sie ging mit federnden Schritten ins Wohnzimmer und legte von hinten die Arme um ihn. Aber sowie sie das tat, wurde sie von Kummer überwältigt – es lag bestimmt am heißen Wasser der Dusche, das musste ihre Tränen gelöst haben –, und sie beugte sich über ihn, ein schluchzendes Häufchen Elend.

Er nahm die Hände von der Tastatur, saß aber still.

»Sei doch nicht gleich wütend auf mich«, sagte sie.

»Ich bin nicht wütend. Ich hasse es nur, wenn du so bist, weiter nichts.«

»Ich bin so, weil du wütend bist.«

»Sag mir nicht, was ich bin. Du erwürgst mich. Mach jetzt das Abendessen.«

Und das tat sie dann. Inzwischen war klar, dass der Fünf-Uhr-Schüler nicht kam. Sie holte die Kartoffeln heraus und fing an, sie zu schälen, aber ihre Tränen wollten nicht aufhören, und sie konnte nicht sehen, was sie tat. Sie wischte sich das Gesicht mit Küchenkrepp, riss sich noch ein Stück zum Mitnehmen ab und ging in den Regen hinaus. Sie ging nicht in den Stall, weil es da drin ohne Flora zu traurig war. Sie nahm den Feldweg, der zum Wald führte. Die Pferde waren auf der anderen Weide. Sie kamen an den Zaun, um sie zu beobachten. Alle bis auf Lizzie, die ein bisschen herumsprang und schnaubte, brachten Sinn dafür auf, dass sie mit anderem beschäftigt war.

*

Angefangen hatte es, als sie den Nachruf lasen, den Nachruf auf Mr. Jamieson. Der stand im Stadtanzeiger, und in den Abendnachrichten kam ein Foto von ihm. Bis vor einem Jahr hatten sie die Jamiesons nur als Nachbarn gekannt, die für sich blieben. Sie lehrte Botanik an einem vierzig Meilen entfernten College und war also viel unterwegs. Er war Dichter.

Soviel wusste man in der Gegend. Aber er schien sich mit ganz anderen Dingen abzugeben. Für einen Dichter und für einen alten Mann – vielleicht zwanzig Jahre älter als Mrs. Jamieson – war er rüstig und aktiv. Er hatte sich die Entwässerungsanlage auf dem Grundstück vorgenommen, den Ablauf gereinigt und mit Steinen ausgelegt. Er hatte den Boden umgegraben, eingezäunt und einen Gemüsegarten angelegt, hatte Pfade durch die Wildnis gebahnt und das Haus repariert.

Das Haus selbst war ein merkwürdig aussehender dreieckiger Bau, den er vor Jahren, mit der Hilfe von Freunden, auf den Fundamenten eines alten, verfallenen Farmhauses errichtet hatte. Diese Leute galten als Hippies – obwohl Mr. Jamieson dafür ein wenig zu alt gewesen sein musste, sogar damals, vor Mrs. Jamiesons Zeit. Es gab das Gerücht, dass sie im Wald Marihuana angepflanzt, es verkauft und das Geld in gut verschlossenen Weckgläsern verstaut hatten, die rund um das Grundstück vergraben worden waren. Clark hatte das von Leuten gehört, die er in der Stadt kennengelernt hatte. Er sagte, das sei Bockmist.

»Sonst wäre schon längst jemand hingegangen und hätte alles ausgebuddelt. Jemand hätte ihn bestimmt dazu gebracht, dass er sagt, wo's ist.«

Als Carla und Clark den Nachruf lasen, erfuhren sie zum ersten Mal, dass Leon Jamieson fünf Jahre vor seinem Tod einen hoch dotierten Preis erhalten hatte. Einen Preis für Lyrik. Niemand hatte das je erwähnt. Offenbar brachten die Leute es fertig, an Geld zu glauben, verdient mit Drogen und vergraben in Weckgläsern, aber nicht an Geld, verdient für das Schreiben von Gedichten.

Kurz danach sagte Clark: »Wir hätten ihn zwingen können zu zahlen.«

Carla wusste sofort, wovon er redete, aber sie hielt es für einen Scherz.

»Zu spät«, sagte sie. »Wer tot ist, kann nicht mehr zahlen.«

»Er nicht. Aber sie.«

»Sie ist in Griechenland.«

»Sie wird nicht in Griechenland bleiben.«

»Sie hat nichts davon gewusst«, sagte Carla ernsthafter.

»Das habe ich auch nicht behauptet.«

»Sie hat überhaupt keine Ahnung.«

»Das können wir ändern.«

Carla sagte: »Nein. Nein.«

Clark redete weiter, als hätte sie nichts gesagt.

»Wir können sagen, wir gehen sonst vor Gericht. Für so was wird andauernd Geld gezahlt.«

»Wie willst du denn das machen? Du kannst doch einen Toten nicht verklagen.«

»Drohen, damit an die Presse zu gehen. Berühmter Dichter. Die Zeitungen würden sich drauf stürzen. Wir brauchen bloß damit zu drohen, dann wird sie klein beigeben.«

»Das träumst du doch nur«, sagte Carla. »Du machst Witze.«

»Nein«, sagte Clark. »Ich mache keine Witze.«

Carla sagte, dass sie nicht weiter darüber reden wolle, und er sagte, na gut.

Aber sie redeten schon am nächsten Tag wieder darüber, ebenso wie am Tag darauf und am Tag darauf. Er setzte sich manchmal Dinge in den Kopf, die gar nicht durchführbar waren, vielleicht sogar illegal. Er sprach mit wachsender Erregung davon, und dann – sie wusste nicht genau, warum – ließ er sie fallen. Wenn der Regen aufgehört hätte, wenn aus dem trüben Grau noch ein halbwegs normaler Sommer geworden wäre, hätte er vielleicht von der Idee abgelassen wie sonst auch. Aber das war nicht eingetreten, und den ganzen letzten Monat lang war er auf dem Plan herumgeritten, als sei er vollkommen machbar und ernst gemeint. Die Frage war nur, wie viel Geld sie verlangen sollten. Zu wenig, und es konnte sein, dass die Frau sie nicht ernst nahm und rauskriegen wollte, ob sie blufften. Zu viel, und sie konnte sich auf die Hinterbeine stellen und alles abstreiten.

Carla hatte aufgehört, es einen Witz zu nennen. Sondern behauptete, dass es nicht funktionieren konnte. Sie sagte, Dichter stünden doch in dem Ruf, so zu sein. Es gebe also gar keinen Grund, das mit Geld zu vertuschen.

Er sagte, es könnte funktionieren, wenn es richtig gemacht würde. Carla sollte zusammenbrechen und Mrs. Jamieson die ganze Geschichte erzählen. Dann würde Clark dazukommen und so tun, als sei ihm das völlig neu, als habe er es gerade erst erfahren. Er würde empört sein, er würde davon sprechen, es überall auszuposaunen. Er würde es Mrs. Jamieson überlassen, vom Geld anzufangen.

