Das Dimensionstor: Ein Portal in andere fantastische Welten und Zeiten - T. S. Orgel - E-Book

Das Dimensionstor: Ein Portal in andere fantastische Welten und Zeiten E-Book

T. S. Orgel

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Beschreibung

Dem Wissenschaftler Prof. Dr. Groll gelingt es, von der Öffentlichkeit unbemerkt in seiner heimischen Garage ein Gerät zu bauen,welches ein Dimensionsportal öffnet. Fasziniert ergreift Max Groll einen Gegenstand nach dem anderen und schickt ihn durch das Tor, das zu fernen Orten,in andere Zeiten und sogar in phantastische fremde Welten führt … 18 Autoren– darunter Gerd Scherm, Ju Honisch, T.S.Orgel und Vincent Voss – erzählen in skurrilen, abenteuerlichen und aberwitzigen Geschichten, was diese Dinge in der jeweiligen Parallelwelt auslösen: Als göttliches Artefakt verehrt, als Auslöser von Katastrophen gefürchtet oder als Retter in großer Not willkommen … Der Leser darf gespannt sein, welche Bedeutung unscheinbare Gegenstände aus unserem Alltag in anderen Welten erlangen. Mit spannenden Kurzgeschichten von Gerd Scherm, T. S. Orgel, Vincent Voss, Ju Honisch, Melanie Vogltanz, Robert Friedrich von Cube, Manuela P. Forst, Thomas Heidemann, Brigitta Gronau, Marion Jaggi, Günther Kienle, Navina Kleemann, Al Rey, Nicola Sadelkow, Juliane Schiesel, Günther Wirtz. Herausgegeben von Nadine Muriel und Stefan Cernohuby.

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Das Dimensionstor

Ein Portal in andere fantastische Welten und Zeiten

Herausgeber: Nadine Muriel und Stefan Cernohuby

Eine Geschichtenweber-Anthologie

© 2017 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

© der Kurzgeschichten bei den jeweiligen Autoren

ISBN – 978-95869-559-7

Cover- und Umschlaggestaltung:

Arndt Drechlser

Lektorat: Nadine Muriel

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie unsere Webseite:

http://amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind im Internet unter

http://dnb.d-nb.de abrufbar

Inhaltsverzeichnis

Dimensionen – Stefan Cernohuby

Die göttliche Botschaft – Gerd Scherm

Die unbezwingbaren Höhen – Thomas Heidemann

Zeigt Zähne – Marion Jaggi

Kollaps – Juliane Schiesel

Fucking Pills – Nicola Sadelkov

Spencer Clarke in den Fängen des Schwarzen Schattens – Robert Friedrich von Cube

Worte, die vom Himmel fielen von Manuela P. Forst

Das Schwein der Vorsehung – Teil I von T. S. Orgel

Zwischen den Dimensionen – Nadine Muriel

Das Schwein der Vorsehung – Teil II – T. S. Orgel

Salz und Pfeffer – Al Rey

Zeitflug – Brigitta Gronau

Das Gesetz – Günter Wirtz

TTBdB - Tischtennisball des Bösen – Vincent Voss

Das magische Auge – Günther Kienle

Die Gläubigen – Ju Honisch

Aposinthesis – Navina Kleemann

PET – Melanie Vogltanz

Dimensionssprung – Nadine Muriel und Stefan Cernohuby

Lebensläufe

Dimensionen

von Stefan Cernohuby

11.04. 2006

Eigentlich war es paradox. Maximilian Groll, seit heute offiziell Doktor der theoretischen Physik, grinste. Er konnte nicht tanzen, befand sich aber auf der Tanzfläche einer Party und tanzte zu einem Lied mit dem Titel »I don’t feel like dancing«.

Wäre er nicht so betrunken, hätte er vermutlich laut gelacht. Stattdessen konzentrierte er sich lieber darauf, auf den Beinen zu bleiben und dem Rhythmus zu folgen. Beides war nicht leicht, denn weder hatte er in den letzten Jahren besonders viele soziale Events besucht noch hatte er sich mit den passenden Bewegungen zur entsprechenden Rhythmik beschäftigt. Doch der Elektronenübergang auf ein höheres Energieniveau beflügelte ihn - genauer, seine Promovierung. Endlich hatte er das Gefühl, dazuzugehören. Und heute hatte man sich nicht über ihn lustig gemacht. Zumindest bis jetzt nicht.

In einem Smoking, frisch rasiert und mit Kontaktlinsen machte er sogar etwas her, wie er vor Beginn der Party selbst überrascht festgestellt hatte. Natürlich würde er die Kontaktlinsen bereuen, denn er vertrug sie nie länger als ein paar Stunden. Aber mit einer ausreichenden Menge Alkohol ...

Das Lied endete und er taumelte von der Tanzfläche an die nächste Bar, zwängte sich zwischen zwei andere Gäste und bestellte einen Mojito. Er schnappte sich den Cocktail, den ihm der Barkeeper reichte, und trank immer wieder einen Schluck durch den Strohhalm, während er in Richtung des großen Balkons schlenderte – oder besser gesagt, leicht torkelte. An der frischen Luft klang sein Hochgefühl nicht ab. Er lehnte sich gegen die Brüstung, betrachtete den klaren Sternenhimmel und nahm einen tiefen Atemzug.

Ja, das war endlich einmal ein Moment von grandioser Einzigartigkeit, den er in allen Dimensionen auskosten konnte.

»Höhe, Breite und Tiefe werden kein Problem sein. Aber die vierte Dimension bedeutet für einen Moment nur ein sehr kurzes Vergnügen«, ertönte plötzlich eine Frauenstimme direkt neben ihm.

Im Normalfall wäre Maximilian zusammengezuckt. Allerdings war er heute in einem so illuminierten Zustand, dass er fast schon elegant herumschwenkte und lächelte.

Kurz wurde ihm klar, dass er einen inneren Monolog offenbar laut ausgesprochen hatte und er vermutlich seinen weiteren Konsum ethanolhaltiger Getränke einschränken sollte. Doch dieser Gedanke wurde sogleich vom Anblick der Dame weggespült.

Da stand sie, etwas kleiner als er, blondhaarig, mit einem körperbetonten schwarzen Kleid sowie der passenden Figur und in einer Liga angesiedelt, an die er bei Frauen nicht einmal zu denken wagte.

»Konventionell betrachtet haben Sie sicher Recht, werte Dame. Aber in der Quantenmechanik kommt man immerhin auf elf Dimensionen. Und ich habe vor, jede einzelne von ihnen zu genießen.«

Er schnappte sich ihre Hand und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken.

