Die Kunst des Romans - Milan Kundera - E-Book

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Milan Kundera

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Beschreibung

Die Welt der Theorie sei nicht die seine, erklärt Milan Kundera. Seine Überlegungen basierten auf seiner eigenen Praxis des Schreibens. Und zum Glück für seine Zeitgenossen und die Nachwelt hat der Autor diese Überlegungen aufgeschrieben. In dieser bunten Interview- und Essaysamm- lung diskutiert der große Romancier die Einflüsse bedeutender Kollegen wie Miguel de Cervantes, Honoré de Balzac, James Joyce und Leo Tolstoi auf die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und besonders auch auf sein eigenes Schaffen. Im Essay »Dreiundsechzig Wörter« sammelt er Vokabeln, die in seinem Werk besonders oft vorkommen und erklärt deren Wert und Bedeutung für sich selbst. Ein Stück Literaturgeschichte über die Literaturgeschichte, eins der persönlichsten Werke Milan Kunderas – und dabei so klug, unterhaltsam und lustig wie eh und je.

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Seitenzahl: 189

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Milan Kundera

Die Kunst des Romans

Essays

Aus dem Französischen von Uli Aumüller

Kampa

Die Welt der Theorien ist nicht die meine. Diese Überlegungen sind die eines Praktikers. Das Werk eines jeden Romanciers enthält eine stillschweigende Vorstellung von der Geschichte des Romans, eine Idee davon, was der Roman ist. Diese Idee des Romans, wie sie meinen eigenen Romanen eingeschrieben ist, habe ich hier sprechen lassen.

Die sieben vorliegenden Texte wurden zwischen 1979 und 1985 geschrieben, publiziert oder gesprochen. Trotz ihrer voneinander unabhängigen Anlässe habe ich sie bereits mit dem Gedanken entworfen, sie später zu einem Buch zu vereinigen. Das geschah im Jahr 1986.

Erster TeilDas missachtete Erbe des Cervantes

1

1935, drei Jahre vor seinem Tod, hielt Edmund Husserlin Wien und in Prag seine berühmten Vorträge über die »Krisis des europäischen Menschentums«. Das Adjektiv »europäisch« bezeichnete für ihn die geistige Identität, die über das geographische Europa hinaus (zum Beispiel in Amerika) verbreitet ist und aus der Philosophie der griechischen Antike hervorging. Seiner Ansicht nach begriff sie die Welt (die Welt in ihrer Ganzheit) zum ersten Mal in der Geschichte als eine zu lösende Frage. Sie fragte nicht, um irgendein praktisches Bedürfnis zu befriedigen, sondern weil »den Menschen die Leidenschaft eines Erkenntnisstrebens« ergriffen hatte.

Husserl hielt diese Krise für so tief gehend, dass er sich fragte, ob Europa noch in der Lage sei, sie zu überstehen. Ihre Wurzeln glaubte er am Beginn der Neuzeit, bei Galilei und Descartes, in der Einseitigkeit der europäischen Naturwissenschaften zu finden, die aus der Welt einen bloßen Gegenstand technischer und mathematischer Forschung gemacht und die konkrete Welt des Lebens, die Lebenswelt, wie er sagte, aus ihrem Blickfeld ausgeklammert hatten.

Der Aufschwung der Naturwissenschaften trieb den Menschen in die Engführungen spezialisierter Disziplinen. Je mehr Wissen er sich aneignete, umso mehr verlor er die Ganzheit der Welt und sich selbst aus den Augen und versank auf diese Weise in dem, was Husserls Schüler Heidegger mit einer schönen, beinahe magischen Formel »Seinsvergessenheit« genannt hat.

Der von Descartes einst zum »Herrn und Besitzer der Natur« erhobene Mensch wird einfacher Gegenstand von Kräften (der Technik, der Politik, der Geschichte), die ihn überschreiten, übertreffen, von ihm Besitz ergreifen. Für diese Kräfte hat sein konkretes Sein, seine »Lebenswelt« keinen Wert und keine Bedeutung mehr; sie wird im Vorhinein ausgeblendet, vergessen.

