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Denis Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr aus dem 18. Jahrhundert zählte zu Milan Kunderas Lieblingsromanen. Um ihn zu würdigen, schuf er seine eigene Bühnenfassung: drei Akte über den Diener Jacques, seinen adeligen Herrn und die Wirtin eines Gasthauses auf ihrer Reise wohin auch immer. Die drei erzählen sich Geschichten über Liebe, Eifersucht, Treue und Verrat – Geschichten, die immer wieder Variationen ihrer selbst sind, die sich überschneiden, sich aufeinander beziehen und spiegeln. Jacques setzt einem Freund die Hörner auf, der Herr bekommt von einem Freund die Hörner aufgesetzt, und die vom Herrn umworbene Agathe erinnert an die Hure aus der Geschichte über Madame de La Pommeraye, die wiederum an die Wirtin erinnert … »Ist es nicht immer dieselbe unwandelbare Geschichte?«, fragt der Herr und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Doch genau diese Variation der immergleichen Geschichte eröffnet ganz neue Möglichkeiten der Komik und des Spiels mit der Form.
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Seitenzahl: 112
Veröffentlichungsjahr: 2024
Milan Kundera
François Ricard
Hommage an Denis Diderot in drei Akten
Aus dem Französischen von Uli Aumüller
Mit einem Nachwort von François Ricard
Kampa
Als die Russen 1968 mein kleines Heimatland besetzten, wurden alle meine Bücher verboten, und auf einmal hatte ich keine Möglichkeit mehr, auf rechtmäßige Art meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Viele Menschen wollten mir helfen: Eines Tages kam ein Regisseur und schlug mir vor, unter seinem Namen eine Bühnenfassung von Dostojewskijs Der Idiot zu schreiben.
Ich habe also den Idioten wiedergelesen, und mir wurde klar, dass ich, selbst wenn ich hungers sterben müsste, diese Arbeit nicht machen konnte. Diese Welt outrierter Gesten, dunklen Tiefsinns, aufreizender Sentimentalität war mir zuwider. Ich bekam unerklärlicherweise sofort einen Anfall von Sehnsucht nach Jacques der Fatalist.
»Wäre Ihnen ein Diderot nicht lieber als ein Dostojewskij?«
War es nicht, aber ich für mein Teil konnte diesen seltsamen Wunsch nicht loswerden; um so lange wie möglich in der Gesellschaft Jacques’ und seines Herrn zu bleiben, begann ich sie mir als Figuren meines eigenen Theaterstücks vorzustellen.
Warum diese plötzliche Abneigung gegen Dostojewskij?
Der antirussische Reflex eines von der Besetzung seiner Heimat traumatisierten Tschechen? Nein, denn ich habe ja auch nie aufgehört, Tschechow zu lieben. Zweifel am ästhetischen Wert von Dostojewskijs Werk? Nein, denn meine Aversion, die mich selbst verblüffte, erhob keinerlei Anspruch auf Objektivität.
Was mich an Dostojewskij störte, war die Atmosphäre seiner Bücher; diese Welt, wo alles Gefühl wird; anders gesagt: wo Gefühl in den Rang eines Wertes und einer Wahrheit erhoben wird.
Es war am dritten Tag der Besatzung. Ich war in meinem Auto unterwegs zwischen Prag und Budějovice (der Stadt, in der Camus sein Missverständnis angesiedelt hat). Auf den Straßen, in den Feldern und Wäldern, überall kampierten russische Infanteristen. Dann wurde mein Auto angehalten. Drei Soldaten durchsuchten es. Als die Operation beendet war, fragte mich der Offizier, der sie angeordnet hatte, auf Russisch: »Kak tschuwstwujetjes?« Das bedeutet: »Wie fühlen Sie sich? Was für Gefühle haben Sie?« Die Frage war weder böse noch ironisch gemeint. Im Gegenteil: Der Offizier fuhr fort: »Das alles ist ein großes Missverständnis. Aber das wird sich aufklären. Sie müssen wissen, dass wir die Tschechen lieben. Wir lieben euch!«
Die Landschaft von Tausenden von Panzern verwüstet, die Zukunft des Landes für Jahrhunderte gefährdet, die tschechischen Staatsmänner verhaftet und verschleppt, und der Offizier der Besatzungsarmee macht einem eine Liebeserklärung. Verstehen Sie mich recht, er wollte damit keine abweichende Meinung zur Invasion ausdrücken, keineswegs. So ungefähr redeten sie alle: Ihre Haltung gründete sich nicht auf die sadistische Lust von Schändern, sondern auf eine andere Urform: auf gekränkte Liebe: Warum wollen diese Tschechen (die wir doch so lieben!) nicht mit uns und auf dieselbe Weise wie wir zusammenleben? Wie schade, dass wir Panzer benutzen müssen, um sie zu lehren, was Liebe ist!
