Das Dorf des Willkommens - Mimmo Lucano - E-Book

Das Dorf des Willkommens E-Book

Mimmo Lucano

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Beschreibung

Das kleine Dorf Riace in Kalabrien und ihr Bürgermeister Mimmo Lucano (2004–2018) wurden während der humanitären Krise von Lampedusa im Jahr 2009 international bekannt, weil sie 200 Flüchtlingen und Asylbewerbern Unterkunft und Gastfreundschaft gewährten – im Gegensatz zu Mailand, das gerade mal 20 Plätze zur Verfügung stellte. Im Jahr 2017 waren im Dorf 550 Migranten untergebracht, insgesamt hatten es über 6000 Menschen durchquert. Ende der 1990er-Jahre gab es in Riace kaum noch Landwirtschaft und Ackerbau. Die einzige Möglichkeit für die wenigen verbliebenen Bewohner war die Flucht. Dann änderte das von Mimmo Lucano geschaffene Empfangssystem alles. Die Häuser im Zentrum, die lange Zeit verlassen waren, wurden neu besiedelt. Hunderten von Flüchtlingen konnte wieder Hoffnung gegeben werden, sie konnten in Handwerksbetrieben Glas und Marmelade herstellen und in einer Weberei arbeiten. Um die verzögerten Auszahlungen von staatlichen Geldern zu überbrücken, wurde gar eine lokale Währung geschaffen. Das »Modell« stieß auf Gegenwehr. Am 2. Oktober 2018, während der Amtszeit des Innenministers Matteo Salvini wurde Lucano unter dem Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einwanderung verhaftet. Die Aufnahmeprojekte wurden geschlossen, und die Häuser stehen wieder leer. Im September 2021 wurde Lucano wegen Beihilfe zur illegalen Migration und anderen Verbrechen zu 13 Jahren Haft verurteilt. Mimmo Lucano hat nie aufgehört, an seine Idee zu glauben: Jede Gemeinschaft muss auf der Achtung der Menschenwürde beruhen. Die Geschichte von Lucano ist die Geschichte Italiens, denn sein Mut konnte die Grenze aufzeigen, jenseits derer eine Demokratie ihre Grundwerte verrät. Das Buch ist ein direktes und tiefgründiges Zeugnis, das uns einlädt, die Augen dafür zu öffnen, wer wir sind und wer wir sein wollen.

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Mimmo Lucano

Das Dorf desWillkommens

Übersetztaus dem Italienischenvon Elvira Bittner

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde im Rahmen des Programms »NEUSTART KULTUR« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Der rüffer & rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2020, Mimmo Lucano

Zuerst publiziert bei Giangiacomo Feltrinelli Editore srl, Milano Publiziert in Zusammenarbeit mit Walkabout Literary Agency

Deutschsprachige Ausgabe:

Erste Auflage Herbst 2021

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2021 by rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zü[email protected] | www.ruefferundrub.ch

E-Book-Konvertierung: Bookwire GmbH

ISBN 978-3-906304-87-8

eISBN 978-3-906304-91-5

PREFAZIONE | Was brauchen wir, um unsere Seele nicht zu verlieren? [Elvira Bittner]

PREFAZIONE | Alle, zu jeder Zeit!

1Becky oder: Nur ein Stück Papier

2Das Fest der Roma

3Zwei Robertos

4Fußball spielen

5Kalabrien: Land der Priester, Heiligen und Mafiosi

6Neustart aus der Niederlage

7Mimmo der Kurde

8Touristische Utopie

9Riesiges Amerika

10Auf die Straße

11Meine Freunde

12Das Modell Riace

13Ein linker Bürgermeister

14Wasser und Esel

15Solidarisches Geld

16Der Gesetzlose

FINALE | Auch die Ziegen sind in Kontemplation

EPILOGO | Solidarität vor Gericht [Giovanna Procacci]

Anhang

Anmerkungen

Bildnachweis

Biografien

PREFAZIONE

Was brauchen wir, um unsere Seele nicht zu verlieren?

Von Elvira Bittner(Übersetzerin des Buches)

Am 1. Juli 1998 landet an der Küste des kleinen kalabrischen Dorfs Riace ein Schiff mit kurdischen Flüchtlingen. Niemand kann zu diesem Zeitpunkt damit rechnen, dass aus diesem Ereignis das »paese dell’ accoglienza« entstehen würde, das »Dorf des Willkommens«, und dass dieses Dorf in den folgenden 20 Jahren nicht nur in Kalabrien und Italien, sondern auch international Bekanntheit erlangen wird. Ein Dorf, das der Entvölkerung preisgegeben war, weil seine Einwohner seit Langem auf der Suche nach einem besseren Leben in andere Länder emigrierten, bekommt durch die Zuwanderung von Geflüchteten, von »Neubürgern«, neue Hoffnung und Perspektiven. Traditionelle Betriebe und Werkstätten werden wiederbelebt und neue entstehen, über die Jahre hinweg werden Tausende von Menschen aufgenommen, manche ziehen weiter, andere bleiben. Aus aller Welt strömen Interessierte herbei, um sich zu informieren, was sich aus dem »Modell Riace« lernen ließe. Aus dem verschlafenen Dorf wird ein Ort am Puls der Zeit, ein Vorzeigeprojekt, das einen sehr konkreten Vorschlag macht für die Lösung einer der größten Krisen unserer Zeit: eine »Utopie der Normalität«.