2

Ich glaube jedoch, es wäre naiv, die Strenge, mit der hierdie Neuzeit betrachtet wird, als bloße Verurteilung zu werten. Ich würde vielmehr sagen, dass die beiden großen Philosophen die Ambiguität jener Epoche aufgedeckt haben, die Zerfall und Fortschritt zugleich ist und wie alles Menschliche den Keim ihres Endes schon bei ihrer Geburt in sich trägt. Diese Ambiguität setzt die vier letzten Jahrhunderte Europas in meinen Augen nicht herab; ich fühle mich ihnen umso mehr verbunden, als ich kein Philosoph, sondern Romancier bin. Für mich ist nämlich nicht nur Descartes, sondern auch Cervantes Begründer der Neuzeit.

Ihm haben die beiden Phänomenologen bei ihrem Urteil über die Neuzeit vielleicht zu wenig Beachtung geschenkt. Ich will damit sagen: Falls es zutrifft, dass die Philosophie und die Naturwissenschaften das Sein des Menschen vergessen haben, zeichnet sich umso deutlicher ab, dass mit Cervantes eine große europäische Kunst entstand, die nichts anderes ist als die Erforschung dieses vergessenen Seins.

Tatsächlich sind alle großen existenziellen Themen, die Heidegger, in der Meinung, sie seien von der gesamten europäischen Philosophie vor ihm vernachlässigt worden, in Sein und Zeit analysiert, vom europäischen Roman in vier Jahrhunderten aufgegriffen, dargestellt, geklärt worden. Der Roman hat nach und nach, auf seine eigene Weise und nach seiner eigenen Logik, die verschiedenen Aspekte der Existenz entdeckt: Mit Cervantes’ Zeitgenossen fragt er sich, was das Abenteuer ist; mit Samuel Richardson macht er sich daran, zu untersuchen, »was sich im Innern abspielt«, die geheimsten Gefühle aufzudecken; mit Balzac entdeckt er die Verwurzelung des Menschen in der Geschichte; mit Flaubert erforscht er die terra bis dahin incognita des Alltäglichen; mit Tolstoj vertieft er sich in das Eingreifen des Irrationalen in menschliche Entscheidungen und Verhaltensweisen. Dann lotet er die Zeit aus: mit Marcel Proust den ungreifbaren vergangenen Augenblick; mit James Joyce den ungreifbaren gegenwärtigen Augenblick. Mit Thomas Mann untersucht er die Rolle der Mythen, die aus der Tiefe der Zeit unsere Schritte steuern. Et cetera, et cetera.

Seit Beginn der Neuzeit ist der Roman dem Menschen ein ständiger, treuer Begleiter. Die »Leidenschaft des Erkenntnisstrebens« (für Husserl die Essenz der europäischen Geistigkeit) hat sich damals des Romans bemächtigt, damit er das konkrete Leben des Menschen erforscht und es vor der »Seinsvergessenheit« schützt; damit er die »Lebenswelt« ständig beleuchtet. In diesem Sinne verstehe und teile ich die Hartnäckigkeit, mit der Hermann Broch wiederholte: Die einzige Raison d’être eines Romans besteht darin, etwas zu entdecken, was allein ein Roman entdecken kann. Ein Roman, der keinen bislang unbekannten Bereich der Existenz entdeckt, ist unmoralisch. Erkenntnis ist die einzige Moral des Romans.

Ich möchte noch hinzufügen: Der Roman ist das Werk Europas; seine Entdeckungen, wenn auch in verschiedenen Sprachen ausgeführt, gehören ganz Europa an. Die Geschichte des europäischen Romans besteht in der Abfolge der Entdeckungen (und nicht in der Addition dessen, was geschrieben wurde). Nur in diesem übernationalen Kontext kann der Wert eines Werkes (das heißt, die Tragweite seiner Entdeckung) voll und ganz gesehen und verstanden werden.

3

Als Gott gemächlich den Platz räumte, von dem aus erdas Universum und seine Wertordnung gelenkt, das Gute vom Bösen getrennt und jedem Ding einen Sinn verliehen hatte, trat Don Quijote aus seinem Haus und war nicht mehr imstande, die Welt zu erkennen. Denn in Abwesenheit des Höchsten Richters erschien sie plötzlich in einer furchterregenden Ambiguität; die eine göttliche Wahrheit zerfiel in Hunderte von relativen Wahrheiten, die die Menschen unter sich aufteilten. So entstand die Welt der Neuzeit und mit ihr der Roman, ihr Abbild und Modell.

