Der Scherz - Milan Kundera - E-Book

Der Scherz E-Book

Milan Kundera

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Optimismus ist das Opium der Menschheit! Es lebe Trotzki!« Der Text auf dieser Postkarte, eigentlich als Scherz gemeint, wird dem Studenten und kommunistischen Aktivisten Ludvik zum Verhängnis. Auf die Bestrebungen seines Freundes Pavel hin wird er aus der Partei ausgeschlossen und muss im Kohlebau schuften. Nach seiner Rehabilitierung wird Ludvik, nun ein verbitterter Mann mittleren Alters, Mathematikprofessor. Er will Rache üben und verführt Pavels Frau. Aber auch dieser Scherz geht nach hinten los: Das Paar steht sowieso kurz vor der Scheidung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 537

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Milan Kundera

François Ricard

Der Scherz

Roman

Aus dem Tschechischen von Susanna Roth

 

Mit einem Nachwort von François Ricard

Kampa

Erster Teil Ludvik

So fand ich mich nach vielen Jahren auf einmal zu Hause wieder. Ich stand auf dem Hauptplatz (den ich als kleines Kind, als Junge und als junger Mann unzählige Male überquert hatte), und ich verspürte keine Rührung; ich dachte vielmehr, dass dieser flache Platz, dessen Dächer der Rathausturm überragte (er glich einem Soldaten mit altertümlichem Helm), aussah wie ein großer Exerzierplatz einer Kaserne und dass die militärische Vergangenheit dieser mährischen Stadt, einer ehemaligen Bastion gegen die Einfälle der Magyaren und der Türken, ihrem Gesicht Züge unauslöschlicher Scheußlichkeit eingegraben hatte.

Während langer Jahre hatte mich nichts an meinen Geburtsort zurückgezogen; ich sagte mir, er sei mir gleichgültig geworden, und das schien mir natürlich: Ich lebte ja schon fünfzehn Jahre nicht mehr dort, geblieben waren einige Bekannte oder Kameraden (denen ich auch lieber aus dem Weg ging), meine Mutter lag hier in einem fremden Grab, um das ich mich nicht kümmerte. Aber ich hatte mich selbst betrogen: Was ich Gleichgültigkeit nannte, war in Wirklichkeit Hass; seine Ursachen entgingen mir, denn in meinem Geburtsort waren mir gute wie böse Dinge widerfahren, wie in allen anderen Städten auch, doch dieser Hass war da; er wurde mir gerade im Zusammenhang mit dieser Reise bewusst: Die Aufgabe, die mich hatte hierherfahren lassen, hätte ich schließlich auch in Prag erledigen können; die gebotene Gelegenheit, das Vorhaben in meiner Geburtsstadt in die Tat umzusetzen, begann mich aber plötzlich gerade deshalb unwiderstehlich zu reizen, weil es sich um eine zynische, niedrige Aufgabe handelte, die mich höhnisch von dem Verdacht befreite, aus sentimentaler Rührung über die verlorene Zeit hierher zurückgekehrt zu sein.

Noch einmal musterte ich hämisch den hässlichen Platz, kehrte ihm dann den Rücken und ging durch eine Straße zum Hotel, in dem ich ein Zimmer reserviert hatte. Der Portier reichte mir einen Schlüssel mit hölzerner Birne und sagte: »Zweiter Stock.« Das Zimmer war nicht gerade einladend: an der Wand ein Bett, in der Mitte ein kleiner Tisch mit einem einzigen Stuhl, neben dem Bett ein prunkvoller Mahagoni-Toilettentisch mit Spiegel, neben der Tür ein winziges, zersprungenes Waschbecken. Ich legte die Aktentasche auf den Tisch und öffnete das Fenster: Man sah in einen Hof und auf Häuser, die dem Hotel ihre schmutzigen, nackten Rücken zeigten. Ich schloss das Fenster, zog die Vorhänge zu und trat zum Waschbecken, das zwei Hähne hatte, der eine rot, der andere blau gekennzeichnet; ich probierte sie aus, und aus beiden floss kaltes Wasser. Ich sah mir den Tisch an; der war einigermaßen annehmbar, eine Flasche und zwei Gläser würden gut darauf Platz haben, schlimmer war aber, dass nur eine Person an dem Tisch sitzen konnte, weil es im Raum keinen zweiten Stuhl gab. Ich rückte den Tisch ans Bett und versuchte, mich daran zu setzen, doch das Bett war zu niedrig und der Tisch zu hoch; das Bett sank überdies tief unter mir ein, und mir wurde sogleich klar, dass es nicht nur schwerlich als Sitzgelegenheit dienen, sondern auch die Funktion eines Bettes nur zweifelhaft erfüllen würde. Ich stemmte mich mit beiden Fäusten dagegen; dann legte ich mich hinein und hob die Füße mit den Schuhen behutsam in die Höhe, um die Decke und das Betttuch nicht zu beschmutzen. Das Bett sackte unter mir ein, und ich lag darin wie in einer Hängematte oder in einem ganz schmalen Grab: Es war unvorstellbar, mit noch jemandem in diesem Bett zu liegen.

Ich setzte mich auf den Stuhl, heftete den Blick auf die lichtdurchtränkten Vorhänge und versank in Gedanken. In diesem Moment vernahm ich vom Flur her Schritte und Stimmen; es waren zwei Personen, ein Mann und eine Frau; sie unterhielten sich, und jedes Wort war zu verstehen: Sie sprachen über einen Petr, der von zu Hause ausgerissen war, und über eine Tante Klara, die blöde war und den Jungen verhätschelte; dann waren ein Schlüssel in einem Schloss und das Öffnen einer Tür zu hören, die Stimmen redeten im Nebenzimmer weiter; ich hörte das Seufzen der Frau (ja, sogar ein einfaches Seufzen war zu hören!) und den Vorsatz des Mannes, diese Klara endlich gehörig ins Gebet zu nehmen.

Ich stand auf und hatte meinen Entschluss gefasst; ich wusch mir noch im Waschbecken die Hände, trocknete sie mit dem Handtuch ab und verließ das Hotel, obwohl ich zunächst nicht wusste, wohin ich gehen würde. Ich wusste nur eines: Wollte ich das Gelingen dieser Reise (einer ziemlich weiten und beschwerlichen Reise) nicht allein durch die Ungemütlichkeit eines Hotelzimmers in Gefahr bringen, musste ich mich mit meiner vertraulichen Bitte an irgendeinen hiesigen Bekannten wenden, obwohl mir das widerstrebte. Ich ließ mir die alten Gesichter aus der Jugendzeit schnell durch den Kopf gehen, wies sie aber alle schon deshalb zurück, weil die Vertraulichkeit der gewünschten Gefälligkeit es erfordert hätte, mühsam die langen Jahre zu überbrücken, in denen ich sie nicht gesehen hatte – und dazu verspürte ich nicht die geringste Lust. Dann aber erinnerte ich mich, dass hier vermutlich jemand lebte, ein Zuzügler, dem ich vor Jahren zu einer Stelle verholfen hatte und der, wie ich ihn kannte, sehr froh sein würde, wenn er die Gelegenheit bekäme, meine Gefälligkeit mit einem Gegendienst zu vergelten. Er war ein Sonderling, streng moralisch und zugleich seltsam unruhig und unstet; seine Frau hatte sich meines Wissens vor Jahren nur deswegen von ihm scheiden lassen, weil er überall sonst, nur nicht bei ihr und dem gemeinsamen Sohn lebte. Jetzt bangte ich nur noch, ob er nicht wieder geheiratet hatte, denn das hätte die Erfüllung meines Wunsches erschwert, und ich eilte rasch zum Krankenhaus.

Das hiesige Krankenhaus war ein Komplex von Gebäuden und Pavillons, die verstreut in einem ausgedehnten Park lagen; ich betrat ein kleines Häuschen neben dem Eingangstor und bat den Pförtner hinter dem Tisch, mich mit der Virologie zu verbinden; er schob mir das Telefon bis an den Rand des Tisches entgegen und sagte: »Null Zwei.« Ich wählte Null Zwei und erfuhr, dass Dr. Kostka vor wenigen Sekunden weggegangen und zum Ausgang unterwegs sei. Ich setzte mich auf eine Bank in der Nähe des Tors, um ihn nicht zu verfehlen, und musterte die Männer, die in blau-weiß gestreiften Krankenhauskitteln herumstanden, und dann sah ich ihn: Er kam gedankenverloren daher, hochgewachsen, hager, sympathisch unscheinbar, ja, er war es. Ich stand auf und ging geradewegs auf ihn zu, so, als wollte ich mit ihm zusammenprallen; er schaute mich betroffen an, erkannte mich aber sogleich und breitete die Arme aus. Seine Überraschung schien mir fast glücklich, und ich freute mich über die Spontaneität, mit der er mich begrüßte.