Initiator und Motor des Projekts ist Domenico »Mimmo« Lucano, aufgewachsen in Riace und nach langen Jahren im »Riace anderswo« dorthin zurückgekehrt, weil er in seiner belasteten Heimat Verantwortung übernehmen will. Er ist Visionär, politischer Aktivist und kompromissloser Humanist, und 2004 wird er zum ersten Mal zum Bürgermeister gewählt, ein Amt, das er nach zweifacher Wiederwahl bis 2018 innehaben wird. 2018 wird zum Wendepunkt für Riace und seine Arbeit: War es schon vorher immer wieder zu Problemen mit den Behörden gekommen, so wird das Projekt nun, mit dem Aufstieg der italienischen Rechten und Lega-Chef Salvini als Innenminister, offen bekämpft und kriminalisiert. Lucano sieht sich inzwischen einem Strafprozess gegenüber, der längst noch nicht ausgestanden ist.

Seither sind die Straßen Riaces wieder weitgehend verlassen, es ist mittlerweile still geworden im Dorf des Willkommens. Dennoch ist das letzte Kapitel nicht geschrieben, und es ist zu früh, ein »Ende« unter die Geschichte zu setzen. Riace hat Entwicklungen angestoßen, die weiterwirken, und viele Menschen haben dazu beigetragen, dass es zu dem geworden ist, was es war. Sie alle tragen etwas weiter, einen Funken, einen Gedanken, eine Überzeugung, dass es auch anders geht, anders gehen muss. Dass Europa dem Zustrom von Verzweifelten auf eine Weise begegnen muss, die mit seinen eigenen Werten in Einklang steht.

Menschen sterben in der Wüste, sie ertrinken im Meer, sie werden in Internierungslagern wie in Libyen gefoltert. Schiffe der privaten Seenotrettung irren durchs Mittelmeer und suchen vergeblich nach Häfen, humanitäre Organisationen werden schikaniert, Abschiebungen in tödlich gefährliche Länder durchgezogen, auf Biegen und Brechen. Auf den italienischen Tomatenfeldern schuften »Erntesklaven« unter Bedingungen, die einem anderen Jahrhundert anzugehören scheinen. Und die, die es etwa nach Deutschland schaffen, werden über Jahre hinweg in quälender Perspektivlosigkeit gehalten und von einer Bürokratie erdrückt, deren höchstes Ziel nichts anderes zu sein scheint, als die Menschen »draußen« zu halten.

Ich bin im Winter 2020, kurz vor Corona, mit einer Gruppe interessierter Menschen nach Riace gereist. Seit mehreren Jahren war ich schon in München als ehrenamtliche Flüchtlingshelferin aktiv, und Riace war in unseren Kreisen seit Langem ein Begriff. Mein Ehrenamt hatte mich in den Jahren zuvor nachhaltig verstört, denn ich hatte nicht damit gerechnet, wie hart und teils willkürlich das deutsche Asylsystem agiert. Ich hatte Anhörungen und die daraufhin erfolgenden Entscheidungen mitverfolgt und darüber den Glauben an faire Asylverfahren verloren, hatte die »Vergrämungsstrategien« der Behörden aus unmittelbarer Anschauung kennengelernt, hatte erfahren, was Worte wie »politischer Wille« oder »systemischer Rassismus« in der Praxis bedeuten. Das Land, in dem ich vor 2015 gelebt zu haben glaubte, war nicht das, das ich in den Jahren darauf vorfand. Was ich erlebte, war nicht anständig, es war nicht menschenfreundlich, es war keineswegs durch ein gesundes Fundament von unverbrüchlichen Werten unterlegt. Es war nicht einmal vernünftig, der gesunde Menschenverstand spielte darin keine Rolle. Stattdessen gaben die »großen As« in diesem System den Ton an: Abschottung, Abschiebung, Arbeitsverbote.

