Die Jupitermonde - Alice Munro - E-Book

Die Jupitermonde E-Book

Alice Munro

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Beschreibung

Einmal mehr schafft Alice Munro das, was nur die wenigsten Autoren vermögen: Uns Figuren zu schenken, die so lebendig sind, dass wir für einen Moment ganz in ihr Leben tauchen. Da ist Janet, die ihren alten Vater ins Krankenhaus bringen muss und unverhofft Trost in einem Planetarium findet. Ein junges Mädchen, das auf einer Truthahnfarm anheuert. Und eine Frau, die dem überheblichen Gerede ihres Mannes begegnet, indem sie ihm eine Schüssel Zitronenbaiser an den Kopf wirft. Sie alle blicken zurück und blicken nach vorn, stolz und manchmal zweifelnd – und wie Munro behutsam davon erzählt, ist einzigartig. Mit ›Die Jupitermonde‹ erscheint der letzte, noch fehlende Band in der Autorenedition Munro bei Fischer Taschenbuch - neu übersetzt von Heidi Zerning. »Geschichten voller Zauber!« Publishers Weekly

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Seitenzahl: 436

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Alice Munro

Die Jupitermonde

Aus dem Englischen von Heidi Zerning

FISCHER E-Books

Inhalt

EinleitungDie Chaddeleys und die Flemings1. Verbindungen2. Der Stein auf dem FeldDulseDie PutensaisonUnfallBardon Bus2345678910111213PrueLabor Day DinnerMrs Cross und Mrs KiddLeidensgeschichtenBesucherDie Jupitermonde

Einleitung

Es fällt mir sehr schwer, über irgendeine meiner Arbeiten zu reden, sie mir anzuschauen oder sie gar zu lesen, nachdem sie erschienen ist, weggeschlossen in ihr Buch. Warum eigentlich? Zum Teil einfach aus Scheu. Hätte ich es nicht besser machen können, einen Weg finden können, dass mir die Wörter besser dienen? Müßiges Grübeln – da auf der kalten Seite stehen sie nun einmal. Aber das ist nicht alles. Die Erzählung ist eine Art Verlängerung meiner selbst, etwas, das einmal mit mir verbunden war und aus mir wuchs und das nun abgetrennt ist, preisgegeben und verlassen. Was ich empfinde, ist nicht direkt Scham oder Bedauern – zumal es Heuchelei wäre, das zu behaupten, da ich doch das Preisgeben, die Veröffentlichung, von Anfang an im Sinn hatte –, sondern eher ein Unbehagen, ein Widerwille dagegen, hinzuschauen oder nachzuprüfen. Ich versuche, das zu überwinden, denn ich finde es primitiv und kindisch. Ich will es jetzt versuchen.

Einige dieser Erzählungen sind näher an meinem eigenen Leben als andere, aber keine davon so nah, wie manche meinen. Die Titelerzählung hat etwas mit dem Tod meines Vaters zu tun. Sie hat etwas mit einem Ausflug zum McLaughlin-Planetarium zu tun, den ich im Sommer nach seinem Tod unternahm. Aber hätte ich mich darangemacht, und sei es nur für mich selbst, einen Bericht vom Tod meines Vaters zu schreiben oder von der Fahrt zum Planetarium mit meiner jüngsten Tochter und ihrem Stiefbruder, wäre das Ergebnis ein ganz anderes, nicht nur von den einzelnen Fakten, den Begebenheiten her, sondern vom Gefühl her. Wenn man anfängt, eine Erzählung zu schreiben, kommen viele Dinge aus fernen Regionen des Gedächtnisses und fügen sich ein. Manche Dinge, von denen man meinte, sie würden dazugehören, verschwinden; andere beanspruchen mehr Raum. Und so, begleitet von Hoffnung und Ängsten und häufigen Überraschungen, setzt man das Ganze zusammen. Wenn es eine bestimmte Art von Geschichte ist – in der Ich-Form erzählt, scheinbar kunstlos und geradeaus –, meinen viele, dass man nichts weiter getan habe, als alles aufzuschreiben, was an einem bestimmten Tag passiert ist.

Und es ist gut, wenn sie das denken, denn das heißt, dass die Erzählung funktioniert.

Alle Erzählungen sind eigentlich auf die gleiche Art entstanden. Einige kommen aus persönlichen Erfahrungen – wie ›Die Jupitermonde‹ oder ›Der Stein auf dem Feld‹ –, andere wesentlich mehr aus Beobachtungen – wie ›Besucher‹ oder ›Mrs Cross und Mrs Kidd‹. Dieser Unterschied verwischt sich beim Schreiben, oder er sollte es. Die Erzählungen aus dem persönlichen Bereich werden gnadenlos von der Wirklichkeit entfernt. Und die beobachteten Geschichten verlieren ihre anekdotischen Kanten, vertraute Gestalten und Stimmen stellen sich ein.

So hofft man wenigstens.

Die Entstehung von ›Die Putensaison‹, wenn ich mich recht daran erinnere, kann vielleicht etwas Licht auf den Vorgang werfen. Jahrelang hatte ich immer wieder versucht, eine Geschichte über das Hotel zu schreiben, in dem ich mit neunzehn als Kellnerin gearbeitet habe. Das war ein zweitklassiges Ferienhotel in Muskoka. Ich wollte etwas über den zweiten Koch schreiben, einen geheimnisvollen, bewundernswerten Mann, und den mürrischen dritten Koch, der vielleicht sein Liebhaber war, und den Konditor, der zwanghaft unanständige Wörter benutzte. Auch über eine damenhafte, ziemlich verblühte Frau, die dem zweiten Koch nachgereist war – und über die Wirkung von all dem auf dieses hausbackene, unbeholfene, neugierige, dreiste und schüchterne junge Mädchen. Mit dieser Geschichte bin ich nie sehr weit gekommen. Dann fand ich eines Tages in den Unterlagen meines Vaters ein Foto von den Saisonarbeitern auf der Putenfarm, die er geleitet hatte. Ich glaube, das Foto wurde am Weihnachtsabend aufgenommen. Es hat etwas Mittelalterliches an sich – die Kittel und Kappen und Schürzen, die müden Gesichter, die zugleich freundlich und misstrauisch wirken, spöttisch und gehorsam, durchtrieben und resigniert. Bei dem Bild musste ich an bestimmte Arten von harter Arbeit denken, an die Befriedigung und die Kameradschaft ebenso wie an die ungeheure Anstrengung. Ich merkte, dass die Personen aus meiner Hotelgeschichte in diese Geschichte gelangt waren. Der zweite Koch war der Vorarbeiter, der dritte Koch und der Konditor ergaben zusammen Brian, den unzufriedenen jungen Aushilfsarbeiter. Die abgetakelte, hartnäckige Frau, die hinter dem Koch-Vorarbeiter her war, wurde zu Gladys. Von Marjorie und Lily erfuhr ich aus Geschichten, die ich von Verwandten und beim Friseur gehört hatte. Sehr wichtig war mir, genau zu verstehen, wie man Puten ausnimmt, und ich hatte das Glück, eine anschauliche Beschreibung dieses Vorgangs von meinem Schwager zu bekommen, dem ›Die Putensaison‹ gewidmet ist. Damit wäre diese Geschichte aufgedröselt, aber wissen wir nun Bescheid, worum es darin geht? Um Sexualität oder Arbeit oder Puten oder die Lebensumstände von Frauen in mittleren Jahren oder die Entdeckungen des jungen Mädchens? Wenn ich an diese Geschichte denke, dann denke ich an den Augenblick, als Marjorie und Lily und das Mädchen aus dem Putenstall kommen und der Schnee fällt und sie sich unterhaken und singen. Ich meine, einen solchen sonderbaren, leuchtenden Augenblick sollte es in jeder Geschichte geben, und irgendwie geht es in dieser Geschichte genau darum.

›Unfall‹ wurde als erste dieser Geschichten im Winter 1977 geschrieben. Zu der Zeit arbeitete ich hauptsächlich an Erzählungen für einen anderen Band. ›Bardon Bus‹ war die letzte Geschichte, geschrieben im Herbst 1981. Sie entstanden alle, als ich in Clinton, Ontario, wohnte. In diesen Jahren reiste ich nach Australien, nach China, nach Reno, nach Salt Lake City und vielen anderen Orten, aber ich kann nicht erkennen, dass Reisen auf mich als Schriftstellerin je großen Einfluss hatten. ›Bardon Bus‹ zum Beispiel spielt teilweise in Australien, aber ganz überwiegend in dem seltsamen, heruntergekommenen, hektischen Abschnitt der Queen Street in Toronto, wo ich oft den Sommer verbringe.