Ich erklärte ihm, dass ich vor knapp einer Stunde hier angekommen sei, wegen einer belanglosen Angelegenheit, die mich etwa zwei Tage hier aufhalten würde, und er äußerte freudiges Erstaunen, dass mich mein erster Weg zu ihm geführt hatte. Mit einem Mal war es mir unangenehm, dass ich ihn nicht uneigennützig, nur seinetwegen aufgesucht hatte und dass auch die Frage, die ich ihm nun stellte (ich fragte ihn jovial, ob er wieder geheiratet habe), echte Anteilnahme nur vortäuschte und in Wirklichkeit berechnend praktischer Natur war. Er sagte mir (zu meiner Zufriedenheit), dass er noch immer allein lebe. Ich meinte, wir hätten einander viel zu erzählen. Er bejahte und bedauerte, nur eine gute Stunde Zeit zu haben, da er noch einmal ins Krankenhaus zurückmüsse und abends mit dem Autobus die Stadt verlasse. »Sie wohnen nicht hier?«, fragte ich bestürzt. Er versicherte mir, dass er hier wohne, er habe ein Apartment in einem Neubau, es sei aber »nicht gut, wenn der Mensch allein lebe«. Es stellte sich heraus, dass Kostka in einer anderen Stadt, zwanzig Kilometer von hier, eine Verlobte hatte, eine Lehrerin, angeblich sogar mit Zweizimmerwohnung. »Werden Sie irgendwann zu ihr ziehen?«, fragte ich ihn. Er sagte, dass er in einer anderen Stadt nur schwer eine so interessante Arbeit bekäme, wie er sie dank meiner Hilfe hier gefunden hätte, dass seine Verlobte wiederum nur mit Mühe eine Stelle in diesem Ort bekommen könnte. Ich begann (ganz aufrichtig) die Schwerfälligkeit der Bürokratie zu verfluchen, die nicht in der Lage war, einem Mann und einer Frau entgegenzukommen und ihnen das Zusammenleben zu ermöglichen. »Beruhigen Sie sich, Ludvik«, sagte er mit liebenswürdiger Nachsicht, »so unerträglich ist das nicht. Ich verfahre zwar nicht wenig Geld und Zeit, meine Einsamkeit aber bleibt unangetastet, und ich bin frei.« »Wozu brauchen Sie Ihre Freiheit so sehr?«, fragte ich ihn. »Wozu brauchen Sie sie?«, erwiderte er die Frage. »Ich bin ein Schürzenjäger«, antwortete ich. »Ich brauche die Freiheit nicht für Frauen, ich will sie für mich selbst«, sagte er und fuhr fort: »Wissen Sie was, kommen Sie auf einen Sprung zu mir, bis ich fahren muss.« Ich hatte mir nichts anderes gewünscht.

Wir verließen also das Krankenhaus und waren bald bei einer Gruppe von Neubauten angelangt, die unharmonisch aus einem noch nicht planierten, staubigen Grundstück (ohne Rasen, ohne Gehwege, ohne Straße) emporschossen und eine triste Kulisse am Stadtrand bildeten, an die eine öde Ebene weiter Felder grenzte. Wir traten durch eine der Türen, stiegen ein schmales Treppenhaus empor (der Aufzug war außer Betrieb) und blieben im dritten Stock stehen, wo ich auf einer Visitenkarte Kostkas Namen las. Als wir durch die Diele in das Zimmer traten, war ich höchst zufrieden: In einer Ecke stand eine breite, bequeme Couch; außer der Couch gab es im Zimmer ein Tischchen, einen Sessel, eine große Bücherwand und einen Plattenspieler mit Radio.

Ich lobte Kostkas Apartment und fragte ihn, wie sein Badezimmer aussehe. »Kein Luxus«, sagte er, erfreut über mein Interesse, und bat mich in die Diele, von der eine Tür in ein kleines, aber ganz gemütliches Badezimmer mit Wanne, Dusche und Waschbecken führte. »Wenn ich Ihre wunderschöne Wohnung so sehe, fällt mir etwas ein«, sagte ich. »Was machen Sie morgen Nachmittag und Abend?« »Leider habe ich morgen Spätdienst«, entschuldigte er sich zerknirscht, »ich komme erst gegen sieben zurück. Haben Sie am Abend keine Zeit?« »Am Abend vielleicht«, antwortete ich, »aber könnten Sie mir Ihre Wohnung nicht für den Nachmittag überlassen?«

Er war überrascht über meine Frage, sagte aber sofort (als fürchtete er, der Unfreundlichkeit verdächtigt zu werden): »Ich werde sie sehr gern mit Ihnen teilen.« Und er fuhr fort, als wollte er absichtlich nicht über die Gründe meiner Bitte mutmaßen: »Sollten Sie Probleme mit der Unterbringung haben, können Sie heute schon hier übernachten, ich komme nämlich erst in der Früh zurück, eigentlich nicht einmal das, denn ich gehe direkt ins Krankenhaus.« »Nein, das ist nicht nötig. Ich bin im Hotel abgestiegen. Das Zimmer ist aber ziemlich ungemütlich, und ich möchte den morgigen Nachmittag in einer angenehmen Umgebung verbringen. Natürlich nicht, um allein zu sein.« »Gewiss«, sagte Kostka und senkte leicht den Kopf, »das habe ich mir gedacht.« Etwas später sagte er: »Ich bin froh, dass ich Ihnen etwas Gutes tun kann.« Dann fügte er noch hinzu: »Falls es für Sie auch wirklich gut ist.«

Wir setzten uns an das Tischchen (Kostka kochte Kaffee) und unterhielten uns eine Weile (ich saß auf der Couch und stellte erfreut fest, dass sie solide war, sich weder durchbog noch quietschte). Kostka erklärte, dass er nun zurück ins Krankenhaus müsse, und weihte mich noch rasch in einige Geheimnisse seines Haushaltes ein; den Wasserhahn der Badewanne musste man fest zudrehen, das warme Wasser floss gegen alle Gewohnheit aus dem mit »K« bezeichneten Hahn, die Steckdose für das Kabel der Musikanlage war unter der Couch versteckt, und im Schrank stand eine kaum angebrochene Flasche Wodka. Dann gab er mir einen Bund mit zwei Schlüsseln und zeigte mir, welcher zur Haustür und welcher zur Wohnungstür gehörte. Ich hatte im Laufe meines Lebens, in dem ich in vielen verschiedenen Betten geschlafen habe, einen besonderen Schlüsselkult entwickelt, und auch Kostkas Schlüssel steckte ich mir stillvergnügt in die Tasche.

Beim Weggehen äußerte Kostka den Wunsch, sein Apartment möge mir »etwas wirklich Schönes« bescheren. »Sicher«, sagte ich zu ihm, »es wird mir ermöglichen, eine schöne Destruktion zu vollbringen.« »Glauben Sie, dass Destruktionen schön sein können?«, sagte Kostka, und ich lächelte in meinem Innern, weil ich ihn an dieser Frage (die sanftmütig vorgebracht, aber kampflustig gemeint war) genauso wiedererkannte, wie er gewesen war, als ich ihn vor mehr als fünfzehn Jahren kennenlernte. Ich mochte ihn, fand ihn zugleich aber etwas lächerlich, und in diesem Sinne gab ich ihm zur Antwort: »Ich weiß, Sie sind ein stiller Arbeiter an Gottes ewigem Bau und hören nicht gerne von Destruktionen, aber was soll ich tun: Ich bin kein Maurer Gottes. Würden Gottes Maurer hier übrigens Werke aus wirklichen Mauern bauen, könnten unsere Destruktionen ihnen kaum etwas anhaben. Mir scheint aber, ich sehe statt Mauern überall nur Kulissen. Und die Destruktion von Kulissen ist eine durchaus gerechte Sache.«

Wir waren wieder dort angelangt, wo wir uns zuletzt (vor etwa neun Jahren) getrennt hatten; unser Streit war nun ziemlich abstrakt, da wir seine konkrete Grundlage gut kannten und sie uns nicht zu wiederholen brauchten; wir brauchten uns nur zu wiederholen, dass wir uns nicht geändert hatten, dass wir uns noch gleich unähnlich waren (wobei ich sagen muss, dass ich diese Unähnlichkeit an Kostka mochte und mit Vorliebe gerade mit ihm debattierte, weil ich mir auf diese Weise beiläufig stets von Neuem vergegenwärtigen konnte, wer ich war und was ich dachte). Um mich nicht im Zweifel über seine Person zu lassen, antwortete er mir: »Was Sie gesagt haben, klingt schön. Aber sagen Sie mir: Wenn Sie ein solcher Skeptiker sind, wo nehmen Sie die Gewissheit her, eine Kulisse von einer Mauer unterscheiden zu können? Haben Sie nie daran gezweifelt, dass die Illusionen, über die Sie lachen, tatsächlich nur Illusionen sind? Was ist, wenn Sie sich täuschen? Was ist, wenn es Werte sind und Sie ein Zerstörer von Werten?« Und dann sagte er: »Ein gering geschätzter Wert und eine entlarvte Illusion haben nämlich die gleiche jämmerliche Gestalt, sie sehen sich ähnlich, und nichts ist leichter, als sie zu verwechseln.«

Ich begleitete Kostka durch die Stadt zurück zum Krankenhaus, ich spielte in der Tasche mit den Schlüsseln und fühlte mich wohl in der Gegenwart des alten Bekannten, der es verstand, mich wann und wo auch immer von seiner Wahrheit zu überzeugen, zum Beispiel gerade jetzt auf dem Weg über den holprigen Boden der neuen Siedlung. Kostka wusste allerdings, dass wir morgen den ganzen Abend vor uns hatten, und schweifte also vom Philosophieren zu Alltagssorgen ab; abermals vergewisserte er sich, dass ich morgen in der Wohnung auf ihn warten würde, wenn er um sieben nach Hause käme (Zweitschlüssel besaß er nicht), und er fragte mich, ob ich wirklich nichts mehr brauchte. Ich strich mir über die Wangen und sagte, ich müsste einzig noch zum Friseur, da ich einen unangenehmen Stoppelbart hätte. »Ausgezeichnet«, sagte Kostka, »ich werde Ihnen eine Vorzugsrasur besorgen.«