Empfindsamkeit ist für den Menschen unerlässlich, furchtbar wird sie jedoch, sobald sie als Wert, als Kriterium für die Wahrheit, als Rechtfertigung eines Verhaltens betrachtet wird. Die edelsten nationalen Gefühle können dann die schlimmsten Gräuel rechtfertigen; die Brust von schwärmerischen Gefühlen geschwellt, begeht der Mensch die größten Gemeinheiten im heiligen Namen der Liebe.
Empfindsamkeit, die rationales Denken ersetzt, wird zur Grundlage von Verständnislosigkeit und Intoleranz; sie wird, wie Carl Gustav Jung sagte, der Überbau von Brutalität.
Die Erhebung des Gefühls in den Rang eines Wertes liegt sehr weit zurück, liegt vielleicht in dem Moment, als sich das Christentum vom Judentum getrennt hat. »Liebe Gott und tue, was du willst«, sagte Augustinus. Der berühmte Satz ist verräterisch: Das Kriterium für die Wahrheit wird so vom Außen ins Innere verlegt: in die Willkür des Subjektiven. Das Unbestimmte des Liebesgefühls (»Liebe Gott!« – der christliche Imperativ) ersetzt die Klarheit des Gesetzes (der Imperativ des Judentums) und wird das überaus verschwommene Kriterium der Moral.
Die Geschichte der christlichen Gesellschaft ist eine tausendjährige Schule der Empfindsamkeit: Jesus am Kreuz hat uns gelehrt, das Leiden zu vergöttern; die ritterliche Dichtung hat die Liebe entdeckt; die bürgerliche Familie hat uns das Heimweh beigebracht; der politischen Demagogie ist es gelungen, den Willen zur Macht zu »sentimentalisieren«. Diese lange Geschichte hat den Reichtum, die Stärke und die Schönheit unserer Gefühle herausgebildet.
Von der Renaissance an wurde die abendländische Empfindsamkeit jedoch durch eine komplementäre Geisteshaltung ausgeglichen: die der Vernunft und des Zweifels, des Spielerischen und der Relativität alles Menschlichen. Damit tritt das Abendland in seine Blütezeit ein.
In seinem berühmten Vortrag an der Harvard University datierte Solschenizyn den Beginn der Krise des Abendlandes auf ebenjene Epoche der Renaissance. In diesem Urteil äußert und offenbart Russland sich als spezielle Kultur; seine Geschichte unterscheidet sich nämlich von der des Abendlandes gerade durch das Fehlen der Renaissance und der daraus entstandenen Geisteshaltung. Deshalb kennt die russische Mentalität eine andere Beziehung zwischen Rationalität und Empfindsamkeit; in dieser anderen Beziehung findet sich das berühmte Geheimnis der russischen Seele (ihrer Tiefe wie ihrer Brutalität).
Als die schwere russische Irrationalität über mein Land fiel, empfand ich ein instinktives Bedürfnis, tief den Geist der modernen westlichen Zeiten zu atmen. Und er schien mir nirgendwo so dicht konzentriert zu sein wie in Jacques der Fatalist, diesem Fest der Intelligenz, des Humors und der Phantasie.
Wenn ich mich selbst beschreiben sollte, würde ich sagen, ich bin ein Hedonist, der in einer bis zum äußersten politisierten Welt gefangen ist. Genau diese Situation beschreibt Das Buch der lächerlichen Liebe, dasjenige meiner Werke, dem ich mich am stärksten verbunden fühle, weil es die glücklichste Zeit meines Lebens widerspiegelt. Ein kurioses Zusammentreffen: Ich habe die letzte dieser Novellen, die ich im Lauf der sechziger Jahre schrieb, drei Tage vor dem Einmarsch der Russen beendet.
Als 1970 die französische Ausgabe dieses Buches erschien, wurde es in einen Zusammenhang mit der Tradition der Aufklärung gestellt. Gerührt von diesem Vergleich, habe ich danach mit etwas kindlichem Eifer immer wieder gesagt, ich liebte das 18. Jahrhundert. Eigentlich liebe ich das 18. Jahrhundert gar nicht so sehr, ich liebe Diderot. Und um noch ehrlicher zu sein: Ich liebe seine Romane. Und noch genauer: Ich liebe Jacques der Fatalist.