Ich muss mich anstrengen, um mich jetzt daran zu erinnern, was in diesen Geschichten vorkommt. Das ist eigentlich merkwürdig. Ich mache sie mit so viel Einsatz und Hingabe und geheimen Schmerzen, und dann schlängele ich mich aus ihnen hinaus und lasse sie zurück, damit sie aushärten und ihren Platz finden. Ich fühle mich frei. Doch kaum ist das vorbei, schon fange ich an, neues Material zusammenzutragen; ich bereite mich darauf vor, mit dem Ganzen von vorn anzufangen.

 

Alice Munro

Clinton, Ontario, 1985

Die Chaddeleys und die Flemings

1. Verbindungen

Kusine Iris aus Philadelphia. Sie war Krankenschwester. Kusine Isabel aus Des Moines. Sie hatte ein Blumengeschäft. Kusine Flora aus Winnipeg, eine Lehrerin; Kusine Winifred aus Edmonton, eine Buchhalterin. Reifere Damen wurden sie genannt. Alte Jungfern war ein zu dürftiger Ausdruck, der für sie nicht reichte. Ihr Busen war schwer und einschüchternd – ein einziger gepanzerter Wulst –, ihr Leib und ihr Hinterteil ebenso üppig und korsettiert wie bei jeder verheirateten Frau. Zu jener Zeit schien es für Frauenkörper ein Muss zu sein, zu einer guten Größe Vierundvierzig aufzugehen und heranzureifen, falls sie überhaupt irgendetwas vom Leben hatten; dann, je nach Gesellschaftsschicht und Ambitionen, wurden sie entweder schlaff und formlos, wabbelig wie Pudding unter blassgeblümten Kleidern und feuchten Schürzen, oder zu Figuren zusammengeschnürt, deren feste Kurven und stolze Wölbungen nichts mit Sex zu tun hatten, aber viel mit Rechten und Macht.

Meine Mutter und ihre Kusinen gehörten zu der zweiten Kategorie von Frauen. Sie trugen Korsetts, die an der Seite mit Dutzenden von Haken und Ösen zugemacht wurden, Strümpfe, die zischten und schabten, wenn sie die Beine übereinanderschlugen, seidene Jerseykleider am Nachmittag (das meiner Mutter stammte von einer der Kusinen), Gesichtspuder (beige-rosé), Rouge, Eau de Cologne, in den Haaren Kämme aus Schildpatt oder Schildpatt-Imitat. Ohne solche Aufmachung waren sie nicht vorstellbar, es sei denn, sie hatten sich bis zum Kinn in Morgenmäntel aus gestepptem Satin gewickelt. Für meine Mutter war es nicht leicht, dabei mitzuhalten; es erforderte Einfallsreichtum, Hingabe und unermüdliche Anstrengungen. Und wer wusste das zu schätzen? Nun, sie selbst.

Sie alle kamen uns eines Sommers besuchen. Sie kamen in unser Haus, denn meine Mutter war die Einzige mit einem Ehemann und mit einem Haus, groß genug, um sie alle unterzubringen, außerdem hatte sie nicht genug Geld, um zu ihnen zu fahren. Wir wohnten in Dalgleish im Huron County in Western Ontario. Die Einwohnerzahl, 2000, wurde auf einem Schild an der Stadtgrenze verkündet. »Jetzt sind es zweitausendvier«, rief Kusine Iris und wuchtete sich aus dem Fahrersitz. Sie fuhr einen 1939er Oldsmobile. Sie war nach Winnipeg gefahren, um Flora abzuholen und Winifred, die mit dem Zug aus Edmonton gekommen war. Dann waren sie alle nach Toronto gefahren, um Isabel abzuholen.

»Und wir vier machen bestimmt mehr Krawall als alle übrigen zweitausend zusammen«, sagte Isabel. »Wo war das – in Orangeville –, wo wir so gelacht haben, dass Iris anhalten musste? Sie hatte Angst, sie fährt sonst in den Graben!«

Die Stufen knarrten unter ihren Füßen.

»Atmet diese Luft ein! Ach, es geht doch nichts über Landluft. Ist das die Pumpe, aus der ihr euer Trinkwasser holt? Wäre das jetzt nicht herrlich? Ein Schluck Brunnenwasser!«

Meine Mutter bat mich, ein Glas zu holen, aber sie beharrten darauf, aus dem Blechbecher zu trinken.

Sie erzählten, dass Iris auf eine Wiese gegangen sei, um dem Ruf der Natur zu folgen, und als sie aufschaute, sah sie sich von neugierigen Kühen umringt.

»Quatsch, Kühe!«, sagte Iris. »Das waren Ochsen.«

»Bullen, nach allem, was ich weiß«, sagte Winifred und ließ sich in einem Korbsessel nieder. Sie war die Beleibteste.

»Bullen! Die würd ich erkennen!«, sagte Iris. »Ich hoffe, ihre Möbel halten dein Gewicht aus, Winifred. Ich sage dir, das war eine schöne Last auf die Hinterräder von meinem armen Auto. Bullen! Ein Schock war das, ein Wunder, dass ich den Schlüpfer hochgekriegt habe!«

Sie erzählten von der verkommen aussehenden Stadt in Northern Ontario, wo Iris nicht einmal anhalten mochte, damit sie sich eine Cola kaufen konnten. Sie warf nur einen Blick auf die Holzfäller und rief: »Die würden uns alle vergewaltigen!«

»Was ist vergewaltigen?«, fragte meine kleine Schwester.

»Oh je«, sagte Iris. »Es bedeutet, dir wird dein Safe gestohlen.«

Safe: ein amerikanisches Wort. Weder meine Schwester noch ich wussten, was das bedeutete, aber wir trauten uns nicht, zwei Fragen hintereinander zu stellen. Und ich wusste, vergewaltigen bedeutete etwas ganz anderes; nämlich etwas Schmutziges.

»Geldbörse. Geldbörse gestohlen«, sagte meine Mutter in heiterem, aber warnendem Ton. In unserem Haus sprach man stubenrein.

Jetzt ging es ans Auspacken der Geschenke. Dosen mit Kaffee, Dattelnusskuchen, Austern, Oliven, Schachteln mit Zigaretten für meinen Vater. Sie rauchten auch alle, mit Ausnahme von Flora, der Lehrerin aus Winnipeg. Damals ein Zeichen von Weltgewandtheit; in Dalgleish ein Zeichen von zweifelhafter Moral. Sie machten daraus einen ehrbaren Luxus.

Strümpfe und Schals kamen ebenfalls zum Vorschein, eine Voile-Bluse für meine Mutter, zwei steife weiße Organdy-Schürzen für mich und meine Schwester (vielleicht der letzte Schrei in Des Moines oder Philadelphia, aber ein Fehler in Dalgleish, wo die Leute uns fragten, warum wir die Schürzen nicht abgelegt hätten). Und schließlich eine Fünf-Pfund-Schachtel Pralinen. Lange nachdem alle Pralinen aufgegessen und die Kusinen abgefahren waren, bewahrten wir die Pralinenschachtel im Wäschefach des Esszimmerbüfetts auf, für einen feierlichen Gebrauch, der sich nie ergab. Sie war noch voll mit den leeren Pralinennäpfchen aus braunem, gefälteltem Papier. Im Winter ging ich manchmal in das kalte Esszimmer und roch an ihnen, sog ihren Duft nach Künstlichkeit und Luxus ein; ich las immer wieder die Bezeichnungen auf dem Lageplan innen im Deckel der Schachtel: Haselnuss, Nougatcreme, Fruchtgelee, Goldkaramell, Pfefferminzcreme.

 

Die Kusinen schliefen in dem unteren Schlafzimmer und auf der ausgezogenen Bettcouch im Wohnzimmer. Wenn die Nacht heiß war, fanden sie nichts dabei, eine Matratze auf die Veranda zu schleppen oder sogar in den Hof. Sie losten die Hängematte unter sich aus. Winifred durfte dabei nicht mitmachen. Bis weit in die Nacht hinein war zu hören, wie sie kicherten, sich gegenseitig »Pst!« zuzischten und riefen: »Was war denn das?« Wir befanden uns außerhalb der Straßenlaternen von Dalgleish, und sie waren beeindruckt von der Dunkelheit, der Vielzahl der Sterne.

Einmal beschlossen sie, einen Kanon zu singen.