Die gleiche Stimme wie vorher, die gleiche Stimme wie immer, fragte ihn, ob er nun völlig übergeschnappt war, aber er beschloss, sie an diesem Abend einfach zu ignorieren.

»Maximilian Groll, seit heute Doktor der theoretischen Physik, ganz zu Ihren Diensten – für Gespräche über Theorien aller Art und zur Umsetzung der Praxis.«

Oh Gott, selbst wenn auch der nur eine unbewiesene theologische Theorie war, was redete er da?

Ungeachtet des Unsinns lachte die Frau auf.

»Und ich dachte, ihr Physiker wärt alle nur langweilige, spießige Gesellen, die höchstens einmal im Jahr aus ihren Labors kommen.« Etwas, das auf Max im Grunde durchaus zutraf.

Sie machte einen Knicks.

»Nadina Meerglanz ist mein Name. Ich bin Autorin und Journalistin und recherchiere für ein Buch. Und ich werde Sie nicht zu schlecht wegkommen lassen. Max Groll will man sicher nicht gegen sich aufbringen.«

Sie lachte und Max stimmte mit ein, auch wenn der Scherz auf seine Kosten ging.

»Freut mich.« Max feixte. »Und das ist gut so, sonst würde ich die Quantenstringtheorie nutzen, um Tore in die Realität zu reißen und Sie in meinem Groll in selbigen verschwinden zu lassen. Sie können mich aber auch einfach Max nennen.«

»Gern, Max.«

Meine Güte, sie lächelte immer noch. Dabei war sein letztes Gespräch mit einer Frau zwei Monate her. Die Putzfrau hatte ihn gefragt, ob sie seine Kaffeetasse abräumen konnte. Er hatte mit »Ja« geantwortet.

Sie spielte mit einer Haarsträhne. Hinreißend. Und sein Mund redete einfach weiter.

»Das hier ist eigentlich eine geschlossene Feier, Nadina. Wie sind Sie denn hineingekommen?«

»Gut beobachtet. Es ist ganz einfach. Der Organisator ist ein guter Bekannter von mir. Er hält nach vielversprechenden Talenten aus der Forschung Ausschau, in die er den Jahresüberschuss des Budgets seines Institutes investieren kann.«

Max lachte. Was für ein Tag, auch wenn er sich am nächsten Morgen vermutlich an die Hälfte davon nicht mehr erinnern würde!

»Das heißt also, wenn ich ihm meine Idee verkaufe, wie ich durch eine Öffnung der höheren Quantendimensionen mittels Nutzung der Van-Der-Waals-Kräfte für Energie- und Impulsaustausch ein Portal in eine andere Dimension erschaffe, habe ich gute Chancen, die fünf Jahre Forschungsprojekt, die ich brauche, finanziert zu bekommen?«

Kompletter Schwachsinn, den er da redete. Aber es klang zumindest gut.

Eine völlig andere Stimme, weit männlicher als die seiner bisherigen Gesprächspartnerin, antwortete: »Ja, das klingt, als hätten sie bereits einen Fuß in der Tür.«

03.05. 2010

Am Anfang war alles so einfach gegangen. Mit Gottfried Pöll zuerst. Im Gespräch mit ihm hatte Groll nach dem ersten Stutzen festgestellt, dass seine eigene Idee eigentlich gar nicht so abwegig war. Nur hatte bisher noch niemand einen derartigen Ansatz verfolgt. Sein unermüdliches alkoholisiertes Mundwerk hatte derweil einfach weitergeredet und noch am selben Abend hatte er einen Vertrag unterschrieben.

Und Nadina ... Das war noch weit besser gewesen. Zumindest für einige Zeit. Aber nicht heute.

Meine Güte, es war nur ein Geburtstag! Es war ja nicht so, als hätte er es absichtlich getan. Aber manchmal war er, mittlerweile Professor Doktor Maximilian Groll, etwas zerstreut, so wie eben alle Wissenschaftler. Zudem wurde er dieses Jahr bereits vierzig, im Gegensatz zu seiner Frau, welche gerade erst Mitte dreißig geworden war – und das eben heute.

Was er vergessen hatte.

Weil er sich auf Termine mit Investoren, der Presse und einigen Laboranten vorbereitet hatte, die dummerweise genau auf denselben Tag gefallen waren. Und jetzt war Nadina weg. Sie hatte ein Flugzeug genommen und war wieder einmal zu ihrer Mutter geflogen. Groll verstand ihren Groll ja auf einer gewissen Ebene. Aber dass sie das so persönlich nahm!

Ja, der schneidige, visionäre und sehr betrunkene Physiker, den sie in jener denkwürdigen Nacht kennengelernt und den sie nach seinem Gespräch mit dem Investor Pöll auf ihr Hotelzimmer mitgenommen hatte, war im Lauf der Jahre zu einem ernsthaften und eher gewöhnlichen als stets schlagfertigen Mann geworden. Sie hatte ihn trotzdem geheiratet und war bei ihm geblieben.

Jetzt kamen gleich mehrere potenzielle Katastrophen auf ihn zu. Die Geldgeber, die er wegen des Ausbleibens erster Durchbrüche weiter vertrösten musste, wobei die Herausforderung darin bestand, gleichzeitig überzeugend um weitere Unterstützungen zu betteln. Zum Glück liebte er die Phantastik beinahe genauso sehr wie die Wissenschaft, daher konnte er ihnen in blumigen Bildern von fremden Welten vorschwärmen, die jenseits ihrer Vorstellungskraft lagen, um sie bei der Stange zu halten.

Dann sollte er vor Journalisten Fortschritte präsentieren und im Anschluss daran die neuen Laboranten durch die Anlage führen. Man hoffte, dass vielleicht einer von ihnen talentiert und vertrauenswürdig genug sein würde, um ihnen bei den Forschungen weiterzuhelfen und gleichzeitig die Projektdetails geheim zu halten.

Konnte der heutige Tag noch schlimmer werden?

»Das kann ja gar nicht funktionieren!«

Perplex drehte sich Max um, um den Sprecher zu identifizieren. Es war einer der Laboranten, denen sie die Forschungseinrichtung gezeigt hatten. Nein, eine Laborantin. Ein junger Mann schien ihr beschwichtigend ins Ohr flüstern zu wollen, doch die groß gewachsene, schlanke blonde Dame trat einen Schritt von ihm fort.