Mit Descartes das denkende Ich als Grundlage von allem zu verstehen und so dem Universum allein gegenüberzustehen, ist eine Haltung, die Hegel zu Recht für heroisch hielt.

Mit Cervantes die Welt als Ambiguität zu verstehen, statt mit einer einzigen absoluten Wahrheit, mit einer Menge relativer, widersprüchlicher Wahrheiten konfrontiert zu sein (Wahrheiten, die in Figuren genannte, imaginäre Ichs eingebaut sind), folglich als einzige Gewissheit die Weisheit der Ungewissheit zu besitzen, erfordert genauso viel Kraft.

Was will Cervantes’ großer Roman sagen? Es gibt reichlich Literatur zu diesem Thema. Manche möchten in ihm eine rationalistische Kritik an Don Quijotes verworrenem Idealismus sehen. Andere verstehen ihn gerade als Verherrlichung ebendieses Idealismus. Beide Interpretationen sind falsch, weil sie davon ausgehen, Grundlage des Romans sei nicht eine Fragestellung, sondern eine vorgefasste moralische Meinung.

Der Mensch wünscht sich eine Welt, in der Gut und Böse eindeutig zu unterscheiden sind, da er den angeborenen, unbezähmbaren Wunsch in sich hat, zu urteilen, bevor er versteht. Auf diesen Wunsch sind Religionen und Ideologien gegründet. Sie können sich mit dem Roman nur aussöhnen, wenn sie seine von Relativität und Ambiguität geprägte Sprache in ihren apodiktischen, dogmatischen Diskurs übersetzen. Sie verlangen, dass einer recht hat; entweder ist Anna Karenina Opfer eines bornierten Despoten, oder Karenin ist Opfer einer unmoralischen Frau; entweder wird der unschuldige K. von dem ungerechten Gericht vernichtet, oder hinter dem Gericht verbirgt sich die göttliche Gerechtigkeit, und K. ist schuldig.

Dieses »Entweder-Oder« zeugt von der Unfähigkeit, die essenzielle Relativität der menschlichen Dinge zu ertragen, von der Unfähigkeit, das Fehlen des Höchsten Richters auszuhalten. Aufgrund dieser Unfähigkeit ist es schwierig, die Weisheit des Romans (die Weisheit der Ungewissheit) zu akzeptieren und zu verstehen.

4

Don Quijote brach in eine Welt auf, die sich weit vorihm öffnete. Er konnte nach Belieben in sie eintreten und wieder nach Hause zurückkehren, wann er wollte. Die ersten europäischen Romane sind Reisen durch eine unbegrenzt erscheinende Welt. Am Anfang von Jacques der Fatalist überraschen wir die beiden Helden unterwegs; man weiß weder, woher sie kommen, noch, wohin sie gehen. Sie befinden sich in einer Zeit ohne Anfang und Ende, in einem Raum ohne Grenzen, mitten in einem Europa, dessen Zukunft nie enden kann.

Ein halbes Jahrhundert nach Diderot, bei Balzac, ist der weite Horizont wie eine Landschaft hinter den modernen Gebäuden sozialer Institutionen verschwunden: hinter der Polizei, der Justiz, der Welt des Geldes und des Verbrechens, der Armee, des Staates. Balzacs Zeit kennt Cervantes’ und Diderots glückliche Muße nicht mehr. Sie ist in den Zug eingestiegen, den man Geschichte nennt. Einsteigen ist leicht, wieder aussteigen schwierig. Aber dennoch hat dieser Zug noch nichts Erschreckendes, er hat sogar einen Reiz; er verspricht allen seinen Passagieren Abenteuer und damit die besten Chancen.

Noch später, für Emma Bovary, verengt sich der Horizont so sehr, dass er wie eine Einzäunung wirkt. Die Abenteuer spielen sich auf der anderen Seite ab, und die Sehnsucht ist unerträglich. In der Langeweile des Alltäglichen gewinnen die Träume und Träumereien an Bedeutung. Die verlorene Unendlichkeit der Außenwelt wird durch die Unendlichkeit der Seele ersetzt. Die große Illusion von der unersetzbaren Einmaligkeit des Individuums, eine der schönsten europäischen Illusionen, entfaltet sich.

