Das Buch vom Lachen und Vergessen - Milan Kundera - E-Book

Das Buch vom Lachen und Vergessen E-Book

Milan Kundera

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Beschreibung

Der Prager Dissident Mirek versucht, seine alten Briefe in die Finger zu kriegen: kom­promittierende Liebesbriefe, die er vor Jahren an die hässliche Kommunistin Zdena schrieb. Er will sie vernichten, um seinen Ruf als Held des Widerstands nicht zu gefährden. Auch Tamina, die nach Paris emigriert ist, sucht nach einem Weg, an ihre Liebesbriefe und Tagebücher zu kommen, die in Prag zurückgeblieben sind. Nach dem Tod ihres Mannes verblassen die Erinnerungen an ihr einstiges Glück und die alte Heimat. Marketa versucht, die Mutter ihres Mannes Karel aus dem Haus zu komplimentieren, bevor Eva auftaucht, das dritte Glied ihrer Ménage­ à­ trois. Das gelingt zwar nicht, aber die Mutter schöpft keinen Verdacht: Sie freut sich, Eva kennenzulernen, die sie an eine Freundin aus Karels Kindheit erinnert.

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Seitenzahl: 346

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Milan Kundera

Das Buch vom Lachen und Vergessen

Roman

Aus dem Tschechischen von Susanna Roth

Kampa

Erster TeilDie verlorenen Briefe

1

Im Februar 1948 trat der kommunistische Führer KlementGottwald auf den Balkon eines Prager Barockpalais, um zu den Hunderttausenden von Bürgern zu sprechen, die den Altstädter Ring füllten. Es war ein historischer Augenblick in der Geschichte Böhmens. Einer jener schicksalhaften Augenblicke, wie sie nur ein- bis zweimal in einem Jahrtausend auftreten.

Gottwald war von seinen Genossen umgeben, und direkt neben ihm stand Clementis. Es schneite, es war kalt, und Gottwalds Kopf war unbedeckt. Der fürsorgliche Clementis nahm seine Pelzmütze ab und setzte sie auf Gottwalds Kopf.

Die Propagandaabteilung veröffentlichte das Foto, auf dem Gottwald mit der Lammfellmütze auf dem Kopf und den Genossen an seiner Seite vom Balkon zum Volk spricht, in Hunderttausenden Exemplaren. Auf dem Balkon hat die Geschichte des kommunistischen Böhmens begonnen. Jedes Kind kannte dieses Foto: von Plakaten, aus Schulbüchern und Museen.

Vier Jahre später wurde Clementis des Verrats angeklagt und gehenkt. Die Propagandaabteilung radierte ihn unverzüglich aus dieser Geschichte, und natürlich auch von allen Fotografien. Seither steht Gottwald allein auf dem Balkon. Dort, wo einmal Clementis war, sieht man nur noch die leere Mauer des Palais. Von Clementis ist nur die Mütze auf Gottwalds Kopf geblieben.

2

Wir sind im Jahr 1971, und Mirek sagt: Der Kampf desMenschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen.

Damit will er rechtfertigen, was seine Freunde Unvorsichtigkeit nennen: Er führt sorgfältig Tagebuch, bewahrt seine Korrespondenz auf, macht sich Notizen über alle Zusammenkünfte, bei denen die Lage erörtert und wo überdacht wird, was weiter zu tun sei. Er erklärt ihnen: Ich verstoße durch nichts gegen die Verfassung. Sich zu verstecken und Schuldgefühle zu haben, das wäre der Anfang der Niederlage.

Vor einer Woche, als er mit einem Bautrupp auf dem Dach eines Neubaus gearbeitet hatte, hatte er in die Tiefe geschaut und einen Schwindelanfall bekommen. Er war ins Wanken geraten und hatte sich an einem schlecht gesicherten Balken festhalten wollen, der Balken löste sich, und Mirek musste dann von dessen Last befreit werden. Im ersten Augenblick sah die Verletzung fürchterlich aus, als später aber festgestellt wurde, dass es sich nur um einen banalen Armbruch handelte, sagte er sich zufrieden, er werde nun ein paar Wochen frei haben und endlich Dinge erledigen können, für die ihm bisher die Zeit gefehlt hatte.

Er hat seinen vorsichtigen Kollegen schließlich recht gegeben. Die Verfassung garantiert zwar die Freiheit des Wortes, aber die Gesetze bestrafen alles, was als Unterminierung des Staatswesens ausgelegt werden kann, und man weiß nie, wann der Staat zu schreien anfängt, er werde durch dieses oder jenes Wort unterminiert. Mirek beschloss deshalb, die kompromittierenden Schriftstücke an einen sicheren Ort zu bringen.

Vorher wollte er aber noch die Angelegenheit mit Zdena bereinigen. Er rief sie in ihrer Stadt an, konnte sie jedoch nicht erreichen. So verlor er vier Tage. Erst gestern gelang es ihm, sie zu sprechen. Sie versprach, heute Nachmittag auf ihn zu warten.

Sein siebzehnjähriger Sohn protestierte, er könne doch nicht mit einem Arm im Gips Auto fahren. Das Lenken fiel Mirek tatsächlich nicht leicht. Hilflos und unbrauchbar hing der verletzte Arm in der Schlaufe vor seiner Brust. Wenn er schaltete, musste er das Lenkrad jedes Mal für einen Moment loslassen.

3

Er war vor fünfundzwanzig Jahren mit Zdena zusammengewesen, und aus jener Zeit waren ihm nur wenige Erinnerungen geblieben.

Einmal hatte sie sich mit einem Taschentuch die Augen getrocknet und sich dann geschnäuzt. Er hatte sie gefragt, was passiert sei. Sie erklärte ihm, dass tags zuvor irgendein russischer Staatsmann gestorben sei. Irgendein Schdanow, Arbusow oder Masturbow. Gemessen an der Menge der Tränen hatte Masturbows Tod sie stärker erschüttert als der Tod ihres eigenen Vaters.

War es überhaupt möglich, dass es sich so zugetragen hatte? War dieses Weinen um Masturbow nicht von seinem heutigen Hass erfunden worden? Nein, es war wohl so gewesen. Richtig war allerdings auch, dass die unmittelbaren Umstände, die aus ihrem Weinen ein glaubhaftes, wahrhaftes Weinen gemacht hatten, ihm nun nicht mehr gegenwärtig waren und die Erinnerung unglaubwürdig war wie eine Karikatur.

