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Ein systemkritischer Kunstdozent wird von einem Mann belästigt, der erst von ihm verlangt, seine Arbeit zu rezensieren, und dann seiner Frau nachstellt. Martin ist glücklich verheiratet und jagt dennoch immer irgendeiner Frau hinterher. Eine Witwe besucht das Grab ihres Mannes und trifft einen alten Verflossenen wieder. Eduard ist Atheist und tut alles, um die keusche Christin Alice zu verführen. Die in Prag entstandenen Erzählungen handeln von den tragischen, skurrilen und absurden Irrungen und Wirrungen der Liebe – urkomisch und voller Lebensklugheit.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2024
Milan Kundera
Erzählungen
Aus dem Tschechischen von Susanna Roth
Kampa
Schenk mir noch einen Sliwowitz ein«, sagte Klara, und ich hatte nichts dagegen. Der Vorwand zum Öffnen der Flasche war zwar nicht außergewöhnlich, aber er war vorhanden: Ich hatte an diesem Tag ein recht anständiges Honorar erhalten für eine Studie, die eine Fachzeitschrift für bildende Kunst veröffentlicht hatte.
Es war gar nicht so einfach gewesen, die Studie überhaupt zu veröffentlichen. Was ich geschrieben hatte, war widerborstig und polemisch. Deswegen war die Arbeit zunächst einmal von der Zeitschrift Bildende Kunst abgelehnt worden, deren Redaktion eher vergreist und vorsichtig war, und erst später dann wurde die Studie von einem kleineren Konkurrenzorgan mit jüngeren und wagemutigeren Redakteuren veröffentlicht.
Der Postbote hatte mir das Honorar in die Fakultät gebracht, zusammen mit irgendeinem Brief; mit einem belanglosen Brief, den ich in meiner göttergleichen Glückseligkeit am Morgen überhaupt nicht beachtet hatte. Als nun aber zu Hause die Zeit auf Mitternacht und die Flasche zur Neige ging, nahm ich ihn, um uns zu belustigen, vom Tisch.
»Verehrter Genosse und – so Sie mir die Anrede erlauben – lieber Kollege!«, las ich Klara vor. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich, ein Mensch, mit dem Sie noch nie im Leben gesprochen haben, Ihnen schreibe. Ich wende mich mit der Bitte an Sie, beiliegende Abhandlung liebenswürdigerweise lesen zu wollen. Ich kenne Sie zwar nicht persönlich, doch schätze ich Sie als Mann, dessen Urteile, Ansichten und Schlussfolgerungen mich dermaßen verblüfft haben durch die Übereinstimmung mit den Resultaten meiner eigenen Forschungsarbeit, dass ich darüber völlig konsterniert bin …« Es folgten ein Loblieb auf meine Vortrefflichkeit und sodann die Bitte, ob ich nicht die Freundlichkeit hätte, für die Zeitschrift Bildende Kunst eine Rezension über seine Abhandlung zu schreiben; man würde seine Arbeit dort völlig verkennen und schon über ein halbes Jahr lang ablehnen. Man habe ihm mitgeteilt, dass eine Beurteilung von mir ausschlaggebend sei, sodass ich seine einzige Hoffnung, sein einziger Lichtblick in dieser nicht enden wollenden Finsternis geworden sei.
Wir machten uns über Herrn Zaturecky, dessen vornehmer Name uns faszinierte, lustig, allerdings auf eine sehr wohlwollende Weise, denn das Lob, mit dem er mich überschüttete, stimmte mich milde, insbesondere in Verbindung mit dem vorzüglichen Sliwowitz. Es stimmte mich so milde, dass ich in jenem unvergesslichen Augenblick die ganze Welt liebte. Und weil ich nichts besaß, womit ich diese Welt hätte beschenken können, beschenkte ich Klara. Zumindest mit Versprechungen.
Klara war ein zwanzigjähriges Mädchen aus gutem Hause. Was sage ich da? Aus einem sehr guten sogar! Der Herr Papa war Bankdirektor gewesen und irgendwann in den fünfziger Jahren als Vertreter der Großbourgeoisie in das Dorf Čelákovice umgesiedelt worden, ziemlich weit von Prag entfernt. Das Töchterchen hatte seither eine schlechte Kaderakte und arbeitete in einem großen Atelier der Prager Modebetriebe als Schneiderin an der Nähmaschine. Wir saßen einander gegenüber, und ich versuchte, sie mir noch gewogener zu stimmen, indem ich leichtfertig von den Vorzügen einer Anstellung schwärmte, die ich ihr mithilfe von Freunden zu verschaffen versprach. Ich behauptete, es sei unhaltbar, dass ein so anmutiges Mädchen seine Schönheit hinter einer Nähmaschine vergeuden müsse, und entschied, dass aus ihr ein Mannequin werden solle.
Klara erhob keinen Widerspruch, und wir verbrachten die Nacht in seliger Eintracht.
Der Mensch durchschreitet die Gegenwart mit verbundenen Augen. Er darf nur ahnen und raten, was er eigentlich erlebt. Erst später wird ihm die Binde abgenommen, und wenn er dann auf die Vergangenheit zurückschaut, stellt er fest, was er wirklich erlebt und welche Bedeutung das Erlebte gehabt hat.
An jenem Abend hatte ich geglaubt, meine Erfolge zu begießen, und nicht im Geringsten geahnt, dass dies das feierliche Vorspiel meines Untergangs war.
Und weil ich nichts ahnte, erwachte ich am nächsten Tag in guter Stimmung. Während Klara neben mir noch tief und glücklich atmete, nahm ich die Abhandlung, die mit dem Brief gekommen war, mit ins Bett und las sie amüsiert und gleichgültig durch.