Mein Boot, es gleitet den Fluss hinab,

Die Ruder, die brauche ich kaum,

Immer fröhlich voran, immer fröhlich voran,

Das Leben, es ist nur ein Traum.

Sie nahmen Dalgleish nicht ernst. Sie fuhren in die Stadt und berichteten von der Schrulligkeit der Ladenbesitzer; sie ahmten Dinge nach, die sie auf der Straße aufgeschnappt hatten. Jeden Morgen füllte der Kaffee, den sie mitgebracht hatten, das Haus mit seinem ungewohnten amerikanischen Duft, und sie saßen da und fragten, wer eine gute Idee für den Tag habe. Eine Idee war, aufs Land zu fahren und Brombeeren zu pflücken. Sie wurden zerkratzt und gerieten ins Schwitzen, und irgendwann war Winifred völlig von dornigen Ranken eingepfercht, konnte sich nicht mehr rühren und brüllte um Hilfe; trotzdem sagten sie, sie hätten sich prächtig amüsiert. Eine andere Idee war, die Angelruten meines Vaters zu nehmen und an den Fluss hinunterzugehen. Sie kamen mit einem Fang Felsenbarsche nach Hause, Fischen, die wir meistens zurückwarfen. Sie organisierten Picknicks. Sie verkleideten sich mit alten Sachen, mit alten Strohhüten und Overalls meines Vaters, und fotografierten sich gegenseitig. Sie machten Schichttorten und herrliche Salatberge, gestaltet wie Tempel und bunt wie Edelsteine.

Eines Nachmittags veranstalteten sie ein Konzert. Iris gab eine Opernsängerin. Sie nahm die Tischdecke vom Esszimmertisch und drapierte sie um sich und schickte mich Hühnerfedern sammeln, um sie sich ins Haar zu stecken. Sie sang ›The Indian Love Call‹ und ›Oh, wie so trügerisch‹. Winifred gab einen Bankräuber, mit einer Wasserpistole, die sie sich im Billigkaufhaus besorgt hatte. Jeder musste etwas machen. Meine Schwester und ich sangen zwei Lieder: ›Yellow Rose of Texas‹ und das Gloria. Meine Mutter zog sich zu unserem Erstaunen eine Hose meines Vaters an und machte einen Kopfstand.

Die Kusinen waren füreinander ständig Darstellerinnen und Zuschauerinnen zugleich, jedenfalls, solange sie wach waren. Und manchmal auch im Schlaf. Flora war diejenige, die im Schlaf redete. Da sie auch die Damenhafteste und Korrekteste war, blieben die anderen wach, um ihr Fragen zu stellen, damit sie womöglich etwas sagte, womit sie sich in Verlegenheit brachte. Sie erzählten ihr, sie habe geflucht. Sie sagten, sie habe sich im Bett aufgesetzt und gefragt: »Warum zum Teufel ist keine Kreide da?«

Sie war diejenige, die ich am wenigsten mochte, denn sie versuchte, unseren Verstand zu schärfen – den von meiner Schwester und mir –, indem sie ständig praktische Rechenaufgaben stellte. »Wenn man sieben Minuten braucht, um sieben Querstraßen weit zu gehen, und fünf Querstraßen gleich weit voneinander entfernt sind, aber die anderen zwei doppelt so weit …«

»Ach, zieh Leine, Flora!«, sagte Iris, die die Ruppigste war.

Wenn sie keine gute Idee hatten oder es zu heiß war, um etwas zu unternehmen, saßen sie auf der Veranda und tranken Limonade, Fruchtsaft-Punsch, Gingerale oder Eistee mit Maraschinokirschen und Eisstückchen, die von dem großen Eisblock in der Kühltruhe abgehackt worden waren. Manchmal verschönte meine Mutter die Gläser, tauchte sie mit dem Rand in Eischnee und danach in Zucker. Die Kusinen sagten dann, sie seien völlig fertig, zu nichts fähig; aber ihre Klagen klangen ganz zufrieden, als sei die Sommerhitze eigens geschaffen worden, um ihr Leben dramatischer zu gestalten.

 

Dabei gab es keinen Mangel an Dramen.

In der großen weiten Welt war ihnen alles Mögliche widerfahren. Unfälle, Heiratsanträge, Begegnungen mit Geistesgestörten und bösen Feinden. Iris hätte reich werden können. Eine Millionätswitwe, eine verrückte alte Frau mit einer Perücke wie ein Heuhaufen, war eines Tages ins Krankenhaus eingeliefert worden, mit einer Reisetasche, die sie umklammerte. Und was war in der Tasche: Schmuck, echter Schmuck, Smaragde und Diamanten und Perlen, groß wie Wachteleier. Niemand außer Iris kam mit ihr zurecht. Iris war es, die sie überredete, endlich die Perücke in den Müll zu werfen (sie wimmelte von Flöhen) und den Schmuck in einen Banktresor zu tun. Diese alte Frau hatte Iris so liebgewonnen, dass sie ihr Testament ändern wollte, sie wollte Iris den Schmuck hinterlassen und die Aktien und das Geld und die Mietshäuser. Iris ließ das nicht zu. Ihr Berufsethos schloss das aus.

»Man hat eine Vertrauensstellung. Eine Krankenschwester hat eine Vertrauensstellung.«

Dann erzählte sie, wie sie einen Heiratsantrag von einem Schauspieler erhalten hatte, der an den Folgen seines ausschweifenden Lebens zugrunde ging. Sie erlaubte ihm hin und wieder einen Schluck aus der Listerine-Flasche, denn sie sah nicht ein, dass das noch etwas schadete. Er war Theaterschauspieler, sein Name hätte uns also nichts gesagt, wenn sie ihn genannt hätte, was sie nicht tat.

Sie hatte auch noch andere mit großen Namen gesehen, Prominente, die feine Gesellschaft von Philadelphia. Nicht in bestem Zustand.

Winifred sagte, sie habe auch so manches gesehen. Die nackte Wahrheit, die scheußliche nackte Wahrheit über einige dieser hohen Tiere und Gesellschaftslöwen kam heraus, wenn man Einblick in ihre Finanzen erhielt.

 

Wir wohnten am Ende einer Straße, die von Dalgleish nach Westen verlief, über verstrüpptes Land mit kleinen Holzhäusern und Scharen von Hühnern und Kindern. Das Gelände stieg an bis zu einer respektablen Anhöhe, auf der wir uns befanden, und senkte sich dann mit weiten Feldern und Viehweiden, auf denen Ulmen standen, bis hinunter zur Flussbiegung. Unser Haus war auch respektabel, ein altes, geräumiges Backsteinhaus, aber es war zugig, hatte eine ungünstige Raumaufteilung, und die Außenwände brauchten einen Anstrich. Meine Mutter hatte vor, es völlig umzubauen und in Ordnung zu bringen, sobald etwas Geld da war.

Meine Mutter hielt nicht viel von der Stadt Dalgleish. Sie kam oft auf die Stadt Fork Mills im Ottawa Valley zu sprechen, wo sie und die Kusinen zur Highschool gegangen waren, die Stadt, in der sich ihr aus England stammender Großvater niedergelassen hatte; und auf England selbst, das sie natürlich nie gesehen hatte. Sie pries Fork Mills wegen seiner aus Stein erbauten Häuser, seiner schmucken und stilvollen öffentlichen Gebäude (ganz anders, sagte sie, als die im Huron County, wo man darauf verfallen war, klobige Backsteinklötze hinzustellen und dann einen Turm draufzusetzen), wegen seiner gepflasterten Straßen, der Bedienung in den Läden, der besseren Qualität der angebotenen Waren und wegen der gehobeneren Leute. Die Leute, die in Dalgleish so viel auf sich hielten, würden von den führenden Familien in Fork Mills ausgelacht werden. Allerdings würden auch die führenden Familien von Fork Mills in ihre Schranken gewiesen werden, wenn sie bestimmten Familien in England begegnen würden, mit denen meine Mutter verwandtschaftlich verbunden war.

Verbindungen. Darum ging es. Die Kusinen waren ein Spektakel für sich, aber sie standen auch für eine Verbindung. Eine Verbindung mit der wahren und sinnenfrohen und gefährlichen Welt. Sie wussten, wie man darin zurechtkommt, sie hatten sich in ihr Achtung verschafft. Sie konnten sich durchsetzen, in einem Klassenzimmer, in einer Entbindungsstation, in der Öffentlichkeit; sie wussten, wie man mit Taxifahrern und Zugschaffnern umgeht.