Ich widersetzte mich Kostkas Fürsorge nicht und ließ mich in einen kleinen Friseurladen führen, wo vor drei Spiegeln drei große Drehsessel prangten; auf zweien saßen Männer mit gesenkten Köpfen und eingeseiften Gesichtern. Zwei Frauen in weißen Kitteln beugten sich über sie. Kostka trat zu einer von ihnen und flüsterte ihr etwas zu; die Frau wischte die Klinge am Handtuch sauber und rief etwas in den Hinterraum des Ladens: Ein Mädchen in weißem Kittel erschien und nahm sich des verwaisten Mannes auf dem Sessel an, während die Frau, mit der Kostka gesprochen hatte, mir zunickte und mit einer Handbewegung den verbleibenden Sessel zuwies. Kostka gab mir zum Abschied die Hand, ich setzte mich, lehnte den Kopf an die Stütze, und weil ich nach so vielen Lebensjahren mein eigenes Gesicht ungern sah, mied ich den Spiegel, der mir gegenüberhing, richtete den Blick in die Höhe und ließ ihn an der weißen, fleckigen Decke umherwandern.

Ich ließ den Blick auch dann noch an der Decke ruhen, als ich die Finger der Friseuse an meinem Hals spürte, wie sie mir das weiße Tuch in den Kragen schoben. Dann trat die Friseuse etwas zurück, ich hörte nur noch die Bewegungen der Klinge auf dem ledernen Schleifriemen und verharrte in einer Art süßer Reglosigkeit voll wohliger Gleichgültigkeit. Etwas später spürte ich die Finger auf meinem Gesicht, feucht und gleitend, wie sie mir die Rasiercreme auf der Haut verteilten, und ich machte mir die sonderbare, lachhafte Tatsache klar, dass irgendeine fremde Frau, die mich nichts anging und die ich nichts anging, mich zärtlich streichelte. Die Friseuse begann, den Schaum mit dem Pinsel zu verreiben, und es kam mir vor, als säße ich nicht, sondern hinge irgendwo in diesem weißen, fleckigen Raum, in den ich meinen Blick geheftet hatte. Und da stellte ich mir vor (denn die Gedanken hören auch in Augenblicken der Erholung nicht auf zu spielen), ich sei ein wehrloses Opfer und der Frau, die das Rasiermesser schliff, völlig ausgeliefert. Und weil mein Körper gleichsam im Raum zerrann und ich einzig mein von Fingern berührtes Gesicht fühlte, konnte ich mir mühelos vorstellen, dass ihre zärtlichen Hände meinen Kopf so hielten (drehten, liebkosten), als wäre dieser nicht ein Teil des Körpers, sondern nur für sich selbst da, sodass die scharfe Klinge, die auf dem Frisiertischchen wartete, diese herrliche Selbstständigkeit des Kopfes nur noch zu vollenden brauchte.

Dann hielt die Friseuse in den Bewegungen inne, und ich hörte, wie sie zurücktrat, wie sie die Klinge nun tatsächlich zur Hand nahm, und ich sagte mir (denn die Gedanken spielten weiter), ich müsste mir ansehen, wie sie eigentlich aussah, die Besitzerin (die Aufrichterin) meines Kopfes, meine zärtliche Mörderin. Ich löste den Blick von der Decke und schaute in den Spiegel. Da aber staunte ich: Das Spiel, mit dem ich mich vergnügte, nahm plötzlich seltsam wirkliche Züge an; mir schien nämlich, als würde ich die Frau, die sich im Spiegel über mich beugte, kennen.

Mit der einen Hand hielt sie mein Ohrläppchen fest, mit der anderen schabte sie sorgfältig den Schaum von meinem Gesicht; ich sah sie an, und da begann die Übereinstimmung, die ich soeben erstaunt festgestellt hatte, langsam zu zerrinnen und zu verschwinden. Sie beugte sich über das Waschbecken, streifte mit zwei Fingern die Seifenflocken von der Klinge, richtete sich auf und drehte den Sessel ein wenig herum; da begegneten sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde, und wieder schien mir, als wäre sie es! Gewiss, das Gesicht war irgendwie anders, als gehörte es ihrer älteren Schwester, es war etwas fahl, welk und eingefallen; aber es war ja fünfzehn Jahre her, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte! Während dieser Jahre hatte die Zeit ihrem wahren Gesicht eine trügerische Maske aufgesetzt, zum Glück aber eine Maske mit zwei Öffnungen, durch die ihre richtigen, echten Augen mich von Neuem anblickten, so, wie ich sie gekannt hatte.

Dann aber verwischten sich die Spuren noch mehr: Ein neuer Kunde betrat den Laden, setzte sich hinter meinem Rücken auf einen Stuhl und wartete, bis er an die Reihe kam; auf einmal sprach er meine Friseuse an; er redete über den schönen Sommer und über ein Schwimmbad, das außerhalb der Stadt gebaut wurde; die Friseuse antwortete (ich nahm eher ihre Stimme als die übrigens ganz belanglosen Worte wahr), und ich stellte fest, dass ich diese Stimme nicht erkannte; sie klang selbstverständlich, oberflächlich, nicht ängstlich, fast grob, es war eine völlig fremde Stimme.

Nun wusch die Friseuse mir das Gesicht, sie presste die Handflächen auf meine Wangen, und ich begann (der Stimme zum Trotz) wieder zu glauben, dass sie es war, dass ich nach fünfzehn Jahren ihre Hände wieder auf meinem Gesicht spürte, dass sie mich wieder streichelte, lange und zärtlich (ich vergaß vollkommen, dass es nicht ein Streicheln, sondern ein Waschen war); ihre fremde Stimme antwortete dabei ständig diesem Kerl, der geschwätzig geworden war, aber ich wollte der Stimme nicht glauben, ich wollte lieber den Händen glauben, ich wollte sie an ihren Händen wiedererkennen; ich versuchte, am Maß der Liebenswürdigkeit in ihren Berührungen festzustellen, ob sie es war und ob sie mich erkannt hatte.

Dann nahm sie das Handtuch und rieb mir das Gesicht trocken. Der geschwätzige Kerl lachte laut über einen Witz, den er selbst erzählt hatte, und ich bemerkte, dass meine Friseuse nicht lachte, dass sie wahrscheinlich nicht registrierte, was der Kerl ihr sagte. Das erregte mich, denn ich sah darin einen Beweis, dass sie mich erkannt hatte und insgeheim aufgeregt war. Ich war entschlossen, sie anzusprechen, sobald ich aufgestanden war. Sie nahm das Tuch aus dem Kragen. Ich stand auf. Ich nahm ein Fünfkronenstück aus meiner Brusttasche. Ich wartete darauf, dass unsere Blicke sich noch einmal träfen, um sie beim Vornamen ansprechen zu können (der Kerl schwätzte noch immer), sie aber hielt den Kopf unbeteiligt abgewendet, nahm das Geld rasch und sachlich entgegen, sodass ich mir plötzlich vorkam wie ein Narr, der seinen eigenen Trugbildern glaubte, und ich fand den Mut nicht, sie anzusprechen.

Seltsam unzufrieden verließ ich den Laden; ich wusste nur, dass ich nichts wusste und es eine große Grobheit war, die Gewissheit über die Identität eines einst so geliebten Gesichts zu verlieren.

Ich eilte zurück ins Hotel (unterwegs bemerkte ich auf dem gegenüberliegenden Gehsteig Jaroslav, einen alten Jugendfreund, den Primas der hiesigen Zimbalkapelle; als würde ich aber vor aufdringlich lauter Musik fliehen, wandte ich den Blick rasch ab), und ich rief Kostka vom Hotel aus an; er war noch im Krankenhaus.

»Ich bitte Sie, heißt die Friseuse, der Sie mich anvertraut haben, Lucie Šebetková?«

»Heute heißt sie anders, aber sie ist es. Woher kennen Sie sie?«, sagte Kostka.

»Aus schrecklich fernen Zeiten«, antwortete ich und ging nicht einmal zum Abendessen, ich verließ das Hotel (es dämmerte bereits) und bummelte ziellos herum.