»Du bist verletzt worden. Du bist belästigt und gedemütigt worden, und ich bin verletzt und gedemütigt worden, weil du meine Frau bist. Es ist eine Frage der Achtung.«

Immer wieder redete er so auf sie ein, und sie versuchte, ihn davon abzubringen, aber er blieb dabei.

»Versprich es mir«, sagte er. »Versprich es mir.«

*

All das wegen der Dinge, die sie ihm erzählt hatte und die sie jetzt nicht mehr zurücknehmen oder abstreiten konnte.

Manchmal hat er Interesse an mir?

Der Alte?

Manchmal ruft er mich ins Zimmer, wenn sie nicht da ist?

Ja.

Wenn sie einkaufen fährt und die Pflegerin auch nicht da ist.

Ein glücklicher Einfall von ihr, der ihm sofort gefiel.

Und was machst du dann? Gehst du hinein?

Sie tat verschämt.

Manchmal.

Er ruft dich in sein Zimmer. Und? Carla? Und dann?

Ich gehe nachsehen, was er will.

Und was will er?

Im Flüsterton wurde das gefragt und geantwortet, auch wenn niemand sie hören konnte, auch wenn sie sich in der Abgeschiedenheit ihres Bettes befanden. Eine Gutenachtgeschichte, in der die Einzelheiten wichtig waren und jedes Mal vermehrt werden mussten, und das mit überzeugendem Widerstreben und verschämtem Gekicher, ach, wie unanständig. Und nicht nur er war scharf darauf und dankbar dafür. Auch sie. Scharf darauf, ihm zu gefallen und ihn zu erregen, sich selbst in Erregung zu bringen. Und dankbar, wenn es wieder einmal funktioniert hatte.

Und in einem Teil ihres Bewusstseins war es die Wahrheit, sah sie den lüsternen alten Mann, die Ausbuchtung in der Bettdecke des an sein Bett Gefesselten, der kaum noch sprechen konnte, aber immer noch die Zeichensprache beherrschte, sein Verlangen kundtat, sie mit stupsenden und tastenden Fingern zur Komplizin machen wollte, die ihm zu Willen war. (Natürlich musste sie sich weigern, was Clark seltsamerweise ein wenig enttäuschte.)

Hin und wieder kam ein Bild, das sie sofort ausblenden musste, damit es nicht alles verdarb. Dann dachte sie an den wirklichen, nur undeutlich erkennbaren, in Decken gehüllten Körper, der halb betäubt in seinem gemieteten Krankenhausbett jeden Tag immer weniger wurde und den sie nur ein paar Mal kurz erblickt hatte, wenn Mrs. Jamieson oder die Gemeindeschwester vergessen hatte, die Tür zu schließen. Näher war sie ihm in Wirklichkeit nie gekommen.

Ihr hatte sogar davor gegraut, zu den Jamiesons zu gehen, aber sie brauchte das Geld und ihr tat Mrs. Jamieson leid, die verhärmt und durcheinander wirkte und umherging wie eine Schlafwandlerin. Ein- oder zweimal war Carla herausgeplatzt und hatte etwas völlig Albernes getan, nur um die Atmosphäre aufzulockern. Etwas in der Art, wie sie es tat, wenn ungeschickte und verängstigte Anfänger, die zum ersten Mal auf einem Pferd saßen, sich gedemütigt fühlten. Früher probierte sie es auch damit, wenn Clark wieder seine schlechte Laune hatte. Bei ihm funktionierte es nicht mehr. Aber die Geschichte über Mr. Jamieson hatte funktioniert. Und wie.

*

Es war unmöglich, allen Pfützen aus dem Weg zu gehen oder dem triefend nassen hohen Gras am Wegrand oder den wilden Möhren, die seit kurzem in Blüte standen. Aber die Luft war recht warm, sodass sie nicht fror. Ihre Kleidung war klatschnass, wie von ihrem eigenen Schweiß oder von den Tränen, die ihr zusammen mit dem Nieselregen übers Gesicht liefen. Mit der Zeit versiegten ihre Tränen. Sie hatte nichts, um sich die Nase zu putzen – das Stück Küchenkrepp war inzwischen durchweicht –, also beugte sie sich vor und schnaubte kräftig in eine Pfütze.

Sie hob den Kopf und brachte den langgezogenen, vibrierenden Pfiff zustande, mit dem sie – ebenso wie Clark – Flora immer gerufen hatte. Sie wartete mehrere Minuten, dann rief sie Flora mit Namen. Immer wieder, erst mit dem Pfiff, dann mit dem Namen, mit dem Pfiff, mit dem Namen.

Flora meldete sich nicht.

Es war für sie jedoch fast eine Erleichterung, den unkomplizierten Schmerz zu spüren, dass Flora fort war, vielleicht sogar für immer, verglichen mit dem Chaos, in das sie gegenüber Mrs. Jamieson geraten war, und mit dem elenden Auf und Ab mit Clark. Wenigstens war Flora nicht fortgelaufen, weil sie – Carla – irgendetwas falsch gemacht hatte.

*

Im Haus gab es für Sylvia nichts weiter zu tun als die Fenster aufzumachen. Und daran zu denken – mit einem Ungestüm, das sie entsetzte, ohne sie eigentlich zu erschrecken –, wie bald sie Carla sehen konnte.

Alle Utensilien der Krankheit waren entfernt worden. Das Zimmer, früher das Schlafzimmer von Sylvia und ihrem Mann und dann sein Sterbezimmer, war geputzt und aufgeräumt worden, damit es aussah, als sei darin nie etwas geschehen. In den wenigen hektischen Tagen zwischen dem Krematorium und der Abreise nach Griechenland hatte Carla ihr bei allem geholfen. Jedes Kleidungsstück, das Leon je getragen hatte, und auch einige, die er nicht getragen hatte, darunter die nie ausgepackten Geschenke seiner Schwestern, waren auf den Rücksitz des Autos getürmt und beim Secondhandshop abgeliefert worden. Seine Tabletten, sein Rasierzeug, ungeöffnete Dosen mit dem kalorienreichen Trunk, der ihn genährt hatte, solange irgendetwas das konnte, Packungen mit den Sesamcrackers, die er eine Zeit lang dutzendweise gegessen hatte, die Plastikflaschen voller Lotion, die seinem Rücken Erleichterung verschafft hatte, die Lammfelle, auf denen er gelegen hatte – all das wanderte in Plastiksäcke, um auf dem Müll zu landen, und Carla stellte nie etwas in Frage. Sie sagte nie: »Vielleicht kann das noch jemand gebrauchen«, oder wies darauf hin, dass ganze Kartons voller Dosen ungeöffnet waren. Als Sylvia sagte: »Ich wünschte, ich hätte die Kleidung nicht in die Stadt gebracht. Ich wünschte, ich hätte alle Sachen verbrannt«, hatte Carla keinerlei Überraschung gezeigt.