Die andere Verbindung, für die sie ebenso wie meine Mutter standen, das war die zu England und zur Geschichte. Tatsächlich erzählen einem Kanadier schottischer – die wir im Huron County Schotten nannten – und irischer Abstammung bereitwillig, dass ihre Vorfahren sich während der Kartoffelhungersnot mit nichts als den Lumpen am eigenen Leib auf den Weg gemacht hätten, oder dass sie Schafhirten, Tagelöhner, arme Leute ohne eigenes Land gewesen seien. Aber jeder, dessen Vorfahren aus England kamen, kennt irgendeine Geschichte von schwarzen Schafen oder jüngeren Söhnen, finanziellen Fehlschlägen, verlorenen Erbschaften oder verbotenen Liebschaften. Darin mag ein wahrer Kern stecken; die Zustände in Schottland und Irland erzwangen die Auswanderung, während Engländer wohl eher aus abenteuerlichen Gründen persönlicher Natur die Heimat verließen.

So war es jedenfalls bei den Chaddeleys, der Familie meiner Mutter. Isabel und Iris hießen nicht Chaddeley, aber ihre Mutter war eine Chaddeley gewesen; meine Mutter war eine geborene Chaddeley, allerdings jetzt eine Fleming; Flora und Winifred waren immer noch Chaddeleys. Sie alle stammten von einem Großvater ab, der als junger Mann England aus Gründen verlassen hatte, über die sie sich nicht ganz einig waren. Meine Mutter glaubte, er sei Student in Oxford gewesen, habe aber all das Geld verloren, das seine Familie ihm schickte, und sich zu sehr geschämt, um nach Hause zurückzukehren. Denn er hatte es beim Glücksspiel verloren. Nein, sagte Isabel, so heiße es nur; in Wirklichkeit habe er ein Dienstmädchen in Schwierigkeiten gebracht und sei gezwungen worden, sie zu heiraten und mit ihr nach Kanada zu gehen. Die Besitzungen der Familie lägen in der Nähe von Canterbury, sagte meine Mutter. (Dem berühmten Canterbury aus den Erzählungen von Chaucer.) Die anderen waren sich dessen nicht sicher. Flora sagte, dass sie im Westen von England beheimatet sei und dass der Name Chaddeley vielleicht mit Cholmondeley in Verbindung stehe; es gab einen Lord Cholmondeley, die Chaddeleys könnten ein Zweig dieser Familie sein. Aber es gebe auch die Möglichkeit, sagte sie, dass er französisch sei, ursprünglich Champ de laiche, was Seggenfeld bedeute. In dem Fall sei die Familie wahrscheinlich mit Wilhelm dem Eroberer nach England gekommen.

Isabel sagte, sie sei keine Intellektuelle, und die einzige Person, die sie aus der englischen Geschichte kenne, sei Maria von Schottland. Könne ihr jemand sagen, ob Wilhelm der Eroberer vor Maria kam oder danach?

»Seggenfelder«, sagte mein Vater gemütlich. »Die hätten ihnen nicht gerade ein Vermögen eingebracht.«

»Also ich könnte Segge nicht von Hafer unterscheiden«, sagte Iris. »Jedenfalls waren sie laut Großvater in England recht wohlhabende Grundbesitzer.«

»Davor«, sagte Flora, »und Maria von Schottland war nicht mal Engländerin.«

»Das weiß ich selber«, sagte Isabel. »Sagt ja schon der Name, haha.«

Bei aller Uneinigkeit über die Einzelheiten glaubte doch jede von ihnen, dass es einen großen Abstieg, eine dunkle Katastrophe gegeben hatte und dass fern von ihnen, hinter ihnen, in England, Ländereien und Häuser und Wohlstand und Ansehen lagen. Wie konnten sie etwas anderes denken, bei ihren Erinnerungen an den Großvater?

Er war bei der Post in Fork Mills beschäftigt gewesen. Seine Frau, ob sie nun ein verführtes Dienstmädchen war oder nicht, gebar ihm acht Kinder, und dann starb sie. Sobald die älteren Kinder arbeiten gingen und Geld zum Haushalt beisteuerten – an höhere Bildung wurde kein Gedanke verschwendet –, gab der Vater seine Stellung auf. Ein Streit mit dem Postvorsteher war der unmittelbare Grund, aber in Wirklichkeit hatte er keine Lust, noch weiter zu arbeiten; er beschloss, zu Hause zu bleiben, als Kostgänger seiner Kinder. Er hatte das Gebaren eines Gentleman, war recht belesen, voller Wortgewandtheit und Dünkel. Seine Kinder sträubten sich nicht dagegen, für ihn aufzukommen; sie blieben an ihren bescheidenen Arbeitsplätzen, drängten aber ihre eigenen Kinder – sie beschränkten sich auf je ein oder zwei, hauptsächlich Mädchen –, eine Handelsschule, ein Lehrerseminar oder eine Schwesternschule zu besuchen. Meine Mutter und ihre Kusinen, die diese Kinder waren, redeten oft über ihren egoistischen und starrsinnigen Großvater, doch kaum je über ihre anständigen, hart arbeitenden Eltern. Was für ein alter Snob er war, sagten sie, aber wie gut aussehend, sogar noch als alter Mann, was für eine Haltung. Welche raschen und treffenden Beleidigungen er parat hatte, welche vernichtenden Urteile er abgeben konnte. Einmal, im weit entfernten Toronto, im Erdgeschoss vom Kaufhaus Eaton’s, um genau zu sein, wurde er von der Frau eines Sattlers aus Fork Mills angesprochen, einer harmlosen, hirnlosen Frau, die rief: »Ach, ist das nicht nett, so weit weg von zu Hause einen Bekannten zu treffen?«

»Madam«, sagte Großvater Chaddeley, »Sie zählen nicht zu meinem Bekanntenkreis.«

War er nicht unmöglich, sagten sie. Madam, Sie zählen nicht zu meinem Bekanntenkreis! Der alte Snob. Er stolzierte hoch erhobenen Hauptes umher wie ein preisgekrönter Ganter. Eine andere Frau – seiner Meinung nach ebenfalls aus der Unterschicht – war so freundlich, ihm etwas Suppe zu bringen, als er sich erkältet hatte. Er hockte in der Küche seiner Tochter, nicht mal unter seinem eigenen Dach, die Füße in einer Schüssel mit heißem Wasser, ein kranker, sogar ein sterbender Mann, aber er besaß immer noch die Frechheit, den Rücken zu kehren und es seiner Tochter zu überlassen, sich zu bedanken. Er verachtete diese Frau, die falsches Englisch sprach und keine Zähne mehr hatte.

»Aber er hatte doch auch keine mehr! Zu der Zeit hatte er keinen einzigen Zahn mehr im Mund!«

»Eingebildeter alter Knacker.«

»Und seinen Kindern ein Blutsauger.«

»Nur Stolz und Eitelkeit. Weiter nichts.«

Aber beim Erzählen dieser Geschichten lachten sie nicht nur, sie blähten sich vor Stolz, sie krähten. Sie waren stolz darauf, einen solchen Großvater zu haben. Sie fanden die Weigerung, mit tiefer stehenden Leuten zu sprechen, empörend und unmöglich, das Beharren auf Vornehmheit lächerlich, besonders, wenn man keine Zähne mehr hatte, aber in gewisser Weise bewunderten sie ihn trotzdem. Doch, das taten sie. Sie bewunderten seine Schimpftiraden, die sein Chef, der emsige Postvorsteher, nicht zu schätzen wusste, und sein stolzes Benehmen, das seine Nachbarn, die demokratischen Bürger Kanadas, ebenso wenig zu schätzen wussten. (Ach, wie isses schrecklich, murmelte die zahnlose Nachbarin, der arme alte Kerl, er kennt mich nich mehr wieder.) Vielleicht bewunderten sie sogar seine Entscheidung, das Arbeiten anderen zu überlassen. Einen Gentleman nannten sie ihn. Sie sprachen ironisch, aber einen solchen Großvater gehabt zu haben bereitete ihnen immer noch Freude.

Ich konnte das nicht verstehen, weder damals noch später. Ich hatte zu viel schottisches Blut in mir, zu viel von meinem Vater. Mein Vater hätte nie eingeräumt, dass es tiefer stehende Leute gab oder auch höher stehende. Er war strikt egalitär und machte es sich zum Prinzip, vor niemandem zu »krauchen«, wie er sagte, nicht zu katzbuckeln, und auch niemanden von oben herab zu behandeln, sich zu verhalten, als gäbe es keine Unterschiede. Ich schlug den gleichen Weg ein. Später gab es Zeiten, da fragte ich mich, ob lähmende Vorsicht, mindestens ebenso wie irgendwelche edleren Beweggründe, diesen Standpunkt erzwang, und ob mein Vater und ich nicht tief im Herzen ungebrochene und unangreifbare Vorstellungen von Überlegenheit hegten, gegen die meine Mutter und ihre Kusinen mit ihrer naiven Versnobtheit harmlos waren.