Sie war überschrieben mit »Mikoláš Aleš, Meister der tschechischen Zeichnung« und wahrhaftig nicht einmal die halbe Stunde Unaufmerksamkeit wert, die ich ihr widmete. Es handelte sich um eine Anhäufung von Gemeinplätzen, die ohne den geringsten Sinn für Zusammenhänge aneinandergereiht waren, ohne den leisesten Ehrgeiz, einen eigenständigen Gedanken zu entwickeln.
Es lag auf der Hand, dass die Arbeit der blanke Unsinn war. Herr Kalousek, Redakteur der Bildenden Kunst (und sonst ein ungewöhnlich antipathischer Mensch), hatte mir das übrigens noch am selben Tag telefonisch bestätigt; er hatte mich in der Fakultät angerufen: »Ich bitte dich, hast du das Traktat von diesem Zaturecky erhalten? … Dann schreib das mal. Schon fünf Lektoren haben es ihm verrissen, er aber rennt uns immer noch das Haus ein; jetzt hat er sich in den Kopf gesetzt, du wärst die einzige wirkliche Autorität. Schreib in ein paar Worten, dass die Arbeit idiotisch ist; schwerfallen wird dir das nicht, denn giftig sein kannst du ja, und wir alle werden unsere Ruhe haben.«
Aber etwas in mir sträubte sich: Warum muss ausgerechnet ich Herrn Zatureckys Henker sein? Bekomme vielleicht ich ein Redakteursgehalt dafür? Im Übrigen erinnerte ich mich sehr gut daran, dass man meinen Artikel in der Bildenden Kunst aus Vorsicht abgelehnt hatte, während der Name Zaturecky für mich fest mit der Erinnerung an Klara, Sliwowitz und einen schönen Abend verknüpft war. Und schließlich – es ist menschlich, und ich will es nicht abstreiten – konnte ich die Leute, die mich für eine »wirkliche Autorität« hielten, an einem Finger abzählen: warum also sollte ich diesen einzigen Verehrer verlieren?
Ich beendete das Gespräch mit Kalousek mit einem unverbindlichen Witz, was er als Zusage und ich als Ausrede interpretieren konnte, und legte den Hörer auf in der festen Überzeugung, die Rezension über diesen Herrn Zaturecky nie zu schreiben.
Dafür nahm ich Briefpapier aus der Schublade und schrieb Herrn Zaturecky einen Brief, in dem ich einer Beurteilung seiner Arbeit auswich und mich herausredete: Meine Ansichten über die Malerei des neunzehnten Jahrhunderts seien allgemein als abwegig und extravagant verschrien, und mein Eintreten für ihn werde deshalb – vor allem bei der Redaktion der Bildenden Kunst – seiner Sache mehr schaden als nützen; zugleich überhäufte ich Herrn Zaturecky mit einem freundschaftlichen Geplauder, aus dem man nur Wohlwollen herauslesen konnte.
Kaum hatte ich den Brief in den Kasten geworfen, vergaß ich Herrn Zaturecky. Aber Herr Zaturecky vergaß mich nicht.
Eines Tages, als ich gerade meine Vorlesung über die Geschichte der Malerei beendete, klopfte unsere Sekretärin, Frau Marie, an die Tür, eine zuvorkommende ältere Dame, die mir hin und wieder Kaffee kocht und mich unerwünschten Frauenstimmen gegenüber am Telefon verleugnet. Sie steckte den Kopf in den Hörsaal und sagte, ein Herr würde auf mich warten.
Vor Herren fürchte ich mich nicht, und so verabschiedete ich mich von meinen Studenten und ging wohlgemut hinaus auf den Flur. Dort verneigte sich ein kleineres Männchen in abgetragenem schwarzem Anzug und weißem Hemd vor mir. Sehr ehrerbietig teilte er mir mit, er sei Zaturecky.
Ich bat den Gast in ein freies Zimmer, bot ihm einen Stuhl an und begann jovial über alles Mögliche zu schwatzen, wie schlecht doch dieser Sommer sei und was für Ausstellungen in Prag stattfänden. Herr Zaturecky pflichtete meinem Geschwätz höflich bei, versuchte jedoch schon bald, jede meiner Bemerkungen auf seine Abhandlung über Mikoláš Aleš zu lenken, der plötzlich in seiner unsichtbaren Substanz zwischen uns stand wie ein Magnet, den man nicht entfernen kann.
»Nichts würde ich lieber tun, als eine Rezension über Ihre Arbeit zu schreiben«, sagte ich schließlich, »aber ich habe Ihnen ja schon in meinem Brief erklärt, dass ich nirgends als Spezialist für die tschechische Malerei des neunzehnten Jahrhunderts gelte und zudem mit der Redaktion der Bildenden Kunst gewissermaßen auf Kriegsfuß stehe; man hält mich dort für einen unbeirrbaren Modernisten, sodass eine positive Beurteilung Ihnen nur schaden könnte.«
»Oh, Sie sind aber sehr bescheiden«, sagte Herr Zaturecky, »Sie, ein solcher Kenner. Wie können Sie Ihre Position bloß so schwarz sehen! Man hat mir in der Redaktion gesagt, alles würde nur von Ihrer Rezension abhängen. Wenn Sie sich dafür einsetzen, wird man sie drucken. Sie sind meine einzige Rettung. Diese Abhandlung ist das Ergebnis von dreijährigem Studium und dreijähriger Arbeit. Alles liegt jetzt in Ihren Händen.«
Wie leichtsinnig und wie dürftig zimmert man sich doch seine Ausreden zurecht! Ich wusste nicht, was ich Herrn Zaturecky antworten sollte. Ich sah ihm unwillkürlich ins Gesicht und bemerkte, dass mich nicht nur eine kleine, altmodische Brille unschuldig anschaute, sondern auch eine scharfe, senkrechte Falte auf der Stirn. In einem Augenblick der Klarsicht lief es mir kalt über den Rücken: Diese angestrengte, konzentrierte Falte verriet nämlich nicht nur die Denkerqualen, die ihr Eigentümer über den Zeichnungen von Aleš durchgemacht hatte, sondern auch außergewöhnliche Willenskraft. Ich verlor meine Geistesgegenwart und fand keine kluge Ausrede. Ich wusste, diese Rezension würde ich nie schreiben, doch ebenso gut wusste ich, dass ich nicht die Kraft hatte, dies dem flehenden Männchen ins Gesicht zu sagen.