Sie machten den Herd sauber, wischten die Schränke aus und putzten die gekachelten Wände und die Fenster. Eines Tages saß Sylvia im Wohnzimmer und ging alle Kondolenzschreiben durch, die sie erhalten hatte. (Es gab keine Stapel von Notizen und Entwürfen, die gesichtet werden mussten, wie man es bei einem Schriftsteller hätte erwarten können, keine unbeendeten Arbeiten oder hingeworfenen Ideen. Er hatte ihr schon vor Monaten gesagt, dass er alles weggeworfen habe. Ohne Reue.)

Die zum Südhang gelegene Wand des Hauses bestand aus großen Fenstern. Sylvia blickte auf, überrascht von dem wässrigen Licht der Sonne, die zum Vorschein gekommen war – oder vielleicht auch von dem Schatten, den Carla warf, mit nackten Armen und Beinen oben auf der Leiter, das resolute Gesicht gekrönt von einem Gekräusel feiner blonder Haare, die zu kurz für den Zopf waren. Sie sprühte die Scheibe ein und rieb sie energisch ab. Als sie sah, dass Sylvia sie anschaute, hielt sie inne, breitete die Arme aus wie ein Schreckgespenst und zog eine alberne Teufelsfratze. Beide fingen an zu lachen. Sylvia spürte dieses Lachen durch sich strömen wie einen verspielten Bach. Sie wandte sich wieder ihren Briefen zu, während Carla weiterputzte. Sie entschied, dass all diese freundlichen Worte – ehrlich gemeint oder förmlich, die Würdigungen und Beileidsbekundungen – denselben Weg nehmen konnten wie die Lammfelle und die Crackers.

Als sie Carla die Leiter hereinholen hörte, ihre Schritte im Gang hörte, wurde sie plötzlich schüchtern. Sie blieb mit gesenktem Kopf an ihrem Platz sitzen, als Carla ins Zimmer kam und hinter ihr vorbeiging, auf ihrem Weg in die Küche, um den Eimer mit den Putzlappen unter die Spüle zu stellen. Carla blieb kaum stehen, sie war flink wie ein Vogel, aber sie schaffte es, einen Kuss auf Sylvias gesenkten Kopf zu drücken. Dann pfiff sie weiter vor sich hin.

Der Kuss war Sylvia seitdem nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Er hatte nichts Besonderes zu bedeuten. Er bedeutete Kopf hoch. Oder Fast geschafft. Er bedeutete, dass sie gute Freundinnen waren, die zusammen viel schmerzliche Arbeit hinter sich gebracht hatten. Oder vielleicht nur, dass die Sonne herausgekommen war. Trotzdem sah Sylvia ihn als hell leuchtende Blume, deren Blütenblätter sich in ihr mit stürmischer Glut entfalteten, wie fliegende Hitze in den Wechseljahren.

Hin und wieder hatte es in einem ihrer Botanikkurse eine ungewöhnliche Studentin gegeben – eine, deren wache Intelligenz, gepaart mit Arbeitseifer, linkischer Ichbezogenheit und manchmal sogar echter Leidenschaft für die Welt der Natur sie an ihr eigenes jüngeres Selbst erinnert hatte. Solche Mädchen hatten sich anbetend an sie geheftet, hatten auf irgendeine Nähe gehofft, die sie sich – in den meisten Fällen – gar nicht hatten vorstellen können, und waren ihr bald auf die Nerven gefallen.

Carla dagegen war ganz anders. Wenn sie irgendjemandem in Sylvias Leben ähnelte, dann allenfalls bestimmten Mädchen, die sie in der High School gekannt hatte – aufgeweckt, aber nie neunmalklug, sportlich, aber ohne ehrgeizigen Siegeswillen, lebhaft, aber nicht quirlig. Von Natur aus glücklich.

*

»Da, wo ich mit meinen beiden alten Freundinnen war, in diesem kleinen Dorf, diesem winzigen Nest, da hielt nur ganz selten mal ein Touristenbus, wie vom Weg abgekommen, und die Touristen stiegen aus und schauten sich um und wussten überhaupt nicht, was sie mit sich anfangen sollten, denn sie waren nirgendwo. Es gab nichts zu kaufen.«

Sylvia redete von Griechenland. Carla saß nur knapp einen Meter von ihr entfernt. Die langbeinige, verlegene, strahlend schöne junge Frau saß endlich da, in dem Zimmer, das mit Gedanken an sie gefüllt worden war. Leise lächelnd, mit Verspätung nickend.

»Und anfangs«, sagte Sylvia, »anfangs wusste ich auch nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Es war so heiß. Aber das mit dem Licht stimmt. Es ist wunderbar. Und dann bin ich dahintergekommen, was man machen konnte, und es gab nur diese wenigen einfachen Dinge, aber sie füllten den Tag aus. Man läuft eine halbe Meile die Straße hinunter, um etwas Öl zu kaufen, und eine halbe Meile in die andere Richtung, um sich Brot oder Wein zu kaufen, und das ist der Vormittag, und man isst unter den Bäumen etwas zu Mittag, und nach dem Mittagessen ist es zu heiß, um irgendetwas zu tun außer die Fensterläden zu schließen und sich aufs Bett zu legen und vielleicht zu lesen. Anfangs liest man. Und dann wird man so, dass man nicht einmal das tut. Warum lesen? Später merkt man, dass die Schatten länger geworden sind, und man steht auf und geht zum Baden ans Meer.

Ach«, unterbrach sie sich. »Ach, das hab ich ganz vergessen.«

Sie sprang auf und ging das Geschenk holen, das sie mitgebracht hatte und das sie keineswegs vergessen hatte. Sie hatte es Carla nicht sofort geben wollen, also versuchte sie, einen günstigen Augenblick dafür herbeizuführen, und während sie redete, war sie in Gedanken bei diesem Augenblick, in dem sie das Meer erwähnen konnte. Und sagen konnte, wie sie es jetzt tat: »Das Baden im Meer hat mich daran erinnert, denn das ist eine kleine Nachbildung, wissen Sie, das ist eine Nachbildung von dem Pferd, das man auf dem Meeresboden gefunden hat. In Bronze gegossen. Nach all der Zeit hat man es aus dem Meer heraufgeholt. Es soll aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus stammen.«

Als Carla hereingekommen war und sich umgesehen hatte, ob es etwas zu tun gab, hatte Sylvia gesagt: »Ach, setzen Sie sich doch eine Minute, ich habe noch mit niemandem reden können, seit ich zurück bin. Bitte.« Carla hatte sich auf eine Stuhlkante gesetzt, die Beine gespreizt, die Hände zwischen den Knien, ein Bild des Jammers. Wie in Rückbesinnung auf eine ferne Höflichkeit hatte sie gefragt: »Wie war's in Griechenland?«

Jetzt stand sie da, mit dem verkrumpelten Seidenpapier um das Pferd, das sie noch nicht völlig ausgewickelt hatte.