 

Jedenfalls nahm ich es Jahre später nicht besonders wichtig, als ich einen Brief von der Chaddeley-Familie in England erhielt. Er kam von einer älteren Dame, die an einem Familienstammbaum arbeitete. Die Familie in England gab es also, und ihre Mitglieder schämten sich nicht der Zweige in Übersee, sondern forschten nach uns. Mein Urgroßvater war ihnen bekannt. Sein Name stand im Stammbaum: Joseph Ellington Chaddeley. Das Trauregister verzeichnete als seinen Beruf Fleischerlehrling. Er hatte 1859 Helena Rose Armour, ein Dienstmädchen, geheiratet. Es stimmte also, dass er ein Dienstmädchen geheiratet hatte. Aber wahrscheinlich das mit den Spielschulden in Oxford nicht. Gingen Gentlemen, die an der Universität in Schwierigkeiten geraten waren, anschließend zu Fleischern in die Lehre?

Mir kam der Gedanke, wenn er beim Fleischerhandwerk geblieben wäre, hätten seine Kinder auf die Highschool gehen können. Er hätte in Fork Mills ein wohlhabender Mann werden können. Die Briefschreiberin erwähnte weder die Cholmondeley-Verbindung, noch die Seggenfelder, noch Wilhelm den Eroberer. Es war eine ehrbare Familie, zu der wir gehörten, von Dienstboten und Handwerkern, gelegentlich einem Kaufmann oder Landwirt. Es gab eine Zeit, da wäre ich entsetzt gewesen, das zu entdecken, und hätte es kaum geglaubt. Später, als ich darum bemüht war, mich von allen falschen Vorstellungen, allen Illusionen zu trennen, hätte ich triumphiert. Als die Enthüllung dann kam, nahm ich sie gleichmütig auf. Ich hatte schon lange nicht mehr an Canterbury, Oxford und Cholmondeley gedacht, an jenes England, von dem meine Mutter mir erzählt hatte, jenes altehrwürdige Land, in dem es Eintracht und Ritterlichkeit gab, Menschen hoch zu Ross und gute Manieren (obwohl die meines Urgroßvaters unter dem Druck eines raueren Lebens versagt hatten), Simon de Montfort und Lorna Doone, Jagdhunde und Schlösser und den New Forest, alles frisch und ländlich, traditionell, zivilisiert, ein ewiges Idyll.

Und mir waren schon für einige andere Dinge die Augen geöffnet worden, durch den Besuch von Kusine Iris.

Der geschah, als ich in Vancouver lebte. Ich war zu der Zeit mit Richard verheiratet. Ich hatte zwei kleine Kinder. An einem Samstagabend klingelte das Telefon, Richard nahm ab und rief mich dann an den Apparat.

»Pass auf«, sagte er. »Es klingt nach Dalgleish.«

Richard sprach den Namen meiner Geburtsstadt immer aus, als sei er ein Klumpen von etwas Unangenehmem, das er schnell aus dem Mund herausbekommen musste.

Ich ging ans Telefon und stellte zu meiner Erleichterung fest, dass es niemand aus Dalgleish war. Es war Kusine Iris. Ihre Sprechweise hatte immer noch Reste vom Ottawa-Valley-Akzent, etwas Ländliches – was ihr wahrscheinlich gar nicht bewusst war und was ihr nicht gefallen hätte –, und etwas Lautes und Fröhliches, weshalb Richard an die Stimmen von Dalgleish gedacht hatte. Sie sagte, sie sei gerade in Vancouver, sei jetzt im Ruhestand und auf einer Reise, und sie würde mich wahnsinnig gerne sehen. Ich bat sie, am nächsten Tag zum Dinner zu kommen.

»Also mit Dinner, da meinst du das Abendessen, oder?«

»Ja.«

»Ich will nur sichergehen. Denn als wir euch damals besucht haben, weißt du noch, da gab’s das Dinner bei euch immer mittags. Ihr nanntet das Mittagessen Dinner. Ich dachte zwar nicht, dass du das immer noch tust, aber ich wollte sichergehen.«

Ich erzählte Richard, dass eine Kusine meiner Mutter zum Dinner käme. Ich sagte, sie sei Krankenschwester, oder jedenfalls früher gewesen, und wohne in Philadelphia.

»Sie ist ganz in Ordnung«, sagte ich. Ich meinte, halbwegs gebildet, einigermaßen wortgewandt, mit anständigen Manieren. »Sie ist weitgereist. Sie ist wirklich ganz interessant. Als Krankenschwester sind ihr alle möglichen Leute begegnet …« Ich erzählte ihm von der Millionärswitwe und dem Schmuck in der Reisetasche. Und je länger ich redete, desto deutlicher erkannte Richard meine Zweifel und mein Bedürfnis nach Bestärkung, und desto zurückhaltender und unverbindlicher wurde er. Er wusste, dass er im Vorteil war, und wir hatten in unserer Ehe einen Punkt erreicht, an dem kein Vorteil leicht aufgegeben wurde.

Ich wünschte mir inständig, der Besuch möge gut verlaufen. Ich wollte das um meiner selbst willen. Meine Motive waren nicht gerade schmeichelhaft für mich. Ich wollte, dass Kusine Iris als eine Verwandte glänzte, für die sich niemand zu schämen brauchte, und ich wollte, dass Richard und sein Geld und unser Haus mich in den Augen von Kusine Iris für immer aus der Kategorie der armen Verwandten heraushoben. Ich wollte, dass sich all das auf taktvolle und unaufdringliche Art ergab und zu einer wohltuenden Anerkennung meines eigenen Wertes auf beiden Seiten führte.

Ich dachte immer, wenn ich nur einen reichen und weltläufigen und wichtigen Verwandten vorzeigen könnte, würde das Richards Haltung mir gegenüber ändern. Ein Richter, ein Chirurg hätten sich blendend dafür geeignet. Ich war mir überhaupt nicht sicher, ob Iris als Ersatz genügen würde. Ich war beunruhigt wegen der Art, in der Richard Dalgleish gesagt hatte, wegen dieses Restes vom Ottawa Valley – Richard hegte eine starke Abneigung gegen ländliche Sprechweisen, nachdem er so viel Mühe mit meiner gehabt hatte –, und wegen etwas anderem in Iris’ Stimme, das ich nicht genau benennen konnte. War sie zu vertraulich? Ging sie von familiären Besitzansprüchen aus, die ich nicht mehr für berechtigt hielt?

Wie auch immer. Ich taute eine Lammkeule auf und machte eine Zitronenbaisertorte. Zitronenbaisertorte hatte meine Mutter immer gemacht, wenn die Kusinen zu Besuch kamen. Sie putzte die Kuchengabeln, sie bügelte die Servietten. Denn wir besaßen Kuchengabeln (wollte ich Richard erzählen); ja, und wir hatten auch Servietten, obwohl die Toilette im Keller war und wir erst nach dem Krieg fließendes Wasser bekamen. Ich trug morgens immer heißes Wasser ins vordere Schlafzimmer, damit die Kusinen sich waschen konnten. Ich goss es in einen Krug wie jene, die ich jetzt in Antiquitätengeschäften sehe oder, gefüllt mit Ziergräsern, auf Tischchen in Dielen.

Aber nichts davon war doch wohl für mich von Bedeutung, nichts von diesem Unsinn mit den Kuchengabeln? War ich, bin ich so jemand, der denkt, solche Gegenstände zu besitzen heißt, ein kultivierter Mensch zu sein? Nein, überhaupt nicht; nicht so ganz; ja und nein. Ja und nein. Hintergrund war Richards Wort. Dein Hintergrund. Ein Senken der Stimme, eine Warnung. Oder war das, was ich hörte, nicht das, was er meinte? Wenn er Dalgleish sagte, sogar, wenn er mir wortlos einen Brief von zu Hause reichte, schämte ich mich, als wucherte etwas auf mir; Schimmel, etwas Scheußliches und Trübseliges und Unentrinnbares. Armut war für Richards Familie wie Mundgeruch oder eiternde Wunden, ein Übel, an dem der Betroffene zu einem Teil selbst schuld war. Aber es galt als schlechtes Benehmen, davon Notiz zu nehmen. Wenn ich in ihrer Gegenwart etwas über meine Kindheit oder meine Familie sagte, gab es ein leichtes Zurückweichen, wie bei etwas Ordinärem, Unanständigem. Aber es ist möglich, dass ich aus Unsicherheit ein bisschen heftig war, wie die ungehobelte Person bei Virginia Woolf, die immer wieder darauf zurückkommt, dass sie nicht mit in den Zirkus durfte. Vielleicht war es das, was sie verlegen machte. Sie waren taktvoll zu mir. Richard konnte es sich nicht leisten, so taktvoll zu sein, denn er hatte sich selbst durch die Heirat mit mir in eine riskante Lage gebracht. Er wollte, ich wäre amputiert von dieser Vergangenheit, die für ihn nur armseliger Ballast war; er hielt ständig Ausschau nach Anzeichen dafür, dass die Amputation nicht vollständig war; und natürlich war sie das nicht.