Alle Erinnerungen, die er an sie hatte, waren ähnlich. Sie kamen mit der Straßenbahn von der Wohnung zurück, in der sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. (Mit besonderer Genugtuung sagte sich Mirek, dass er die Liebesakte völlig vergessen hatte und sich keine Sekunde mehr vergegenwärtigen konnte.) Sie hatte in einer Ecke auf der Bank gesessen, die Straßenbahn ratterte, und ihr Gesicht war finster, in sich gekehrt und erstaunlich alt. Als er sie fragte, weshalb sie so wortkarg sei, erfuhr er, dass sie mit der Liebe nicht zufrieden war. Sie sagte, er habe mit ihr geschlafen wie ein Intellektueller.

»Intellektueller« war im damaligen Politjargon ein Schimpfwort. Es bezeichnete einen Menschen, der nichts vom Leben verstand und sich dem Volk entfremdet hatte. Alle Kommunisten, die zu jener Zeit von anderen Kommunisten aufgehängt wurden, wurden mit diesem Schimpfwort bedacht. Im Unterschied zu denen, die fest auf dem Boden standen, hoben sie angeblich vom Boden ab. Deshalb war es in gewisser Weise gerecht, dass ihnen zur Strafe der Boden unter den Füßen endgültig entzogen wurde und sie ein Stück abgehoben davon hängen blieben.

Was aber hatte Zdena gemeint, als sie ihn beschuldigte, mit ihr wie ein Intellektueller geschlafen zu haben?

Wie auch immer, sie war unzufrieden mit ihm, und so, wie sie es verstand, eine abstrakte Beziehung (die Beziehung zum unbekannten Masturbow) mit einem sehr konkreten (in einer Träne materialisierten) Gefühl zu füllen, verstand sie es, einem sehr konkreten Akt eine abstrakte Bedeutung zu verleihen und ihre Unzufriedenheit auf einen politischen Nenner zu bringen.

4

Er schaute in den Rückspiegel und stellte fest, dass hinter ihm immer derselbe Personenwagen fuhr. Er hatte nie daran gezweifelt, dass er überwacht wurde, bisher war es jedoch mit meisterhafter Diskretion geschehen. Mit dem heutigen Tag war eine grundlegende Veränderung eingetreten: Sie wollten, dass er von ihnen wusste.

Ungefähr zwanzig Kilometer außerhalb von Prag war mitten in den Feldern ein großes eingezäuntes Areal, eine Autoreparaturwerkstatt. Er hatte dort einen guten Bekannten und wollte, dass dieser ihm den defekten Anlasser reparierte. Er brachte seinen Wagen vor der mit einer rot-weiß gestreiften Schranke abgesperrten Einfahrt zum Stehen. Neben dieser Schranke stand eine dicke Alte. Mirek wartete darauf, dass sie die Schranke öffnen würde, sie sah ihn jedoch nur lange an und rührte sich nicht. Er hupte, vergeblich. Schaute aus dem Fenster. Die Alte sagte: »Hat man Sie noch nicht eingesperrt?«

»Nein, man hat mich noch nicht eingesperrt«, antwortete Mirek. »Aber könnten Sie bitte diese Schranke öffnen?«

Sie sah ihn noch einige Augenblicke gleichgültig an, gähnte und ging in ihre Pförtnerloge zurück, machte es sich hinter dem Tisch bequem und würdigte Mirek keines Blicks mehr.

Also stieg er aus, ging um die Schranke herum und suchte seinen Bekannten in der Werkstatt. Dieser ging mit ihm zurück und öffnete die Schranke eigenhändig (die Alte saß weiter gleichgültig in ihrer Loge), damit Mirek mit seinem Auto in den Hof fahren konnte.

»Siehst du, das hast du davon, dass du so oft im Fernsehen zu sehen warst«, sagte der Automechaniker. »Jede Tante kennt dich jetzt vom Sehen.«

»Und wer ist diese Tante?«, fragte Mirek.

Er erfuhr, dass die russische Armee, die sein Land besetzt und auf alles Einfluss genommen hatte, diese Frau zu einem außergewöhnlichen Leben erweckt hatte. Sie sah, wie Leute, die höhergestellt waren als sie (und die ganze Welt war höhergestellt als sie), dank der kleinsten Beschuldigungen Macht, Position, Beruf und sogar den Lebensunterhalt verloren, und das erregte sie: Sie begann zu denunzieren.

»Und wie kommt es, dass sie immer noch Pförtnerin ist? Hat man sie denn nie befördert?«

Der Automechaniker lächelte: »Sie kann nicht bis fünf zählen. Man kann sie nicht befördern. Man kann ihr nur immer wieder das Recht zur Denunziation bestätigen. Das ist die ganze Belohnung.« Dann öffnete er die Motorhaube und konzentrierte sich auf den Motor.

Mirek wurde sich plötzlich bewusst, dass zwei Schritte von ihm entfernt ein Mann stand. Er sah sich um: Der Mann trug ein graues Sakko, ein weißes Hemd mit Krawatte und eine braune Hose. Über dem dicken Hals und dem aufgedunsenen Gesicht prangte graues dauergewelltes Haar. Er stand da und sah dem Mechaniker zu, der immer noch unter der aufgestellten Motorhaube hantierte.

Der Mechaniker bemerkte ihn nach einer Weile, richtete sich auf und sagte: »Suchen Sie jemanden?«

Der Mann mit dem dicken Hals und dem dauergewellten Haar antwortete: »Nein. Ich suche niemanden.«

Der Mechaniker beugte sich erneut über den Motor und sagte: »In Prag auf dem Wenzelsplatz steht ein Mann und kotzt. Ein anderer kommt vorbei, schaut ihn an und nickt traurig: Wenn Sie wüssten, wie gut ich Sie verstehe …«

5

Die Ermordung Allendes überschattete bald die Erinnerung an die russische Invasion Böhmens, das blutige Massaker in Bangladesch ließ Allende vergessen, der Krieg in der Wüste Sinai übertönte das Weinen von Bangladesch, das Massaker in Kambodscha ließ den Sinai vergessen, und so weiter und so fort, bis alles von allen völlig vergessen sein wird.

In den Zeiten, als die Geschichte noch langsam ihren Lauf nahm, konnte man sich die wenigen Ereignisse merken; sie bildeten den allgemein bekannten Hintergrund, vor dem sich das spannende Theater der privaten menschlichen Abenteuer abspielte. Heute stürmt die Zeit mit Riesenschritten voran. Ein historisches Ereignis, das über Nacht vergessen sein wird, strahlt schon am nächsten Tag im Licht der Neuheit, sodass es in der Überlieferung des Erzählers nicht den Hintergrund, sondern ein überraschendes Abenteuer darstellt, das sich vor dem Hintergrund der allgemein bekannten Banalität des Privaten abspielt.