Über alle Widerstände hinweg – oder vielleicht gerade deswegen – ist in Deutschland aus der kurzen Phase der »Willkommenskultur« (ein mediengemachter Begriff, der eigentlich nie einen Inhalt hatte) trotz allem eine spannende Bewegung geworden. Freundschaften entstanden, über alle Grenzen und Unterschiede hinweg, nicht nur zwischen den Helfern, sondern auch zwischen »Alt- und Neubürgern«. Viele Engagierte politisierten sich, schlossen sich zusammen, fruchtbare Synergien entstanden. Wir organisierten Proteste und Debatten, setzten uns mit Behörden, Medien und Politik auseinander, bildeten uns im Asyl- und Ausländerrecht weiter. Ich war beeindruckt, wie viel Wissen, Know-how und Ideenreichtum in diesem menschlichen Sammelsurium vorhanden war. Und wenn auch die meisten von uns heute ausgebrannt und über die immer weiteren Verschärfungen verzweifelt sind, so hatte ich wenigstens das Glück, Menschen kennenzulernen, deren Mut, Zähigkeit und Ausdauer ich bis heute aufrichtig bewundere. Sie sind für mich das »bessere Deutschland«, die Vertreter einer »Utopie der Normalität«, in der ich gerne gelebt hätte. Allein: Die Zeit schlug eine andere Richtung ein als die, in die wir gemeinsam gehen wollten.

Die Ideen hinter Riace, dem Dorf des Willkommens, tragen Züge, die unseren europäischen Werten bestens entsprechen. Sie bieten Anregungen und Impulse, wie mit der »Flüchtlingskrise«, die aller Voraussicht nach erst begonnen hat, anders umgegangen werden könnte. Ein wichtiger Aspekt ist die dezentrale Unterbringung, auf die Lucano immer wieder verweist, und die etwa in Bayerns »Ankerzentren« so konsequent vermieden wird. Ein weiterer ist die Teilhabe der Neubürger an der Gesellschaft, das »Mittendrin«, das man durch den jahrelangen Schwebezustand der Asylverfahren und die Segregierung der Neuankömmlinge von der Mehrheitsbevölkerung erfolgreich verhindert. Ebenso wie durch die absurden Arbeitsverbote, die es Menschen unmöglich machen, zu Protagonisten ihres Lebens zu werden und ihren Beitrag zu dieser Gesellschaft zu leisten. Oft steht am Ende eines jahrelangen, zermürbenden Prozesses nichts anderes als die Abschiebung, ganz egal, wie sehr sich jemand angestrengt hat, in der neuen Heimat anzukommen. Wer es schafft und wer nicht ist großteils durch Willkür bestimmt, auch wenn die große Politik uns in ihren Statements etwas anderes erzählen möchte.

Als Übersetzerin hielt ich es für sinnvoll und sogar notwendig, Lucanos Buch auch interessierten deutschen Lesern zugänglich zu machen. Riace ist ein kleines Dorf, und manches, was hier erzählt wird, mag regional und für uns nicht relevant anmuten. Schon für Norditaliener liegt Kalabrien fast am Ende der Welt. Doch wie auch Giovanna Procacci in ihrem Nachwort klarmacht, ist die Geschichte, die sich hier zugetragen hat und noch zuträgt, eine von internationaler Bedeutung. Sie erzählt etwas über unsere Zeit und die Gefahren, die uns unmittelbar drohen. In ganz Europa sind immer weitere Gesetzesverschärfungen an der Tagesordnung, Solidarität und Menschenrechte scheinen zunehmend Ideen zu werden, die einem schöneren Gestern angehören. Es gibt keinen allgemeinen Aufschrei, die Medien berichten kaum noch, man nimmt das Unsagbare wie den Tod der Menschen im Mittelmeer hin. Vielleicht auch, weil wir alle heillos überfordert sind mit dem Chaos, das uns umgibt.

Die Frage, die sich mir und vielen anderen Menschen stellt, ist: Wie wollen wir in Zukunft leben? Was ist uns wichtig, was brauchen wir, um als Einzelne und als Gesellschaft unsere Seele nicht zu verlieren? »Die Lösung könnte in einer ›Revolution der Normalität‹ liegen, dem Erleben eines friedlichen Miteinanders, wie wir es in Riace in die Tat umgesetzt haben«, schreibt Mimmo Lucano. Wäre es wirklich so revolutionär, wenn er recht hätte?

Es ist noch eine Bemerkung zu machen zu der besonderen Sprache Domenico Lucanos, die im Deutschen oft nur schwer wiederzugeben ist. Eine Sprache, die natürlich süditalienisch ist, oft pathetisch, archaisch und sehr radikal, und die man im Deutschen versucht ist, in eine uns eher entsprechende zurückgenommene Neutralität und Nüchternheit zu überführen. Letztendlich habe ich mich aber dagegen entschieden und manchen vielleicht sonderbar klingenden Satz so gelassen, wie er ist. Es schien mir, dass gerade die politischen Statements – und um diese geht es vor allem – ansonsten an Kraft verlieren, und das wollte ich in jedem Fall verhindern. Es ist eine Sprache, die man sich oft gesprochen vorstellen muss, und wer Lucano reden gehört hat, muss vielleicht gar kein Italienisch können, um ein bisschen zu verstehen, was er meint. Wer noch dazu in Riace war – egal ob es nun gerade verlassen ist oder die Welt hier zusammenfindet – und ehrfurchtsvoll vor der kargen, wilden und großen kalabrischen Landschaft stand, der erkennt, dass zu diesem Land eigentlich nur diese Sprache passt. Es ist dann auch eine Selbstverständlichkeit, dass »sogar die Ziegen hier in Kontemplation« sind.