Diese Einstellung zu Diderots Werk ist bestimmt allzu persönlich, aber vielleicht ist sie nicht ungerechtfertigt: auf Diderot, den Theaterautor, kann man in der Tat verzichten; die Geschichte der Philosophie kann man zur Not auch verstehen, ohne die Essays des großen Enzyklopädisten zu kennen; aber ich bleibe dabei: Die Geschichte des Romans bliebe unverstanden und unvollständig ohne Jacques der Fatalist. Ich würde sogar sagen, dieses Werk leidet daran, dass es ausschließlich als Teil der Diderot’schen Schriften und nicht im Zusammenhang des Weltromans untersucht wird; seine wahre Größe wird nur neben Don Quichote oder Tom Jones, neben Ulysses oder Ferdydurke erkennbar.
Man wird mir entgegenhalten, dass für Diderot Jacques der Fatalist neben seinen anderen Tätigkeiten eher eine vergnügliche Ablenkung war und dass er zudem sehr stark von seinem großen Vorbild, Tristram Shandy von Laurence Sterne, beeinflusst war.
Ich höre oft, der Roman habe alle seine Möglichkeiten bereits ausgeschöpft. Ich glaube, das Gegenteil trifft zu: In den vierhundert Jahren seiner Geschichte hat der Roman viele seiner Möglichkeiten übersehen: Er hat große Gelegenheiten ungenutzt gelassen, Wege vergessen, Rufe nicht vernommen.
Tristram Shandy von Laurence Sterne ist einer dieser großen abhandengekommenen Impulse. Bis zum Letzten hat die Geschichte des Romans Samuel Richardson als Vorbild ausgeschlachtet, der in der Form des »Briefromans« die psychologischen Möglichkeiten der Romankunst entdeckte. Der in Sternes Werk enthaltenen Perspektive hingegen hat sie wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Tristram Shandy ist ein Spiel-Roman. Sterne hält sich lange bei den Tagen der Empfängnis und der Geburt seines Helden auf, um dann, sobald er geboren ist, die Geschichte seine Lebens schamlos und fast für immer links liegen zu lassen; er plaudert mit seinem Leser und verliert sich in endlosen Abschweifungen; er beginnt eine Episode zu erzählen, ohne sie je zu beenden; er setzt die Widmung und das Vorwort in die Mitte des Buches, usw. usw. usw.
Kurz: Sterne baut seine Erzählung nicht auf der Einheit der Handlung auf, dem Prinzip, das automatisch mit dem Begriff des Romans verbunden wird. Der Roman, dieses große Spiel mit erfundenen Personen, ist für ihn die unbegrenzte Freiheit formaler Erfindung.
Zu Laurence Sternes Verteidigung schrieb ein amerikanischer Kritiker: »Tristram Shandy, although it is a comedy, is a serious work, and it is serious throughout.« Du lieber Gott, erklären Sie mir, was eine ernste Komödie ist und welche Komödie es nicht ist? Der zitierte Satz ist ohne Sinn, entlarvt aber aufs Genaueste die Panik, von der die Literaturkritik angesichts von etwas nicht ernst Erscheinendem überwältigt wird.
Dabei, das möchte ich mit allem Nachdruck sagen, nimmt kein Roman, der diesen Namen verdient, die Welt ernst. Was soll das überhaupt heißen, »die Welt ernst nehmen«? Das soll gewiss heißen: an das glauben, was die Welt uns weismachen will. Von Don Quichote bis Ulysses leugnet der Roman das, was die Welt uns weismachen will.
Man könnte mir jedoch entgegenhalten: Ein Roman kann sich weigern, an das zu glauben, was die Welt uns weismachen will, und gleichzeitig den Glauben an seine eigene Wahrheit bewahren; er kann die Welt nicht ernst nehmen, aber selbst ernst sein.
Doch was heißt »ernst sein«? Ernst ist, wer an das glaubt, was er den anderen weismacht.
Genau das trifft auf Tristram Shandy nicht zu; dieses Werk ist, um noch einmal auf den amerikanischen Kritiker zurückzukommen, throughout, ganz und gar unernst; es macht uns nichts weis: weder die Wahrheit seiner Figuren noch die Wahrheit seines Verfassers noch die Wahrheit des Romans als Literaturgattung: Alles wird infrage gestellt, alles wird in Zweifel gezogen, alles ist Spiel, alles ist Unterhaltung (ohne sich dessen zu schämen), und zwar mit allen Konsequenzen, die das für die Romanform mit sich bringt.
Sterne hat die unermesslichen spielerischen Möglichkeiten des Romans entdeckt und so neue Wege für dessen Entwicklung eröffnet. Aber niemand hat seine »Einladung zur Reise« vernommen. Niemand ist ihm gefolgt. Niemand – außer Diderot.