»Es soll ein Rennpferd darstellen«, sagte Sylvia. »Das zum Endspurt ansetzt, zum Endkampf im Rennen. Auch der Reiter, der Junge, man kann sehen, wie er das Pferd bis an die Grenze seiner Kräfte treibt.«

Sie erwähnte nicht, dass der Junge sie an Carla erinnert hatte, und sie hätte jetzt auch nicht sagen können, warum. Er war höchstens zehn oder elf Jahre alt. Vielleicht hatten die Kraft und die Anmut des Arms, der die Zügel gehalten haben musste, oder die Falten auf seiner kindlichen Stirn, die Hingabe und der Feuereifer etwas von Carla, als sie im Frühjahr die großen Fenster geputzt hatte. Ihre kräftigen Beine in den Shorts, ihre breiten Schultern, ihr schwungvolles Wischen über das Glas, und dann die Art, wie sie zum Scherz die Arme gespreizt hatte und Sylvia damit zum Lachen eingeladen oder sogar aufgefordert hatte.

»Ja, das sieht man«, sagte Carla jetzt und betrachtete pflichtschuldig die kleine bronzegrüne Statue. »Vielen Dank.«

»Gern geschehen. Wir wollen Kaffee trinken, ja? Ich habe gerade welchen gebrüht. In Griechenland war der Kaffee sehr stark, ein bisschen stärker, als ich ihn mag, aber das Brot war himmlisch. Und die reifen Feigen waren phänomenal. Setzen Sie sich doch noch einen Augenblick bitte. Sie müssen mich unterbrechen, damit ich nicht endlos so weiterrede. Was ist hier los? Wie war das Leben hier?«

»Es hat fast ständig geregnet.«

»Das sieht man. Das ist deutlich zu sehen«, rief Sylvia aus der Küchenecke des großen Zimmers. Als sie den Kaffee einschenkte, beschloss sie, nichts von dem anderen Geschenk zu sagen, das sie mitgebracht hatte. Es hatte sie nichts gekostet (das Pferd hatte mehr gekostet, als das Mädchen sich wahrscheinlich vorstellen konnte), es war nur ein kleiner rosa-weißer Stein, den sie am Wegrand gefunden hatte.

»Der ist für Carla«, hatte sie zu ihrer Freundin Maggie gesagt, die neben ihr ging. »Ich weiß, es ist albern. Aber ich möchte, dass sie ein winziges Stückchen von diesem Land hat.«

Sie hatte Maggie und Soraya, ihrer anderen Freundin, schon von Carla erzählt und ihnen berichtet, wie die Anwesenheit des Mädchens ihr immer mehr bedeutet hatte, wie eine schwer zu beschreibende Verbundenheit zwischen ihnen entstanden zu sein schien und sie in den schrecklichen Monaten des vergangenen Frühjahrs getröstet hatte.

»Einfach, weil ich jemanden um mich hatte – weil jemand, der so frisch und so kerngesund war, ins Haus kam.«

Maggie und Soraya hatten gelacht, auf freundliche, aber ärgerliche Art.

»Es gibt immer ein Mädchen«, sagte Soraya und reckte dabei träge ihre schweren braunen Arme, und Maggie sagte: »Uns allen blüht das irgendwann. Eine Schwärmerei für ein junges Mädchen.«

Sylvia hatte sich seltsam über dieses altmodische Wort geärgert – Schwärmerei.

»Vielleicht liegt es daran, dass Leon und ich nie Kinder hatten«, sagte sie. »Dumm von mir. Ein Ersatz für Mutterliebe.«

Ihre Freundinnen redeten gleichzeitig, brachten auf leicht unterschiedliche Art zum Ausdruck, dass es dumm sein mochte, dennoch war es Liebe.

*

Heute aber war die junge Frau ganz anders als die Carla in Sylvias Erinnerung, überhaupt nicht das ruhige, heitere Wesen, das unbekümmerte und hochherzige junge Geschöpf, das ihr in Griechenland Gesellschaft geleistet hatte.

Sie hatte sich kaum für ihr Geschenk interessiert. Fast widerwillig hatte sie nach ihrem Becher Kaffee gegriffen.

»Eines hätte Ihnen bestimmt gefallen«, sagte Sylvia munter. »Die Ziegen. Ziemlich kleine Ziegen, auch wenn sie voll ausgewachsen waren. Gescheckte und weiße, und sie sprangen oben auf den Felsen herum wie – wie Berggeister.« Sie lachte gekünstelt, sie konnte sich nicht bremsen. »Es hätte mich gar nicht gewundert, wenn sie Lorbeerkränze auf den Hörnern gehabt hätten. Was macht Ihre kleine Ziege? Ich vergesse immer ihren Namen.«

Carla sagte: »Flora.«

»Flora.«

»Sie ist weg.«

»Weg? Haben Sie sie verkauft?«

»Sie ist weggelaufen. Wir wissen nicht, wohin.«

»Oh, das tut mir leid. Das tut mir wirklich leid. Aber es kann doch sein, dass sie wieder auftaucht?«

Keine Antwort. Sylvia schaute der jungen Frau in die Augen, etwas, was sie bisher nicht recht über sich gebracht hatte, und sah, dass ihre Augen voller Tränen standen, dass ihr Gesicht fleckig war – schmutzfleckig, um die Wahrheit zu sagen – und offenbar völlig verweint.

Die junge Frau tat nichts, um Sylvias Blick auszuweichen. Sie kniff die Lippen zusammen und schloss die Augen, ihr Oberkörper schaukelte vor und zurück wie in einem langgezogenen stummen Aufschrei, und dann, erschreckenderweise, schrie sie auf. Sie schrie und weinte und schnappte nach Luft, Tränen liefen ihr über die Wangen, Rotz lief ihr aus der Nase, und sie sah sich verzweifelt nach etwas um, mit dem sie sich abwischen konnte. Sylvia eilte und holte mehrere Handvoll Kleenex.

»Keine Angst, da, schon gut, ist ja gut«, sagte sie und dachte, dass sie vielleicht das Mädchen jetzt in die Arme nehmen müsste. Aber sie verspürte nicht das geringste Verlangen danach, das zu tun, und es konnte alles verschlimmern. Es konnte sein, dass die junge Frau merkte, wie wenig Sylvia das eigentlich wollte und wie sehr sie dieser geräuschvolle Ausbruch anwiderte.

Carla sagte etwas, wiederholte es.

»Schrecklich«, sagte sie. »Schrecklich.«

»Nein, nicht doch. Wir müssen alle manchmal weinen. Schon gut, keine Angst.«

»Es ist schrecklich.«

Und Sylvia konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass die junge Frau sich mit jedem Augenblick der Zurschaustellung ihres Kummers gewöhnlicher machte, sich immer mehr den weinerlichen Studentinnen in ihrem – Sylvias – Büro anglich. Einige weinten wegen ihrer Zensuren, aber das war oft taktisch, ein kurzer, wenig überzeugender Tränenausbruch. Die selteneren anhaltenden Tränenfluten hatten im Endeffekt etwas mit einer Liebesaffäre zu tun oder mit den Eltern oder mit einer Schwangerschaft.

»Das ist doch nicht etwa wegen Ihrer Ziege?«

»Nein. Nein.«

»Sie müssen ein Glas Wasser trinken«, sagte Sylvia.