Ich lächelte und machte unklare Versprechungen. Herr Zaturecky bedankte sich und sagte, er werde bald wiederkommen, um nachzufragen. Ich verabschiedete mich von ihm, immer noch lächelnd.
Nach einigen Tagen kam er tatsächlich. Ich ging ihm geschickt aus dem Weg, aber am Tag darauf war er anscheinend wieder in der Fakultät gewesen und hatte mich gesucht. Ich begriff den Ernst der Lage. Ich eilte zu Frau Marie, um die entsprechenden Maßnahmen in die Wege zu leiten.
»Liebe Marie, ich bitte Sie, sollte mich dieser Herr da jemals wieder suchen, so sagen Sie ihm, ich sei auf einer Studienreise in Deutschland und käme erst in einem Monat wieder zurück. Und damit auch Sie es wissen: Offiziell halte ich alle meine Vorlesungen dienstags und mittwochs. Ich werde sie von nun an heimlich auf Donnerstag und Freitag verlegen. Nur die Studenten werden informiert. Sagen Sie niemandem etwas davon, und lassen Sie das Vorlesungsverzeichnis unverändert. Ich muss in die Illegalität untertauchen.«
Herr Zaturecky kam tatsächlich bald wieder in die Fakultät, um mich zu suchen, und war verzweifelt, als die Sekretärin ihm sagte, ich sei überraschend nach Deutschland verreist. »Das ist doch nicht möglich! Der Herr Assistent muss doch eine Rezension schreiben über mich! Wie konnte er da einfach wegfahren?« »Das weiß ich nicht«, sagte Frau Marie, »aber in einem Monat ist er ja wieder da.« »Nochmals ein Monat …«, jammerte Herr Zaturecky. »Kennen Sie seine Adresse in Deutschland nicht?« »Nein«, sagte Frau Marie.
Und so hatte ich einen Monat lang Ruhe.
Der Monat verging jedoch schneller, als ich gedacht hatte, und Herr Zaturecky stand wieder im Sekretariat. »Nein, er ist noch nicht zurück«, sagte Frau Marie, und als sie mich etwas später antraf, bat sie inständig: »Ihr Männchen war schon wieder hier, was soll ich ihm um Himmels willen bloß sagen?« »Gute Marie, sagen Sie ihm, ich sei in Deutschland an Gelbsucht erkrankt und läge in Jena im Krankenhaus.« »Im Krankenhaus!«, schrie Herr Zaturecky, als Frau Marie ihm dies einige Tage später mitteilte. »Das ist doch nicht möglich! Der Herr Assistent muss doch eine Rezension schreiben über mich!« »Herr Zaturecky«, sagte die Sekretärin vorwurfsvoll, »der Herr Assistent liegt irgendwo im Ausland schwer krank danieder, und Sie denken nur an Ihre Rezension!« Herr Zaturecky sank in sich zusammen und ging fort, doch vierzehn Tage später stand er wieder im Sekretariat: »Ich habe dem Herrn Assistenten einen eingeschriebenen Brief an die Adresse des Krankenhauses in Jena geschickt – der Brief ist wieder zurückgekommen!« »Ihr Männchen wird mich noch in den Wahnsinn treiben«, sagte Frau Marie am folgenden Tag zu mir, »Sie dürfen mir nicht böse sein. Was hätte ich denn sagen sollen? Ich habe ihm gesagt, Sie seien zurück. Sie müssen selber mit ihm zurechtkommen.«
Ich war Frau Marie nicht böse. Sie hatte getan, was sie konnte. Im Übrigen gab ich mich bei Weitem nicht geschlagen. Ich wusste, dass ich nicht zu fassen war. Ich lebte ausschließlich im Geheimen. Heimlich unterrichtete ich donnerstags und freitags, und heimlich drückte ich mich dienstags und mittwochs gegenüber der Fakultät in den Eingang eines Hauses und weidete mich am Anblick eines Herrn Zaturecky, der Wache stand und darauf wartete, dass ich das Gebäude verließ. Ich hatte Lust, eine Melone aufzusetzen und einen Vollbart anzukleben. Ich kam mir vor wie Sherlock Holmes, Jack the Ripper oder der Unsichtbare, der durch die Stadt streicht. Wie ein Lausbub kam ich mir vor.
Eines Tages wurde Herrn Zaturecky das Wachestehen dann aber zu bunt, und er ging zum Angriff auf Frau Marie über: »Wann unterrichtet der Herr Assistent denn eigentlich?« »Dort hängt das Vorlesungsverzeichnis.« Frau Marie wies auf die Wand, wo alle Unterrichtsstunden fein säuberlich und übersichtlich an einem großen Anschlagbrett aufgezeichnet waren.
»Das weiß ich auch«, ließ Herr Zaturecky sich nicht abfertigen. »Nur unterrichtet der Genosse Assistent hier weder am Dienstag noch am Mittwoch. Ist er etwa krankgemeldet?«
»Nein«, sagte Frau Marie verlegen.
Und nun fauchte das Männchen sie an. Er warf ihr vor, sie habe in ihrem Lehrplan keine Ordnung. Er fragte ironisch, wie es möglich sei, dass sie nicht wisse, wann welcher Dozent wo sei. Er teilte ihr mit, dass er sich über sie beschweren werde. Er schrie. Er verkündete, er werde sich auch über den Genossen Assistenten beschweren, der nicht unterrichte, obwohl er zu unterrichten habe. Er fragte sie, ob der Rektor im Hause sei.