»Nein, wirklich nicht! Die Herleitung des Massekoeffizienten ist komplett falsch. Das würde nur dann hinhauen, wenn man die Gravitation aus der Gleichung herausnehmen könnte, was auf der Erde aber nicht möglich ist. Ergo ist klar, dass die Versuche keine Ergebnisse liefern.«

Max schluckte. Das Schlimmste war, Frau Naseweis hatte recht. Bisher hatte das allerdings noch keiner seiner Kollegen bemerkt. Jetzt konnte er geradezu sehen, wie sie die Ohren spitzten und den speziellen Teil der abgebildeten Formel näher in Augenschein nahmen.

Er hatte sich geirrt. Schlimmer ging immer.

31.09. 2016

Es zischte, als sich die Luftschleuse öffnete und den Eingang freigab – ins Labor oder die Garage, wie man es sehen wollte. Von außen wirkte das Gebäude wie eine typischer Garagenabau mit einem genauso typischen automatischen Tor in einer durchschnittlichen Vorstadtgegend, mit der obligatorischen hohen Hecke. Allerdings besaß der Eigentümer des Hauses, Professor Doktor Maximilian Groll, gar keinen Wagen mehr. Er brauchte ihn nicht.

Nachdem ein Quietschen ertönte, betrat Doktor Groll sein Refugium, aber nicht ohne der Tür vorher einen Tritt zu verpassen. Dies löste den verklemmten Mechanismus und die Schleuse schloss sich wieder.

Max Groll seufzte und drehte sich wieder um. Sogleich erblickte er sich selbst in dem mannsgroßen Spiegel, der achtlos an die Wand gelehnt war. Er war wahrlich keine besonders eindrucksvolle Erscheinung mehr. Vermutlich war das mit ein Grund dafür, dass man ihn immer weniger ernst nahm. Er war mittlerweile übergewichtig, trug eine dicke Brille und hatte wirres weißes Haar, obwohl er gerade einmal 46 Jahre alt war. Seine Frisur hätte ihm einen gewissen »Doc Brown«-Flair verliehen, wenn da nicht seine immer größer werdende Glatze gewesen wäre.

Er wandte sich verstimmt ab. Irgendwann würde er diesen Spiegel entsorgen, genauso wie die danebenstehende Box mit Krimskrams. Bislang hatte er es nie übers Herz gebracht, ihren Inhalt wegzuwerfen, da es sich größtenteils um Erinnerungsstücke aus seinem ehemaligen Elternhaus handelte. Also hatte er sie zusammen mit dem Spiegel, der zwar wertvoll, aber viel zu wuchtig für seine Räumlichkeiten war, im Labor untergebracht – am gleichen Ort, an dem sich all die Geräte befanden, die er während seiner Zeit im Institut hatte verschwinden lassen.

Vier Jahre. So lange hatte er an seinem Projekt forschen können, mit genügend Geldmitteln und unter strengster Geheimhaltung. Sein Institut hatte zusätzliche Sponsoren aus der Privatwirtschaft für sich gewonnen, die lange Zeit davon überzeugt gewesen waren, dass seine Idee umsetzbar wäre. Und natürlich hatten sie sich durch seine fantastischen Erzählungen von möglichen anderen Welten gewaltige Gewinne erhofft.

In der Theorie hatten seine Berechnungen auch wunderbare Ergebnisse geliefert. Seine Maschine benötigte weder leicht spaltbares Material noch eine große Gravitationsquelle und schon gar keine überlichtschnellen Teilchen.

Die Basis seiner Arbeit war der Grundgedanke, die elf Dimensionen, die in den verschiedenen Superstringtheorien nur theoretisch existierten, durch den gezielten Einsatz subatomar wirkender Kräfte zu entfalten. Durch eine Umkehrung der London’schen Dispersionswirkung und mithilfe der richtigen Resonanzfrequenz des umgebenden elektromagnetischen Feldes sollte man auf subatomarer Ebene Durchbrüche zwischen den Dimensionen erzeugen können. Eben ein Dimensionsportal – ein Tor in eine andere Welt –, so hatte er es damals unwissenschaftlich beworben. Damit hatte er Institutsleiter und Geldgeber immer wieder begeistert, obwohl diese keinen blassen Schimmer hatten, was die zugrundeliegenden Theorien im Detail eigentlich bedeuteten. Alles war erstaunlich gut gelaufen, bis diese neunmalkluge Laborantin Stefanie Gasweber aufgetaucht war und den Hauptfehler in der Herleitung des Massekoeffizienten gefunden hatte.

Jener Tag vor über sechs Jahren war wirklich der schwärzeste Tag seines Lebens geworden. Denn hier hatte der die Talfahrt begonnen. Kurz darauf hatte er seinen Job verloren.

Nicht wegen des Fehlers. Man hatte ihn gefeuert, als klar wurde, dass er von dem Fehler im Konzept gewusst hatte. Denn natürlich war die Argumentation der jungen Frau Gasweber absolut schlüssig und einleuchtend gewesen. Darum musste er eingestehen, dass ihm die Problematik bekannt war und er daran arbeitete.

Insgeheim hatte Groll schon immer geahnt, dass dieser Moment kommen würde. Gewiss, die Schafsköpfe von Investoren mochten sich leicht mit ein paar wüsten Geschichten von unbekannten, fremden Welten abspeisen lassen. Aber dass er sein versiertes Forscherteam so lange täuschen konnte, hatte ihn selbst gewundert. Wie oft hatte er sich nachts schlaflos im Bett gewälzt und in seiner Vorstellung wieder und wieder durchlebt, dass man ihn wegen des Fehlers zur Rede stellte! Seine beständigen Grübeleien hatten ihn gereizt und mürrisch werden lassen, ihm alle Unternehmungen mit Nadina vergällt – besonders die Treffen mit jenen Autoren, die sich mit Science-Fiction und Fantasywelten beschäftigten. Was sollte er tun, wenn man ihn entließ, sein Projekt auf Eis legte? Der Gedanke, dass dann seine gesamte Forschung vergebens, sein Lebenswerk vernichtet war, war ihm unerträglich. Also hatte er vorgesorgt, indem er die grundlegende Laborausstattung über die Jahre sukzessive in seine Garage verschwinden ließ.