Geschichtliche Ereignisse lassen sich nicht als allgemein bekannt voraussetzen, und deshalb muss ich von Ereignissen, die ein paar Jahre zurückliegen, so erzählen, als wären sie tausend Jahre alt: Im Jahr 1939 marschierte die deutsche Armee in Böhmen ein, und der Staat der Tschechen hörte auf zu existieren. Im Jahr 1945 marschierte die russische Armee in Böhmen ein, und das Land nannte sich wieder unabhängige Republik. Die Menschen waren begeistert von Russland, das die Deutschen aus dem Land gejagt hatte, und da sie in der tschechischen kommunistischen Partei den treuen Arm Russlands sahen, übertrugen sie ihre Sympathie auf diese Partei. So geschah es, dass sich die Kommunisten im Februar 1948 der Regierung nicht mit Blut und Gewalt, sondern unter dem Jubel von ungefähr der Hälfte der Nation bemächtigten. Und jetzt passen Sie auf: Die Hälfte, die jubelte, war die aktivere, intelligentere und bessere.

Ja, Sie mögen einwenden, was Sie wollen, die Kommunisten waren intelligenter. Sie hatten ein großzügiges Programm. Den Plan einer völlig neuen Welt, in der jeder Einzelne seinen Platz finden sollte. Ihre Gegner hatten keinen großen Traum, sondern lediglich einige veraltete und fade moralische Grundsätze, aus denen sie Flickstücke für die zerschlissenen Hosen der bestehenden Verhältnisse schneidern wollten. Kein Wunder also, dass die Begeisterten und Großzügigen einen leichten Sieg über die Kompromissbereiten und Vorsichtigen davontrugen und anfingen, ihren Traum rasch zu verwirklichen, die Idylle der Gerechtigkeit für alle.

Ich betone es nochmals: Idylle und für alle, denn alle Menschen sehnen sich seit Urzeiten nach der Idylle, nach diesem Garten, in dem die Nachtigallen singen, nach diesem Areal der Harmonie, in dem sich die Welt nicht fremd gegen den Menschen, nicht ein Mensch gegen den andern richtet, sondern wo alle Menschen aus einem einzigen Stoff geschaffen sind und das Feuer, das am Himmel glüht, das gleiche ist, das in den Seelen der Menschen brennt. Alle sind dort eine Note in einer wunderbaren Bach’schen Fuge, und wer dies nicht sein will, bleibt ein schwarzes Pünktchen, überflüssig und bar jeder Bedeutung, das man nur zu packen braucht, um es zwischen den Fingern zu zerquetschen wie einen Fisch.

Gleich am Anfang gestanden sich einige Leute ein, dass sie nicht das Naturell für eine Idylle hatten und das Land verlassen wollten. Da das Wesen der Idylle aber darin besteht, dass sie eine Welt für alle ist, negierten jene, die emigrieren wollten, die Idylle, und sie wanderten statt ins Ausland hinter Gitter. Bald pilgerten ihnen weitere Tausende und Zehntausende nach, schließlich auch viele Kommunisten wie zum Beispiel der Außenminister Clementis, der Gottwald seine Mütze geliehen hatte. Auf den Leinwänden der Kinos hielten sich schüchterne Liebespaare die Hände, eheliche Untreue wurde von Ehrengerichten der Bürgerkomitees hart bestraft, die Nachtigallen sangen, und Clementis’ Körper baumelte wie eine Glocke, die einen neuen Morgen der Menschheit einläutete.

Und da bemächtigte sich dieser jungen, intelligenten und radikalen Menschen plötzlich das merkwürdige Gefühl, dass sie eine Tat in die Welt gesetzt hatten und diese Tat ihr Eigenleben zu leben begann, dass sie aufhörte, ihren Vorstellungen ähnlich zu sein und jene nicht mehr beachtete, die sie geschaffen hatten. Diese jungen und intelligenten Menschen fingen also an, ihre Tat anzuschreien, zu rufen, zu ermahnen, zu jagen und zu verfolgen. Wenn ich einen Roman über die Generation dieser begabten und radikalen Menschen schriebe, würde ich ihn Die Verfolgung der verlorenen Tat nennen.

6

Der Mechaniker klappte die Motorhaube zu, und Mirekfragte, wie viel er schuldig sei.

»Einen Scheißdreck«, sagte der Mechaniker.

Mirek setzte sich ans Steuer und war gerührt. Er hatte keine Lust, die Fahrt fortzusetzen. Er wäre lieber beim Mechaniker geblieben und hätte mit ihm Anekdoten erzählt. Der Mechaniker neigte sich zu ihm ins Auto und klopfte ihm auf die Schulter. Dann ging er zur Pförtnerloge, um die Schranke zu öffnen.

Als Mirek an ihm vorbeifuhr, deutete der Mechaniker mit einer Kopfbewegung auf das Auto, das vor dem Eingang zur Werkstatt geparkt war.

Neben der geöffneten Tür stand der Mann mit dem dicken Hals und dem dauergewellten Haar. Er schaute Mirek an. Der Kerl, der hinterm Lenkrad saß, beobachtete ihn ebenfalls. Beide sahen ihn unverfroren und ohne Scheu an, und als Mirek an ihnen vorbeifuhr, bemühte er sich, sie ebenso anzuschauen.

Er überholte sie und sah im Rückspiegel, wie der Mann einstieg und den Wagen wendete, um ihm zu folgen.

Ihm kam der Gedanke, dass er die kompromittierenden Schriftstücke vielleicht doch schon früher hätte fortschaffen sollen. Hätte er es gleich am ersten Tag seines Krankenurlaubs getan und nicht gewartet, bis er Zdena getroffen hatte, hätte er es möglicherweise noch gefahrlos geschafft. Doch er hatte an nichts anderes als an seine Reise zu Zdena denken können. Eigentlich dachte er schon seit einigen Jahren daran. In den letzten Wochen war ihm jedoch klar geworden, dass er es nicht mehr länger hinausschieben durfte, da sein Schicksal sich erfüllte und er alles tun musste für dessen Vollkommenheit und Schönheit.

7

Nachdem er sich in dieser längst vergangenen Zeit vonZdena getrennt hatte (sie waren fast drei Jahre miteinander gegangen), hatte er das berauschende Gefühl grenzenloser Freiheit, und plötzlich gelang ihm alles. Er heiratete bald darauf eine Frau, deren Schönheit ihm Selbstbewusstsein gab. Dann starb die Schönheit, und er blieb allein zurück mit seinem Sohn und lebte sein Verlassensein so kokett, dass ihm dies Bewunderung, Interesse und Fürsorge vieler Frauen eintrug.