Zweiter Teil Helena

1

Heute gehe ich früh schlafen, ich weiß zwar nicht, ob ich einschlafen kann, aber ich gehe früh schlafen, Pavel ist am Nachmittag nach Bratislava gefahren, ich fliege morgen früh nach Brünn, und dann fahre ich weiter mit dem Bus, Zdenka wird zwei Tage allein zu Hause sein, ausmachen wird ihr das nichts, es liegt ihr nicht viel an unserer Gesellschaft, das heißt an meiner Gesellschaft, Pavel vergöttert sie, Pavel ist der erste Mann, den sie bewundert, er versteht es auch, mit ihr umzugehen, wie er es mit allen Frauen verstanden hat, auch mit mir, und er versteht es immer noch mit mir, diese Woche hat er wieder angefangen, mit mir wie früher umzugehen, er hat meine Wangen gestreichelt und versprochen, mich auf der Rückfahrt von Bratislava in Südmähren abzuholen, wir müssten wieder einmal miteinander reden, vielleicht hat er selbst eingesehen, dass es so nicht weitergeht, vielleicht will er, dass alles wieder so wird, wie es einmal zwischen uns war, aber warum kommt er erst jetzt darauf, da ich Ludvik kenne? Ich habe Angst davor, aber ich darf nicht traurig sein, ich darf es nicht. »Nie soll Trauer mit meinem Namen verbunden sein«, dieser Satz von Julius Fučík ist meine Parole, als man ihn folterte und sogar unter dem Galgen war Fučík nicht traurig, und es stört mich nicht, dass die Freude heute aus der Mode ist, vielleicht bin ich dumm, aber die anderen sind es ebenfalls, ich weiß nicht, weshalb ich meine Dummheit gegen die ihre eintauschen sollte, ich will mein Leben nicht entzweibrechen, ich will, dass mein Leben eine Einheit ist, eine Einheit von Anfang bis zum Ende, und deshalb gefällt mir Ludvik so sehr, denn wenn ich mit ihm zusammen bin, muss ich meine Ideale und meinen Geschmack nicht ändern, er ist schlicht, einfach, fröhlich, klar, und das ist es, was ich liebe, was ich immer geliebt habe.

Ich schäme mich nicht, so zu sein, wie ich bin, ich kann nicht anders sein, als ich immer war, bis ich achtzehn war, kannte ich nur anständige Wohnungen anständiger Bürger und Lernen und nochmals Lernen, das wirkliche Leben lag hinter sieben Wänden, als ich dann neunundvierzig nach Prag kam, war plötzlich alles wie ein Wunder, ein solches Glück, dass ich es nie vergessen werde, und deshalb werde ich auch Pavel niemals aus meiner Seele verdrängen können, obwohl ich ihn nicht mehr liebe, obwohl er mir wehgetan hat, ich kann es nicht, Pavel ist meine Jugend, Prag, die Fakultät, das Studentenheim und vor allem das berühmte Lieder- und Tanzensemble Julius Fučík, heute weiß niemand mehr, was das für uns war, dort habe ich Pavel kennengelernt, er sang Tenor und ich Alt, wir traten in Hunderten von Konzerten und bunten Abenden auf, wir sangen sowjetische Lieder, Lieder über den Aufbau bei uns und natürlich Volkslieder, die sangen wir am liebsten, die mährischen Volkslieder habe ich damals so geliebt, dass ich sie zum Leitmotiv meines Lebens machte. Sie verschmelzen für mich noch immer mit jener Zeit, mit meiner Jugend, mit Pavel, sie erklingen jedes Mal, wenn die Sonne für mich aufgeht, sie erklingen also auch in diesen Tagen.

Und wie ich Pavel näher kennengelernt habe, das könnte ich heute niemandem mehr erzählen, es klingt wie schlechte Literatur, wir feierten den Jahrestag der Befreiung, und auf dem Altstädter Ring fand eine große Kundgebung statt, unser Ensemble war auch dort, wir gingen überall geschlossen hin, ein kleines Häufchen unter Zehntausenden, und auf der Tribüne standen Staatsmänner, unsere und ausländische, es gab viele Ansprachen und viel Applaus, und dann trat auch Togliatti ans Mikrophon und hielt eine kurze Ansprache auf Italienisch, und der Platz antwortete immer wieder mit Rufen, Klatschen und Skandieren. Zufällig stand Pavel in diesem Riesengedränge neben mir, und ich hörte, dass er ganz allein etwas in dieses Geschrei hineinrief, etwas anderes, etwas Eigenes, ich blickte auf seinen Mund und begriff, dass er sang, nein, es war eher ein Schreien als ein Singen, er wollte, dass wir ihn hörten und mit einstimmten, er sang ein italienisches Revolutionslied, es gehörte zu unserem Repertoire und war damals sehr populär: »Avanti popolo, alla riscossa, bandiera rossa, bandiera rossa …«

Das war ganz er, er gab sich nie damit zufrieden, nur den Verstand der Menschen anzusprechen, er wollte ihre Gefühle wachrütteln, es kam mir wunderbar vor, den italienischen Arbeiterführer auf einem Prager Platz mit einem Revolutionslied seiner Heimat zu begrüßen, ich wünschte mir sehnlichst, dass auch Togliatti so gerührt wäre, wie ich es schon im Voraus war, ich stimmte also aus vollen Kräften ein, und immer mehr Stimmen schlossen sich Pavel an, nach und nach unser ganzes Ensemble, aber das Geschrei des Platzes war fürchterlich, und wir waren nur ein Häufchen, wir waren fünfzig und sie mindestens fünfzigtausend, das war eine wahnwitzige Überzahl, das war ein verzweifeltes Ringen, während der ganzen ersten Strophe dachten wir, wir würden untergehen, niemand könnte unseren Gesang auch nur hören, dann aber geschah ein Wunder, nach und nach fielen immer mehr Stimmen ein, die Leute begriffen, und das Lied schälte sich langsam aus dem Riesenkrach des Platzes heraus wie ein Schmetterling aus einer mächtigen, dröhnenden Puppe. Schließlich flatterte dieser Schmetterling, dieses Lied, zumindest seine Schlusstakte, bis hin zur Tribüne, und wir schauten sehnsüchtig auf das Gesicht des grauhaarigen Italieners, und wir waren glücklich, als es uns schien, dass er mit einer Handbewegung auf das Lied reagierte, und ich war mir sogar sicher, obwohl ich es aus dieser Entfernung nicht sehen konnte, dass er Tränen in den Augen hatte.

Und in dieser Begeisterung und Rührung, ich weiß selbst nicht, wie, fasste ich plötzlich Pavels Hand, und Pavel erwiderte den Druck, und als der Platz dann verstummte und jemand anders ans Mikrophon trat, hatte ich Angst, Pavel könnte meine Hand loslassen, aber er ließ sie nicht los, wir hielten uns weiter bis zum Ende der Kundgebung, und wir ließen uns auch nachher nicht los, als die Massen sich verstreuten und wir noch einige Stunden durch das blühende Prag bummelten.

Sieben Jahre später, als Zdenka schon fünf war, das werde ich nie vergessen, sagte er zu mir: »Wir haben nicht aus Liebe, sondern aus Parteidisziplin geheiratet«, ich weiß, es war im Streit, es war eine Lüge, Pavel hat mich aus Liebe geheiratet und sich erst später verändert, aber dennoch ist es schrecklich, dass er mir das sagen konnte, gerade er hat doch immer wieder behauptet, die Liebe von heute sei etwas anderes, nicht Flucht vor den Menschen, sondern Stärkung für den Kampf, und so haben wir sie auch gelebt, mittags hatten wir nicht einmal Zeit zum Essen, wir verschlangen zwei trockene Brötchen im Sekretariat des Jugendverbandes und sahen uns den ganzen Tag nicht mehr, ich erwartete Pavel jeweils gegen Mitternacht, wenn er von seinen nicht enden wollenden sechs-, ja achtstündigen Versammlungen nach Hause kam, in meiner Freizeit tippte ich seine Referate, die er auf verschiedenen Konferenzen und Schulungskursen hielt, es lag ihm wahnsinnig viel daran, ich allein weiß, wie sehr ihm am Erfolg seiner politischen Auftritte lag, hundertmal wiederholte er in seinen Vorträgen, der neue Mensch unterscheide sich vom alten dadurch, dass er in seinem Leben den Widerspruch zwischen privat und öffentlich tilge, und nach Jahren warf er mir dann plötzlich vor, die Genossen hätten damals sein Privatleben nicht respektiert.

Wir gingen fast zwei Jahre miteinander, und ich wurde schon etwas ungeduldig, daran ist nichts Sonderbares, keine Frau kann sich mit einer bloßen Studentenfreundschaft zufriedengeben, Pavel gab sich damit zufrieden, er gewöhnte sich an die bequeme Unverbindlichkeit, in jedem Mann steckt etwas von einem Egoisten, und es liegt an der Frau, sich selbst und ihre weibliche Mission zu verteidigen, Pavel verstand das leider nicht so gut wie die Genossen des Ensembles, vor allem nicht so gut wie einige meiner Freundinnen, die sprachen sich dann untereinander ab, und schließlich wurde Pavel vor den Ausschuss geladen, ich weiß nicht, was man ihm dort gesagt hat, wir haben nie darüber gesprochen, aber viel Federlesens wird man mit ihm nicht gemacht haben, denn damals herrschte eine strenge Moral, es war übertrieben, vielleicht ist es aber doch besser, die Moral zu übertreiben und nicht die Unmoral wie heute. Pavel ist mir lange aus dem Weg gegangen, ich dachte schon, ich hätte alles verspielt, ich war verzweifelt, ich wollte mir das Leben nehmen, aber dann kam er zu mir, meine Knie zitterten, er bat mich um Verzeihung und schenkte mir einen Anhänger mit einem Bild des Kreml, sein liebstes Andenken, ich werde es immer tragen, es ist nicht nur ein Andenken an Pavel, es ist mehr, und ich weinte vor Glück, und vierzehn Tage später feierten wir Hochzeit, unser ganzes Ensemble war mit dabei, sie dauerte fast vierundzwanzig Stunden, es wurde gesungen und getanzt, und ich sagte Pavel, wenn wir beide einander verrieten, würden wir alle verraten, die mit uns Hochzeit feierten, wir würden auch die Kundgebung auf dem Altstädter Ring und Togliatti verraten, heute könnte ich darüber lachen, wenn ich daran denke, was wir danach alles verraten haben …