So ungern es sich Groll auch eingestand, im Nachhinein musste er zugeben, dass er fast schon erleichtert gewesen war, als sein Schwindel aufflog und die beständige Heimlichtuerei endlich vorbei war. Durch zwei Patente, die auf ihn liefen, verdiente er genug, um seine Forschungen weiter zu betreiben. Lediglich die Demütigung, dass ausgerechnet eine einfache Laborantin seine Lügen aufgedeckt hatte, schmerzte immer noch. Und mindestens ebenso unerfreulich war, dass seine Frau ihn dennoch verlassen hatte, für einen ihrer Autorenkollegen. Grolls ständige »Bastlerei« in der Garage sei unerträglich, hatte sie ihm zum Abschied entgegengeschleudert. Bastlerei, so ein Quatsch! Sie hatte mit Sicherheit gewusst, dass er als Wissenschaftler nicht einfach nur stupide vor sich hin bastelte, sondern ernsthafte Forschung betrieb - auch wenn er im Gegensatz zu ihr nicht ständig über aktuelle Projekte schwafelte. Insbesondere in diesem Fall war es ihm sicherer erschienen, nicht zu verraten, womit er sich Tag für Tag beschäftigte.

Max Groll trat an die Steuereinheit und betätigte den Hauptschalter. Mit einem Schnalzen wurden die drei großen Scheinwerfer, die auf das Herz seiner Anlage gerichtet waren, aktiviert. Die Hyperkondensatoren wurden geladen – sie bildeten die Buffer – und die Hochleistungscomputer setzten das System in den Ausgangszustand.

Als Versorgung hatte er die unterirdische Hochspannungsleitung angezapft. Darauf würde so schnell niemand kommen. Und doch machte es keinerlei Sinn, einen Versuchsaufbau durchlaufen zu lassen, ohne die richtigen Konfigurationsparamter gewählt zu haben. Daher musste er einmal mehr seine Berechnungen einer genauen Betrachtung unterziehen.

Grolls Schläfen pochten schmerzhaft, als er die unterschiedlichen Ebenen der Gleichungen durchging. Er war nie ein großer Mathematiker gewesen, daher war er selbst überrascht gewesen, als er die beiden grundlegenden Theorien in eine Formel überführte und das große Ganze eine geradezu elegante Lösung ergab. Leider mit einigen Schwachstellen, die letztendlich zu seiner Entlassung geführt hatten.

Mittlerweile hatte er jedoch genügend Zeit gehabt, um die Probleme einzeln anzugehen.

Selbst die Herausforderung mit der Renormierung der Gravitation hatte er gemeistert, indem er den Versuchsaufbau mit Hilfe eines gegengerichteten Magnetfelds abschirmte und die Gravitation so aus der Gleichung nahm, wie es auch Frau Gasweber – mittlerweile selbst Wissenschaftlerin – vorausgesetzt hatte. Er hatte trotzdem noch keinen Durchbruch erzielt.

Einmal hatte er bereits ernsthaft überlegt, Stephen Hawking eine E-Mail zu schreiben. Vielleicht hätte das Genie eine Idee, woran es lag, dass seine Theorie sich in der Praxis nicht umsetzen ließ. Aber dann dachte er daran, dass seine Forschungen danach auf dem einen oder anderen Weg an die Öffentlichkeit dringen würden. Das wollte er verhindern.

Zum bestimmt hundertsten Mal ging er durch die Berechnungen. Schon längst hatte er die Hoffnung aufgegeben, dabei nochmals einen Fehler zu entdecken. Er hatte bisher zwei einfache Unzulänglichkeiten in Transformationen gefunden und jedes Mal gedacht, damit endlich das Grundproblem eliminiert zu haben. Doch das war es nicht gewesen.

Beinahe gelangweilt fuhr er die Gleichung Zeile für Zeile entlang. Die imaginäre Zahl i zur vierten Potenz war -1 und ...

Max Groll stoppte. Nein, war sie nicht. Zwei negative Vorzeichen ergaben ein positives. Also wurde die Energiemenge des drehenden Feldes nicht subtrahiert, sondern addiert.

Sein Mund blieb offen stehen. Das konnte nicht sein. Nicht ein einfacher Vorzeichenfehler! Ein Anfängerfehler, der selbst einem Studenten im ersten Semester nicht unterlaufen wäre.

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und überprüfte die Berechnung noch einmal. Es blieb dabei. Fehler blieb Fehler.

So oft war er diesen Teil der Formel schon durchgegangen und jedes Mal hatte er das übersehen.

Er ging zu seinem Computerterminal und gab die neuen Ausgangsparameter für die Berechnung ein, jedoch ohne großen Enthusiasmus. Wenn ihm ein Fehler wie dieser unterlief, konnte das bedeuten, dass andere Teile seiner Formel ebenfalls nicht stimmten. Oder dass die ganze zugrundeliegende Theorie einfach nur alkoholinduzierter Schwachsinn war.

Mit einem wütenden Druck auf die Eingabetaste bestätigte er die neue Konfiguration, dann trat er wieder zu seinem Steuerpult und betrachtete den Hauptschalter grimmig. Vielleicht sollte er das ganze abblasen.

Vielleicht sollte er sich öffentlich für seine Verfehlungen entschuldigen.

Vielleicht sollte er seine Exfrau anrufen und ihr sagen, dass es ihm leidtat.

Vielleicht sollte er die Wissenschaft aufgeben ...

Nein, das würde er nicht, verdammt!

So kraftvoll hieb er auf den Startknopf, dass sogar die Plastikabdeckung splitterte.

Verdammt. Schon wieder hatte er etwas kaputt gemacht. Er würde ...

Ein Summen ertönte, als sich in der Mitte des Raums ein Feld aufbaute. Er schlug sich gegen die Stirn. Oh nein, er hatte komplett vergessen, die Polarität der beiden Hyperkondensatoren umzukehren. Durch die Änderung des Vorzeichens in der Gleichung würde es definitiv zu Energiefluktuationen kommen, die ...

Er unterbrach seine eigenen Gedanken, als er den flackernden Umriss sah, der sich mitten im Raum gebildet hatte, direkt im Zentrum der Abschirmung. Er war mannsgroß und kreisrund.

Vorsichtig ging er darauf zu. Er fühlte keinen Sog, keinen Energieausstoß.

Also hatte er zumindest kein Schwarzes Loch geschaffen. Seine Kollegen im C.E.R.N. konnten beruhigt sein.

Es war ein Energiefeld. War es das gewünschte Tor? Möglich.

Plötzlich hörte er ein Knistern. Das Feld fluktuierte, änderte die Farbe.

Ja, die Koppelkondensatoren.

Sein Blick fiel wieder auf die Energiebarriere. Gab es eine andere Seite? Wenn ja, was verbarg sich dort? Ein Planet aus Eis oder eine Welt der lebenden Toten? Vielleicht auch ein Weg in die Zukunft!