Auch als Wissenschaftler hatte er viel Erfolg, und dieser Erfolg war sein Schutz. Der Staat brauchte ihn, und so konnte er es sich erlauben, schon zu einer Zeit auf dessen Kosten boshaft zu sein, als das noch fast niemand wagte. In dem Maße, wie jene, die ihre Tat verfolgten, an Einfluss gewannen, erschien auch er immer öfter auf dem Bildschirm und wurde zu einer allseits bekannten Persönlichkeit. Als er sich nach dem Einmarsch der Russen weigerte, seine Ansichten zu widerrufen, wurde er von seiner Stelle verjagt und von Spitzeln verfolgt. Das brach ihm jedoch nicht das Rückgrat. Er war verliebt in sein Schicksal, und sein Marsch in den Untergang kam ihm erhaben und schön vor.

Verstehen Sie mich richtig, ich habe nicht gesagt, dass er in sich selbst, sondern dass er in sein Schicksal verliebt war. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Sein Leben hatte sich gewissermaßen verselbstständigt und verfolgte plötzlich eigene Interessen, die mit denen Mireks nicht übereinstimmten. Das meine ich, wenn ich sage, dass das Leben sich in ein Schicksal verwandelt. Das Schicksal hatte nicht die Absicht, für Mirek einen Finger zu rühren (für dessen Glück und Sicherheit, die gute Laune und die Gesundheit), wohingegen Mirek bereit war, alles für sein Schicksal zu tun (für dessen Größe, Klarheit und Schönheit, für dessen Stil und verständlichen Sinn). Er fühlte sich für sein Schicksal verantwortlich, sein Schicksal jedoch fühlte sich nicht verantwortlich für ihn. Er hatte zu seinem Leben ein Verhältnis wie ein Bildhauer zu seiner Statue oder ein Romancier zu seinem Roman. Eines der unveräußerlichen Rechte des Romanciers ist das Recht, seinen Roman zu überarbeiten. Wenn ihm der Anfang nicht gefällt, kann er ihn umschreiben oder streichen. Zdenas Existenz aber sprach Mirek die Autorenrechte ab. Zdena bestand darauf, auf den ersten Seiten des Romans zu bleiben und nicht gestrichen zu werden.

8

Weshalb aber schämte er sich ihrer so entsetzlich?

Am naheliegendsten ist folgende Erklärung: Mirek hat schon sehr früh zu jenen gehört, die sich an die Verfolgung der eigenen Taten machten, während Zdena noch immer dem Garten treu blieb, in dem die Nachtigallen singen. Schließlich gehörte sie sogar zu jenen zwei Prozent des Volkes, die die russischen Panzer willkommen geheißen hatten.

Ja, das stimmt, aber ich halte diese Erklärung nicht für plausibel. Ginge es nur darum, dass sie die russischen Panzer willkommen geheißen hatte, hätte er ganz laut und in aller Öffentlichkeit über sie schimpfen können und nicht geleugnet, dass er sie kannte. Zdena hatte sich ihm gegenüber auf viel schlimmere Weise schuldig gemacht. Sie war hässlich.

Aber war es denn wichtig, dass sie hässlich war, wenn er schon mehr als zwanzig Jahre nicht mehr mit ihr schlief?

Es war wichtig: Zdenas große Nase warf auch noch aus der Ferne einen Schatten auf sein Leben.

Vor Jahren hatte er eine schöne Geliebte gehabt. Einmal war sie in Zdenas Stadt gefahren und missmutig zurückgekommen: »Ich bitte dich, wie hast du mit dieser Schreckschraube gehen können?«

Er erklärte, er habe sie nur sehr oberflächlich gekannt, und stritt eine intime Beziehung ganz entschieden ab.

Ein großes Lebensgeheimnis war ihm nämlich nicht unbekannt: Frauen suchen nicht nach schönen Männern, Frauen suchen nach Männern, die schöne Frauen gehabt haben. In diesem Sinne ist es ein fataler Fehler, eine hässliche Geliebte zu haben. Mirek versuchte, alle Spuren Zdenas zu verwischen, und da jene, die die Nachtigallen liebten, ihn immer mehr hassten, hoffte er, dass Zdena, die eifrig Karriere als Parteifunktionärin machte, ihn rasch und gern vergessen würde.

Aber er hatte sich geirrt. Sie redete immer, überall und bei jeder Gelegenheit über ihn. Wenn er ihr durch einen unglücklichen Zufall in Gesellschaft begegnete, hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als um jeden Preis eine Erinnerung zum Besten zu geben, aus der klar hervorging, dass sie ihn einmal intim gekannt hatte.

Er tobte.

»Wenn du dieses Frauenzimmer so hasst, dann sag mir, warum du mit ihr gegangen bist?«, wurde er einmal von einem Freund gefragt, der sie kannte.

Mirek begann ihm zu erklären, dass er damals ein zwanzigjähriger dummer Junge und sie sieben Jahre älter gewesen sei. Sie war geachtet, allmächtig und wurde bewundert! Sie kannte jeden im Zentralkomitee der Partei! Sie half ihm, förderte ihn und machte ihn mit einflussreichen Leuten bekannt!

»Ich war ein Karrierist, du Hornochse!«, schrie er. »Verstehst du, ein aggressiver, blutjunger Karrierist! Deshalb habe ich mich an sie gehängt, und es war mir egal, dass sie hässlich war!«

9

Mirek sagt nicht die Wahrheit. Obwohl Zdena überMasturbows Tod geweint hatte, hatte sie vor fünfundzwanzig Jahren weder hilfreiche Beziehungen, noch war sie in der Lage, sich oder sonst jemandem zu helfen.

Warum also hat Mirek sich das ausgedacht? Warum lügt er?

Er hielt mit einer Hand das Lenkrad fest, sah im Rückspiegel die Geheimpolizisten und errötete plötzlich. Ganz unerwartet war eine Erinnerung aufgetaucht:

Als sie ihm nach ihrem ersten Liebesakt sein allzu intellektuelles Verhalten vorgeworfen hatte, wollte er diesen Eindruck am nächsten Tag zunichtemachen und spontane, ungezügelte Leidenschaft beweisen. Nein, es stimmt nicht, dass er alle damaligen Liebesakte vergessen hatte! Einen sah er ganz deutlich vor sich: Er bewegte sich mit vorgetäuschter Wildheit auf ihr, gab einen langen, knurrenden Ton von sich, wie wenn ein Hund mit dem Pantoffel seines Herrn kämpft, und schaute sie dabei (leicht verwundert) an, wie sie sehr ruhig, still und fast gleichgültig unter ihm dalag.

Durch das Auto klang dieses fünfundzwanzig Jahre alte Knurren, der unerträgliche Ton seiner Unterwürfigkeit und sklavischen Strebsamkeit, der Ton seiner Bereitwilligkeit und Anpassungsfähigkeit, seiner Lächerlichkeit und Erbärmlichkeit.