2

Ich überlege, was ich morgen anziehen soll, am besten den rosa Pullover und den Regenmantel, darin habe ich die beste Figur, ich bin ja nicht mehr die Schlankeste, aber was soll’s, vielleicht habe ich als Entschädigung für die Fältchen einen anderen Reiz, den ein junges Mädchen nicht hat, den Reiz eines durchlebten Schicksals, für Jindra ganz gewiss, der Ärmste, ich sehe ihn immer vor mir, wie enttäuscht er war, dass ich schon am Morgen fliegen würde und er allein fahren müsste, er ist glücklich, wenn er mit mir zusammen sein kann, er spielt sich gern vor mir auf mit seiner neunzehnjährigen Männlichkeit, mit mir würde er bestimmt hundertdreißig fahren, damit ich ihn bewundere, ein lieber, nicht gerade hübscher Junge, im Übrigen ein vorbildlicher Techniker und Fahrer, die Redakteure nehmen ihn gern mit ins Gelände für kleinere Reportagen, und was ist schon dabei, es ist angenehm, von jemandem zu wissen, dass er einen gern sieht, seit ein paar Jahren bin ich im Rundfunk nicht besonders beliebt, ich sei ein Störenfried, eine Fanatikerin, eine Dogmatikerin, eine Parteihündin und was weiß ich nicht alles, bloß werde ich mich nie dafür schämen, dass ich die Partei liebe und ihr meine ganze Freizeit opfere. Was ist mir in meinem Leben denn noch geblieben? Pavel hat andere Frauen, ich forsche ihnen nicht mehr nach, unsere kleine Tochter vergöttert ihren Vater, meine Arbeit ist seit zehn Jahren trostlos der gleiche Trott; Reportagen, Interviews, Sendungen über erfüllte Plansolls, über Musterkuhställe und Melkmaschinen, der Haushalt ist ebenso hoffnungslos, einzig die Partei hat sich mir gegenüber nie etwas zuschulden kommen lassen und ich ihr gegenüber ebenso wenig, selbst in den Zeiten nicht, als fast alle sie verlassen wollten, als sechsundfünfzig Stalins Verbrechen ans Licht kamen, die Leute verloren damals den Verstand, sie spuckten auf alles, es hieß, dass unsere Presse lüge, die Kultur verarme, die verstaatlichten Betriebe nicht funktionierten, die Genossenschaften auf dem Land gar nicht hätten gegründet werden dürfen, die Sowjetunion das Land der Unfreiheit sei, und am schlimmsten war, dass selbst die Kommunisten auf ihren eigenen Versammlungen so redeten, auch Pavel, und wieder klatschten ihm alle Beifall, Pavel wurde immer Beifall geklatscht, seit seiner Kindheit, er ist ein Einzelkind, seine Mutter schläft mit seinem Bild im Bett, ein Wunderkind, als Mann aber nur Durchschnitt, er raucht nicht und trinkt nicht, doch ohne Beifall kann er nicht leben, das ist sein Alkohol, sein Nikotin, und folglich war er froh, dass er den Menschen wieder ans Herz greifen konnte, er sprach so gefühlvoll über die schrecklichen Justizmorde, dass die Leute den Tränen nahe waren, ich spürte, wie glücklich er in seiner Entrüstung war, und ich hasste ihn.

Die Partei klopfte den Hysterikern zum Glück auf die Finger, sie verstummten, auch Pavel verstummte, der Posten eines Hochschuldozenten für Marxismus war zu bequem, als dass er ihn aufs Spiel gesetzt hätte, aber irgendetwas blieb in der Luft hängen, ein Keim von Apathie, von Misstrauen, von Zweifelsucht, ein Keim, der still und heimlich wucherte, ich wusste nicht, was dagegen zu tun war, aber ich schmiegte mich nur noch enger an die Partei, als wäre die Partei ein lebendiges Wesen, ein Mensch, und seltsam, als wäre sie eher eine Frau als ein Mann, eine weise Frau, ich kann mich ganz vertraulich mit ihr unterhalten, da ich eigentlich nicht nur Pavel, sondern auch sonst niemandem mehr etwas zu sagen habe, auch die anderen mögen mich nicht besonders, das hat sich ja herausgestellt, als wir diese peinliche Affäre bereinigen mussten, als einer unserer Redakteure, ein verheirateter Mann, ein Verhältnis mit einer Technikerin von uns hatte, mit einer jungen, ledigen Frau, einer verantwortungslosen Zynikerin, und die Frau des Redakteurs wandte sich in ihrer Verzweiflung an unseren Ausschuss, wir sollten ihr helfen, wir verhandelten den Fall viele Stunden lang, luden nacheinander die Ehefrau, die Technikerin und Zeugen vom Arbeitsplatz vor, wir versuchten, den Fall von allen Seiten her zu verstehen und gerecht zu sein, der Redakteur bekam eine Parteirüge, die Technikerin wurde verwarnt, und beide mussten sie vor dem Ausschuss versprechen, sich zu trennen. Leider sind Worte nur Worte, sie sagten es nur, um uns zu besänftigen, und trafen sich auch weiterhin, Lügen haben aber kurze Beine, wir erfuhren bald davon, und ich war dann für die radikalste Lösung, ich schlug vor, den Redakteur wegen bewusster Irreführung und Hintergehung der Partei aus derselben auszuschließen, denn was ist das für ein Kommunist, der die Partei belügt, ich hasse Lügen, aber ich setzte meinen Vorschlag nicht durch, der Redakteur bekam nur eine Rüge, dafür musste die Technikerin den Rundfunk verlassen.

Man rächte sich damals, wie man nur konnte, man machte ein Monstrum, eine Bestie aus mir, eine richtige Kampagne war das, man begann, in meinem Privatleben herumzuschnüffeln, das war meine Achillesferse, eine Frau kann nicht ohne Gefühle leben, sonst wäre sie ja keine Frau mehr, warum sollte ich es abstreiten, ich habe die Liebe anderswo gesucht, denn daheim hatte ich sie nicht, ich habe sie ohnehin vergeblich gesucht, einmal brachten sie das auf einer öffentlichen Sitzung aufs Tapet, ich sei eine Heuchlerin, ich prangerte andere an, sie würden Ehen zerstören, ich wollte sie ausschließen, ausstoßen und vernichten, sei aber selber meinem Mann untreu, wann immer ich könnte, so sagten sie auf der Versammlung, aber hintenherum sagten sie noch viel Schlimmeres, ich sei vor der Öffentlichkeit eine Nonne und im Privatleben eine Hure, als könnten sie nicht begreifen, dass ich, gerade weil ich weiß, was eine unglückliche Ehe ist, anderen gegenüber so streng bin, nicht aus Hass, sondern aus Liebe zu ihnen, aus Liebe zur Liebe, aus Liebe zu ihrem Zuhause, zu ihren Kindern, weil ich ihnen helfen will, ich habe schließlich auch ein Kind und ein Zuhause, und ich habe Angst um sie!

Aber was soll’s, vielleicht haben sie recht, vielleicht bin ich wirklich ein böses Weib, und man sollte den Menschen wirklich ihre Freiheit lassen, und niemand hat das Recht, sich in das Privatleben anderer einzumischen, vielleicht haben wir uns unsere Welt ganz falsch ausgedacht, und ich bin wirklich eine widerliche Kommissarin, die sich um Dinge kümmert, die sie nichts angehen, aber ich bin nun einmal so und kann nicht anders handeln, als ich fühle, nun ist es zu spät, ich habe immer geglaubt, dass das menschliche Wesen unteilbar ist, dass nur der Kleinbürger sich heuchlerisch in ein öffentliches und ein privates Wesen spaltet, das ist mein Credo, wonach ich immer gehandelt habe, auch damals.

Und dass ich vielleicht böse war, das gebe ich zu, ohne mich zu quälen, ich hasse die jungen Mädchen, diese kleinen Teufelinnen, die roh sind in ihrer Jugend, ohne eine Spur von Solidarität mit einer älteren Frau, die werden doch auch einmal dreißig und fünfunddreißig und vierzig, und mir braucht keine weiszumachen, dass sie ihn geliebt habe, was weiß so eine denn schon, was Liebe ist, die schläft mit jedem gleich beim ersten Mal, kennt keine Hemmungen, keine Scham, das kränkt mich zutiefst, wenn mich jemand nur deshalb mit solchen Mädchen vergleicht, weil ich als Verheiratete einige Verhältnisse mit andern Männern hatte. Bloß habe ich immer die Liebe gesucht, und wenn ich mich geirrt und sie nicht dort gefunden habe, wo ich sie suchte, habe ich mich schaudernd abgewandt und bin fortgegangen, ich bin anderswohin gegangen, obwohl ich weiß, wie einfach es wäre, den Jugendtraum von der Liebe zu vergessen, ihn zu vergessen, die Grenze zu überschreiten und sich im Reich einer sonderbaren Freiheit wiederzufinden, wo weder Schamgefühl oder Hemmungen noch Moral existieren, im Reich einer sonderbaren, ekelhaften Freiheit, wo alles erlaubt ist, wo es genügt zu lauschen, wie im Innern des Menschen der Sexus, dieses Tier, pulsiert.