Konnte man gefahrlos einen Gegenstand das mögliche Portal durchqueren lassen?

Er grinste. Er selbst entschied, was für den Versuchsablauf zulässig war und was nicht. Daher konnte er sich jegliches Experiment erlauben, mit dem er selbst einverstanden war. Und in diesem Fall war es einfach.

Er wandte sich zu seinem Schreibtisch um, zog etwas aus dem Ablagestapel für den Papiercontainer, trat bis kurz vor das Kraftfeld und warf die Seiten einfach hindurch.

Ohne jeglichen Widerstand verschwenden sie im Portal. Wo waren sie gelandet? Vielleicht nirgendwo. Vielleicht aber in einer anderen Welt.

Plötzlich musste er sich setzen. Unsanft landete er auf seinem Allerwertesten.

Sein Versuch war gelungen, seine Theorie bewiesen. Er hatte es geschafft, ein Tor in der Realität zu öffnen, das woanders hinführte.

Ein Tor in andere Welten.

Ein Dimensionsportal.

Sein Jubelschrei drang trotz der dichten Isolierung des Garagenlabors bis nach draußen.

Dann atmete er tief durch und brachte seine Euphorie mühsam wieder unter Kontrolle.

Er musste herausfinden, wie das Tor reagierte und wie es auf der anderen Seite aussah. Sein Blick schweifte durch den Raum. Unnötiger Kleinkram hatte sich im Laufe der letzten Jahre zur Genüge angesammelt, in der Kiste mit Erinnerungsstücken ebenso wie auf den Regalen und Ablageflächen. Voller Begeisterung nahm er den nächsten Gegenstand zur Hand ...

Die göttliche Botschaft

von Gerd Scherm

Agla und sein Assistent Harlan erschraken. Mitten in ihrem geheimen Laboratorium öffnete sich ein flimmerndes Tor. Es war wohl so breit wie ein Mann hoch und knisterte. Außerdem roch es verbrannt. Die merkwürdige Erscheinung steckte fast augenblicklich ein Regal mit Schriftrollen in Brand, das Harlan verzweifelt zu löschen versuchte. Der dadurch entstehende Wasserdampf vernebelte den Raum mehr und mehr, weshalb der Alchimist Agla erst spät die Schlange erblickte. Das Tier wand sich zuckend aus dem Tor und ragte bereits gut fünf Fuß heraus. Entschlossen griff er zu der kleinen Axt, mit der sie die Späne zum Entzünden des Kamins hackten, und hieb auf das Reptil ein. Umgehend hörte es auf, sich zu bewegen. Dafür flog etwas durch die Luft. Es kam aus dem Tor, welches kurz darauf genauso unvermittelt verschwand, wie es gekommen war. Harlan hatte inzwischen das Feuer gelöscht. Die beiden Männer schauten einander verwundert und fragend an. Was war eigentlich gerade geschehen? Hatte sich der Schlund der Hölle geöffnet?

Agla, der Kleriker, war ein extrem vorsichtiger Mann. Seine Oberen erachteten Alchimie als Dämonenwerk und seine Karriere wäre schnell beendet, wenn man seine geheime Leidenschaft entdeckte. Tatsächlich interessierte den Priester Gold mehr als Gott und sein ganzes Streben galt der Herstellung des edlen Metalls aus unedlen Stoffen, egal ob aus Blei, taubem Gestein oder Knochen. Selbst mit Blut hatte er schon den Versuch der Transmutation, der Umwandlung, gemacht. Doch leider waren alle seine Experimente erfolglos geblieben.

Neugierig wandte sich Agla den Überresten der Schlange zu. Ihre Haut schien metallisch, das Innere wirkte knorpelig und zeigte keine Anzeichen von Muskeln, Adern oder Eingeweiden. Mit einer Greifzange sammelte er die einzelnen Teile auf und legte sie in verschiedene Glasbehälter, die er sorgfältig verschloss. Vielleicht war das fremde dämonische Tier in der Lage, sich aus seinen Einzelteilen zu regenerieren.

Harlan kümmerte sich um das angesengte Regal sowie die angekohlten und teilweise verbrannten Schriftrollen. Es waren alte Rezepte für Tinkturen und Salben für unterschiedlichste Anwendungen, also eher ein Nebengebiet der alchimistischen Tätigkeit des Priesters. Als er den Fußboden fegte, fiel sein Blick auf etwas, das fast zur Gänze unter dem Regal lag. Aglas Adlatus bückte sich und hob den Gegenstand auf. Es handelte sich um ein Heft aus glänzendem Werkstoff. Die Seiten waren übersät mit bunten Bildern und fremdartigen Schriftzeichen. Aufgeregt ging er zu seinem Herrn und hielt ihm den Fund unter die Nase.

Agla blätterte die Seiten durch. Noch einmal und noch einmal. Es waren zwölf Seiten. Auf dem Titelblatt prangte groß das Bild eines Meeresstrands, der sich vor einer üppigen Vegetation erstreckte. Die inneren zehn Seiten zeigten jeweils drei Bilder, manche mit schwarzen, manche mit silbernen Rahmen. Auf der Rückseite waren völlig fremdartige Gegenstände und ebensolche Schriftzeichen abgebildet.

Nach einer Weile sagte Agla: »Dies ist eine göttliche Botschaft.«

»Meister, wie meinst du das?«

»Nun, das ist doch logisch. Ein Tor aus Energie hat sich in diesem Raum geöffnet. Eine Schlange ist ihm entschlüpft und eine Schrift kam geflogen. Eine fliegende Schrift! Das kann nur eine heilige Botschaft sein. Ein Gott hat uns ein Zeichen gesandt!

Wir erleben die Geburt einer neuen Religion. Wir sind die Verkünder von etwas ungeheuer Großem. Lass mich überlegen, wie ich das alles ansprechend formulieren und den Menschen offenbaren kann. Glaub mir, mein treuer Weggefährte, es gibt mehr als eine Art, Gold zu machen.«

***

Alle Reichen und Mächtigen, alle Gläubigen und Neugierigen strömten in die Hauptstadt. Dazu Händler und Bettler, Kranke und Quacksalber, Weise und Gaukler, also im Prinzip jeder, der nicht ans Bett gefesselt war oder im Kerker schmachtete.