Die Kusinen meiner Mutter hatten uns nie wieder alle zusammen besucht. Winifred starb plötzlich eines Winters, nicht mehr als drei oder vier Jahre nach diesem denkwürdigen Besuch. Iris schrieb meiner Mutter, dass der Kreis jetzt zerbrochen war und dass sie Winifred schon lange für zuckerkrank gehalten hatte, aber Winifred hatte nichts davon wissen wollen, weil sie so gern aß. Meiner Mutter selbst ging es nicht gut. Die verbliebenen Kusinen besuchten sie, aber einzeln und natürlich nicht oft, wegen der Entfernungen. Fast in jedem ihrer Briefe erwähnten sie, wie großartig sie sich alle in jenem Sommer amüsiert hatten, und gegen Ende ihres Lebens sagte meine Mutter: »Ach, du lieber Gott, weißt du, woran ich gerade gedacht habe? An die Wasserpistole. Erinnerst du dich an das Konzert? Winifred mit der Wasserpistole! Alle machten ein Kunststückchen. Was habe ich gemacht?«

»Einen Kopfstand.«

»Ach ja, ich weiß.«

 

Kusine Iris war korpulenter denn je und rosig unter ihrem Puder. Sie war außer Atem von ihrem Gang die steile Straße herauf. Ich hatte Richard nicht bitten wollen, sie im Hotel abzuholen. Ich würde nicht sagen, dass ich Angst hatte, ihn darum zu bitten; ich wollte einfach nicht, dass alles auf dem falschen Fuß anfing, indem ich ihn dazu brachte, etwas zu tun, was er nicht angeboten hatte. Ich hatte mir eingeredet, dass sie ein Taxi nehmen würde. Aber sie war mit dem Bus gekommen.

»Richard hatte zu tun«, log ich sie an. »Es ist meine Schuld. Ich habe keinen Führerschein.«

»Macht nichts«, sagte Iris unverdrossen. »Ich bin gerade völlig außer Puste, aber es geht gleich wieder. Ich schleppe zu viel Speck mit mir herum. Geschieht mir ganz recht.«

Sobald sie das mit der Puste und dem Speck gesagt hatte, wusste ich, wie es mit Richard laufen würde. Sogar schon davor. Ich wusste es, sobald ich sie auf meiner Türschwelle sah, ihre Haare, die ich als graubraun in Erinnerung hatte, waren jetzt golden und zu einem schaumigen Haufen gesprüht, ihr prächtiges pfauenblaues Kleid war auf einer Schulter mit einer Art golden sprudelnder Fontäne geschmückt. Wenn ich es jetzt bedenke, sah sie großartig aus. Ich wünsche mir, ich hätte mich irgendwo anders mit ihr getroffen. Ich wünsche mir, ich hätte sie so zu würdigen gewusst, wie sie es verdiente. Ich wünsche mir, alles wäre anders verlaufen.

»Na, so was«, sagte sie hocherfreut. »Du hast es ja fabelhaft getroffen!« Sie sah mich an, dann den Steingarten, die Ziersträucher und die breite Fensterfront. Unser Haus stand in Capilano Heights am Hang vom Grouse Mountain. »Donnerwetter. Ein herrliches Haus, Schatz.«

Ich führte sie herein und stellte sie Richard vor, und sie sagte: »Oho, du bist also der Ehemann. Ich frage dich gar nicht erst, wie die Geschäfte laufen, denn ich sehe, sie laufen gut.«

Richard war Anwalt. Die Männer in seiner Familie waren entweder Anwälte oder Börsenmakler. Sie sprachen nie über ihre Arbeit als irgendeine Art von Geschäft. Sie sprachen überhaupt nie über ihre Arbeit. Über das zu reden, was man bei der Arbeit tat, galt als ein wenig vulgär; darüber zu reden, wieviel man dabei verdiente, galt als unverzeihlich. Wenn ich Richard gegenüber nicht mehr so verletzlich gewesen wäre, hätte es ein Vergnügen sein können, mitanzusehen, wie ihm jemand so direkt begegnete.

Ich bot gleich etwas zu trinken an, in der Hoffnung, mir selbst eine kleine Schutzschicht zuzulegen. Ich hatte eine Flasche Sherry hingestellt, denn ich dachte, den bot man älteren Damen an, Leuten, die selten Alkohol tranken. Aber Iris lachte und sagte: »Also ich hätte gern einen Gin Tonic, genau wie ihr.«

»Weißt du noch, wie wir alle euch in Dalgleish besucht haben?«, fragte sie. »Das war so was von trocken! Deine Mutter war immer noch ein Kleinstadtmädchen, sie duldete keinen Alkohol im Haus. Obwohl ich immer dachte, dein Vater würde was trinken, wenn man ihn ließe. Flora war auch Abstinenzlerin. Aber diese Winifred war ein Teufel. Weißt du, dass sie eine Flasche in ihrem Koffer hatte? Wir stahlen uns ins Schlafzimmer und nahmen einen Schluck, dann gurgelten wir mit Eau de Cologne. Sie nannte euer Haus die Sahara. Hier müssen wir die Sahara durchqueren. Dabei bekamen wir so viel Limonade und Eistee, da hätte ein Schlachtschiff drauf schwimmen können. Vier Schlachtschiffe, was?«

Vielleicht hatte sie etwas wahrgenommen, als ich ihr die Tür öffnete – etwas Überraschendes oder einen Mangel an herzlichem Willkommen. Vielleicht war sie eingeschüchtert, wenn auch gleichzeitig ungeheuer angetan von dem Haus und der Einrichtung, die elegant und langweilig war und keinesfalls nur von Richard ausgesucht. Aus welchem Grunde auch immer war ihr Ton, als sie von Dalgleish und meinen Eltern sprach, herablassend. Ich glaube nicht, dass sie mich an zu Hause erinnern und in meine Schranken weisen wollte; ich glaube, sie wollte zeigen, wer sie war, mir zu verstehen geben, dass sie hierher gehörte, mehr als dorthin.

»Ach, ist das eine Wohltat, hier zu sitzen und diese herrliche Aussicht zu genießen! Ist das Vancouver Island?«

»Point Grey«, sagte Richard abweisend.

»Ach ja, hätte ich wissen müssen. Da sind wir gestern mit dem Bus hingefahren. Wir haben die Universität besichtigt. Ich bin mit einer Reisegruppe hier, Schatz, hab ich das gesagt? Neun alte Jungfern, sieben Witwen und drei Witwer, kein einziges Ehepaar. Aber wie ich immer sage, man kann nie wissen, die Reise ist noch nicht zu Ende.«

Ich lächelte, und Richard sagte, er müsse den Rasensprenger umsetzen.

»Nach Vancouver Island fahren wir morgen, dann geht’s per Schiff nach Alaska. Zu Hause haben mich alle gefragt, warum willst du denn nach Alaska, und ich habe gesagt, weil ich noch nie da gewesen bin, ist das nicht Grund genug? Keine Junggesellen in der Reisegruppe, und weißt du, warum? Sie werden einfach nicht so alt! Das ist eine medizinische Tatsache. Das sag mal deinem Männe. Sag ihm, er hat das Richtige getan. Aber ich will nicht von Krankheiten reden. Jedes Mal, wenn ich eine Reise mache, kriegen sie raus, dass ich Krankenschwester bin, und dann zeigen sie mir ihre Wirbelsäule und ihre Mandeln und ihr ich weiß nicht was. Sie wollen, dass ich ihre Leber abtaste. Gratisdiagnose. Dann sage ich, das reicht. Ich bin jetzt im Ruhestand und will mein Leben genießen. Das hier schlägt den Eistee um Längen, was? Aber sie hat sich immer so viel Mühe gemacht. Die Ärmste. Sie hat die Gläser immer mit dem Rand in Eischnee getaucht, weißt du noch?«

Ich versuchte sie dazu zu bringen, über die Krankheit meiner Mutter zu reden, neue Behandlungsmethoden, ihre Krankenhauserfahrungen, nicht nur, weil mich das interessierte, sondern weil ich dachte, dann würde sie sich beruhigen und vernünftiger wirken. Ich wusste, dass Richard gar nicht in den Garten gegangen war, sondern sich in der Küche herumdrückte.