Und ich weiß auch, dass ich beim Überschreiten dieser Grenze aufhören würde, ich selbst zu sein, ich würde zu einer anderen, ich weiß überhaupt nicht, wer ich dann wäre, und mir graut davor, vor dieser schrecklichen Verwandlung, und deshalb suche ich die Liebe, verzweifelt suche ich die Liebe, in die ich als jene eingehen dürfte, die ich bis jetzt noch bin, mit meinen alten Träumen und Idealen, denn ich will nicht, dass mein Leben entzweibricht, ich will, dass es ganz bleibt, von Anfang bis zum Ende, und deswegen war ich so benommen, als ich dich kennenlernte, Ludvik, Ludvik …

3

Es war eigentlich wahnsinnig komisch, als ich zum ersten Mal sein Arbeitszimmer betrat, machte er keinen besonderen Eindruck auf mich, und ich legte ohne Hemmungen los, was für Informationen ich von ihm brauchte, wie ich mir dieses Feuilleton für den Rundfunk vorstellte, als er dann aber mit mir zu diskutieren anfing, fühlte ich auf einmal, wie ich mich verhaspelte und verstrickte, wie dumm ich daherredete, und als er meine Verlegenheit bemerkte, lenkte er das Gespräch auf ganz gewöhnliche Dinge, ob ich verheiratet sei, ob ich Kinder hätte, wohin ich im Urlaub führe, und er sagte auch, dass ich jung aussähe und hübsch sei, er wollte mir das Lampenfieber nehmen, das war nett von ihm, ich habe Großmäuler gekannt, die sich nur aufzuspielen verstanden, obwohl sie nicht ein Zehntel von dem wussten, was er weiß, Pavel hätte nur über sich gesprochen, aber gerade das war so lustig, dass ich eine volle Stunde bei ihm war und über sein Institut immer noch so wenig wusste wie zuvor, ich schusterte das Feuilleton dann zu Hause zusammen, es ging mir aber nicht von der Hand, vielleicht war ich froh, dass ich es nicht schaffte, so hatte ich wenigstens einen Vorwand, ihn anzurufen, ob er nicht durchlesen wollte, was ich geschrieben hatte. Wir trafen uns in einem Café, mein unglückliches Feuilleton hatte vier Seiten, er las es, lächelte galant und sagte, es sei vorzüglich, er gab mir von Anfang an zu verstehen, dass ich ihn als Frau und nicht als Redakteurin interessierte, ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen oder beleidigt sein sollte, er war dabei aber nett, wir verstanden uns gut, er ist keiner von diesen Glashaus-Intellektuellen, die mir zuwider sind, er hat ein reiches Leben hinter sich, sogar in der Kohlengrube hat er gearbeitet, ich sagte ihm, dass ich gerade solche Menschen mochte, am meisten aber staunte ich, dass er aus Mähren stammte, dass er sogar in einer Zimbalkapelle gespielt hatte, ich wollte meinen Ohren nicht trauen, ich hörte das Leitmotiv meines Lebens, ich sah aus weiter Ferne meine Jugend auf mich zukommen und fühlte, wie ich Ludvik verfiel.

Er fragte mich, was ich die ganzen Tage mache, ich schilderte ihm meinen Alltag, und er sagte mir, ich höre noch immer seine halb scherzende, halb mitleidige Stimme, Sie leben falsch, Frau Helena, und dann erklärte er, das müsste sich ändern, ich müsste ein anderes Leben anfangen, ich müsste mich etwas mehr den Freuden des Lebens widmen. Ich sagte ihm, dagegen hätte ich nichts einzuwenden, ich sei schon immer eine Bekennerin der Freude gewesen, nichts sei mir verhasster als all diese modisch traurigen Stimmungen und Spleens, und er sagte mir, das habe nichts zu bedeuten, wozu ich mich bekennte, Bekenner der Freude seien meistens die traurigsten Menschen, oh, wie recht Sie haben, wollte ich schreien, aber er sagte direkt und ohne Umschweife, er würde am nächsten Tag um vier vor dem Funkhaus auf mich warten, wir könnten zusammen aus Prag hinausfahren, in die Natur. Ich widersprach, ich sei schließlich verheiratet und könne nicht so ohne Weiteres mit einem fremden Mann in den Wald fahren, doch Ludvik antwortete darauf scherzend, er sei gar kein Mann, sondern lediglich ein Wissenschaftler, dabei wurde er aber ein bisschen traurig, ja, traurig! Ich sah es, und mir wurde ganz warm vor Freude, dass er mich begehrte, dass er mich umso mehr begehrte, als ich ihm in Erinnerung rief, dass ich verheiratet war, weil ich mich ihm auf diese Weise gewissermaßen entzog, und der Mensch sehnt sich immer am stärksten nach dem, was sich ihm entzieht, ich trank diese Traurigkeit gierig von seinem Gesicht und erkannte in diesem Augenblick, dass er in mich verliebt war.

Und am nächsten Tag rauschte auf der einen Seite die Moldau, während sich auf der anderen ein steiler Waldhang erhob, es war romantisch, ich liebe Romantik, ich benahm mich vermutlich ein bisschen närrisch, vielleicht schickt sich das nicht für die Mutter einer zwölfjährigen Tochter, ich lachte und hüpfte herum, ich nahm seine Hand und zwang ihn, ein Stück weit mit mir zu laufen, wir blieben stehen, mein Herz klopfte, wir standen einander ganz nah gegenüber, und Ludvik neigte sich etwas herunter und küsste mich flüchtig, sofort riss ich mich los, nahm ihn aber wieder an der Hand, und wieder liefen wir ein Stück, ich habe einen leichten Herzfehler, und mein Herz beginnt bei der kleinsten Anstrengung heftig zu klopfen, es genügt schon, ein Stockwerk die Treppe hochzulaufen, und so verlangsamte ich bald den Schritt, mein Atem beruhigte sich allmählich, und ich summte auf einmal die ersten Takte meines Lieblingsliedes, »Ei, fiel der Sonnenschein in unser Gärtelein …«, und als ich spürte, dass er mich verstand, begann ich laut zu singen, ich schämte mich nicht, ich fühlte, wie die Jahre von mir abfielen, die Sorgen, der Kummer, Tausende von grauen Schuppen, und dann saßen wir in einer kleinen Kneipe, wir aßen Wurst und Brot, alles war ganz gewöhnlich und einfach, der mürrische Wirt, das bekleckste Tischtuch, und dennoch war es ein herrliches Abenteuer, ich sagte zu Ludvik, wissen Sie überhaupt, dass ich in drei Tagen nach Mähren fahre, um eine Reportage über den Ritt der Könige zu machen? Er fragte mich, wohin, und als ich ihm den Ort nannte, antwortete er, ausgerechnet dort sei er zur Welt gekommen, noch so eine Übereinstimmung, die mir die Sprache verschlug, und Ludvik sagte, ich nehme mir frei, ich fahre mit Ihnen.

Ich erschrak, ich dachte an Pavel, an dieses Fünkchen Hoffnung, das er in mir entfacht hatte, ich bin meiner Ehe gegenüber nicht zynisch, ich bin bereit, alles zu tun, um sie zu retten, schon Zdenkas wegen, doch was soll ich lügen, vor allem meinetwegen, wegen allem, was einmal war, wegen der Erinnerung an meine Jugend, aber ich brachte die Kraft nicht auf, zu Ludvik Nein zu sagen, ich brachte diese Kraft nicht auf, und jetzt sind die Würfel gefallen, Zdenka schläft, ich habe Angst, und Ludvik ist bereits in Mähren und wird morgen an der Bushaltestelle auf mich warten.

Dritter TeilLudvik

1

Ja; ich ging bummeln. Ich blieb auf der Brücke über der March stehen und blickte stromabwärts. Wie hässlich die March doch war (so braun, als flösse in ihrem Flussbett nicht Wasser, sondern flüssiger Lehm), wie trostlos ihr Ufer: eine Straße mit fünf einstöckigen Häusern, die nicht miteinander verbunden waren, sondern einzeln dastanden, wie verwaiste Sonderlinge; vielleicht sollten sie ursprünglich den Kern einer Uferpromenade bilden, die in ihrer Pracht dann nicht mehr verwirklicht wurde; zwei von ihnen trugen Engelchen und kleine Motive aus allerdings schon abbröckelnder Keramik und Stuckatur: Einem Engel fehlten die Flügel, die Motive waren teilweise bis auf die Ziegel abgeblättert, sodass man sie nicht mehr verstehen konnte. Dann endete die Straße der verwaisten Häuser, dahinter gab es nur noch eiserne Strommasten und Gras mit ein paar Gänsen, die sich verspätet hatten, und dann Felder, Felder ohne Horizont, Felder, die sich ausdehnten ins Nichts; Felder, in denen der flüssige Lehm der March sich verlor.