Das zehnjährige Jubiläum der Erscheinung der Fliegenden Schrift stand bevor und dies sollte ebenso würdevoll wie ausgiebig gefeiert werden. Auf dem Platz vor dem großen Tempel bot ein Dorf aus Holz und Tuch den Besuchern Köstlichkeiten und Sonderlichkeiten, Heiliges und Profanes. Viele Stände offerierten Bildwerke mit mehr oder weniger schlecht gemalten Kopien aus der Fliegenden Schrift. Bilder von exotischen Landschaften, von fremdartigen Städten, von merkwürdigen Gegenständen, von Menschen in seltsamer Kleidung bei unverständlichen Tätigkeiten, kurz: Bilder aus einer anderen, jenseitigen, vergangenen oder zukünftigen Welt.

Höhepunkt der Festlichkeiten sollte die Predigt von Bischof Agla sein. Aus allen Richtungen wogten die Massen in den Tempel, der bald zur Gänze gefüllt war. Wer keinen Platz mehr gefunden hatte, gesellte sich zu all den anderen auf dem Vorplatz und hoffte, wenigstens hier den einen oder anderen Satz mitzubekommen. Manche verabredeten sogar Flüsterketten, um ja kein Wort des Bischofs zu verpassen.

Agla inszenierte seinen großen Auftritt gekonnt. Eine Musikgruppe trat auf, deren Instrumente einer Abbildung aus der Fliegenden Schrift nachempfunden waren. Findige Handwerker hatten die heiligen Bilder wieder und wieder studiert und danach Instrumente gebaut. Wobei der Klang nur vermutet werden konnte. Doch egal, ob sie den Tönen der Instrumente in der Schrift nahekamen oder nicht, die neuen Trompeten, Flöten, Lauten und Leiern hatten die Musik des Reiches und sogar der Nachbarländer binnen zehn Jahren enorm verändert. Gebannt lauschte das Publikum den exotischen Klängen.

Nach einer dramatisch-bombastischen Melodie betrat Agla gemessenen Schrittes und betont langsam ein Holzpodest, das eigens für den heutigen Tag neben dem Altar errichtet worden war. Der Bischof trug ein mit Goldfäden handbesticktes Gewand, das zwei Nonnen in jahrelanger Arbeit gefertigt hatten. Auf seinem Kopf prangte ein Hörnerhelm, dessen Vorlage ebenfalls aus der Fliegenden Schrift stammte. Allerdings hatte er in freier Auslegung des heiligen Bildes noch eine erkleckliche Anzahl an Edelsteinen darauf applizieren lassen.

Agla ließ seinen Blick über die schier endlose Menge gleiten. Dann räusperte er sich. Durch die hervorragende Akustik des Tempels hörte man dies noch auf der gegenüberliegenden Seite des riesigen Raumes. Dann begann er seine Predigt, die in die Geschichte des Reiches eingehen sollte: »Liebe Gläubige! Genau zehn Jahre liegt nun die Stunde der Gnade zurück. Zehn Jahre, in denen unser Land durch einen Akt der Vorsehung zum bedeutendsten der Erde wurde. Heute sind wir das Zentrum des Glaubens, hier schlägt das Herz der Prophezeiung. Pilger aus aller Welt - ja, seht euch nur um - strömen zu uns, und nicht nur heute zu diesem Fest. Die Gelehrten aus aller Herren Länder kommen zu uns, die Erleuchtung zu erlangen. Überall im Erdkreis kennt man die Abschriften der Fliegenden Schrift, verehrt sie und lebt nach ihren Visionen. Doch nur wir sind im Besitz des Originals. Seht! In diesem Schrein bewahren wir die heilige Reliquie.«

Mit einer weit ausholenden Bewegung deutete Agla auf einen prächtigen goldenen Schrein. Hinter geschliffenem Bergkristall schimmerte darin die Fliegende Schrift.

»Dieses himmlische Geschenk hat unser aller Leben verändert. Es hat Zeichen gesetzt, wonach wir streben sollen. Es zeigt uns Bilder von einer besseren Welt. Und wir haben begonnen, diese bessere Welt zu schaffen. Es war meine Entscheidung - und mein treuer Harlan ist mein Zeuge! -, mich nicht der Schlange zuzuwenden, sondern der Schrift. Ich war es, der die Schlange getötet hat! Nicht nur das, ich habe sie zerhackt, zerstückelt, auf dass sie nie mehr zurückkehre in unsere Welt. Ihre einzelnen Reste habe ich in alle Winde zerstreut, sie hinaustragen lassen in die entlegensten Gegenden des Erdkreises. So habe ich ihre Macht gebrochen. Nun kann sie sich nicht wie der Gewitterwurm selbst zusammensetzen und zu neuem Leben erwachen. Ihre Segmente sind ungekennzeichnet verscharrt, und diejenigen, die diese heilige Arbeit verrichteten, wandeln nicht mehr unter uns. Sie sind Märtyrer unseres Glaubens und ehrend gedenken wir ihrer.«

Dass man die Sendboten der Schlangenrelikte gleich nach ihrer Rückkehr auf Aglas ausdrückliche Anweisung hin getötet und diskret entsorgt hatte, erwähnte er nicht. Der Held tut seine Pflicht und schweigt.

»Liebe Brüder und Schwestern im Glauben! Erfreuen wir uns in dieser Stunde an der Gnade, die uns zuteil wird. Wir leben im Glanz der Erscheinung! Wir sind die Erfüller der Verheißung! Wie viel reicher ist unser aller Leben doch durch die Fliegende Schrift geworden. Wie viele Hinweise und Vorbilder hat uns diese gegeben, die wir immer besser verstehen und verwirklichen. Lasst uns diesen Weg konsequent weitergehen. Lasst euch nicht irritieren von denen, die sagen, wir würden einem schönen Schein hinterherjagen. Unser Pfad ist der Pfad der Prophezeiung und niemand wird uns davon abbringen! Auch wenn unser gütiger Herrscher manchmal zweifelt, so sind die Zeichen doch stärker als alle weltliche Macht.«

Agla hatte seinen Pfeil abgeschossen und der verfehlte sein Ziel nicht. Die Menge murrte, sie begann zu brodeln, sie wurde immer unruhiger. Es bedurfte nur noch eines kleinen Rucks, um sie in Bewegung zu setzen. Der Bischof hob die rechte Hand und forderte Ruhe. Dann sagte er in einem gefährlich ruhigen Ton: »Lasst uns zum Palast ziehen und unseren gütigen Herrscher darauf hinweisen, wo das Heil in unserem Lande liegt. Lasst uns dieses Heil selbst in die Hände nehmen!«

Am Abend dieses denkwürdigen Tages stiegen aus einem Teil des Palastes Rauchschwaden auf. Der Regent und seine Familie waren fortan nicht mehr gesehen. Im Glanz eines fahlen Mondes rief man Agla vor dem großen Tempel zum Hierokraten, zum heiligen Herrscher des Reiches aus.