Unglücklicherweise war der Rektor im Hause.
Herr Zaturecky klopfte an dessen Tür und trat ein. Nach etwa zehn Minuten kehrte er in Frau Maries Sekretariat zurück und fragte sie schroff nach meiner Anschrift.
»Litomyšl, Skalníková 20«, sagte Frau Marie.
»Wieso denn Litomyšl?«
»In Prag hat der Herr Assistent nur eine provisorische Unterkunft, und er wünscht nicht, dass die Adresse bekannt gegeben wird …«
»Ich verlange die Adresse der Prager Wohnung des Herrn Assistenten«, schrie das Männchen mit sich überschlagender Stimme.
Frau Marie verlor ihre Fassung. Sie gab die Adresse meiner Mansarde heraus, meiner armseligen Zufluchtsstätte, meiner süßen Höhle, in der ich jetzt aufgegriffen werden sollte.
Ja, mein ständiger Wohnsitz ist Litomyšl; dort habe ich meine Mutter und Erinnerungen an meinen Vater; wann immer es mir möglich ist, fahre ich weg von Prag und studiere und schreibe zu Hause, in der kleinen Wohnung meiner Mutter. So kam es, dass ich diese formal als ständigen Wohnsitz beibehielt; in Prag hatte ich mich nicht aufraffen können, mir eine anständige Wohnung zu suchen, wie es sich für mich geziemt hätte; ich wohnte an der Peripherie der Stadt in Untermiete, in einer winzigen, aber separaten Mansarde, deren Existenz ich so gut es ging verheimlichte, und dies allein schon deshalb, weil ich so unerwartete Begegnungen zwischen unerwünschten Gästen und meinen verschiedenen zeitweiligen Besucherinnen oder Mitbewohnerinnen vermeiden konnte.
Ich will nicht leugnen, dass ich aus diesen Gründen im Haus nicht gerade den besten Ruf genoss. Ich hatte mein Zimmer auch mehrmals Freunden zur Verfügung gestellt, während ich in Litomyšl war, und diese hatten sich dort so glänzend amüsiert, dass kein Mieter in der Nacht ein Auge hatte zutun können. Einige Hausbewohner nahmen an diesen Dingen Anstoß und führten einen stillen Kampf mit mir, der sich ab und zu in Rapporten des Straßenkomitees niederschlug, und einmal sogar in einer Beschwerde beim Wohnungsamt.
Zu der Zeit, von der ich erzähle, empfand es Klara bereits als Zumutung, von Čelákovice aus zur Arbeit fahren zu müssen, und so begann sie, bei mir auch zu übernachten. Zunächst nur zaghaft und ausnahmsweise, dann ließ sie ein Kleid bei mir, dann mehrere Kleider, und es dauerte nicht lange, da drückten sich meine beiden Anzüge in eine Ecke des Schrankes, und mein Zimmer hatte sich in ein Damenboudoir verwandelt.
Ich mochte Klara sehr; sie war schön; es machte mir Freude, dass die Leute sich nach uns umdrehten, wenn wir zusammen durch die Straßen spazierten; sie war dreizehn Jahre jünger als ich, was mein Ansehen bei den Studenten noch vergrößerte; ich hatte ganz einfach tausend Gründe, sie zu halten. Eines jedoch wollte ich nicht: Es sollte nicht bekannt werden, dass sie bei mir wohnte. Ich fürchtete, jemand könnte meinen gutmütigen alten Hauswirt angreifen, der diskret war und sich nicht um mich kümmerte; ich fürchtete, er könnte, ungern zwar und schweren Herzens, eines Tages kommen und mich bitten, mit Rücksicht auf seinen guten Ruf das Fräulein aus meinem Zimmer zu weisen.
Klara hatte deshalb die strikte Anweisung, niemandem zu öffnen.
An jenem Tag war sie allein zu Hause. Es war ein sonniger Sommertag, und in der Mansarde war es fast schwül. Klara rekelte sich nackt auf meinem Bett und befasste sich mit der Beobachtung der Zimmerdecke.
Und da klopfte es plötzlich an die Tür.
Das war nicht weiter beunruhigend. Ich hatte keine Klingel, und so musste jeder, der kam, anklopfen. Klara ließ sich folglich durch den Lärm nicht aus der Ruhe bringen und gedachte keineswegs, die Beobachtung der Decke abzubrechen. Das Klopfen jedoch hörte nicht auf, es ging im Gegenteil mit ruhiger und unverständlicher Beharrlichkeit weiter. Klara wurde nervös; sie begann sich vorzustellen, dass vor der Tür ein Mann stünde, der gemächlich und bedeutungsvoll seine Legitimation hervorholen und sie schließlich barsch anfahren würde, warum sie nicht öffne, was sie zu verheimlichen habe, was sie verstecke und ob sie hier überhaupt gemeldet sei. Sie wurde von Schuldgefühlen ergriffen, riss den Blick von der Decke los und begann, hastig ihre Kleidungsstücke zusammenzusuchen. Das Hämmern klang mittlerweile so nachdrücklich, dass sie in ihrer Aufregung nur meinen Regenmantel fand. Sie warf ihn über und öffnete die Tür.
Statt eines grimmigen Verhörergesichts erblickte sie aber nur ein kleines Männchen, das sich verbeugte: »Ist der Herr Assistent zu Hause?« »Nein, er ist nicht da …« »Das ist aber schade«, sagte das Männchen und entschuldigte sich höflich für die Störung. »Der Herr Assistent sollte nämlich eine Rezension über mich schreiben. Er hat es mir versprochen, und die Sache eilt jetzt sehr. Wenn Sie erlauben, würde ich ihm gerne wenigstens eine Nachricht hinterlassen.«
Klara gab dem Männchen Papier und Bleistift, und ich konnte am Abend lesen, dass das Schicksal der Abhandlung über Mikoláš Aleš einzig und allein in meinen Händen liege und Herr Zaturecky voller Hochachtung auf meine Rezension warten und wiederum versuchen werde, mich in der Fakultät zu erreichen.