Städte haben die Fähigkeit, sich gegenseitig Spiegel vorzuhalten, und ich sah in dieser Szenerie (ich kannte sie von Kindheit an, doch damals hatte sie mir nichts gesagt) plötzlich Ostrava, diese Bergarbeiterstadt, die einem riesigen provisorischen Nachtasyl glich, voll von verlassenen Häusern und schmutzigen Straßen, die ins Leere führten. Ich war überrumpelt; ich stand hier auf der Brücke wie ein Mensch, der einem Maschinengewehrfeuer ausgesetzt war. Ich wollte mir die verwaiste Straße mit den fünf Häusern nicht länger ansehen, weil ich nicht an Ostrava denken wollte. Und so kehrte ich um und ging stromaufwärts am Ufer entlang.

Hier verlief ein Pfad, der auf einer Seite von einer dichten Pappelreihe gesäumt wurde: ein Weg mit einem herrlichen Panorama. Rechts davon fiel das mit Gras und Unkraut überwucherte Ufer zum Wasser ab, und dahinter, jenseits des Flusses, waren Lagerhallen, Werkstätten und kleine Fabrikhöfe zu sehen; links vom Weg lag zunächst eine lang gestreckte Müllhalde und dann weite, von den Eisenkonstruktionen der Strommasten durchlöcherte Felder. Ich ging auf der schmalen Allee über all das hinweg, als schritte ich auf einem langen Steg über ein Wasser – und wenn ich diese ganze Gegend mit weiten Gewässern vergleiche, so deshalb, weil sie Kälte verströmte und ich auf der Allee ging, als könnte ich abstürzen. Dabei wurde mir bewusst, dass das sonderbar Spukhafte dieser Landschaft nur ein Abklatsch dessen war, woran ich nach der Begegnung mit Lucie nicht denken wollte; als hätten die verdrängten Erinnerungen sich in alles geschlichen, was ich nun um mich herum sah, in die Öde der Felder, Höfe und Lagerhallen, in die Trübe des Flusses und in jene allgegenwärtige Kälte, die dieser ganzen Szenerie ihre Einheit verlieh. Ich begriff, dass ich den Erinnerungen nicht entkommen konnte; dass ich von ihnen umzingelt war.

2

Wie ich zum ersten Mal in meinem Leben Schiffbruch erlitt (und durch seine unfreundliche Vermittlung auch zu Lucie gelangte), darüber ließe sich ohne Schwierigkeit in einem leichtfertigen Ton und sogar mit einem gewissen Amüsement erzählen: Alles wurde verschuldet durch meinen unseligen Hang zu dummen Scherzen und Marketas unselige Unfähigkeit, Scherze zu verstehen. Marketa gehörte zu den Frauen, die alles ernst nahmen (durch diese Eigenschaft verschmolz sie vollkommen mit dem Genius jener Zeit) und denen von den Schicksalsgöttinnen schon an der Wiege prophezeit wurde, dass ihre stärkste Eigenschaft die Gabe des Glaubens war. Damit will ich nicht etwa euphemistisch andeuten, dass sie dumm war; keineswegs: Sie war ziemlich begabt und aufgeweckt und übrigens so jung (sie war neunzehn), dass ihre naive Leichtgläubigkeit eher zu ihrem Charme als zu ihren Mängeln gehörte, dies umso mehr, als sie von unbestreitbaren körperlichen Reizen begleitet war. Wir alle an der Fakultät mochten Marketa und bemühten uns mehr oder weniger intensiv um sie, was uns (zumindest einige von uns) aber nicht daran hinderte, dass wir uns zugleich, wenn auch im Guten, ein bisschen über sie lustig machten.

Späße vertrugen sich allerdings schlecht mit Marketa und noch viel schlechter mit dem Geist jener Zeit. Es war das erste Jahr nach dem Februar 1948; ein neues, wirklich ganz anderes Leben hatte begonnen, und das Gesicht dieses neuen Lebens, wie es in meinen Erinnerungen haften geblieben ist, war ernst und starr, wobei dieser Ernst die sonderbare Eigenschaft hatte, dass er kein böses, sondern ein lächelndes Gesicht zeigte; ja, diese Jahre behaupteten von sich, die freudigsten aller Zeiten zu sein, und jeder, der sich nicht freute, wurde augenblicklich verdächtigt, dass ihn der Sieg der Arbeiterklasse betrübe oder (was kein geringeres Vergehen war) dass er als Individualist in seine private Traurigkeit versunken sei.

Ich empfand damals kaum private Traurigkeit, ich hatte vielmehr einen ausgesprochenen Sinn für Humor, und trotzdem kann man nicht sagen, ich hätte vor dem freudigen Gesicht jener Zeit vorbehaltlos bestanden, da meine Späße nicht ernst genug waren, während die Freude jener Zeit weder Streiche noch Ironie liebte, es war, wie gesagt, eine ernste Freude, die sich stolz »historischer Optimismus der siegreichen Klasse« nannte, eine asketische und feierliche Freude, ganz einfach die Freude.

Ich erinnere mich, wie wir damals auf der Fakultät in sogenannten Studienzirkeln organisiert waren, deren Mitglieder sich häufig versammelten, um gegenseitig öffentlich Kritik und Selbstkritik zu üben und daraus die Bewertung jedes Einzelnen zu erarbeiten. Wie jeder Kommunist hatte ich damals viele Funktionen inne (ich bekleidete einen bedeutenden Posten im Verband der Hochschulstudenten), und weil ich darüber hinaus kein schlechter Student war, konnte eine solche Bewertung für mich nicht negativ ausfallen. Dennoch fügte man den Sätzen der Anerkennung, in denen meine Aktivitäten, mein gutes Verhältnis zum Staat und zur Arbeit sowie meine Kenntnisse des Marxismus hervorgehoben wurden, meistens noch hinzu, »Überreste von Individualismus« würden noch an mir haften. Ein solcher Vorbehalt brauchte nicht gefährlich zu sein, denn es gehörte zum guten Ton, auch in das beste Kadergutachten irgendeine kritische Bemerkung zu schreiben, dem einen »wenig Interesse für die Revolutionstheorie« vorzuhalten, dem anderen »ein kühles Verhältnis zum Volk« oder »wenig Wachsamkeit und Vorsicht« und noch einem anderen »ein schlechtes Verhältnis zu Frauen«; in dem Moment allerdings, da diese Bemerkung nicht mehr für sich allein stand, wenn ein weiterer Vorbehalt hinzukam und man zum Beispiel in einen Konflikt verwickelt oder Opfer eines Verdachts oder Angriffs wurde, dann konnten solche »Überreste von Individualismus« oder »schlechten Verhältnisse zu Frauen« zum Keim von Katastrophen werden. Und gerade darin lag etwas seltsam Verhängnisvolles, dass jeder, ja, jeder von uns einen solchen Keim in seiner Kaderkarte mit sich herumtrug.

Manchmal setzte ich mich gegen die Anschuldigung des Individualismus zur Wehr (mehr aus sportlichen Gründen denn wegen tatsächlicher Befürchtungen), und ich verlangte von meinen Kollegen, mir zu beweisen, inwiefern ich Individualist sei. Sie hatten dafür keine konkreten Belege; sie sagten: »Weil du dich so benimmst.« »Wie benehme ich mich denn?«, fragte ich. »Du lächelst immer so sonderbar.« »Na und? Ich freue mich!« »Nein, du lächelst, als würdest du dir etwas dabei denken.«

Nachdem die Genossen beschlossen hatten, mein Benehmen und mein Lächeln seien die eines Intellektuellen (ein weiteres berühmtes Pejorativum jener Zeit), glaubte ich ihnen schließlich, weil ich mir nicht vorstellen konnte (das überstieg ganz einfach das Maß meiner Kühnheit), dass die Revolution, der Zeitgeist selbst, dass alle anderen sich irrten, während ich als Einzelwesen recht hatte. Ich begann, mein Lächeln etwas zu kontrollieren, bald darauf spürte ich jedoch, wie sich in meinem Innern zwischen dem, der ich war, und dem, der ich (gemäß dem Zeitgeist) hätte sein sollen und zu sein versuchte, ein kleiner Riss auftat.

Wer aber war ich damals wirklich? Ich will diese Frage ganz ehrlich beantworten: Ich war jemand, der mehrere Gesichter hatte.

Und die Gesichter mehrten sich. Etwa einen Monat vor den Ferien begann ich, Marketa näherzukommen (sie war im ersten, ich im zweiten Studienjahr), und ich versuchte, ihr auf ähnlich dumme Art zu imponieren, wie zwanzigjährige Männer aller Zeiten dies tun: Ich setzte mir eine Maske auf; ich gab vor, (an Geist und Erfahrung) älter zu sein, als ich es war, ich gab vor, von allen Dingen Abstand zu haben, die Welt von oben herab zu betrachten und über meiner Haut noch eine andere, unsichtbare, kugelsichere Haut zu tragen. Ich ahnte, zu Recht übrigens, dass Scherzen ein verständlicher Ausdruck des Abstands war, und wenn ich schon immer gerne gescherzt hatte, scherzte ich mit Marketa besonders angestrengt, gekünstelt und ermüdend.

Wer aber war ich wirklich? Ich muss es nochmals wiederholen: Ich war jemand, der mehrere Gesichter hatte.

Ich war ernst, begeistert und überzeugt auf Versammlungen, stichelnd und hetzerisch mit meinen besten Kameraden; ich war zynisch und krampfhaft geistreich mit Marketa, und wenn ich allein war (und an Marketa dachte), war ich immer ratlos und schülerhaft aufgeregt.