Doch der Traum von der Unendlichkeit der Seele verliert seine Magie in dem Moment, als die Geschichte oder das, was von ihr übrig geblieben ist, die übermenschliche Kraft einer allmächtigen Gesellschaft, sich des Menschen bemächtigt. Sie verspricht ihm nicht mehr die besten Chancen, sie verspricht ihm mit Müh und Not die Stelle eines Landvermessers. Was kann K. tun, mit dem Gericht, mit dem Schloss konfrontiert? Nicht viel. Kann er wenigstens träumen wie einst Emma Bovary? Nein, die Falle der Situation ist zu schrecklich und absorbiert wie ein Staubsauger alle seine Gedanken und Gefühle: Er kann nur noch an seinen Prozess, an seine Stelle als Landvermesser denken. Die Unendlichkeit der Seele, falls es eine gibt, ist ein fast überflüssiges Anhängsel des Menschen geworden.

5

Der Weg des Romans verläuft wie eine Parallelgeschichte der Neuzeit. Wenn ich mich umdrehe, um ihn zu überblicken, erscheint er mir seltsam kurz und abgeschlossen. Ist es nicht Don Quijote selbst, der nach einer drei Jahrhunderte dauernden Reise als Landvermesser verkleidet ins Dorf zurückkehrt? Einst war er aufgebrochen, um sich seine Abenteuer auszusuchen, nun hat er in diesem Dorf unterhalb des Schlosses keine Wahl mehr, das Abenteuer wird ihm aufgezwungen: ein läppischer Streitfall mit der Verwaltung wegen eines Versehens in seinen Unterlagen. Was ist nach dreihundert Jahren denn aus dem Abenteuer, diesem ersten großen Thema des Romans, geworden? Ist es seine eigene Parodie geworden? Was hat das zu bedeuten? Dass der Weg des Romans in einem Paradoxon endet?

Ja, das könnte man meinen. Und es gibt nicht nur ein Paradoxon, es gibt eine Unmenge davon. Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk sind womöglich der letzte große Volksroman. Ist es nicht erstaunlich, dass dieser komische Roman gleichzeitig ein Kriegsroman ist, dessen Handlung in der Armee und an der Front spielt? Was ist mit dem Krieg und seinen Schrecken geschehen, wenn sie Gegenstand des Lachens geworden sind?

Bei Homer, bei Tolstoj hatte der Krieg einen durchaus einleuchtenden Sinn: Man kämpfte um die schöne Helena oder für Russland. Schwejk und seine Kameraden gehen an die Front, ohne zu wissen warum und, was noch schockierender ist, ohne sich dafür zu interessieren.

Was ist denn der Antrieb für einen Krieg, wenn es nicht Helena oder das Vaterland ist? Die bloße Kraft, die sich als Kraft behaupten will? Jener »Wille zum Willen«, von dem Heidegger später sprechen wird? Stand er denn nicht von jeher hinter allen Kriegen? Doch, selbstverständlich. Aber jetzt, bei Hašek, versucht er nicht einmal, sich mit einer auch nur ansatzweise vernünftigen Argumentation zu tarnen. Niemand glaubt dem Geplapper der Propaganda, nicht einmal die, von denen sie ausgeheckt wird. Die Kraft ist nackt, so nackt wie in Kafkas Romanen. Tatsächlich wird das Gericht keinerlei Nutzen von K.s Hinrichtung haben, ebenso wenig wie das Schloss, wenn es den Landvermesser schikaniert. Weshalb wollen das Deutschland von gestern, das Russland von heute die Welt beherrschen? Um reicher zu werden? Glücklicher? Nein. Die Aggressivität der Kraft ist vollkommen zweckfrei; unmotiviert; sie will nur ihr Wollen; sie ist das reine Irrationale.

Kafka und Hašek konfrontieren uns also mit einem gewaltigen Paradoxon: In der Neuzeit hat die kartesianische Vernunft nacheinander alle vom Mittelalter ererbten Werte zersetzt. Doch im Augenblick des vollständigen Sieges der Vernunft bemächtigt sich das reine Irrationale (die Kraft, die nur ihr Wollen will) der Weltbühne, weil es kein allgemein anerkanntes Wertesystem mehr gibt, das sich ihm in den Weg stellen könnte.