Aber sie sagte, keine Krankheiten.

»In geschlagenes Eiweiß, dann in Zucker. Oh je. Man musste durch Strohhalme trinken. Aber was hatten wir da für Spaß. Das Klo im Keller und überhaupt alles. Wir hatten wirklich Spaß.«

Iris’ Lippenstift, ihre leuchtenden toupierten Haare, ihr schillerndes Kleid mit der überdimensionalen Brosche, ihre Stimme und ihr Geplauder waren alle Teil einer Taktik, die gar nicht schlecht war: Iris wollte Bewegung, Lärm, Veränderung, Prachtentfaltung, Ausgelassenheit und Mut. Spaß. Sie dachte, andere Menschen sollten all das auch wollen, und erzählte von ihren Bemühungen während der Reise.

»Ich bin diejenige, die den Stein ins Rollen bringt. Manche Leute werden unterwegs trübetümpelig. Sie kriegen Verdauungsstörungen. Sie reden von ihrer Verstopfung. Ich lenke sie immer ab. Man kann immer Witze machen. Man kann ein Lied anstimmen. Jeden Morgen höre ich regelrecht, wie sie denken, na, was wird sich diese Chaddeley heute wieder Verrücktes einfallen lassen?«

Nichts bringe sie aus der Fassung, sagte sie. Sie erzählte von anderen Reisen. Irland. Die anderen Frauen hatten Angst gehabt, sich hintenüber zu beugen und den Stein von Blarney zu küssen, aber sie sagte: »Ich komme von so weit her und werde dieses verdammte Ding küssen!«, und tat es, während ein gottloser Ire ihre Fußgelenke festhielt.

Wir tranken; wir aßen; die Kinder kamen herein und wurden gelobt. Richard kam und ging. Sie hatte recht: Nichts brachte sie aus der Fassung. Nichts lenkte sie von ihren eigenen Geschichten ab; die Zeit, die sie zubringen konnte, ohne zu reden, war begrenzt. Sie erzählte wieder einmal von der Reisetasche und der Millionärswitwe. Sie erzählte von dem heruntergekommenen Schauspieler. Wie viele Unterhaltungen musste sie so gemeistert haben – mit Gelächter, Beharrlichkeit, Weitschweifigkeit, Erinnerungen. Ich fragte mich, ob dieser Abend etwas war, was sie als Spaß beschreiben würde. Denn beschreiben würde sie ihn. Das Haus, die Teppiche, das Geschirr, die Merkmale von Geld. Vielleicht machte es ihr nichts aus, dass Richard ihr die kalte Schulter gezeigt hatte. Vielleicht war ihr die kalte Schulter eines reichen Verwandten lieber als der warme Empfang eines armen. Aber war sie schon immer so, immer aufdringlich und gierig und ängstlich; anständig, vielleicht sogar bewundernswert, doch trotzdem jemand, neben dem man hoffentlich nicht allzu lange sitzen musste, im Bus oder bei einer Party? Ich war nicht aufrichtig, als ich schrieb, ich wünschte, wir hätten uns anderswo getroffen, ich wünschte, ich hätte sie recht zu würdigen gewusst, und als ich zu verstehen gab, dass nur Richards Vorurteile dem im Weg standen. Vielleicht hätte ich ihr mehr Wertschätzung entgegengebracht, aber ich hätte es nicht lange mit ihr ausgehalten.

Ich musste mich fragen, ob das alles war, worauf es hinauslief, die Fröhlichkeit, die ich in Erinnerung hatte; die Fröhlichkeit und Großzügigkeit, die Weltläufigkeit. Es wäre besser, zu denken, dass ein Gebräu, das früher einmal perlte, im Laufe der Zeit sauer und dünn und gewöhnlich geworden war, dass Schwierigkeiten uns beide verändert hatten, und zwar nicht zum Guten. Unfreundliche Orte und Menschen konnten uns verhärtet haben, im Tun und in unseren Meinungen. Früher war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, die Reklame in Illustrierten zu betrachten, wo Damen in Chiffonkleidern mit Capes und wehenden Schals die Ellbogen auf eine Reling stützten oder neben einer Topfpalme Tee tranken. Durch sie malte ich mir für mich ein Leben voller Eleganz und Feinsinn aus. Sie waren für mich ein Fenster zur Welt, und die Kusinen waren auch eines. Die geblümten Kleider der Kusinen erinnerten mich sogar an sie, obwohl die Kusinen wesentlich korpulenter waren und nicht hübsch. Aber wenn ich es jetzt bedenke, wovon redeten diese Damen eigentlich, in den Sprechblasen über ihren Köpfen? Sie unterhielten sich über Achselschweiß oder dankten ihrem guten Stern, dass sie nicht mehr wund gescheuert waren, weil sie Kotex benutzten.

Iris besann sich schließlich und fragte, wann der letzte Bus fuhr. Richard war wieder verschwunden, aber ich sagte, ich würde sie mit dem Taxi in ihr Hotel bringen. Sie sagte nein, sie fahre lieber mit dem Bus, wirklich. Sie komme immer mit jemandem ins Gespräch. Ich holte meinen Fahrplan und begleitete sie zur Bushaltestelle. Sie sagte, sie hoffe, sie habe Richard und mir nicht die Ohren vollgequatscht, und fragte, ob Richard schüchtern sei. Ich hätte ein wunderbares Zuhause, eine wunderbare Familie, es mache sie mächtig stolz, zu sehen, dass ich es in meinem Leben so gut getroffen hätte. Tränen füllten ihre Augen, als sie mich zum Abschied umarmte.

»Was für eine elende alte Fregatte«, sagte Richard, als er ins Wohnzimmer kam, wo ich die Kaffeetassen abräumte. Er folgte mir in die Küche und rief Dinge in Erinnerung, die sie gesagt hatte, Blasiertes, kleine Prahlereien. Er wies auf Grammatikfehler hin, die sie gemacht hatte, von der vornehm tuenden Sorte. Er tat fassungslos. Vielleicht war er es wirklich. Oder vielleicht hielt er es für eine gute Idee, gleich mit dem Angriff anzufangen, bevor ich ihm Vorwürfe machte, weil er das Zimmer verlassen hatte, unhöflich war und nicht angeboten hatte, sie ins Hotel zu fahren.

Er redete immer noch, als ich ihm den Pyrex-Teller an den Kopf warf. Ein Stück Zitronenbaisertorte lag darauf. Der Teller ging daneben und traf den Kühlschrank, aber der Kuchen flog weiter und landete in seinem Gesicht, genau wie in den alten Filmen oder in der I Love Lucy-Show. Bei ihm gab es den gleichen Moment der Verblüffung, der plötzlichen Lähmung wie auf der Leinwand; er verstummte, mit offenem Mund. Verblüffung auch bei mir, darüber, dass etwas, was die Leute in solchen Fällen unweigerlich komisch finden, im wahren Leben ein derart fürchterlicher Schuldspruch ist.

Mein Boot, es gleitet den Fluss hinab,

Die Ruder, die brauche ich kaum,

Immer fröhlich voran, immer fröhlich voran,

Das Leben, es ist nur ein Traum.

Ich liege im Bett neben meiner kleinen Schwester, lausche dem Gesang draußen im Garten. Das Leben ist verwandelt, durch ihre Stimmen, ihre Anwesenheit, ihre gute Laune und ihre Hochachtung vor sich selbst und vor einander. Meine Eltern, wir alle, haben Ferien. Das Gemisch aus Stimmen und Wörtern ist so verschlungen und abwechslungsreich, dass es scheint, dieser Wirrwarr, dieser lustige Wettstreit werde unaufhörlich weitergehen, doch dann wird zu meiner Überraschung – denn ich bin überrascht, obwohl ich das Muster von Kanons kenne – der Gesang immer dünner, man kann die beiden Stimmen miteinander wetteifern hören.

Immer fröhlich voran, immer fröhlich voran,

Das Leben, es ist nur ein Traum.