Sie ließ sich Zeit, bis das Wasser kalt aus dem Hahn lief, und überlegte, was sie sonst noch tun oder sagen sollte, und als sie mit dem Wasser zurückkam, beruhigte Carla sich bereits.

»So. So«, sagte Sylvia, als das Wasser geschluckt wurde. »Schon besser?«

»Ja.«

»Die Ziege ist es nicht. Was dann?«

Carla sagte: »Ich kann's nicht mehr ertragen.«

Was konnte sie nicht mehr ertragen?

Ihren Mann, stellte sich heraus.

Er war ständig wütend auf sie. Er verhielt sich, als ob er sie hasste. Es gab nichts, was sie ihm recht machen konnte, nichts, was sie sagen konnte. Das Zusammenleben mit ihm machte sie verrückt. Manchmal dachte sie, sie sei schon verrückt. Manchmal dachte sie, er sei es.

»Hat er Ihnen wehgetan, Carla?«

Nein. Körperlich hatte er ihr nicht wehgetan. Aber er hasste sie. Er verachtete sie. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie weinte, sie musste aber immer wieder weinen, weil er so wütend auf sie war.

Sie wusste nicht, was sie machen sollte.

»Vielleicht wissen Sie ganz gut, was Sie machen sollten«, sagte Sylvia.

»Fortgehen? Das würde ich ja machen, wenn ich könnte.« Carla fing wieder an zu heulen. »Ich würde alles dafür geben wegzukommen. Aber ich kann nicht. Ich habe kein Geld. Ich kann nirgendwo hin, nirgendwo.«

»Denken Sie mal nach. Stimmt denn das wirklich?«, sagte Sylvia in ihrer besten Beratungsmanier. »Haben Sie denn keine Eltern? Haben Sie mir nicht erzählt, dass Sie in Kingston aufgewachsen sind? Haben Sie dort keine Angehörigen?«

Ihre Eltern waren nach British Columbia gezogen. Sie hassten Clark. Ihnen war egal, ob sie am Leben oder tot war.

Brüder und Schwestern?

Ein neun Jahre älterer Bruder. Der war verheiratet und lebte in Toronto. Dem war sie auch egal. Der konnte Clark nicht leiden. Und seine Frau war ein Snob.

»Haben Sie je an ein Frauenhaus gedacht?«

»Die nehmen einen doch erst, wenn man verprügelt worden ist. Und alle würden es erfahren, und das wäre schlecht für unser Geschäft.«

Sylvia lächelte sanft.

»Ist das die Zeit, darüber nachzudenken?«

Darauf lachte sogar Carla. »Ich weiß«, sagte sie, »ich bin bescheuert.«

»Hören Sie«, sagte Sylvia. »Hören Sie mir zu. Wenn Sie das Geld hätten, um zu gehen, würden Sie dann gehen? Wohin würden Sie gehen? Was würden Sie machen?«

»Ich würde nach Toronto gehen«, sagte Carla prompt. »Aber ich würde nicht zu meinem Bruder gehen. Ich würde in einem Motel oder irgendwo bleiben und mir einen Job in einem Reitstall suchen.«

»Meinen Sie, Sie könnten das?«

»Ich habe in dem Sommer, in dem ich Clark kennengelernt habe, in einem Reitstall gearbeitet. Ich habe jetzt mehr Erfahrung als damals. Viel mehr.«

»Sie hören sich an, als hätten Sie sich das alles schon überlegt«, sagte Sylvia nachdenklich.

Carla sagte: »Ich tu's jetzt.«

»Wann würden Sie denn gehen, wenn Sie könnten?«

»Jetzt. Heute. Noch diese Minute.«

»Alles, was Sie aufhält, ist Geldmangel?«

Carla holte tief Luft. »Das ist alles«, sagte sie.

»Na gut«, sagte Sylvia. »Jetzt hören Sie sich meinen Vorschlag an. Ich finde, Sie sollten nicht in ein Motel gehen. Ich finde, Sie sollten den Bus nach Toronto nehmen und bei einer Freundin von mir wohnen. Sie heißt Ruth Stiles. Sie hat ein großes Haus, und sie lebt allein, und sie hat nichts dagegen, wenn jemand bei ihr übernachtet. Da können Sie bleiben, bis Sie einen Job gefunden haben. Ich helfe Ihnen mit etwas Geld aus. In der Gegend von Toronto muss es doch viele Reitställe geben.«

»Ja, viele.«

»Also, was meinen Sie? Soll ich anrufen und mich erkundigen, wann der Bus fährt?«

Carla sagte ja. Sie zitterte. Sie fuhr sich immer wieder mit den Händen über die Oberschenkel und warf den Kopf von einer Seite zur anderen.

»Ich kann's nicht glauben«, sagte sie. »Ich zahle es Ihnen zurück. Ich meine, vielen Dank. Ich zahle es Ihnen zurück. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Sylvia war schon am Telefon und wählte die Nummer vom Busbahnhof.

»Pst, ich höre die Abfahrtzeiten«, sagte sie. Sie lauschte und hängte auf. »Ja, das weiß ich. Sind Sie mit Ruth einverstanden? Ich sage ihr Bescheid. Es gibt allerdings ein Problem.« Sie betrachtete kritisch Carlas Shorts und ihr T-Shirt. »Sie können nicht gut in diesen Sachen fahren.«

»Ich kann nicht nach Hause, um mir was zu holen«, sagte Carla panisch. »Es wird schon gehen.«

»Der Bus hat eine Klimaanlage. Sie werden erfrieren. In meinem Schrank findet sich bestimmt etwas, was Sie tragen können. Wir haben doch ungefähr dieselbe Größe?«

»Sie sind zehnmal dünner.«

»Früher nicht.«

Am Ende entschieden sie sich für ein braunes, kaum getragenes Leinenjackett – Sylvia hatte es für einen Fehlkauf gehalten, zu streng geschnitten –, eine hellbraune maßgeschneiderte Hose und eine cremefarbene Seidenbluse. Carlas Turnschuhe passten zwar nicht dazu, aber das war nicht zu ändern, denn ihre Schuhgröße war zwei Nummern größer als Sylvias.

Carla ging duschen – was sie wegen ihrer Gemütsverfassung an diesem Morgen unterlassen hatte –, und Sylvia rief Ruth an. Ruth musste am Abend zu einer Versammlung, aber sie würde den Schlüssel bei den Mietern im Obergeschoss abgeben, und Carla brauchte nur bei ihnen zu klingeln.

»Allerdings muss sie sich vom Busbahnhof ein Taxi nehmen. Das wird sie doch wohl schaffen?«, fragte Ruth.

Sylvia lachte. »Sie ist keine lahme Ente, keine Angst, sie ist nur in einer schlimmen Lage, wie es manchmal so geht.«

»Ah, gut. Ich meine, gut, dass sie weggeht.«

»Überhaupt keine lahme Ente«, sagte Sylvia und dachte daran, wie Carla die Maßhose und das Leinenjackett anprobiert hatte. Wie rasch junge Menschen sich von tiefster Verzweiflung erholen, und wie schön das Mädchen in den frischen Sachen ausgesehen hatte.