Dieses in Die Schlafwandler von Hermann Broch meisterhaft dargestellte Paradoxon gehört zu denen, die ich final nennen möchte. Es gibt noch andere. Zum Beispiel hegte die Neuzeit den Traum von einer Menschheit, die, in verschiedene einzelne Zivilisationen aufgespalten, eines Tages zur Einheit und damit zum ewigen Frieden fände. Heute bildet die Geschichte des Planeten endlich ein unteilbares Ganzes, aber es ist der Krieg, ein schleichender, fortwährender Krieg, der diese seit Langem erträumte Einheit der Menschheit verwirklicht und gewährleistet. Die Einheit der Menschheit bedeutet: Niemand kann entkommen.

6

Husserls Vorträge über die Krise Europas und dieMöglichkeit eines Untergangs der europäischen Menschheit waren sein philosophisches Testament. Er hielt sie in zwei Hauptstädten Zentraleuropas. Diese Koinzidenz hat eine tiefere Bedeutung: Tatsächlich konnte in ebendiesem Zentraleuropa das Abendland zum ersten Mal in seiner modernen Geschichte den Tod des Abendlandes mit ansehen oder, genauer gesagt, die Amputation eines Teils seiner selbst, als nämlich Warschau, Budapest und Prag vom russischen Reich verschlungen wurden. Dieses Unglück war Folge des Ersten Weltkriegs, der, durch die Donaumonarchie ausgelöst, zu deren eigenem Ende führte und das geschwächte Europa für immer aus dem Gleichgewicht brachte.

Die letzten friedlichen Zeiten, in denen der Mensch nur mit den Ungeheuern seiner Seele hatte fertig werden müssen, die Zeiten von Joyce und Proust, waren vorbei. In den Romanen Kafkas, Hašeks, Musils und Brochs kommt das Ungeheuer von außen, und man nennt es Geschichte; sie hat keine Ähnlichkeit mehr mit dem Zug der Abenteurer; sie ist unpersönlich, unlenkbar, unberechenbar, unverständlich – und niemand entkommt ihr. Zu diesem Zeitpunkt (kurz nach dem Krieg von 1914–18) wurde das Gestirn der großen zentraleuropäischen Romanciers auf die finalen Paradoxa der Neuzeit aufmerksam, sprach sie an, stellte sie dar.

Man darf ihre Romane aber nicht wie eine soziale und politische Prophezeiung lesen, wie einen vorweggenommenen Orwell! Was Orwell uns sagt, hätte genauso gut (oder sogar besser) in einem Essay oder in einem Pamphlet gesagt werden können. Dagegen entdecken diese Romanciers, was »allein ein Roman entdecken kann«: Sie zeigen, wie unter den Bedingungen der »finalen Paradoxa« alle existenziellen Kategorien plötzlich einen anderen Sinn annehmen: Was ist das Abenteuer, wenn die Handlungsfreiheit eines K. völlig illusorisch ist? Was ist die Zukunft, wenn die Intellektuellen in Der Mann ohne Eigenschaften nicht die geringste Vorahnung vom Krieg haben, der ihr Leben am nächsten Tag hinwegfegen wird? Was ist das Verbrechen, wenn Brochs Huguenau den Mord, den er begangen hat, nicht nur nicht bereut, sondern vergisst? Und wenn der einzige große komische Roman jener Zeit, der von Hašek, als Schauplatz den Krieg hat, was ist dann mit dem Komischen geschehen? Wo liegt der Unterschied zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, wenn K. sogar auf seinem Liebeslager nie ohne die beiden Gehilfen vom Schloss sein kann? Was bedeutet in diesem Fall Einsamkeit? Eine Last, eine Angst, ein Fluch, wie man uns hat weismachen wollen, oder im Gegenteil der kostbarste Wert, der im Begriff ist, von der allgegenwärtigen Gemeinschaft vernichtet zu werden?

Die Perioden in der Geschichte des Romans sind sehr lang (mit dem hektischen Wechsel der Moden haben sie nichts zu tun) und lassen sich durch diesen oder jenen Aspekt des Seins charakterisieren, den der Roman überwiegend erforscht. So wurden die in Flauberts Entdeckung des Alltäglichen enthaltenen Möglichkeiten erst siebzig Jahre später im gigantischen Werk von James Joyce voll ausgeschöpft. Die vor fünfzig Jahren vom Gestirn der zentraleuropäischen Romanciers eingeleitete Periode (die Periode der finalen Paradoxa) scheint mir noch lange nicht abgeschlossen.