***

»Das nennst du ein Prunkgewand? In welchem Schweinekoben bist du denn aufgewachsen?« Agla tobte. Nur noch zwei Wochen bis zu den Feierlichkeiten zum zwanzigsten Jahrestag der Erscheinung der Schrift und dieser Dilettant von einem Schneider kapierte nicht, was er wollte.

»Bei den zwölf Seiten der Schrift! Muss man hier alles selbst machen? Wenn du bis übermorgen keine exzellente, ich betone EXZELLENTE Arbeit ablieferst, lasse ich dir die Hände abhacken!«

Kleinlaut und am ganzen Leib zitternd verließ der Schneider rückwärts buckelnd den Raum.

Agla wandte sich gerade einem Schriftstück auf seinem Schreibtisch zu, als sich die Tür einen Spalt öffnete und der Kopf eines Dieners erschien.

»Herr, ein Besucher. Meister Harlan wünscht Euch zu sprechen.«

Agla war überrascht, denn der alte Weggefährte hatte ihn noch nie in seinem neuen Domizil besucht.

Harlan war nach der Nacht der großen Veränderung nicht mit in den Palast eingezogen. Er blieb lieber für sich und arbeitete abgeschieden von der Welt im Westturm der Stadtmauer. Von der Alchimie hatte er sich abgewandt und versuchte seither die Heilige Schrift, ihre Sprache und die Bedeutung der Bilder zu erforschen und zu entschlüsseln.

»Herein mit ihm!«, rief der Hierokrat.

Sein Assistent war grau geworden und seine leicht gebückte Haltung war sicher kein Ausdruck von Unterwürfigkeit.

»Harlan! Das muss doch mindestens zwei Jahre her sein, dass wir uns zuletzt gesehen haben.«

»Acht, Agla, es ist acht Jahre her. Du hast mich auf der Steinernen Brücke angesprochen, ob ich mit der Enträtselung der Schrift weitergekommen sei. Nun, heute kann ich diese Frage mit ja beantworten.«

»Wie? Du ...? Wirklich? Ent...?« Agla brach ab. Das konnte nicht wahr sein.

»Wie willst du das geschafft haben? Es gibt keinen Anhaltspunkt. Hattest du eine göttliche Eingebung?«

»Nein, nichts Göttliches. Nur harte Arbeit. Mir fiel irgendwann auf, dass die Sprache der Schrift Ähnlichkeiten mit der Sprache der Stämme auf den nördlichen Inseln hat.«

»Unmöglich!«, unterbrach ihn der Hierokrat. »Das sind Menschenfresser.«

»Mag sein, dass sie Kannibalen sind«, sagte Harlan ruhig, »aber sie sprechen eine wahrhaft alte Sprache. Diese schien mir näher an der Schöpfung als die unsere. Und wenn die Fliegende Schrift vom Schöpfer stammt, dann wäre es naheliegend, dass sie in einer uralten Sprache verfasst ist.«

Agla dachte kurz nach, dann stimmte er zu. »Dein Gehirn arbeitet immer noch absolut präzise und logisch. Aber spann mich nicht länger auf die Folter! Sag mir, was du herausgefunden hast!«

Harlan zog einen schon ziemlich zerknitterten Zettel aus seinem Ärmelstulpen und las vor:

»Breiter Farbraum. Pflanzen von Bilderfahrung schmeicheln erwählt sein in höchster Auflösung. Schneller Wechsel mit mehr Flüssigkeit Interaktion. Leistung Prozession steigert großen Genuss.«

Schweigen breitete sich im Raum aus. Ein eisiges, lähmendes Schweigen, das spürbar Bestürzung enthielt. Einen unausgesprochenen Schrecken, der Risse in die Gegenwart schlug. Agla hörte in seinem inneren Ohr ein Knirschen und er wusste, dass soeben seine Welt aus den Fugen geriet.

Nach einer Weile fand er die Fassung wieder, räusperte sich und sagte mit entschlossener Stimme: »Was soll der Unsinn? Willst du mich zum Narren halten? Ist das die Menschenfresser-Sprache? Ich frage dich: Spricht so ein Gott? Was soll dieses wirre Gestammel im Zusammenhang mit unseren heiligen Bildern? Du musst dich irren!«

»Ich irre mich nicht. Glaub mir, ich habe lange gezögert, bis ich mit meinem Ergebnis zu dir kam. Aber es ist meine Pflicht, dir als dem obersten Priester dieser Religion zu enthüllen, was ich herausgefunden habe.«

»Nichts hast du herausgefunden! Gar nichts«, empörte sich der Hierokrat. »Welche Erkenntnis sollen uns denn diese merkwürdigen Worte geben? Wo ist da eine Verheißung? Wie lautet die Botschaft?«

Harlan blieb ruhig und sagte: »Ich schätze, dass es sich bei den Bildern in der Fliegenden Schrift um magische Gegenstände handelt. Ich nenne sie ›Fern-Fenster‹, weil sie Dinge und Ereignisse von fernen Orten zeigen. Und ich meine ›fern‹ nicht nur geografisch. Ich vermute, man kann damit auch in andere Zeiten sehen. Nur so lassen sich manche der Bilder einigermaßen vernünftig interpretieren.«

Agla trat ans Fenster und schaute hinaus. Von hier aus konnte man fast die ganze Stadt überblicken. »Wie soll ich das den Menschen erklären? Das ist doch furchtbar kompliziert. Religion muss einfach sein. Da geht es darum, was man darf und was man nicht darf. Was mit einem passiert, wenn man sich nicht an die Regeln hält und was man als Belohnung bekommt, wenn man sich an die Regeln hält. Fern-Fenster haben in meiner Religion keinen Platz.«

»Ich dachte früher, du willst Dinge ergründen«, bemerkte der alte Weggefährte mit ironischem Unterton.

»Das will ich auch immer noch. Aber ich will die Ergebnisse nicht jedem auf die Nase binden! Auf keinen Fall.«

Harlan lachte. »Verheißung ist Verheißung, ob von einem Propheten ausgesprochen, von einem Gott handgemalt oder durch ein magisches Fenster gesehen. «

»Hast du noch mehr herausgefunden?«, fragte Agla lauernd.

