Der entführte Westen - Milan Kundera - E-Book

Der entführte Westen E-Book

Milan Kundera

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Beschreibung

Angesichts von Krieg und politischen Zerwürfnissen in Europa sind Milan Kunderas Analysen zur Rolle Mitteleuropas im Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit zum Westen und der Bedrohung durch Russland brandaktuell.Gerade in den mitteleuropäischen Ländern, wo die eigene Sprache, Kultur und nationale Identität dauerhaft bedroht sei, argumentierte Kundera bereits 1983, stehe die westliche Demokratie auf dem Prüfstand. Dort befinde sich die Keimzelle europäischer Werte und möglicherweise der Blitzableiter für die Gefahren, denen sie ausgesetzt sind. In deutlichen Worten prangert Milan Kundera die Vernachlässigung, ja den Ausschluss der Länder im Zentrum Europas an, ihre Unterdrückung durch Russland und die Ignoranz, die der Westen ihnen entgegenbringt. Sein Plädoyer für eine Kehrtwende ist heute wichtiger denn je. Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion zeigen die Schützengräben auf ukrainischem Boden die Kluft zwischen Europa und Russland auf fürchterliche Weise auf. Ein Abgrund, der nicht nur Mitteleuropa bedroht, sondern unseren ganzen Kontinent.

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Seitenzahl: 62

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Milan Kundera

Der entführte Westen

Die Tragödie Mitteleuropas

Aus dem Französischen von Uli Aumüller

Kampa

Die Literatur und die kleinen Nationen

Einführung von Jacques Rupnik

Es gibt Kongresse von Schriftstellern, die wichtiger oder jedenfalls denkwürdiger sind als die Kongresse der Partei. In der kommunistischen Tschechoslowakei folgten die der Partei einer auf den anderen und ähnelten einander. Die Schriftstellerkongresse konnten unvorhersehbar sein und manchmal tiefgehende Veränderungen in der Beziehung zwischen der Macht und der Gesellschaft ankündigen.

Es gibt auch Kongressreden, die eine Epoche prägen und die, wenn man sie heute noch einmal liest, einen besonderen Nachhall haben. Man denke nur an die Anprangerung der Zensur durch Solschenizyn im Mai 1967 in Moskau, die Guy Béart zu einem schönen Chanson inspirierte: »Le poète a dit la vérité, il doit être exécuté …« (dt.: »Der Dichter hat die Wahrheit gesagt, er muss hingerichtet werden …«). Weniger bekannt sind die einen Monat später beim Schriftstellerkongress in Prag gehaltenen erstaunlichen Reden, angefangen bei der von Milan Kundera.

Kundera ist damals ein Bestsellerautor, erfolgreich am Theater mit dem Stück Majitelé klíčů (1962), mit seinen Novellensammlungen Das Buch der lächerlichen Liebe (1963 und 1965) und vor allem mit Der Scherz, 1967, zum Zeitpunkt des Schriftstellerkongresses erschienen, der Roman, der eine Epoche heraufbeschwört und beendet und für tschechische Leser, aber nicht nur für sie, mit dem Prager Frühling von 1968 verbunden bleibt. Kundera lehrt damals an der Filmhochschule (FAMU) und wird eine der herausragenden Figuren einer beispiellosen Blüte des Kulturschaffens von außergewöhnlicher Originalität und Diversität ebenso in der Literatur (Hrabal, Škvorecký, Vaculík …) wie im Theater (Havel, Topol) und vor allem in der »Neuen Welle« des Films (Forman, Passer, Menzel, Nĕmec, Chytilová …). Kundera betrachtet nicht ohne Grund die sechziger Jahre als ein »Goldenes Zeitalter« der tschechischen Kultur, die sich mehr und mehr der ideologischen Zwänge des Regimes entledigt, ohne sich denen des Marktes unterordnen zu müssen. So gesehen beschränkt sich der Prager Frühling nicht auf seine politische Dimension, sondern ist nur als Ergebnis eines Jahrzehnts verständlich, in dem die Schriftstellerzeitschrift Literární noviny eine Auflage von 250000 Exemplaren hat, die alle am ersten Tag ihres Erscheinens verkauft werden; ein Jahrzehnt, in dem die Emanzipation der Kultur den Verfall der politischen Strukturen beschleunigt.

Nachdem die Regierungsmacht die Gefahr erkannt hatte, versuchte sie die Kontrolle zurückzugewinnen, und der Schriftstellerkongress im Juni 1967 wurde die Bühne dieses Kräftemessens zwischen den Schriftstellern und der Macht, dessen Anfänge auf die Franz Kafka gewidmete Liblice-Konferenz 1963 zurückgingen – eine symbolische Beerdigung des »sozialistischen Realismus«. Das Werk des deutsch schreibenden jüdischen Prager Schriftstellers, angefangen bei Der Prozess, war in den Augen der tschechischen Leser vierzig Jahre nach seinem Entstehen Teil eines anderen Realismus, der bei dem Besatzer des Schlosses, dem Partei- und Staatschef Antonín Novotný, eher für Unbehagen sorgte.