Am nächsten Tag erzählte mir Frau Marie, wie Herr Zaturecky ihr gedroht, wie er geschrien und über sie Beschwerde geführt hatte; ihre Stimme bebte, und sie war den Tränen nah; ich wurde wütend. Ich verstand sehr gut, dass die Sekretärin, die bislang über mein Versteckspiel gelacht hatte (obwohl sicher mehr aus Liebenswürdigkeit als aus aufrichtiger Freude), sich nun verletzt fühlte und die Ursache ihrer Unannehmlichkeiten verständlicherweise in mir sah. Und als ich den Verrat meiner Mansarde, das minutenlange Hämmern an der Tür und Klaras Schrecken noch dazuzählte, verwandelte sich meine Wut in Raserei.
Und während ich in Frau Maries Sekretariat auf und ab gehe, mir auf die Lippen beiße, während ich koche und auf Rache sinne, öffnet sich die Tür, und Herr Zaturecky steht vor mir.
Wie er mich sieht, huscht ein Strahl von Glück über sein Gesicht. Er verneigt sich und grüßt.
Er war etwas zu früh gekommen, er war gekommen, ehe ich meine Rachepläne hatte zu Ende schmieden können.
Er fragte mich, ob ich seine Nachricht von gestern bekommen hätte.
Ich schwieg.
Er wiederholte seine Frage.
»Ja«, sagte ich.
»Und werden Sie, bitte schön, die Rezension jetzt schreiben?«
Ich sah ihn vor mir: gebrechlich, unbeirrbar, flehend. Ich sah die senkrechte Falte, welche seine einzige Leidenschaft auf seine Stirn gezeichnet hatte; ich betrachtete diese einfache Linie und begriff: Es war eine Gerade, bestimmt durch zwei Punkte: mein Gutachten und seine Abhandlung; und es existierte neben dem Laster dieser manischen Geraden in seinem Leben nur noch eine Askese, die einem Heiligen Ehre gemacht hätte. Da fiel mir eine rettende Bosheit ein.
»Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich Ihnen nach dem gestrigen Vorfall nichts mehr zu sagen habe«, sagte ich.
»Ich verstehe nicht.«
»Verstellen Sie sich nicht. Sie hat mir alles gesagt. Lügen ist zwecklos.«
»Ich verstehe nicht«, wiederholte, diesmal schon beherzter, das kleine Männchen.
Ich schlug einen jovialen, fast freundschaftlichen Ton an: »Sehen Sie, Herr Zaturecky, ich will Ihnen ja nichts vorwerfen. Ich bin schließlich auch ein Schürzenjäger und verstehe Sie. Ich hätte mich an Ihrer Stelle ebenfalls an ein so schönes Mädchen herangemacht, wenn ich mit ihr allein in der Wohnung gewesen wäre und sie zudem auch noch nackt unter einem Männermantel.«
»Das ist eine Beleidigung.« Der kleine Mann erblasste.
»Nein, es ist die Wahrheit, Herr Zaturecky.«
»Das hat Ihnen diese Dame gesagt?«
»Sie hat keine Geheimnisse vor mir.«
»Genosse Assistent, das nenne ich Beleidigung! Ich bin verheiratet. Ich habe eine Frau! Ich habe Kinder!« Der kleine Mann machte einen Schritt vorwärts, sodass ich zurückweichen musste.
»Um so schlimmer, Herr Zaturecky.«
»Was heißt da um so schlimmer?«
»Das heißt: wenn Sie verheiratet sind, so ist Ihre Schürzenjägerei ein belastender Umstand.«
»Das nehmen Sie zurück!«, sagte Herr Zaturecky drohend.
»Also gut«, ließ ich gelten, »der Ehestand muss für einen Schürzenjäger nicht zwingend ein belastender Umstand sein. Aber darum geht es ja nicht. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich Ihnen keineswegs böse bin und Sie ganz gut begreife. Nur eines begreife ich nicht. Wie Sie von einem Mann, auf dessen Frau Sie es abgesehen haben, eine Rezension verlangen können.«
»Genosse Assistent! Um diese Rezension bittet Sie Herr Doktor Kalousek, Redakteur einer Zeitschrift der Akademie der Wissenschaften! Und Sie müssen diese Rezension schreiben!«
»Rezension oder Frau. Beides können Sie nicht verlangen.«
»Wie führen Sie sich bloß auf, Genosse!«, schrie Herr Zaturecky mich in verzweifelter Wut an.
Merkwürdig, mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als hätte Herr Zaturecky meine Klara tatsächlich verführen wollen. Ich brauste auf und schrie ihn an: »Sie wagen es, mich zurechtzuweisen? Sie, der Sie sich in Gegenwart unserer Sekretärin bei mir in aller Form zu entschuldigen hätten?«
Ich kehrte Herrn Zaturecky den Rücken zu, und er taumelte fassungslos hinaus.
»Na endlich«, atmete ich auf, wie nach einem schweren, siegreichen Kampf, und sagte zu Frau Marie: »Jetzt wird er wohl kaum mehr eine Rezension von mir wollen.«
Frau Marie fragte mich nach einer Weile schüchtern: »Und warum wollen Sie dieses Gutachten eigentlich nicht für ihn schreiben?«
»Weil das, was er da zusammengeschustert hat, ein schrecklicher Mist ist, gute Marie.«
»Und warum schreiben Sie in diesem Gutachten nicht, dass es ein Mist ist?«
»Warum sollte ich? Warum soll ich mir Feinde machen?«
Frau Marie sah mich mit nachsichtigem Lächeln an. Da flog die Tür auf, und Herr Zaturecky erschien mit erhobener Hand:
»Nicht ich! Sie werden sich zu entschuldigen haben!«
Er rief es mit bebender Stimme und verschwand.