Ja, so ist es: Mirek ist bereit, sich als Karrieristen hinzustellen, nur um die Wahrheit nicht zuzugeben: Er war mit einer Hässlichen gegangen, weil er sich an eine Hübsche nicht herangewagt hatte. Er hatte sich nicht mehr zugetraut als eben Zdena. Diese Schwäche, dieses Elend waren das Geheimnis, das er versteckte.

Durch das Auto klang das rasende Knurren der Leidenschaft, und dieser Ton bewies ihm, dass Zdena nur das magische Bild war, das er treffen wollte, um so seine gehasste Jugend zu zerstören.

Er hielt vor ihrem Haus. Der Wagen, der ihm gefolgt war, hielt hinter ihm.

10

Historische Ereignisse ahmen einander meist ziemlicheinfallslos nach, doch es kommt mir vor, als hätte die Geschichte in Böhmen ein noch nie dagewesenes Experiment in Szene gesetzt. Dort hat sich nicht nach altem Rezept eine Gruppe von Menschen (eine Klasse, ein Volk) gegen eine andere erhoben, sondern es haben sich bestimmte Menschen (eine Generation von Menschen) gegen ihre eigene Jugend erhoben.

Sie haben versucht, ihre eigene Tat einzufangen und zu zähmen, und es wäre ihnen beinahe gelungen. In den sechziger Jahren gewannen sie immer mehr Einfluss, und Anfang 1968 besaßen sie fast das Sagen. Diese letzte Periode wird normalerweise Prager Frühling genannt: Die Hüter der Idylle mussten die Wanzen aus Privatwohnungen abmontieren, die Grenzen wurden geöffnet, und die Noten aus der Partitur von Bachs großer Fuge liefen davon, um ihre eigene Melodie zu summen. Es war eine unglaubliche Fröhlichkeit, und es war ein Karneval!

Russland, das eine große Fuge für den ganzen Erdball komponierte, konnte nicht zulassen, dass ihnen irgendwo Noten davonliefen. Am 21. August 1968 schickten sie eine Armee von einer halben Million Mann nach Böhmen. Kurz danach verließen ungefähr 120000 Tschechen ihre Heimat, und von denen, die dablieben, verloren etwa 500000 ihre Arbeitsplätze und mussten in Betriebe gehen, die irgendwo verlassen in der Landschaft lagen, an Fließbänder von Fabriken auf dem Land, hinter die Lenkräder von Lastwagen, an Orte also, von denen her ihre Stimme nicht mehr zu hören sein würde.

Und damit kein Schatten einer unguten Erinnerung das Land in seiner wiederhergestellten Idylle störte, war es notwendig, den Prager Frühling und die Ankunft der russischen Panzer, diesen Fleck auf einer schönen Geschichte, ungeschehen zu machen. Deshalb erinnert heute in Böhmen niemand mehr an den 21. August, und die Namen der Menschen, die gegen ihre eigene Jugend aufgestanden waren, wurden wie ein Fehler in der Hausaufgabe mit viel Sorgfalt aus dem Gedächtnis des Landes radiert.

Auch Mirek war auf diese Weise ausradiert worden. Wenn er jetzt die Treppe zu Zdenas Wohnung hinaufsteigt, ist er im Grunde genommen nur ein weißer Fleck, nur ein Stück umrandete Leere, die sich durch die Spirale des Treppenhauses nach oben bewegt.

11

Er sitzt Zdena gegenüber, sein Arm baumelt in derSchlinge. Zdena schaut zur Seite, weicht seinen Blicken aus und spricht hastig:

»Ich weiß nicht, weshalb du gekommen bist. Aber ich bin froh, dass du gekommen bist. Ich hab mit den Genossen gesprochen. Es ist doch Unsinn, dass du den Rest deines Lebens als Tagelöhner auf dem Bau verbringst. Die Partei hat die Tür vor dir ganz sicher noch nicht endgültig zugeschlagen, das weiß ich. Noch ist Zeit.«

Er fragt, was er tun soll.

»Du musst sie um eine Audienz bitten. Du selbst. Den ersten Schritt musst du selbst machen.«

Er weiß, worum es geht. Man gibt ihm zu verstehen, dass ihm nur noch fünf Minuten bleiben, um zu verkünden, dass er sich von allem distanziere, was er je gesagt und getan hat. Er kennt diesen Handel. Sie sind willens, den Leuten für ihre Vergangenheit eine Zukunft zu verkaufen. Sie werden ihn zwingen, mit reumütiger Stimme im Fernsehen aufzutreten und dem Volk zu erklären, dass er sich geirrt habe, als er gegen Russland und die Nachtigallen argumentiert hatte, ihn zwingen, sein eigenes Leben abzustreifen und ein Schatten zu werden, ein Mensch ohne Vergangenheit, ein Schauspieler ohne Rolle, sie werden ihn zwingen, sein abgestreiftes Leben, diese vom Schauspieler fallengelassene Rolle, in einen Schatten zu verwandeln. Wenn er sich so in einen Schatten verwandelt hat, wird man ihn leben lassen.

Er mustert Zdena: Weshalb spricht sie so hastig und unsicher? Weshalb schaut sie zur Seite, meidet seinen Blick?

Es ist ihm nur allzu klar: Sie hat ihm eine Falle gestellt. Sie handelt im Auftrag der Partei oder der Polizei. Sie hat die Aufgabe, ihn zur Kapitulation zu überreden.

12

Aber Mirek irrt sich! Niemand hat Zdena beauftragt, mitihm zu verhandeln. Ach nein, heute würde keiner der Mächtigen Mirek zu einer Audienz empfangen, selbst wenn er noch so sehr darum bäte. Es ist bereits zu spät.

Wenn Zdena ihn trotzdem drängt, etwas zu seinem Vorteil zu unternehmen, und behauptet, Genossen der höchsten Ebene würden ihm das nahelegen, ist dies nur Ausdruck ihres ratlosen und verwirrten Wunsches, ihm irgendwie zu helfen. Wenn sie dabei hastig spricht und seinen Blick meidet, so tut sie dies nicht, weil sie eine Falle in der Hand hat, sondern weil ihre Hände ganz leer sind.

Hat Mirek sie überhaupt je verstanden?

Er hat immer geglaubt, Zdena sei der Partei so verbissen treu geblieben, weil sie eine politische Fanatikerin ist.

Das stimmt nicht. Sie ist der Partei treu geblieben, weil sie Mirek geliebt hat.

Als er sie verlassen hatte, hatte sie keinen anderen Wunsch, als zu beweisen, dass Treue ein Wert war, der über allen anderen Werten stand. Sie wollte beweisen, dass er in allem treulos und sie in allem treu war. Was aussah wie politischer Fanatismus, war nichts als ein Vorwand, eine Parabel, ein Manifest der Treue, ein chiffrierter Vorwurf enttäuschter Liebe.