»Durchaus. Mir ist aufgefallen, dass immer an der gleichen Stelle unter den Bildern Buchstaben stehen. Ich habe darauf das Alphabet der nördlichen Inseln angewandt und denke, dass es sich dabei um Eigennamen handelt.«

»Titel der Bilder?«

»Nein, die Namen der Magier, die das jeweilige Fern-Fenster anbieten. Die Namen, die ich finden konnte, lauten PANASONIC, SAMSUNG, SONY, PHILIPS, SHARP, LOEWE und GRUNDIG.«

»So, so, Magiernamen also. Keine Propheten, keine Erzengel, keine Göttersöhne? Nur Magier, die Zauberbilder verkaufen wollen. Du behauptest, unsere heilige Fliegende Schrift wäre nichts anderes als ein Verkaufsprospekt für Magiezubehör. Wie krank bist du eigentlich in deinem Turm geworden? Welches Kraut hat dir die Sinne verwirrt? Oder hast du zu viel Kräuterschnaps getrunken?«

Der Hierokrat redete sich mehr und mehr in Rage. Er bebte vor Zorn. Und vor allem hatte er Angst. Angst, dass sein ganzes Lebensgebäude einstürzte. Die Thesen von Harlan durften auf keinen Fall in die Öffentlichkeit gelangen. Agla öffnete das Fenster, vor dem er stand, und befahl: »Komm zum Fenster, zu diesem echten Fenster! Schau hinaus in unsere Wirklichkeit.«

Harlan stellte sich neben seinen alten Dienstherrn und blickte auf die Stadt. Er mochte sie nicht besonders, sie war ihm zu laut und zu hektisch. Vielleicht sollte er auf die nördlichen Inseln ziehen, trotz der angeblichen Kannibalen. Er sprach ihre Sprache und er liebte die Einsamkeit dort. Im Prinzip war es ihm egal, ob die Fliegende Schrift Fern-Fenster enthielt oder die bunten Visionen irgendeines Gottes. Es machte für ihn keinen Unterschied, er wollte nur in Ruhe sein eigenes Leben leben.

In diesem Moment packte ihn Agla an den Schultern und stieß ihn in die Tiefe. Im Fallen dachte Harlan noch »Ich habe dem Kerl nie getraut.«

An seinem Schreibtisch ordnete der Hierokrat an, die Trauerfeierlichkeiten für den verunglückten Freund mit den Festlichkeiten zum zwanzigsten Jahrestag des Erscheinens der Fliegenden Schrift zu verknüpfen. Mit einem weiteren Dokument mit vielen Wachssiegeln erhob er seinen Weggefährten Harlan zum Heiligen Ersten Zeugen der Erscheinung und zum Märtyrer des Glaubens.

»Magier, Fern-Fenster, so ein Quatsch« murmelte Agla und goss sich ein weiteres Glas Rotwein ein.

Die unbezwingbaren Höhen

von Thomas Heidemann

Die erste Erschütterung war die schwerste. Sie kündete von Veränderungen.

Die Shieds fürchteten Veränderungen. Pheromone verbreiteten den scharfen Geruch der Angst und beunruhigten auch jene, die bisher ein kühles Denkgeflecht bewahrt hatten.

»Wir werden alle sterben!«, trommelte jemand in Vulgärcode, ein einfacher Arbeiter.

»Bewahrt Ruhe!«, trommelte Vordenker Erflund aus dem Schutz des Denkerverbunds zurück, wo die um sich greifende Hysterie ihm nichts anhaben konnte. Doch noch während er das tat, ließ der nächste Ruck seine Worte kollabieren.

Auch der Freidenker Blateo hatte seine Kontaktsynapsen mit denen der anderen Denker verbunden. Was sie spürten, spürte auch er. Was sie dachten, lag offen vor ihm wie eine Gravur im Boden. Allerdings fand er wenig Hilfreiches in dem, was sie in den Verbund einbrachten. Da verließ er sich doch lieber auf seine eigene, von der Gemeinschaft sträflich unterschätzte Genialität. Als die nächste Vibration durch den Boden rollte, triangulierte er in aller Ruhe ihren Ursprung, während seine Genossen weiterhin fruchtlose Theorien über den Grund des Bebens und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft der Shieds aufstellten.

»Sehen wir nach«, dachte Blateo in den Verbund. »Die Erschütterungen strahlen von der Plantage aus.«

Skepsis schlug ihm entgegen. Damit hatte er gerechnet.

Er lieferte den mathematischen Beweis für seine Behauptung.

Nach und nach erhielt er die widerwillige Zustimmung des Denkerverbunds.

Erflund löste sich aus ihrer Mitte und glitt zwischen die aufgescheuchten Shieds, die sich dem Verbund ratsuchend genähert hatten. »Ich brauche Freiwillige«, klopfte er so eindringlich wie möglich.

Einige seiner tapfersten Gefolgsleute krochen herbei und scharten sich um ihn. Blateo gesellte sich als einziger Denker zu ihnen.

»Wir müssen zum Grünfleck«, trommelte Erflund.

»Was wird uns dort erwarten?«, fragte Clef, der kleinste der Freiwilligen.

Der Vordenker dunstete Erstaunen darüber aus, dass ein gerade erst autonom gewordener Abschnürling die Nerven besaß, ihn anzutrommeln. »Arbeit«, antwortete er.

»Erkenntnis«, fügte Blateo amüsiert hinzu.

Der Boden hatte sich längst beruhigt. Die Shieds dagegen wurden immer unruhiger. Sie erreichten den Rand der Plantage. Überall zwischen dem Fleckbewuchs waren Wassertröpfchen verstreut, wahrscheinlich vom Beben aus den Kapillarkanälen im Boden geschleudert.

»Etwas stimmt nicht mit meinem Sehrand«, klagte einer der Arbeiter.

»Dir fehlt nichts«, erwiderte Erflund. »Es ist wirklich da.«

Ein weißer Strich, der dort nicht hingehörte, zog sich quer durch die Plantage. Er war gekrümmt und kehrte ihnen seine konvexe Seite zu.

»Weiter!« Erflunds Vibropodien klopften so stockend, dass Blateo seine Unsicherheit spürte. Der Vordenker war mehr Organisator als Wissensschaffender. Wo Blateo eine Herausforderung sah, sah er Probleme.

Immer mehr Einzelheiten des Strichs wurden erkennbar, je näher sie ihm kamen. Er schien gänzlich aus reinem Salz zu bestehen. Seine Struktur war schrundig wie die Haut eines altersschwachen Shieds.