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, vielleicht noch am selben Tag, vielleicht ein paar Tage später fanden wir in meinem Briefkasten einen unadressierten Brief. Er war mit schwerfälliger, fast ungelenker Schrift geschrieben: Verehrte! Stellen Sie sich am Sonntag bei mir ein, betreffend Beleidigung meines Mannes. Ich werde den ganzen Tag zu Hause sein. Sollten Sie nicht erscheinen, sähe ich mich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen. Anna Zaturecky, Prag 3, Dalimilova 14.
Klara war entsetzt und begann von meiner Schuld zu reden. Ich winkte ab und verkündete, der Sinn des Lebens liege darin, sich zu amüsieren, und wenn das Leben selbst zu träge sei, bleibe einem nichts anderes übrig, als ein wenig nachzuhelfen. Man müsse seine Geschichten stets von Neuem satteln, diese pfeilschnellen Stuten, ohne die man sich im Staube dahinschleppen würde wie ein erschöpfter Wandersmann. Als Klara darauf erwiderte, sie selbst wolle aber keine Geschichten satteln, versicherte ich ihr, dass sie weder mit Frau noch mit Herrn Zaturecky je zusammentreffen und ich die Geschichte, in deren Sattel ich gesprungen war, spielend selber meistern würde.
Als wir am nächsten Morgen das Haus verließen, hielt uns der Hauswart an. Der Hauswart ist nicht gegen uns. Ich hatte ihn gleich am Anfang klugerweise mit einem Fünfzigkronenschein bestochen und lebte seither in der angenehmen Gewissheit, dass er es verstand, nichts über mich zu wissen und nicht noch Öl in das Feuer zu gießen, das meine Feinde gegen mich schürten.
»Gestern haben zwei Leute Sie hier gesucht«, sagte er.
»Was für zwei Leute?«
»So ein Kleiner mit einer Frau.«
»Wie hat die Frau ausgesehen?«
»Zwei Köpfe größer. Fürchterlich energisch. Eine strenge Frau. Alles wollte die wissen.« Er wandte sich an Klara: »Vor allem über Sie. Wer Sie sind und wie Sie heißen.«
»Mein Gott, was haben Sie ihr gesagt?«, schrie Klara auf.
»Was sollte ich schon sagen. Was weiß ich, wer den Herrn Assistenten alles besucht? Ich habe ihr gesagt, dass jeden Abend eine andere kommt.«
»Ausgezeichnet!« Ich zog einen Zehnkronenschein aus der Tasche: »Machen Sie nur so weiter.«
»Keine Angst«, sagte ich dann zu Klara, »am Sonntag bleibst du zu Hause, und niemand wird dich finden.«
Und der Sonntag kam, und nach dem Sonntag der Montag, der Dienstag, der Mittwoch; nichts passierte. »Siehst du«, sagte ich zu Klara.
Dann aber kam der Donnerstag. Ich erzählte meinen Studenten in einer der üblichen Geheimvorlesungen gerade, wie die jungen Fauves fieberhaft und in geselliger Hingabe die Farben von ihrer früheren, impressionistisch beschreibenden Funktion befreiten, als Frau Marie die Tür öffnete und mir zuflüsterte: »Die Frau von diesem Zaturecky ist da.« »Ich bin doch gar nicht im Hause«, sagte ich, »zeigen Sie Ihr einfach das Vorlesungsverzeichnis!« Aber Frau Marie schüttelte den Kopf: »Ich habe Sie verleugnet, aber sie hat in Ihr Arbeitszimmer geschaut und Ihren Regenmantel am Haken hängen sehen. Und jetzt sitzt sie draußen im Flur und wartet.«
Eine Sackgasse ist für mich immer ein Ort bester Inspiration. Ich sagte zu einem meiner Lieblingsschüler:
»Seien Sie so nett und tun Sie mir einen Gefallen. Laufen Sie in mein Arbeitszimmer, ziehen Sie meinen Regenmantel an und verlassen Sie das Gebäude. Irgendeine Frau wird zu beweisen versuchen, dass Sie ich sind, und Ihre Aufgabe wird darin bestehen, dies auf keinen Fall zuzugeben.«
Der Student ging weg und kam nach etwa einer Viertelstunde wieder. Er meldete, der Auftrag sei erfüllt, die Luft rein und die Frau außerhalb des Gebäudes.
Für diesmal hatte ich gesiegt.
Doch dann kam der Freitag, und Klara kehrte am Nachmittag fast zitternd von der Arbeit zurück:
Der höfliche Herr, der im netten Salon der Modebetriebe die Kundinnen empfängt, hatte an jenem Tag plötzlich die Türe zum Atelier geöffnet, wo neben fünfzehn anderen Näherinnen auch meine Klara hinter der Nähmaschine sitzt, und mit lauter Stimme gerufen: »Wohnt eine von euch in der Schlossstraße 5?«
Klara wusste genau, dass sie gemeint war; Schlossstraße 5 ist meine Adresse. Sie hatte sich die Vorsicht aber derart angewöhnt, dass sie sich nicht meldete, weil sie wusste, dass sie illegal bei mir wohnte und dies niemanden etwas anging. »Ich habe es ja gleich gesagt«, bemerkte der elegante Herr, als keine der Näherinnen reagierte, und verschwand wieder. Hinterher erfuhr Klara dann, dass irgendeine herrische Frauenstimme am Telefon den Geschäftsführer genötigt hatte, das Adressverzeichnis aller Angestellten durchzusehen und ihn eine volle Viertelstunde lang zu überzeugen versucht hatte, dass in seinem Betrieb eine Frau aus der Schlossstraße 5 beschäftigt sein müsse.
Frau Zatureckys Schatten legte sich über unsere idyllische Mansarde.