Der Bus hielt in der Stadt um zwanzig nach zwei. Sylvia beschloss, zum Mittagessen Omeletts zu machen, den Tisch mit der dunkelblauen Tischdecke zu decken, die Kristallgläser aus dem Schrank zu holen und eine Flasche Wein aufzumachen.

»Hoffentlich haben Sie genug Hunger, um etwas zu essen«, sagte sie, als Carla sauber und strahlend in ihren geliehenen Sachen aus dem Badezimmer kam. Ihre leicht sommersprossige Haut war von der Dusche gerötet, ihre Haare waren feucht und dunkler als sonst, aus dem Zopf befreit, und die entzückenden krausen Härchen lagen jetzt eng an ihrem Kopf. Sie sagte, sie sei hungrig, aber als sie dann versuchte, einen Bissen Omelett mit der Gabel zum Mund zu führen, machten ihre zittrigen Hände das unmöglich.

»Ich weiß gar nicht, warum ich so zittere«, sagte sie. »Ich bin wohl sehr aufgeregt. Ich hätte nie gedacht, dass es so einfach ist.«

»Es ist sehr plötzlich«, sagte Sylvia. »Wahrscheinlich kommt es Ihnen etwas unwirklich vor.«

»Eigentlich nicht. Alles kommt mir endlich wirklich vor. Nein, in der Zeit davor, da war ich wie im Tran.«

»Vielleicht, wenn man sich zu etwas entschließt, wenn man wirklich einen Entschluss fasst, dann ist das so. Oder sollte so sein.«

»Wenn man eine Freundin hat«, sagte Carla mit unsicherem Lächeln und errötender Stirn. »Wenn man eine wahre Freundin hat. Ich meine, eine wie Sie.« Sie legte Messer und Gabel hin und erhob ungeschickt mit beiden Händen ihr Weinglas. »Auf wahre Freundschaft«, sagte sie verlegen. »Ich sollte wahrscheinlich keinen Schluck trinken, aber ich tu's.«

»Ich auch«, sagte Sylvia mit gespielter Fröhlichkeit. Sie trank, verdarb aber den Augenblick, indem sie sagte: »Werden Sie ihn anrufen? Oder was? Er muss Bescheid wissen. Oder wenigstens muss er um die Zeit, wo er Sie zu Hause erwartet, wissen, wo Sie sind.«

»Nicht das Telefon«, sagte Carla ängstlich. »Das kann ich nicht. Vielleicht könnten Sie …«

»Nein«, sagte Sylvia. »Nein.«

»Nein, das war dumm. Das hätte ich nicht sagen sollen. Es ist einfach schwer, klar zu denken. Vielleicht sollte ich es so machen, ich stecke ihm eine Nachricht in den Briefkasten. Aber ich will nicht, dass er sie zu früh findet. Ich will nicht mal, dass wir auf dem Weg in die Stadt da vorbeifahren. Ich will, dass wir den Weg hintenherum nehmen. Wenn ich ihm schreibe – wenn ich was schreibe, könnten Sie, vielleicht könnten Sie das auf dem Rückweg in den Kasten stecken?«

Sylvia willigte ein, zumal ihr nichts Besseres einfiel.

Sie holte einen Stift und Papier. Sie schenkte noch ein wenig Wein nach. Carla überlegte, dann schrieb sie ein paar Worte hin.

 

Ich bin weg. Mach Dir keine Borgen.

Das waren die Worte, die Sylvia las, als sie auf dem Heimweg vom Busbahnhof den Zettel entfaltete. Sie war überzeugt, dass es sich um einen Flüchtigkeitsfehler handelte, weil Carla davon gesprochen hatte, das Geld zurückzuzahlen. Außerdem war sie in einem Zustand hektischer Verwirrtheit gewesen. Vielleicht verwirrter, als Sylvia sich eingestanden hatte. Der Wein hatte einen Redefluss ausgelöst, der aber nicht von einem bestimmten Schmerz oder Kummer begleitet zu sein schien. Sie hatte von dem Pferdestall erzählt, in dem sie gearbeitet und Clark kennengelernt hatte, als sie achtzehn Jahre alt und gerade mit der High School fertig war. Ihre Eltern wollten, dass sie ein College besuchte, und sie hatte eingewilligt, vorausgesetzt, sie konnte Tiermedizin studieren. Es war immer ihr Wunsch gewesen, etwas mit Tieren zu tun zu haben und auf dem Land zu leben. Sie war in der High School eines jener linkischen Mädchen gewesen, das von den anderen gnadenlos durch den Kakao gezogen wurde, aber das hatte sie nicht gekümmert.

Clark war der beste Reitlehrer, den man sich vorstellen konnte. Die Frauen waren scharenweise hinter ihm her, sie nahmen Reitstunden, nur um ihn als Lehrer zu haben. Carla zog ihn wegen seiner Frauengeschichten auf, und anfangs schien ihm das zu gefallen, aber dann ärgerte es ihn. Sie entschuldigte sich und versuchte, es wiedergutzumachen, indem sie ihn dazu brachte, von seinem Traum zu reden – seinem Plan, eigentlich –, eine Reitschule aufzumachen, einen Reiterhof, irgendwo draußen auf dem Land. Eines Tages kam sie in den Stall und sah ihn seinen Sattel aufhängen und merkte, dass sie sich in ihn verliebt hatte.

Jetzt vermutete sie, dass es Sex war. Wahrscheinlich einfach nur Sex.

*

Als der Herbst kam und sie mit der Arbeit aufhören und nach Guelph aufs College gehen sollte, weigerte sie sich und sagte, dass sie ein Jahr Auszeit brauche.

Clark war sehr intelligent, aber er hatte nicht mal abgewartet, bis die High School zu Ende war. Mit seiner Familie hatte er so gut wie keinen Kontakt mehr. Er war der Überzeugung, dass Familien wie Gift im Blut sind. Er war Pfleger in einer psychiatrischen Klinik gewesen, Diskjockey bei einem Radiosender in Lethbridge, Alberta, Mitglied eines Bautrupps auf den Überlandstraßen in der Nähe der Thunder Bay, Friseurlehrling und Verkäufer in einem Armeeladen. Und das waren nur die Jobs, von denen er ihr erzählt hatte.

Sie hatte ihm den Spitznamen Zigeunervagabund gegeben, wegen des Liedes, einem alten Lied, das ihre Mutter immer gesungen hatte. Als sie sich jetzt angewöhnte, es ständig zu Hause zu singen, wusste ihre Mutter, dass etwas im Busch war.

»Gestern noch schlief sie im Federbett

Auf seidenweicher Matratz,

Doch heut auf dem kalten Bo-o-den

Bei ihrem Zigeunerschatz.«

Ihre Mutter sagte: »Er wird dir das Herz brechen, das ist mal sicher.« Ihr Stiefvater, ein Ingenieur, gestand Clark nicht mal diese Fähigkeit zu. »Ein Verlierer«, nannte er ihn. »Einer von diesen Streunern.« Als wäre Clark ein lästiges Insekt, das er einfach vom Ärmel streifen konnte.