Dann nur noch eine Stimme, die eine, die unverdrossen weitersingt bis zum Schluss. Eine Stimme, in der ein unerwarteter Ton von inständiger Bitte liegt, von Warnung, als sie die sieben einzelnen Wörter in die Luft schickt. Das Leben. Warte. Es ist nur. Warte doch. Ein Traum.

2. Der Stein auf dem Feld

Meine Mutter war keine Frau, die all ihre Zeit damit verbrachte, den Rand von Gläsern zu verzieren oder sich einzubilden, sie sei adliger Herkunft. Eigentlich war sie Geschäftsfrau, sie trieb Handel. Unser Haus war voller Dinge, die wir nicht bezahlt hatten, sondern die Teil einer komplizierten Transaktion waren und oft nicht in unserem Besitz blieben. Eine Zeitlang konnten wir Klavier spielen, eine Encyclopaedia Britannica benutzen, an einem Eichentisch essen. Aber eines Tages kam ich dann aus der Schule nach Hause und musste feststellen, dass jedes dieser Dinge weitergewandert war. Ein Spiegel an der Wand konnte ebenso leicht verschwinden wie eine Menage oder eine Rosshaar-Causeuse, die ein Sofa ersetzt hatte, das eine Bettcouch ersetzt hatte. Wir wohnten in einem Lagerhaus.

Meine Mutter arbeitete bei oder mit einem Mann namens Poppy Cullender. Er war Antiquitätenhändler. Er besaß keinen Laden. Auch er hatte ein Haus voller Möbel. Bei uns stand das, was bei ihm keinen Platz fand. Er hatte Kommoden, die Rücken an Rücken standen, und Sprungfederrahmen, die an der Wand lehnten. Er kaufte Dinge – Möbel, Geschirr, Tagesdecken, Türknäufe, Pumpenschwengel, Butterfässer, Plätteisen, alles Mögliche – von Leuten, die auf Farmen oder in kleinen Landstädtchen lebten, und verkaufte sie anschließend an Antiquitätengeschäfte in Toronto. Antiquitäten waren noch nicht so in Mode. Es war eine Zeit, zu der die Leute altes Holz so schnell, wie sie nur konnten, mit weißer oder heller Farbe anstrichen, Bettgestelle mit gedrechselten Pfosten hinauswarfen und sich Schlafzimmergarnituren in hellem Ahornfurnier hinstellten und Patchworkquilts mit Tagesdecken aus Chenille bedeckten. Es war nicht schwer, Sachen zu kaufen, sie fast umsonst mitzunehmen, aber es war eine langwierige Angelegenheit, sie zu verkaufen, weshalb sie eine Zeitlang Teil unseres Lebens werden konnten. Trotzdem waren Poppy und meine Mutter auf der richtigen Spur. Wenn sie sich gehalten hätten, wären sie vielleicht zu Geld und Ansehen gelangt. So jedoch kam Poppy gerade eben über die Runden, meine Mutter verdiente fast nichts, und alle waren überzeugt, beide seien verrückt.

Sie hielten sich nicht. Meine Mutter wurde krank, und Poppy kam ins Gefängnis, weil er sich in einem Zug jemandem unsittlich genähert hatte.

Es gab Farmhäuser, wo Poppy nicht willkommen war. Kinder johlten, und Frauen verriegelten die Tür, wenn er sich in seinem speckigen schwarzen Anzug über den Hof schleppte, unwillkürlich die Augen rollte, was lüstern oder komisch wirkte, und mit leiser, flehender Stimme fragte: »Isch jemand z-z-zu Hausche?« Zusätzlich zu seinen anderen Problemen lispelte und stotterte er. Mein Vater konnte ihn sehr gut nachahmen. Es gab Farmen, wo Poppy vor verschlossenen Türen stand, und andere, gewöhnlich ärmlichere, wo er freundlich empfangen und bewirtet wurde, als sei er ein vom Himmel gefallener harmloser, komischer Vogel, der gerade wegen seiner Kauzigkeit geschätzt wird. Wenn er nicht willkommen war, verdrückte er sich nicht einfach, sondern schickte meine Mutter hin. Er muss eine Karte von der gesamten Gegend mit jedem Haus darauf im Kopf gehabt haben, und so, wie auf einigen Karten Punkte anzeigen, wo Bodenschätze oder historisch interessante Orte sind, muss es auf Poppys Karte Markierungen für jeden bekannten oder vermuteten Schaukelstuhl gegeben haben, für jedes Kiefernholzbüfett, jede Milchglasscheibe und jede Schnurrbarttasse. »Warum fährst du nicht mal hin und schaust dir’s an?«, hörte ich ihn immer zu meiner Mutter sagen, wenn sie im Esszimmer zusammensaßen und sich etwas ansahen wie das Firmenzeichen auf einem alten Krug für saure Gurken. Er stotterte nicht, wenn er mit ihr redete, wenn er über Geschäftliches redete; seine Stimme war zwar leise, aber nicht liebedienerisch, und ihr war anzuhören, dass es durchaus Dinge gab, die ihm Freude bereiteten, vielleicht sogar Genugtuung. Wenn ich mit einer Freundin aus der Schule nach Hause kam, fragte die unweigerlich: »Ist das Poppy Cullender?« Es verblüffte sie, ihn reden zu hören wie ein ganz normaler Mensch und ihn in jemandes Haus vorzufinden. Ich hatte einen solchen Widerwillen gegen seine Verbindung mit uns, dass ich am liebsten nein gesagt hätte.

Von Poppys sexuellen Neigungen war eigentlich kaum die Rede. Die Leute mögen gedacht haben, dass er keine hatte. Wenn sie sagten, er sei verkehrt rum, meinten sie einfach eigenartig; verschroben, grotesk, befremdend. Sein Stottern und sein Augenrollen und sein fetter Hintern und sein Haus voller Gerümpel, all das wurde in diesem Ausdruck zusammengefasst. Ich weiß nicht, ob sein Versuch, sich in einem Ort wie Dalgleish durchs Leben zu schlagen, wo er immer damit rechnen musste, angepöbelt oder auf die falsche Art bemitleidet zu werden, sehr mutig oder einfach nicht sehr klug war. Bestimmt war es nicht klug, zwei Baseballspielern in dem Stratford-Zug Avancen zu machen.

Ich habe nie erfahren, was meine Mutter über sein schreckliches Schicksal dachte oder was sie überhaupt von ihm wusste. Jahre später las sie in der Zeitung, dass ein Lehrer an dem College, auf das ich ging, verhaftet worden war, weil er sich in einer Bar wegen seines männlichen Begleiters geprügelt hatte. Sie fragte mich, meinten sie, dass er einen Freund verteidigte, und wenn ja, warum schrieben sie das nicht? Männlicher Begleiter?

Dann sagte sie: »Armer Poppy. Es gab immer welche, die ihm an den Kragen wollten. Er war sehr schlau, auf seine Art. Manche Menschen können in einem solchen Ort nicht überleben. Es ist nicht erlaubt. Nein.«

 

Meine Mutter durfte Poppys Auto benutzen, für geschäftliche Beutezüge und manchmal für ein Wochenende, wenn er nach Toronto fuhr. Falls er keine Anhängerladung voller Sachen hinbrachte, reiste er – unglücklicherweise, wie ich schon sagte – mit der Eisenbahn. Unser eigenes Auto war so weit jenseits aller Reparaturen, dass wir damit nicht mehr über Land konnten; es wurde nach Dalgleish gefahren und zurück, das war alles. Meinen Eltern erging es wie vielen anderen Leuten, die zu Beginn der Weltwirtschaftskrise noch etwas Wertvolles wie ein Auto oder einen Heizkessel besessen hatten, was nun nach und nach kaputtging und nicht mehr repariert oder ersetzt werden konnte. Wenn es halbwegs funktionierte, fuhren wir damit ein- oder zweimal im Sommer nach Goderich, an den See. Und gelegentlich besuchten wir die Schwestern meines Vaters, die auf dem Land lebten.

Meine Mutter sagte immer, mein Vater habe eine sehr seltsame Familie. Seltsam, weil sieben Mädchen zur Welt gekommen waren und dann ein Junge; und seltsam, weil sechs dieser acht Kinder immer noch zusammenlebten, in dem Haus, in dem sie geboren worden waren. Eine Schwester war jung an Typhus gestorben, und mein Vater hatte sich davongemacht. Und diese sechs Schwestern waren selber sehr seltsam, zumindest in den Augen vieler Leute, für die Zeit, in der sie lebten. Sie waren eigentlich Relikte, behauptete meine Mutter; sie gehörten einer anderen Generation an.