Der Schriftstellerkongress von 1967 hatte mehrere Höhepunkte. Zunächst die Rede des Schriftstellers Pavel Kohout, der die antiisraelische Kritik des Sowjetblocks während des Sechstagekriegs kritisierte, ehe er den berühmten Brief Solschenizyns an den Verband sowjetischer Schriftsteller vorlas. Das war zu viel für Jiří Hendrych, den Wächter der ideologischen Orthodoxie im Präsidium des Zentralkomitees der Partei, der den Saal verließ, hinter die Tribüne ging, wo Kundera, Jan Procházka und Arnošt Lustig standen, denen er ein denkwürdiges »Ihr habt alles verloren, absolut alles!« zurief. Am nächsten Tag war es Ludvík Vaculík, Verfasser von Das Beil und Redaktionsmitglied der Literární noviny, der, erbittert über Hendrychs Äußerung, alle Grenzen des mutmaßlich Akzeptablen überschritt, indem er ohne Umschweife die grundlegende Frage ansprach: die Beschlagnahmung der Macht durch »eine Handvoll Leute, die alles entscheiden wollen«, indem er sich die Zensur und sogar die Verfassung vorknöpfte. Der Bruch war vollzogen.

Die politische Geschichte wird die Erinnerung an den offenen Konflikt der Schriftsteller mit der Macht natürlich bewahren; die vorübergehende Niederlage der ersteren im Sommer 1967, dann ihren Sieg (auch er vorübergehend) im Frühling 1968. Die Ideengeschichte wird vor allem die Eröffnungsrede von Milan Kundera in Erinnerung behalten. Wie seine Kollegen nimmt er sich die Zensur vor, spricht das Thema der Kunstfreiheit jedoch über einen anderen Umweg an. Indem er eine historische Perspektive einnimmt, setzt Kundera sich mit der tschechischen Nation auseinander, deren Existenz mit nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) und zwei Jahrhunderten der Germanisierung dezimierten Eliten »nicht selbstverständlich war«, und kam auf die im späten neunzehnten Jahrhundert von dem Schriftsteller Hubert Gordon Schauer formulierte Frage zurück: Lohnten sich die vielen Bemühungen überhaupt, den Tschechen wieder eine Sprache zu geben, die Trägerin einer Hochkultur ist? War es nicht besser, in der damals weiterentwickelten und einflussreicheren deutschen Kultur aufzugehen? Kundera nimmt die Frage beinahe ein Jahrhundert später rhetorisch wieder auf, und seine Antwort lautet: Es wäre nur durch einen eigenständigen Beitrag zur europäischen Kultur und zu den europäischen Werten gerechtfertigt; anders gesagt: das Universelle durch das Partikulare. Die Vitalität der tschechischen Kultur der sechziger Jahre scheint diesen Ehrgeiz oder diese Herausforderung zu rechtfertigen. Bedingung für dieses Aufblühen der Kultur, von dem die Existenz der Nation abhängt, ist nun aber die Freiheit. Das Plädoyer für die Autonomie der Kultur und die geistige Freiheit wird zu einer Kampfansage an die ideologischen Zensoren, die Kundera als »Vandalen« bezeichnet. Die Kultur vom Einfluss der Macht zu befreien erhält offenkundig eine politische Dimension.

Doch in Kunderas 1967 angesprochener Frage schwingt auch etwas erstaunlich Aktuelles mit, indem sie ihre andere Dimension vorwegnimmt: das Los der kleinen Nationen in »den weiten Perspektiven der Integration, die sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eröffneten«.

»Der Integrationsprozess bringt die Gefahr mit sich, alle kleinen Nationen zu verschlucken, die keine andere Verteidigung haben als die Kraft ihrer Kultur, die Persönlichkeit und die unnachahmlichen Merkmale ihres Beitrags.«[1] »Dem gewaltlosen Druck dieses Integrationsprozesses im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert standzuhalten« könnte sich als viel schwerer erweisen, als es einst der Widerstand gegen die Germanisierung war.

So setzen sich Kunderas Analysen der spezifischen Besonderheiten des Ortes der tschechischen Kultur in seinen Überlegungen zum Los der kleinen Nationen in Mitteleuropa fort und nehmen in einigen Aspekten ihr Dilemma in einem sich globalisierenden Europa vorweg. Das ist auch die Verbindung zwischen Kunderas Rede beim Schriftstellerkongress von 1967 und dem 1983 in Le Débat erschienenen Essay »Der entführte Westen oder die Tragödie Mitteleuropas«.

Die Literatur und die kleinen Nationen

Rede auf dem tschechoslowakischen Schriftstellerkongress 1967

Liebe Freunde, auch wenn keine Nation seit Urzeiten auf dem Planet Erde lebt und sogar der Begriff Nation an sich relativ modern ist, empfinden die meisten Nationen ihre Existenz als eine Selbstverständlichkeit, als ein Geschenk Gottes oder der Natur, das ihnen von alters her zuteilwurde. Die Völker mögen ihre Kultur, ihr politisches System und sogar ihre Grenzen als ihr eigenes Werk ansehen, das folglich die Quelle von Infragestellungen oder Problemen sein kann, wohingegen sie ihre nationale Existenz als Volk als unhinterfragbare Gegebenheit betrachten. Die wenig glückliche und zerrissene Geschichte der tschechischen Nation, die durch das Vorzimmer des Todes gegangen ist, hat es uns erlaubt, nicht solch einer trügerischen Illusion zu erliegen. Die Existenz der tschechischen Nation wurde nie als Selbstverständlichkeit empfunden, und gerade diese Nicht-Selbstverständlichkeit ist eines ihrer wesentlichen Merkmale.