Also sagte Carla: »Spart ein Streuner genug Geld zusammen, um eine Farm zu kaufen? Was er übrigens getan hat!«, und er antwortete nur: »Ich denke nicht daran, mich mit dir zu streiten.« Sie sei sowieso nicht seine Tochter, fügte er hinzu, als sei damit der Fall erledigt.

Also blieb Carla nichts anderes übrig, als mit Clark durchzubrennen. So, wie ihre Eltern sich verhielten, sorgten sie geradezu dafür.

»Werden Sie sich mit Ihren Eltern in Verbindung setzen, nachdem Sie sich eingelebt haben?«, fragte Sylvia. »In Toronto?«

Carla zog die Augenbrauen hoch, sog die Wangen ein und verzog den Mund zu einer frechen Schnute. »Nö«, sagte sie.

Definitiv ein bisschen betrunken.

*

Nachdem Sylvia den Zettel in den Briefkasten gesteckt hatte, wusch sie zu Hause das Geschirr ab, das noch auf dem Tisch stand, wischte die Omelettpfanne aus, warf die blauen Servietten und das Tischtuch in den Wäschekorb und machte die Fenster auf. Sie tat das mit einem verwirrenden Gefühl von Bedauern und Verärgerung. Sie hatte dem Mädchen ein neues Stück Apfelseife ins Badezimmer gelegt, und deren Duft war noch im Haus zu riechen, wie vorher auch im Auto.

Irgendwann im Laufe der letzten Stunde hatte es zu regnen aufgehört. Sie konnte nicht stillsitzen, also ging sie auf dem Weg, den Leon angelegt hatte, spazieren. Der Kies, den er auf die morastigen Stellen geschüttet hatte, war fast vollständig fortgespült worden. Sie war im Frühjahr immer mit ihm spazieren gegangen und hatte Ausschau nach wilden Orchideen gehalten. Sie hatte ihm die Namen der Wildpflanzen beigebracht – die er bis auf Dreiblatt alle vergessen hatte. Er hatte sie immer seine Dorothy Wordsworth genannt.

Im letzten Frühjahr war sie einmal hinausgegangen und hatte ihm ein kleines Sträußchen Hundszahnveilchen gepflückt, aber er hatte die Blumen – wie manchmal auch sie – nur mit Erschöpfung und Ablehnung betrachtet.

Sie sah immer wieder Carla vor sich, Carla, die in den Bus stieg. Sie hatte sich aufrichtig, aber fast beiläufig bedankt und dann fröhlich gewinkt. Sie hatte sich an ihre Rettung schon gewöhnt.

Vom Spaziergang zurück, rief Sylvia in Toronto an, bei Ruth, denn sie wusste, dass Carla noch nicht eingetroffen sein konnte. Es meldete sich nur der Anrufbeantworter.

»Ruth«, sagte Sylvia. »Sylvia. Ich rufe wegen des Mädchens an, das ich dir geschickt habe. Ich hoffe, sie wird dir nicht zur Last fallen. Ich hoffe, dass alles gut geht. Vielleicht ist sie dir ein bisschen zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Das mag an ihrer Jugend liegen. Sag mir Bescheid, ja?«

Sie rief noch einmal an, bevor sie zu Bett ging, erreichte aber wieder nur den Anrufbeantworter, also sagte sie: »Nochmal Sylvia. Wollte nur mal hören«, und hängte auf. Es war zwischen neun und zehn Uhr, noch gar nicht richtig dunkel. Ruth war offenbar noch nicht zu Hause, und das Mädchen traute sich wahrscheinlich nicht, in einem fremden Haus ans Telefon zu gehen. Sie überlegte, wie Ruths Mieter im Obergeschoss hießen. Sie schliefen bestimmt noch nicht. Aber der Name fiel ihr nicht ein. Auch gut. Bei ihnen anzurufen, das wäre zu viel Aufhebens gewesen, hätte von Überängstlichkeit gezeugt, wäre zu weit gegangen.

Sie legte sich ins Bett, fand es aber unmöglich, dort zu bleiben, also nahm sie eine dünne Decke und ging hinaus ins Wohnzimmer und legte sich auf das Sofa, auf dem sie während der letzten drei Monate von Leons Leben geschlafen hatte. Wahrscheinlich würde sie auch dort nicht einschlafen können – an der Fensterfront gab es keine Vorhänge –, und an der Färbung des Himmels merkte sie, dass der Mond aufgegangen war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte.

Das Nächste in ihrem Bewusstsein war, dass sie irgendwo – in Griechenland? – mit vielen Leuten, die sie alle nicht kannte, in einem Bus saß, dessen Motor alarmierende Klopfgeräusche von sich gab. Sie wachte auf und merkte, dass jemand an die Haustür klopfte.

Carla?

*

Carla hielt den Kopf gesenkt, bis der Bus die Stadt verlassen hatte. Die Fensterscheiben waren getönt, niemand konnte hineinschauen, aber sie musste sich davor in Acht nehmen hinauszuschauen. Für den Fall, dass Clark plötzlich auftauchte. Aus einem Laden kam oder an einer Kreuzung wartete, ohne jede Ahnung, dass sie ihn verlassen hatte, überzeugt, dies sei ein ganz normaler Nachmittag. Nein, überzeugt, dies sei der Nachmittag, an dem der Plan – sein Plan – in die Tat umgesetzt wurde, neugierig darauf, wie weit sie damit vorangekommen war.

Sobald der Bus das Umland erreicht hatte, schaute sie auf, holte tief Luft und nahm die Wiesen und Felder wahr, durch die violetten Scheiben leicht eingefärbt. Mrs. Jamiesons Fürsorge hatte ihr ein Gefühl von völlig neuer Sicherheit und Klarsicht gegeben, sodass ihr die Flucht als das Vernünftigste erschienen war, das sich denken ließ, sogar das Einzige, was jemand in ihrer Lage tun konnte, um sich die Selbstachtung zu bewahren. Carla hatte sich fähig gefühlt, ein ungewohntes Vertrauen aufzubringen, sogar einen reifen Sinn für Humor, als sie Mrs. Jamieson ihr Leben auf eine Weise geschildert hatte, die ihr Sympathie eintragen musste und doch ironisch und wahrheitsgemäß war. Und angepasst an Mrs. Jamiesons – Sylvias – Erwartungen, so weit sie die erkennen konnte. Sie hatte das Gefühl, dass es möglich war, Mrs. Jamieson, die ihr wie ein ungemein feinfühliger und anspruchsvoller Mensch vorkam, zu enttäuschen, aber ihrer Meinung nach war sie nicht in Gefahr, das zu tun.

Vorausgesetzt, sie brauchte nicht zu lange in ihrer Nähe zu sein.