Ich stelle mir vor, wie sie eines Morgens im August von fürchterlichem Flugzeuglärm geweckt wird. Sie läuft auf die Straße, und aufgeregte Leute sagen ihr, dass die russische Armee das Land besetzt hat. Sie bricht in hysterisches Lachen aus. Die russischen Panzer sind gekommen, um die Untreue zu rächen! Endlich wird sie Mireks Untergang sehen! Endlich wird sie ihn auf den Knien sehen! Endlich wird sie sich zu ihm hinabneigen können als diejenige, die weiß, was Treue ist, und ihm helfen.

Er beschließt, das Gespräch, das die falsche Richtung eingeschlagen hat, brutal zu unterbrechen: »Du weißt, dass ich dir damals viele Briefe geschrieben habe. Ich möchte sie gerne zurückhaben.«

Überrascht hebt sie den Kopf. »Briefe?«

»Ja, meine Briefe. Ich habe dir seinerzeit mindestens hundert Briefe geschrieben.«

»Ja, deine Briefe, ich weiß«, sagt sie und meidet seinen Blick plötzlich nicht mehr, sondern schaut ihm fest in die Augen. Mirek hat das unangenehme Gefühl, dass sie bis auf den Grund seiner Seele sieht und ganz genau weiß, was er will und weshalb er es will.

»Die Briefe, ja, deine Briefe«, wiederholt sie, »vor Kurzem habe ich sie wieder gelesen. Ich habe mich gefragt, wie es bloß möglich war, dass du zu solchen Gefühlsausbrüchen fähig warst.«

Sie wiederholt das Wort Gefühlsausbruch noch mehrmals, und sie sagt es nicht schnell und hastig, sondern langsam und bedächtig, als zielte sie auf etwas, das sie nicht verpassen will, und sie lässt ihn nicht aus den Augen, als wollte sie feststellen, ob es ihr gelungen ist, ins Schwarze zu treffen.

13

Vor seiner Brust hing der eingegipste Arm, und seineWangen brannten, als hätte er eine Ohrfeige bekommen.

Ach ja, seine Briefe mussten ziemlich sentimental gewesen sein. Wie auch nicht! Schließlich hatte er sich um jeden Preis beweisen müssen, dass nicht Schwäche und Elend ihn an sie banden, sondern seine Liebe! Und wahrlich: Nur eine grenzenlose Leidenschaft konnte die Beziehung zu dieser hässlichen Ente rechtfertigen.

»Du hast mir geschrieben, ich sei deine Kampfgefährtin, erinnerst du dich?«

Er errötete noch mehr, falls dies überhaupt noch möglich war. Dieses unendlich lächerliche Wort Kampf. Woraus hatte ihrer beider Kampf bestanden? Sie hatten in endlosen Sitzungen gesessen und davon Schwielen am Hintern bekommen, doch in dem Moment, als sie von ihren Stühlen aufstanden, um irgendeine sehr radikale Meinung vorzutragen (den Klassenfeind gelte es noch strenger zu bestrafen, diesen oder jenen Gedanken noch unnachgiebiger zu formulieren), hatten sie das Gefühl, wie Figuren heroischer Bilder zu sein: Er fällt zu Boden, in der Hand eine Pistole und am Arm eine blutende Wunde, und sie, ebenfalls mit einem Schießeisen bewaffnet, schreitet voran, um sich dorthin durchzukämpfen, wohin er es nicht mehr geschafft hat.

Seine Haut war damals noch von spätpubertären Pickeln übersät gewesen, und um sie zu kaschieren, hatte er sich die Maske der Revolte aufs Gesicht gesetzt. Er hatte allen erzählt, dass er sich für immer von seinem Vater, einem Großbauern, losgesagt habe. Dass er der jahrhundertealten dörflichen Tradition, die an Besitz und Boden klebte, ins Gesicht spucke. Er hatte die Streitszene und den dramatischen Weggang von zu Hause geschildert. Daran war nicht das Geringste wahr. Wenn er heute zurückschaute, sah er dort nichts als Lüge und Legende.

»Du warst damals ein anderer Mensch«, sagte Zdena.

Und er stellte sich vor, wie er dieses Paket Briefe mitnehmen würde. Er würde bei der erstbesten Mülltonne anhalten, die Briefe angeekelt zwischen zwei Finger nehmen, als wäre das Papier mit Scheiße beschmiert, und sie zum Abfall werfen.

14

»Wozu brauchst du diese Briefe?«, fragte sie. »Weshalbwillst du sie eigentlich zurück?«

Er konnte nicht sagen, dass er sie in eine Mülltonne werfen wollte. Er verfiel in einen melancholischen Ton und erzählte ihr, dass er in die Jahre gekommen sei, in denen man zurückschaue.

(Es war ihm peinlich, als er das sagte, sein Märchen schien ihm nicht sehr überzeugend zu klingen, und er schämte sich.)

Ja, er schaue zurück, weil er heute schon vergessen habe, wie er gewesen sei, als er noch jung war. Er wisse, dass er gescheitert sei. Deshalb wolle er herausfinden, von wo und von was er ausgegangen sei, um sich besser bewusst zu machen, wo er Fehler gemacht habe. Deshalb wolle er zu seiner Korrespondenz mit ihr zurückkehren, denn darin läge das Geheimnis seiner Jugend, seiner Anfänge und seiner Wurzeln.

Sie schüttelte den Kopf: »Ich würde sie dir nicht mal im Traum geben.«

»Ich will sie mir doch nur ausleihen«, log er.

Sie schüttelte abermals den Kopf.

Er dachte daran, dass irgendwo in ihrer Wohnung, nicht weit von ihm entfernt, seine Briefe lagen, die sie jederzeit jedermann zu lesen geben konnte. Es kam ihm unerträglich vor, dass ein Stück seines Lebens in ihren Händen geblieben war, und er hatte Lust, ihr den schweren Glasaschenbecher, der auf dem Tischchen zwischen ihnen stand, an den Kopf zu werfen und die Briefe mitzunehmen. Stattdessen erklärte er ihr noch einmal, dass er zurückblicke und begreifen wolle, von wo er ausgegangen sei.

Sie schaute zu ihm auf und brachte ihn mit ihrem Blick zum Schweigen. »Ich würde sie dir niemals geben. Niemals!«

15

Als sie ihn hinausbegleitete, standen die beiden Autoshintereinander vor ihrem Haus. Die Geheimpolizisten vertraten sich die Beine auf dem Gehsteig gegenüber. Jetzt blieben sie stehen und sahen zu ihnen her.