Nur er war empfänglich für diesen Ruf des Neuen. Es wäre daher absurd, deswegen seine Originalität herabzusetzen. Niemand macht sie einem Rousseau, einem Laclos, einem Goethe streitig, nur weil diese (sie und die ganze Entwicklung des Romans) dem Vorbild des naiven alten Richardson viel verdankten. Die Ähnlichkeit zwischen Sterne und Diderot ist deshalb so frappierend, weil ihr gemeinsames Unterfangen in der Geschichte des Romans ganz und gar vereinzelt geblieben ist.
Im Übrigen sind die Unterschiede zwischen Tristram Shandy und Jacques der Fatalist nicht weniger beträchtlich als die Ähnlichkeiten.
Zunächst ist da ein Unterschied im Temperament: Sterne ist langsam; seine Methode ist die Verlangsamung; seine Optik ist das Mikroskop (er versteht es, die Zeit anzuhalten und eine einzige Sekunde des Lebens zu isolieren wie später James Joyce).
Diderot ist schnell; seine Methode ist die Beschleunigung; seine Optik ist das Teleskop (ich kenne keinen faszinierenderen Romananfang als die ersten Seiten von Jacques der Fatalist: der virtuose Wechsel der Register; der Sinn für Rhythmus; das prestissimo der ersten Sätze).
Dann ist da ein Unterschied in der Struktur: Tristram Shandy ist der Monolog eines einzigen Erzählers: Tristram selbst. Sterne folgt minutiös allen Launen seines wunderlichen Denkens.
Bei Diderot erzählen fünf Erzähler, die sich gegenseitig unterbrechen, die Geschichten des Romans: der Verfasser selbst (im Dialog mit seinem Leser); der Herr (im Dialog mit Jacques); Jacques (im Dialog mit seinem Herrn); die Wirtin (im Dialog mit ihren Zuhörern) und der Marquis des Arcis. Das vorherrschende Verfahren all dieser einzelnen Geschichten ist der Dialog (dessen Virtuosität ohnegleichen ist). Mehr noch, die Erzähler erzählen diese Dialoge im Dialog (die Dialoge sind in einen Dialog verschachtelt), sodass das Romanganze nichts als ein unermessliches, laut geführtes Gespräch ist.
Dann ist da noch ein Unterschied im Geist: das Buch des Vikars Sterne ist ein Kompromiss zwischen dem ausschweifenden und dem empfindsamen Geist, eine nostalgische Erinnerung an den Rabelais’schen Frohsinn im prüden Vorzimmer der viktorianischen Zeit.
Diderots Roman ist ein Ausbruch unverschämter Freiheit ohne Selbstzensur, eine Explosion von Erotik ohne das Alibi von Gefühlen.
Schließlich ist da ein Unterschied im Grad der realistischen Illusion: Sterne stellt zwar die Chronologie auf den Kopf, aber die Ereignisse sind fest in Zeit und Ort verankert. Die Figuren sind skurril, aber mit allem versehen, was uns an ihr wirkliches Existieren glauben machen kann.
Diderot erschafft einen in der Geschichte des Romans vor ihm nie gesehenen Raum: eine Bühne ohne Bühnenbild: Woher sind sie gekommen? Man weiß es nicht. Wie heißen sie? Das geht uns nichts an. Wie alt sind sie? Nein, Diderot tut nichts, um uns weiszumachen, seine Figuren existierten wirklich und zu einer bestimmten Zeit. In der Weltgeschichte des Romans ist Jacques der Fatalist die radikalste Verweigerung sowohl der realistischen Illusion als auch der Ästhetik des sogenannten psychologischen Romans.
Das Konzept des reader’s digest ist ein getreuer Spiegel der tiefgründigen Tendenzen unserer Zeit und lässt vermuten, dass die vergangene Kultur eines Tages völlig neu geschrieben und völlig hinter ihrem rewriting verschwunden sein wird. Die Film- und Theateradaptationen der großen Romane sind nichts als reader’s digest sui generis.
Es geht hier nicht darum, die unantastbare Jungfräulichkeit von Kunstwerken zu verteidigen. Natürlich hat auch Shakespeare Werke anderer neu geschrieben. Aber er machte keine Adaptationen; er benutzte ein Werk, um es zum Thema seiner eigenen Variation zu machen, dessen unumschränkter Verfasser er war. Diderot hat Sterne die ganze Geschichte von Jacques entlehnt, der, am Knie verwundet, auf einem Karren transportiert und von einer schönen Frau gepflegt wird. Damit hat er ihn weder imitiert noch adaptiert. Er hat eine Variation zu einem Thema von Sterne geschrieben.
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