Die Sonne schien, wie schon seit einigen Stunden. Als sie sich zum Mittagessen hinsetzten, hatten die Weingläser in ihrem Licht gefunkelt. Seit dem frühen Morgen war kein Regen mehr gefallen. Es wehte genug Wind, um das Gras und das blühende Unkraut am Straßenrand aus den durchnäßten Büscheln aufzurichten. Sommerwolken, keine Regenwolken, trieben über den Himmel. Die ganze Landschaft veränderte sich, schüttelte die Nässe ab, erstrahlte im Glanz eines Julitages. Und im Vorbeifahren vermochte sie nahezu keine Spuren der letzten Zeit zu entdecken – keine großen Pfützen auf den Feldern, die anzeigten, wo die Saat fortgeschwemmt worden war, keine kümmerlichen spindeldürren Maisstauden, kein umgeschlagenes Getreide.

Ihr kam der Gedanke, dass sie Clark davon erzählen musste – dass sie sich etwas ausgesucht hatten, was aus unerfindlichen Gründen eine sehr nasse und trübe Ecke des Landes war, und dass es andere Orte gab, wo sie vielleicht Erfolg gehabt hätten.

Oder immer noch haben konnten?

Dann fiel ihr natürlich ein, dass sie Clark gar nichts mehr erzählen würde. Nie mehr. Sie würde sich keine Sorgen mehr darum machen, was aus ihm wurde oder aus Grace oder Mike oder Juniper oder Blackberry oder Lizzie Borden. Sollte Flora zufällig zurückkommen, würde sie es nicht erfahren.

Das war das zweite Mal, dass sie alles hinter sich ließ. Das erste Mal war genau wie der alte BeatlesSong – sie hatte einen Zettel auf den Tisch gelegt, sich um fünf Uhr früh aus dem Haus geschlichen und auf dem Kirchenparkplatz unten an der Straße mit Clark getroffen. Sie summte diesen Song sogar, zum Rattern der Busräder. She's leaving home, byebye. Sie erinnerte sich an den Morgen damals, hinter ihnen war die Sonne aufgegangen, sie hatte Clarks Hände auf dem Lenkrad betrachtet, die dunklen Haare auf seinen tüchtigen Unterarmen, und den Geruch im Lieferwagen eingeatmet, einen Geruch nach Öl und Metall, Werkzeug und Pferdestall. Die kalte Luft des Herbsttages blies durch die Ritzen des verrosteten Fahrzeugs herein. Ein Vehikel, in das sich niemand aus ihrer Familie gesetzt hätte und wie es kaum je durch die Straßen ihrer Wohngegend fuhr.

Clarks Konzentration auf den Verkehr an jenem Morgen (sie fuhren inzwischen auf dem Highway 401), auf das Fahrverhalten des Lieferwagens, seine barschen Antworten, seine verengten Augen, sogar seine etwas unwirsche Reaktion auf ihre überschäumende Begeisterung – all das faszinierte sie. Wie auch das Chaos in seinem bisherigen Leben, sein eingestandenes Alleinsein, die Zärtlichkeit, die er bei Pferden und auch bei ihr an den Tag legen konnte. Sie sah ihn als den Architekten des Lebens, das vor ihnen lag, sich selbst als Gefangene, die ihre Unterwerfung richtig fand und gleichzeitig ungeheuer genoss.

»Du weißt nicht, was Du hinter Dir lässt«, schrieb ihre Mutter ihr, in dem einzigen Brief, den sie erhielt und nie beantwortete. Aber in jenen fröstelnden Momenten der Flucht im Morgengrauen, da wusste sie, was sie hinter sich ließ, auch wenn sie nur eine recht vage Vorstellung von dem hatte, was vor ihr lag. Sie verachtete ihre Eltern, ihr Haus, ihren Garten, ihre Fotoalben, ihre Urlaubsreisen, ihre Küchenmaschine, ihr Badezimmer, ihre begehbaren Kleiderschränke, ihre unterirdische Rasenbewässerungsanlage. In der kurzen Nachricht, die sie ihnen hinterließ, hatte sie das Wort ursprünglich benutzt.

Ich habe immer das Bedürfnis verspürt, ein ursprünglicheres Leben zu führen. Ich weiß, dass ich von Euch kein Verständnis dafür erwarten kann.

Der Bus hatte jetzt in der ersten Stadt auf der Strecke gehalten. Die Bushaltestelle war eine Tankstelle. Es war dieselbe Tankstelle, zu der Clark und sie anfangs immer gefahren waren, um billig zu tanken. In jener Zeit hatte ihre Welt auch mehrere Städte der Umgebung umfasst, und sie hatten sich manchmal wie Touristen benommen und in verräucherten Hotelbars die ortsüblichen Spezialitäten probiert. Schweinshaxen, Sauerkraut, Kartoffelpuffer, Bier. Und auf dem Heimweg schmetterten sie dann um die Wette wie durchgeknallte Countrysänger.

Aber nach einer Weile galten all solche Ausflüge als Zeit- und Geldverschwendung. Etwas, was Leute taten, bevor sie ihre wahren Lebensumstände begriffen hatten.

Jetzt weinte sie, ihre Augen hatten sich, ohne dass sie es merkte, mit Tränen gefüllt. Sie zwang sich, an Toronto zu denken, an die ersten Schritte, die vor ihr lagen. Das Taxi, das Haus, das sie noch nie gesehen hatte, das fremde Bett, in dem sie allein schlafen würde. Morgen aus dem Telefonbuch die Adressen von Reitställen heraussuchen, dann da hinfahren, wo immer das war, und nach einem Job fragen.

Sie konnte es sich nicht vorstellen. Allein U-Bahn oder Straßenbahn zu fahren, neue Pferde zu versorgen, mit neuen Leuten zu reden, jeden Tag unter Scharen von Menschen zu leben, die nicht Clark waren.

Ein Leben, ein Ort, genau aus diesem Grunde gewählt – dass Clark nicht darin vorkam.

Das Seltsame und Schreckliche, das ihr über diese Welt der Zukunft klar wurde, so wie sie ihr jetzt vor Augen stand, war, dass sie dort nicht existieren würde. Sie würde nur umhergehen, den Mund aufmachen und sprechen, dies und jenes tun. Sie würde nicht wirklich dort sein. Und das Seltsame daran war, dass sie all das tat, dass sie in diesem Bus mitfuhr in der Hoffnung, wieder zu sich selbst zu finden. Wie Mrs. Jamieson sagen würde – und wie sie selbst vielleicht voll Genugtuung gesagt hätte: ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Ohne dass jemand ständig ein finsteres Gesicht zog, ohne dass jemand sie mit seiner schlechten Laune ansteckte.

Aber was würde ihr am Herzen liegen? Woher würde sie wissen, dass sie am Leben war?

Während sie von ihm weglief, behauptete Clark immer noch seinen Platz in ihrem Leben. Aber wenn sie das Weglaufen hinter sich hatte, wenn sie einfach ihres Weges ging, was würde sie an seine Stelle setzen? Was sonst – oder wer sonst – konnte sie je so intensiv herausfordern?