Er deutete hinüber: »Diese beiden Herren sind mir den ganzen Weg gefolgt.«

»Wirklich?«, sagte sie ungläubig, und aus ihrer Stimme war eine gekünstelte Ironie herauszuhören: »Wirst du von allen verfolgt?«

Wie konnte sie so zynisch sein und ihm ins Gesicht sagen, die beiden Männer, die demonstrativ und dreist herüberstierten, seien nur zufällige Passanten?

Es gab nur eine Erklärung. Sie spielte deren Spiel. Das Spiel, das darin bestand, so zu tun, als gäbe es keine Geheimpolizei, als sei nie jemand verfolgt worden.

Die Polizisten hatten inzwischen die Straße überquert und sich vor Mireks und Zdenas Augen ins Auto gesetzt.

»Mach’s gut«, sagte Mirek und sah sie nicht mehr an. Er setzte sich ans Steuer. Im Rückspiegel sah er das Auto der Geheimpolizei anfahren. Zdena sah er nicht. Er wollte sie nicht sehen. Wollte sie nie mehr sehen.

Deshalb sah er nicht, dass sie auf dem Gehsteig stand und ihm lange nachschaute, in ihrem Gesicht ein Erschrecken.

Nein, es war kein Zynismus gewesen, als sie sich geweigert hatte, in den Männern auf dem Gehsteig gegenüber Geheimpolizisten zu sehen. Sie war von einer Angst vor etwas überwältigt worden, das ihr über den Kopf gewachsen war. Sie wollte vor ihm und vor sich die Wahrheit verbergen.

16

Zwischen ihm und dem Auto der Geheimpolizistentauchte plötzlich ein roter, von einem rasenden Fahrer gesteuerter Sportwagen auf. Mirek trat aufs Gaspedal. Sie fuhren gerade in ein kleines Städtchen ein. Die Straße machte eine Kurve. Mirek begriff, dass seine Verfolger ihn in diesem Augenblick nicht sehen konnten, und bog in ein Gässchen ein. Die Bremsen quietschten, und ein Junge, der die Straße überqueren wollte, konnte gerade noch zur Seite springen. Im Rückspiegel sah er das rote Auto auf der Hauptstraße vorbeiflitzen. Der Wagen seiner Verfolger war noch nicht zu sehen. Es gelang ihm, in eine andere Straße einzubiegen und ihnen auf diese Weise definitiv aus dem Blickfeld zu entschwinden.

Er verließ die Stadt auf einer Straße, die in eine andere Richtung führte. Er sah in den Rückspiegel. Niemand folgte ihm, die Straße war leer.

Er stellte sich die armen Polizisten vor, die ihn nun suchten und Angst hatten, dass der Chef sie zur Sau machen könnte. Er lachte laut. Er fuhr langsamer und betrachtete die Landschaft. Eigentlich hatte er sich noch nie eine Landschaft angesehen. Immer fuhr er irgendwohin, um etwas zu erledigen und zu verhandeln, sodass der Raum der Welt für ihn etwas Negatives geworden war, ein Zeitverlust, ein Hindernis, das seine Aktivität hemmte.

In einiger Entfernung gingen vor ihm langsam zwei rot-weiß gestreifte Schranken nieder. Er hielt an.

Auf einmal spürte er unendliche Müdigkeit. Warum war er überhaupt hergefahren? Warum wollte er die Briefe zurück?

Das Unsinnige, Lächerliche und Kindische seiner Reise erdrückte ihn schier. Keine Überlegung und kein praktisches Interesse hatten ihn dazu verleitet, sondern nur ein unüberwindlicher, sehnlicher Wunsch. Der Wunsch, mit der Hand weit in die Vergangenheit zurückzugreifen und dort mit der Faust zuzuschlagen. Der Wunsch, das Bild seiner Jugend mit einem Messer zu zerschneiden. Ein leidenschaftlicher Wunsch, den er nicht hatte zähmen können und der nunmehr unerfüllt bleiben würde.

Er fühlte sich tatsächlich unendlich müde. Wahrscheinlich würde er nicht mehr in der Lage sein, die kompromittierenden Schriftstücke aus seiner Wohnung zu schaffen. Die Polizisten hatten sich an seine Fersen geheftet und würden ihn nicht mehr loslassen. Es war zu spät. Ja, es war für alles zu spät.

Aus der Ferne hörte er das Fauchen eines Zuges. Neben dem Bahnwärterhäuschen stand eine Frau mit rotem Kopftuch. Der Zug, ein langsamer Personenzug, kam angefahren, aus einem Fenster neigte sich ein alter Mann mit einer Pfeife und spuckte hinaus. Dann war das Klingeln der Bahnhofsglocke zu hören, und die Frau mit dem roten Kopftuch trat zu den Schranken und begann zu kurbeln. Als sie oben waren, startete Mirek den Wagen. Er fuhr in das Dorf, das aus einer einzigen, endlos langen Straße bestand, an deren Ende sich der Bahnhof befand: ein kleines, niedriges weißes Haus, daneben ein Holzzaun, durch den hindurch man die Bahnsteige und die Gleise sehen konnte.

17

In den Bahnhofsfenstern blühten die Begonien. Mirek hieltdas Auto an. Er saß hinter dem Lenkrad und betrachtete das Gebäude, betrachtete eines der Fenster und die roten Blüten. Aus längst vergangenen Zeiten tauchte vor ihm das Bild eines anderen weißen Hauses auf, auf dessen Fenstersimsen die Begonien rot leuchteten. Es ist ein kleines Hotel in einem Bergdorf, und es sind Sommerferien. Im Fenster taucht zwischen den Blumen eine große Nase auf. Und der zwanzigjährige Mirek schaut zu dieser Nase empor und spürt in seinem Innern eine grenzenlose Liebe.

Er möchte rasch Gas geben und dieser Erinnerung entfliehen. Aber ich lasse mich diesmal nicht hereinlegen und rufe die Erinnerung zurück, um sie festzuhalten. Ich wiederhole also: Im Fenster zwischen den Begonien ist Zdenas Gesicht mit der riesigen Nase zu sehen, und Mirek spürt in seinem Innern eine grenzenlose Liebe.

Ist das möglich?

Ja. Warum auch nicht? Warum soll ein Schwacher für eine Hässliche nicht wahrhaftige Liebe empfinden können?

Er erzählt ihr, wie er sich gegen den reaktionären Vater aufgelehnt hat, sie ereifert sich gegen die Intellektuellen, beide haben Schwielen an ihren Hintern und halten sich an den Händen. Sie besuchen Versammlungen, denunzieren Mitbürger, lügen und lieben einander. Sie weint über Masturbows Tod, er knurrt wie ein wütender Hund auf ihrem Körper, und einer kann ohne den andern nicht leben.