War dieses letzte Gesicht vielleicht das echte?

Nein. Alle diese Gesichter waren echt: Ich hatte nicht wie ein Heuchler ein echtes und einige falsche Gesichter. Ich hatte mehrere Gesichter, weil ich jung war und selbst noch nicht wusste, wer ich war und wer ich sein wollte. (Durch das Missverhältnis zwischen all diesen Gesichtern war ich verunsichert; ich war mit keinem ganz verwachsen und bewegte mich hinter ihnen unbeholfen und blind.)

Der psychologische und physiologische Mechanismus der Liebe ist so kompliziert, dass ein junger Mann sich in einem bestimmten Lebensabschnitt fast ausschließlich auf dessen Beherrschung konzentrieren muss und der eigentliche Inhalt der Liebe ihm entgeht – die Frau, die er liebt (ähnlich etwa wie ein junger Geiger sich nicht gut auf den Inhalt einer Komposition konzentrieren kann, solange er die manuelle Technik nicht so weit beherrscht, dass er beim Spielen nicht mehr daran denken muss). Wenn ich von meiner schülerhaften Aufregung beim Gedanken an Marketa sprach, muss ich hinzufügen, dass sie nicht so sehr meiner Verliebtheit als meiner Unbeholfenheit und Unsicherheit entsprang, deren Last ich spürte und die meine Gedanken und Gefühle viel mehr beherrschten als Marketa.

Die Last dieser Unbeholfenheit und Verlegenheit versuchte ich dadurch zu erleichtern, dass ich mich vor Marketa aufspielte: Ich bemühte mich, gegenteiliger Meinung zu sein oder mich sogar über alle ihre Ansichten lustig zu machen, was nicht besonders schwierig war, denn sie war bei all ihrer Klugheit (und bei ihrer Schönheit, die – wie jede Schönheit – der Umgebung scheinbare Unnahbarkeit suggerierte) ein vertrauensvolles und einfaches Mädchen; sie hatte es nie verstanden, hinter die Dinge zu blicken, sondern sah immer nur diese selbst; sie kannte sich bestens aus in Botanik, es konnte aber vorkommen, dass sie eine Anekdote nicht begriff, die Kollegen ihr erzählten; sie ließ sich von jedem Enthusiasmus der Zeit mitreißen, im Moment jedoch, da sie Zeugin einer politischen Praktik im Sinne des Grundsatzes »Der Zweck heiligt die Mittel« wurde, stand sie ihr ebenso fassungslos gegenüber wie einer unverstandenen Anekdote; deshalb entschieden die Genossen schließlich, dass sie es nötig habe, ihre Begeisterung durch Kenntnisse über Strategie und Taktik der revolutionären Bewegung zu untermauern, und sie beschlossen, dass sie während der Semesterferien an einem zweiwöchigen Schulungslager der Partei teilzunehmen habe.

Dieses Schulungslager kam mir gar nicht gelegen, da ich beabsichtigte, während dieser vierzehn Tage mit Marketa allein in Prag zu sein und unsere Beziehung (die bisher aus Spaziergängen, Gesprächen und einigen Küssen bestand) auf konkretere Zwecke hinzusteuern; ich hatte nur diese zwei Wochen zur Verfügung (den folgenden Monat sollte ich in einer Landwirtschaftsbrigade mitarbeiten, und die letzten vierzehn Tage der Ferien wollte ich bei meiner Mutter in Mähren verbringen), sodass ich es mit schmerzlicher Eifersucht hinnahm, dass Marketa meine Trauer nicht teilte, das Schulungslager keineswegs verfluchte, sondern mir sogar sagte, sie würde sich darauf freuen.

Vom Schulungslager (es fand in einem der böhmischen Schlösser statt) schickte sie mir einen Brief, der genauso war wie sie selbst: voll von aufrichtigem Einverständnis mit allem, was sie erlebte; alles gefiel ihr, sogar die Viertelstunde Frühgymnastik, die Referate, die Diskussionen und die Lieder, die dort gesungen wurden; sie schrieb mir, dass dort ein »gesunder Geist« herrsche; und aus lauter Fleiß fügte sie noch eine Betrachtung darüber hinzu, dass die Revolution im Westen nicht mehr lange auf sich würde warten lassen.

Genau genommen war ich mit allem einverstanden, was Marketa behauptete, auch an die bevorstehende Revolution in Westeuropa glaubte ich; nur mit einer Tatsache war ich nicht einverstanden: dass sie glücklich und zufrieden war, während ich mich nach ihr sehnte. Und so kaufte ich eine Ansichtskarte und schrieb (um sie zu verletzen, zu schockieren und zu verwirren): Optimismus ist Opium für die Menschheit. Ein gesunder Geist stinkt nach Dummheit! Es lebe Trotzki! Ludvik.

3

Auf diese provokative Ansichtskarte antwortete Marketa mit einem kurzen, banalen Brief, und auf meine weiteren Briefe, die ich ihr während der Ferien schickte, reagierte sie nicht mehr. Ich war irgendwo im Böhmerwald, fuhr mit der Hochschulbrigade Heu ein, und Marketas Schweigen versetzte mich in tiefe Traurigkeit. Ich schrieb ihr fast täglich; die Briefe waren voll von flehender und melancholischer Verliebtheit; ich bat sie, ob wir uns nicht wenigstens in den letzten beiden Ferienwochen sehen könnten, ich war bereit, nicht nach Hause zu fahren, meine einsame Mutter nicht zu sehen und Marketa wohin auch immer nachzureisen; das alles nicht nur, weil ich sie liebte, sondern vor allem, weil sie die einzige Frau an meinem Horizont war und die Situation eines jungen Mannes ohne Mädchen mir unerträglich vorkam. Aber Marketa beantwortete meine Briefe nicht.

Ich begriff nicht, was vor sich ging. Im August fuhr ich nach Prag, und es gelang mir, sie zu Hause ausfindig zu machen. Wir gingen wie gewöhnlich an der Moldau entlang spazieren und dann auf die Insel, die man Kaiserwiese nannte (jene trostlose Wiese mit Pappeln und verwaisten Spielplätzen); Marketa behauptete, dass sich zwischen uns nichts geändert hätte, und dementsprechend verhielt sie sich auch, aber gerade diese krampfhaft regungslose Gleichheit (die Gleichheit der Küsse, die Gleichheit des Gesprächs, die Gleichheit des Lächelns) war deprimierend. Als ich Marketa um eine Verabredung für den folgenden Tag bat, sagte sie mir, ich solle sie anrufen, wir würden dann etwas ausmachen.

Ich rief sie an; eine fremde Frauenstimme am Telefon teilte mir mit, dass Marketa aus Prag weggefahren sei.

Ich war unglücklich, wie nur ein Zwanzigjähriger unglücklich sein kann, wenn er ohne Frau ist; ein noch ziemlich schüchterner junger Mann, der die körperliche Liebe bisher erst wenige Male erlebt hat, flüchtig und schlecht, der sich aber in seinen Gedanken unablässig mit ihr beschäftigt. Die Tage waren lang, sinnlos und kaum zu überleben; ich konnte nicht lesen, ich konnte nicht arbeiten, ich ging dreimal am Tag ins Kino und sah mir nacheinander alle Nachmittags- und Abendvorstellungen an, nur um die Zeit irgendwie totzuschlagen, nur um die schreiende Eulenstimme, die fortwährend aus meinem Innern drang, irgendwie zu übertönen. Ich, von dem Marketa (dank meiner eifrigen Großtuerei) das Gefühl hatte, er sei der Frauen schon fast überdrüssig, ich wagte es nicht, auf der Straße ein Mädchen anzusprechen, eines der Mädchen, deren schöne Beine mir in der Seele wehtaten.

Deshalb war ich eigentlich froh, als endlich der September kam und mit ihm der Unterricht und einige Tage zuvor schon meine Arbeit im Studentenverband, wo ich einen eigenen Raum und vielerlei Aufgaben hatte. Bereits am zweiten Tag wurde ich jedoch telefonisch ins Parteisekretariat beordert. Von diesem Moment an erinnere ich mich an jede Einzelheit: Es war ein sonniger Tag, ich verließ das Haus des Studentenverbandes und spürte, wie die Traurigkeit, die mich die ganzen Ferien über erfüllt hatte, langsam von mir abfiel. Ich ging gut gelaunt und neugierig zum Sekretariat. Ich klingelte, und der Ausschussvorsitzende, ein hochgewachsener junger Mann mit schmalem Gesicht, blondem Haar und eisblauen Augen, öffnete mir die Tür. Ich sagte: »Ehre der Arbeit«, er begrüßte mich nicht und sagte: »Geh nach hinten, man erwartet dich.« Im hintersten Raum des Sekretariats warteten drei Mitglieder des Parteiausschusses der Hochschule auf mich. Sie sagten, ich solle Platz nehmen. Ich setzte mich und begriff, dass etwas Unheilvolles im Gange war. Alle drei Genossen, die ich gut kannte und mit denen ich mich gewöhnlich vergnügt unterhielt, gaben sich unnahbar; sie duzten mich zwar (wie es unter Genossen üblich ist), doch war es mit einem Mal kein freundschaftliches Duzen mehr, sondern ein amtliches, ein drohendes



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.