»Wie hat die bloß herausgekriegt, wo du arbeitest? Hier im Haus weiß doch niemand etwas von dir!«, schrie ich.
Ja, ich war tatsächlich überzeugt, dass niemand von uns wusste. Ich lebte wie ein Kauz, der meint, unbeobachtet hinter einem hohen Schutzwall zu hausen, wobei ihm die ganze Zeit nur eine Kleinigkeit entgeht: dass dieser Wall aus durchsichtigem Glas gebaut ist.
Ich hatte den Hauswart bestochen, damit er nicht verriet, dass Klara bei mir wohnte, ich hatte Klara zu einer äußerst anstrengenden Unauffälligkeit und Geheimhaltung genötigt, und dabei wusste es das ganze Haus. Es genügte, dass Klara einmal unvorsichtig mit Mietern des zweiten Stockes geplaudert hatte – und schon war bekannt, wo sie arbeitete.
Ohne es zu ahnen, waren wir längst schon entdeckt. Verborgen geblieben war unseren Verfolgern nur Klaras Name und eine weitere Kleinigkeit: dass sie ungemeldet bei mir wohnte. Diese beiden Geheimnisse waren unsere einzige und letzte Deckung, dank derer wir Frau Zaturecky vorläufig entkommen waren. Sie hatte ihren Kampf mit einer konsequenten Methodik eröffnet, die mir Grauen einflößte.
Ich begriff, dass es hart auf hart zugehen würde; das Pferd meiner Geschichte war verflixt gut gesattelt.
Das war am Freitag. Und als Klara am Samstag von der Arbeit kam, zitterte sie wirklich. Es hatte sich Folgendes zugetragen:
Frau Zaturecky war mit ihrem Mann in den Modebetrieb gekommen, nachdem sie am Vortag angerufen und den Geschäftsführer gebeten hatte, gemeinsam mit ihrem Mann das Atelier besuchen und sich die Gesichter aller anwesenden Schneiderinnen ansehen zu dürfen. Dieser Wunsch erstaunte den Genossen Geschäftsführer zwar, doch gebärdete sich Frau Zaturecky so gebieterisch, dass es unmöglich war, sie nicht gewähren zu lassen. Sie sprach vage von Beleidigung, vernichteter Existenz und Gericht. Herr Zaturecky stand neben ihr, machte eine finstere Miene und schwieg.
Sie wurden also ins Atelier geführt. Die Schneiderinnen hoben gleichgültig ihre Köpfe, und Klara erkannte das kleine Männchen; sie erblasste und nähte schnell und auffallend unauffällig weiter.
»Bitte sehr«, nickte der Direktor mit ironischer Höflichkeit dem steif dastehenden Paar zu. Frau Zaturecky begriff, dass sie die Initiative ergreifen musste, und spornte ihren Mann an: »So schau doch!« Herr Zaturecky ließ seinen düsteren Blick in die Runde schweifen. »Ist es eine von ihnen?«, fragte Frau Zaturecky flüsternd.
Herr Zaturecky sah offensichtlich auch mit Brille nicht scharf genug, um den großen Raum zu überblicken, der überdies einigermaßen unübersichtlich war, vollgestopft mit aufeinandergestapeltem Kram und Kleidern, die an langen waagerechten Stangen hingen, mit Schneiderinnen ohne Sitzfleisch, die nicht schön ausgerichtet mit dem Gesicht zum Eingang dasaßen, sondern kreuz und quer: sich drehten, sich setzten, wieder aufstanden und unwillkürlich ihre Köpfe wandten. Herr Zaturecky musste also an sie herantreten und versuchen, keine auszulassen.
Als die Frauen begriffen, dass sie gemustert wurden, und noch dazu von einem so unscheinbaren und lästigen Männchen, fühlten sie sich gedemütigt und begannen, sich mit Gespött und Gemurre leise aufzulehnen. Eine von ihnen, ein junges, stattliches Mädchen, platzte vorwitzig heraus: »Der sucht wohl in ganz Prag das Luder, das ihn in andere Umstände gebracht hat!«
Ein lautes, derbes Frauengelächter ergoss sich über das Ehepaar, aber die beiden standen aufrecht da: schüchtern, störrisch und mit einer sonderbaren Art von Würde.
»Frau Mama«, rief das vorwitzige Mädchen wieder Frau Zaturecky zu, »Sie geben aber schlecht auf Ihr Söhnchen acht! Ein so hübsches Kerlchen würde ich gar nicht erst aus dem Haus gehen lassen!«
»Schau weiter«, flüsterte die Frau ihrem Mann zu, und er ging voran, finster und verschüchtert, Schritt für Schritt, als würde er Spießruten laufen, doch ging er mit sicherem Schritt und ließ kein Gesicht aus.
Der Direktor lächelte verhalten; er kannte seine Frauen und wusste, dass da nichts auszurichten war; er tat deshalb, als höre er den ganzen Rummel nicht, und fragte Herrn Zaturecky: »Und wie soll diese Frau denn aussehen, bitte schön?«
Herr Zaturecky wandte sich an den Geschäftsführer und sagte langsam und ernst: »Sie war schön … sie war sehr schön …«
Klara duckte sich währenddessen in eine Ecke des Raumes und unterschied sich von all den übermütigen Frauen durch ihre Unruhe, ihren gesenkten Kopf und ihre verbissene Emsigkeit. Ach, wie schlecht sie doch Unauffälligkeit und Bedeutungslosigkeit vortäuschte! Und Herr Zaturecky war nur noch ein kleines Stück von ihr entfernt und musste ihr jeden Moment ins Gesicht sehen.
»Das ist wenig, wenn Sie sich nur daran erinnern, dass sie schön war«, sagte der höfliche Geschäftsführer zu Herrn Zaturecky. »Es gibt viele schöne Frauen. War sie klein oder groß?«
»Groß«, sagte Herr Zaturecky.