Er hat sie nicht aus der Fotografie seines Lebens radiert, weil er sie nicht gemocht, sondern weil er sie geliebt hat. Er hat sie samt seiner Liebe zu ihr weggewischt, wegradiert wie die Propagandaabteilung der Partei Clementis vom Balkon, auf dem Gottwald seine historische Rede hielt. Mirek ist genauso ein Umschreiber der Geschichte wie die kommunistische Partei, wie alle politischen Parteien, wie alle Völker, wie der Mensch. Die Menschen schreien, dass sie eine bessere Zukunft erbauen wollen, aber das ist nicht wahr. Die Zukunft ist eine gleichgültige Leere, die niemanden interessiert, während die Vergangenheit von Leben erfüllt ist und uns mit ihrem Gesicht reizt, erzürnt und beleidigt, sodass wir sie zerstören oder übermalen möchten. Die Menschen wollen die Herren der Zukunft sein, um die Vergangenheit verändern zu können. Sie kämpfen um den Zugang zu den Labors, in denen die Fotografien retuschiert und die Biographien und die Geschichte umgeschrieben werden.

Wie lange stand er vor diesem Bahnhof?

Und was bedeutet dieser Halt?

Er bedeutet nichts.

Mirek hat ihn augenblicklich aus seinen Gedanken radiert, sodass er in diesem Moment nichts mehr weiß von dem weißen Haus mit den Begonien. Er fährt bereits wieder durch die Landschaft und schaut sich nicht mehr um. Der Raum der Welt ist nur noch ein Hindernis, das seine Aktivität hemmt.

18

Das Auto, das er abgeschüttelt hatte, war vor seinemHaus geparkt. Die beiden Männer standen ganz in der Nähe.

Er hielt seinen Wagen hinter dem ihren an und stieg aus. Sie lächelten Mirek fast fröhlich zu, als wäre seine Flucht nur ein lustiges Spiel, das alle angenehm zerstreut hatte. Als er an ihnen vorbeiging, lachte der Mann mit dem dicken Hals und dem grauen dauergewellten Haar und nickte ihm zu. Mirek wurde bange angesichts solcher Vertraulichkeit, die ahnen ließ, dass man künftig noch enger miteinander verbunden sein würde.

Er verzog keine Miene und betrat das Haus. Öffnete mit dem Schlüssel die Wohnungstür. Zuerst sah er seinen Sohn und dessen aufgeregten Blick. Ein Unbekannter mit Brille trat auf Mirek zu und wies sich aus: »Wollen Sie den Hausdurchsuchungsbefehl des Staatsanwalts sehen?«

»Ja«, sagte Mirek.

In der Wohnung befanden sich noch zwei unbekannte Männer. Der eine stand neben dem Schreibtisch, auf dem sich Papiere, Hefte und Bücher stapelten. Er nahm die Dinge eins nach dem andern in die Hand, während der andere am Tisch saß und aufschrieb, was ihm der erste diktierte.

Der Mann mit der Brille zog ein zusammengefaltetes Papier aus seiner Brusttasche und streckte es Mirek hin: »Hier haben Sie die Order des Staatsanwalts, und dort« – er deutete auf die beiden Männer – »wird die Liste der beschlagnahmten Materialien erstellt.«

Auf dem Fußboden lagen Papiere und Bücher verstreut, die Schranktür stand offen, die Möbel waren von den Wänden gerückt. Der Sohn neigte sich zu Mirek und sagte: »Sie sind fünf Minuten nach deiner Abfahrt gekommen.«

Die Männer am Schreibtisch erstellten eine Liste der beschlagnahmten Materialien: Briefe von Mireks Freunden, Dokumente aus den ersten Tagen der russischen Okkupation, Analysen der politischen Situation, Versammlungsprotokolle und einige Bücher.

»Sie nehmen nicht gerade viel Rücksicht auf Ihre Freunde«, sagte der Mann mit der Brille und wies mit dem Kopf auf die konfiszierten Sachen.

»Es ist nichts dabei, was gegen die Verfassung verstößt«, sagte der Sohn, und Mirek wusste, dass dies seine eigenen Worte waren.

Der Mann mit der Brille sagte, das Gericht werde darüber entscheiden, was gegen die Verfassung verstoße und was nicht.

19

Diejenigen, die emigriert sind (mehr als hundertzwanzigtausend), und diejenigen, die totgeschwiegen werden und die Arbeit verloren haben (eine halbe Million), verschwinden wie ein Umzug, der sich im Nebel verliert, ungesehen und vergessen.

Das Gefängnis jedoch ist, obwohl ringsum von Mauern umgeben, eine herrlich beleuchtete Bühne der Geschichte.

Mirek weiß das schon lange. Die Vorstellung des Gefängnisses hat ihn schon das ganze vergangene Jahr unwiderstehlich fasziniert. So muss Flaubert von Madame Bovarys Selbstmord fasziniert gewesen sein. Nein, er könnte sich für den Roman seines Lebens kein besseres Ende vorstellen.

Sie wollten Hunderttausende Leben aus dem Gedächtnis ausradieren, damit nur noch die eine unbefleckte Zeit einer unbefleckten Idylle übrig blieb. Er aber würde sich mit seinem ganzen Körper als Fleck auf diese Idylle legen. Er würde an ihr haften bleiben wie Clementis’ Mütze auf Gottwalds Kopf.

Sie ließen Mirek die Liste der beschlagnahmten Materialien unterschreiben und forderten dann auch seinen Sohn auf mitzukommen. Nach einjähriger Untersuchungshaft kam es zum Prozess. Mirek wurde zu sechs Jahren verurteilt, sein Sohn zu zwei, und etwa zehn Freunde erhielten Gefängnisstrafen zwischen einem und sechs Jahren.

Zweiter TeilDie Mutter

1

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Marketa ihre Schwiegermutter nicht mochte. Das war damals, als sie zusammen mit Karel bei ihr wohnte (der Schwiegervater lebte zu der Zeit noch) und sie täglich mit deren Streitsucht und Ausfälligkeiten konfrontiert war. Sie hielten es nicht lange aus und zogen weg. Möglichst weit weg von der Mutter, lautete damals ihre Devise. Sie nahmen sich eine Wohnung in einer Stadt, die am anderen Ende der Republik lag, sodass sie Karels Eltern kaum einmal im Jahr sahen.

Dann starb eines Tages der Schwiegervater, und die Mutter blieb allein zurück. Sie trafen sie auf dem Begräbnis; sie war kleinlaut und elend und kam ihnen kleiner vor als früher. Beide hatten sie den Satz im Kopf: Mama, du kannst jetzt nicht allein bleiben, wir nehmen dich zu uns.