7

Es wird häufig und seit Langem vom Ende des Romansgesprochen: Insbesondere taten das die Futuristen, Surrealisten, fast alle Avantgarden. Ihrer Ansicht nach sollte der Roman im Zuge des Fortschritts zugunsten einer radikal neuen Zukunft, zugunsten einer Kunst verschwinden, die mit nichts Ähnlichkeit haben sollte, was es zuvor gegeben hatte. Der Roman würde wie das Elend, die herrschenden Klassen, alte Automodelle oder Zylinderhüte im Namen der historischen Gerechtigkeit beerdigt werden.

Wenn aber Cervantes ein Begründer der Neuzeit ist, müsste das Ende seines Erbes mehr als eine bloße Station in der Geschichte der literarischen Formen bedeuten; es würde das Ende der Neuzeit ankündigen. Aus diesem Grunde erscheint mir das selbstgefällige Lächeln, mit dem man Nachrufe auf den Roman hält, frivol. Frivol, weil ich den Tod des Romans schon einmal mit angesehen und erlebt habe, seinen (mittels Verboten, Zensur, ideologischem Zwang) gewaltsam herbeigeführten Tod, in der Welt, in der ich einen großen Teil meines Lebens verbracht habe und die gewöhnlich totalitär genannt wird. Da zeigte sich in aller Deutlichkeit, dass der Roman vergänglich ist; so vergänglich wie das Abendland der Neuzeit. Als Modell dieser auf die Relativität und Ambiguität der menschlichen Dinge gegründeten Welt ist der Roman mit dem totalitären Universum unvereinbar. Diese Unvereinbarkeit geht tiefer als diejenige, die einen Dissidenten von einem Apparatschik, einen Kämpfer für die Menschenrechte von einem Folterer trennt, weil sie nicht nur politisch oder moralisch ist, sondern ontologisch. Das heißt: Die auf eine einzige Wahrheit gebaute Welt und die vieldeutige und relative Welt des Romans bestehen jede aus einer vollkommen unterschiedlichen Materie. Die totalitäre Wahrheit schließt Relativität, Zweifel, Fragen aus und ist daher nie in Übereinstimmung mit dem zu bringen, was ich den Geist des Romans nennen möchte.

Aber werden im kommunistischen Russland denn nicht Hunderte, Tausende von Romanen in ungeheuer hohen Auflagen und mit großem Erfolg veröffentlicht? Doch, aber diese Romane schreiben nicht die Eroberung des Seins weiter fort. Sie entdecken keine neue Parzelle der Existenz; sie bestätigen lediglich, was schon gesagt wurde; mehr noch: Ihre Raison d’être, ihr Ruhm, ihre Nützlichkeit in ihrer Gesellschaft, besteht gerade in der Bestätigung dessen, was man sagt (sagen muss). Da sie nichts entdecken, haben sie nicht mehr teil an der Abfolge der Entdeckungen, die ich die Geschichte des Romans nenne; sie befinden sich außerhalb dieser Geschichte, man könnte auch sagen: Es sind Romane nach dem Ende der Geschichte des Romans.

Die Geschichte des Romans steht im Reich des Stalinismus jetzt seit fast einem halben Jahrhundert still. Der Tod des Romans ist also kein Hirngespinst. Er hat bereits stattgefunden. Und wir wissen jetzt, wie der Roman stirbt: Er verschwindet nicht; seine Geschichte bleibt stehen: Danach gibt es nur noch die Zeit der Wiederholung, in der der Roman seine von seinem Geist entleerte Form reproduziert. Es ist also ein Tod im Verborgenen, der sich unbemerkt vollzieht und niemanden schockiert.

8

Ist der Roman aber nicht durch seine eigene innere Logik am Ende seines Weges angekommen? Hat er nicht all seine Möglichkeiten, all seine Erkenntnisse und Formen schon ausgeschöpft? Man hat seine Geschichte mit lange erschöpften Kohlegruben verglichen. Doch ähnelt sie nicht eher dem Friedhof der verpassten Gelegenheiten, der ungehörten Rufe? Für vier Rufe bin ich besonders hellhörig.