»War sie schwarz oder blond?«
Herr Zaturecky dachte nach und sagte dann: »Sie war blond.«
Dieser Teil der Geschichte könnte als Gleichnis für die Kraft der Schönheit dienen. Als Herr Zaturecky Klara in meiner Wohnung zum ersten Mal sah, war er so geblendet, dass er sie nicht wirklich sah. Die Schönheit hatte eine Art undurchsichtiger Hülle um Klara ausgebreitet. Eine Lichthülle, hinter der sie verborgen blieb wie hinter einem Schleier.
Klara ist nämlich weder groß noch blond. Es war einzig die innere Größe ihrer Schönheit, die ihr in Herrn Zatureckys Augen den Anschein von physischer Größe verliehen hatte. Und der Glanz, den die Schönheit ausstrahlte, hatte einen Hauch von Gold über ihr Haar gelegt.
Und als der kleine Mann zum Schluss in der Ecke des Raumes stand, wo Klara sich im braunen Berufsmantel verkrampft über einen zugeschnittenen Rock beugte, da erkannte er sie nicht. Er erkannte sie nicht, weil er sie nie gesehen hatte.
Als Klara diese Geschichte zusammenhanglos und nicht besonders verständlich zu Ende erzählt hatte, sagte ich zu ihr: »Siehst du, wir haben eben Glück.«
Sie aber fuhr mich schluchzend an: »Was heißt da Glück! Hat man mich heute nicht erwischt, so wird man es morgen tun.«
»Wie denn? Das würde ich gern wissen.«
»Sie werden hierher zu dir kommen, um mich zu holen.«
»Ich lasse niemanden herein.«
»Und wenn sie die Polizei schicken? Oder wenn sie dich ins Gebet nehmen und aus dir herauskriegen, wer ich bin? Die Frau hat etwas von Gericht gesagt; sie will mich wegen Beleidigung ihres Mannes anzeigen.«
»Ich bitte dich, das wäre ja zum Lachen: Das war doch alles nur ein Scherz, ein Spaß.«
»Heute verstehen die aber keinen Spaß mehr; heute nehmen sie alles ernst. Sie werden sagen, ich hätte den Mann vorsätzlich verleumden wollen. Man muss ihn ja bloß anschauen! Wer glaubt denn im Ernst, dass er eine Frau tatsächlich belästigen könnte?«
»Du hast recht, Klara«, sagte ich, »wahrscheinlich wird man dich verhaften.«
»Red keinen Unsinn«, sagte Klara, »du weißt, dass die Sache schlecht für mich aussieht. Vergiss nicht, wer mein Vater ist. Es genügt, dass ich vor einer Untersuchungskommission erscheinen muss, dann steht das in meinen Papieren, und ich sitze für immer in diesem Atelier hier fest; überhaupt würde ich gern wissen, wie das mit der Anstellung als Mannequin aussieht, die du mir versprochen hast; und bei dir übernachten kann ich jetzt auch nicht mehr. Ich hätte hier immer Angst, dass man mich holen kommt, von heute an fahre ich wieder nach Čelákovice.«
Das war das erste Gespräch.
Und am Nachmittag desselben Tages folgte nach der Seminarkonferenz ein zweites.
Der Leiter des Seminars, ein grauhaariger Kunsthistoriker und ein weiser Mann, bat mich in sein Arbeitszimmer.
»Dass Sie sich mit Ihrer kürzlich publizierten Studie keinen Dienst erwiesen haben, wissen Sie hoffentlich«, sagte er zu mir.
»Ja, ich weiß«, antwortete ich.
»Jeder unserer Professoren fühlt sich betroffen, und der Rektor meint, es handle sich um einen Angriff gegen seine Ansichten.«
»Und was soll ich machen«, sagte ich.
»Nichts«, sagte der Professor, »aber die dreijährige Frist Ihrer wissenschaftlichen Assistenz läuft ab, und die Stelle wird neu ausgeschrieben. Allerdings bevorzugt die Kommission normalerweise Leute, die an der Fakultät schon unterrichtet haben. Sind Sie ganz sicher, dass es auch bei Ihnen so sein wird? Aber darüber wollte ich nicht reden. Für Sie hat bisher immer gesprochen, dass Sie Ihre Vorlesungen ordentlich abhalten, bei den Studenten beliebt sind und ihnen etwas beibringen. Nun können Sie sich nicht einmal mehr darauf berufen. Der Rektor hat mir mitgeteilt, dass Sie das letzte Vierteljahr überhaupt nicht gelesen haben. Und das ohne Entschuldigung. Was allein schon genügen würde, um Sie fristlos zu entlassen.«
Ich erklärte dem Professor, dass ich keine einzige Vorlesung hatte ausfallen lassen und alles nur ein Scherz war, und ich erzählte ihm die ganze Geschichte von Herrn Zaturecky und Klara.
»Gut, ich glaube Ihnen«, sagte er, »aber was heißt das schon, wenn ich Ihnen glaube? Heute redet die ganze Fakultät davon, dass Sie weder unterrichten noch sonst etwas tun. Die Sache wurde schon im Personalrat behandelt, und gestern ist Ihr Fall ans Rektorenkollegium verwiesen worden.«
»Und warum hat man nicht zuerst einmal mit mir gesprochen?«
»Worüber sollte man mit Ihnen sprechen? Den anderen ist alles klar. Jetzt schaut man nur noch rückblickend auf ihr bisheriges Wirken an der Fakultät und sucht Zusammenhänge zwischen Ihrer Vergangenheit und Ihrem gegenwärtigen Verhalten.«
»Was kann man in meiner Vergangenheit schon finden? Sie wissen doch selbst, wie sehr ich meine Arbeit liebe! Ich habe mich nie vor etwas gedrückt! Ich habe ein reines Gewissen.«