Ruf des Spiels. – Laurence Sternes Tristram Shandy und Denis Diderots Jacques der Fatalist erscheinen mir heute als die beiden größten Romanwerke des achtzehnten Jahrhunderts, zwei als grandioses Spiel konzipierte Romane. Es sind zwei vorher und nachher unerreichte Gipfel der Leichtigkeit. Später ließ sich der Roman vom Imperativ der Wahrscheinlichkeit, vom realistischen Dekor, von der chronologischen Ordnung in Fesseln legen. Er verzichtete auf die in diesen beiden Meisterwerken enthaltenen Möglichkeiten, die eine andere als die bekannte Entwicklung des Romans einzuleiten vermocht hätten (ja, man kann sich auch eine andere Geschichte des europäischen Romans vorstellen …).

Ruf des Traums. – Die schlafende Phantasie des neunzehnten Jahrhunderts wurde plötzlich von Franz Kafka geweckt, dem gelang, was nach ihm die Surrealisten zwar forderten, aber nicht wirklich vollbrachten: die Verschmelzung von Traum und Wirklichkeit. Diese ungeheure Entdeckung ist weniger der Abschluss einer Entwicklung als eine unerwartete Öffnung, die erschließt, dass der Roman jener Ort ist, wo die Phantasie explodieren kann wie im Traum, und dass der Roman sich vom scheinbar unumgänglichen Imperativ der Wahrscheinlichkeit befreien kann.

Ruf des Denkens. – Musil und Broch brachten eine überlegene, strahlende Intelligenz auf die Bühne des Romans. Nicht, um den Roman in Philosophie zu verwandeln, sondern um auf der Grundlage der Erzählung alle Mittel, rationale und irrationale, narrative und meditative, zu mobilisieren, die geeignet sind, das Menschsein zu erhellen; aus dem Roman die höchste intellektuelle Synthese zu machen. Ist ihre Glanzleistung die Vollendung der Geschichte des Romans oder eher die Einladung zu einer langen Reise?

Der Ruf der Zeit. – Die Periode der finalen Paradoxa legt dem Romancier nahe, die Frage der Zeit nicht mehr auf das Proust’sche Problem der persönlichen Erinnerung zu begrenzen, sondern sie auf das Rätsel der kollektiven Zeit, der Zeit Europas, auszudehnen, eines Europa, das sich umdreht, um auf seine Vergangenheit zurückzuschauen, um Bilanz zu ziehen, um seine Geschichte zu erfassen, wie ein alter Mann, der mit einem einzigen Blick sein eigenes verflossenes Leben überschaut. Daher der Wunsch, die zeitlichen Grenzen eines individuellen Lebens, in denen der Roman bis dahin eingepfercht war, zu überschreiten und mehreren historischen Epochen Raum zu geben (Broch, Aragon, Fuentes haben das schon versucht).

Aber ich will keine Prophezeiungen über die künftigen Wege des Romans machen, von denen ich keine Ahnung habe; ich will nur sagen: Wenn der Roman wirklich verschwinden sollte, dann nicht, weil er am Ende seiner Kräfte ist, sondern weil er sich in einer Welt befindet, die nicht mehr die seine ist.

9

Die Vereinheitlichung der Geschichte des Planeten,dieser humanistische Traum, dessen Erfüllung Gott boshafterweise gestattet hat, wird von einem schwindelerregenden Reduktionsprozess begleitet. Es stimmt zwar, dass die Termiten der Reduktion seit eh und je am menschlichen Leben nagen: Sogar die größte Liebe wird schließlich auf ein Gerippe dürftiger Erinnerungen reduziert. Aber der Charakter der modernen Gesellschaft verstärkt diesen Fluch auf ungeheuerliche Weise: Das Leben des Menschen wird auf seine soziale Funktion, die Geschichte eines Volkes auf einige Ereignisse reduziert, die ihrerseits auf eine tendenziöse Interpretation reduziert werden; das soziale Leben wird auf den politischen Kampf und dieser auf die Konfrontation nur zweier Weltmächte reduziert. Der Mensch befindet sich in einem wahren Strudel der Reduktion, in dem die »Lebenswelt«, von der Husserl spricht, sich unheilvoll verfinstert und das Sein dem Vergessen anheimfällt.

Wenn nun aber die Raison d’être des Romans darin besteht, die »Lebenswelt« ständig zu beleuchten und uns gegen die »Seinsvergessenheit« zu schützen, ist das Vorhandensein des Romans heute dann nicht notwendiger denn je?