Unmittelbar bevor dieses Buch in Druck ging, wurde am 30. September 2021 vom Gericht Locri das erstinstanzliche Urteil im Prozess gegen Domenico Lucano und Riace verkündet. Lucano wurde unter anderem wegen Amtsmissbrauch und Bildung einer kriminellen Vereinigung zu 13 Jahren und 2 Monaten Haft, 5 Jahre Verbot, ein öffentliches Amt auszuüben, und der Rückzahlung einer Summe von über 700 000 Euro verurteilt. Auch viele seiner Mitstreiter wurden verurteilt. Strafmildernde Umstände wurden nicht berücksichtigt, auch nicht, dass sein Handeln eine moralische Zielsetzung hatte. Das Urteil hat in ganz Italien großes Aufsehen erregt, es gab Proteste, aber auch Zustimmung. Die ausführliche Urteilsbegründung steht noch aus. Lucanos Anwälte haben angekündigt, in Berufung zu gehen.

PREFAZIONE

Alle, zu jeder Zeit!

Am Anfang kamen immer dieselben Fragen: Und wenn sie am Ende mehr werden als die Einheimischen? Und wenn Kriminelle dabei sind? In der öffentlichen Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen in Riace waren das die üblichen Probleme. Dabei müsste eigentlich etwas ganz anderes im Mittelpunkt stehen: Politik kann sich nicht reduzieren auf die Selektion, wer hereindarf und wer nicht, oder sie verzichtet auf das, was sie eigentlich sein will. Sie verzichtet auf die Sache der Freiheit, die sie einst instituiert hat. Eines hat mich die Erfahrung gelehrt: Eine Politik, die sich in reiner Machtausübung erschöpft, vergisst den Traum von der kollektiven Emanzipation, zu dem unser Recht auf Freiheit uns anspornt.

Die Corona-Pandemie hat die ganze Welt erschüttert und Gesundheitswesen und Wirtschaft in eine beispiellose Krise gestürzt. Sie hat uns in die Grenzen unserer nächsten Umgebung gezwungen. Wir sitzen in unseren Häusern und stellen fest, dass wir uns dort nicht so sicher fühlen, wie wir gedacht haben. Ohne die Gemeinschaft um uns herum sind wir uns selber fremd.

Krankheit und Tod lassen wenig Raum für allgemeine Betrachtungen, doch wir haben die Pflicht zu einer tieferen Reflexion. Wir müssen einen Blick in die Vergangenheit werfen, um die jüngste Geschichte nicht zu vergessen. Über Jahre hinweg wiederholt, sind uns die Worte des Egoismus vertraut und überzeugend geworden. Langsam und stetig, Stück für Stück, haben sie von unseren Gedanken Besitz ergriffen. In einer Welle der Populismen wurden sie in die Welt posaunt, und sie haben ihre vollständige Umsetzung im Staat der geschlossenen Grenzen gefunden. Der Rassismus hat sich breitgemacht, ohne große Empörung zu erregen. Das Wort »Migrant« wurde missbraucht und seiner Bedeutung entleert: Wir haben ein Ghetto gebaut, in dem wir unser Gewissen begraben können.

Und nun, da unser eigenes Leben vor einer unberechenbaren Bedrohung steht, und wir nicht wissen, ob ihre Eindämmung gelingt, offenbart dieser Egoismus sein feiges Gesicht. Die Konsequenzen, die er geschaffen hat, zeigen sich in ihrer ganzen Dramatik: die Lager, in die man die Unerwünschten gesteckt hat, die Obdachlosen in den Straßen der Großstädte, die vielen Menschen in prekärer Arbeit, die afrikanischen Erntehelfer in den Barackensiedlungen, das Geschäftemachen mit Gesundheitswesen und Bildung, die Zerstörung der Umwelt durch unser Wirtschaftssystem, die grenzenlose Profitgier, der zügellose Konsumwahn.

Der Profit zählt mehr als das Leben. Das Interesse des Kapitals wird geschützt, zum Nachteil der öffentlichen Gesundheit. Wo liegt jetzt die Grenze? Woher kann Rettung kommen? Eine schwere Ungewissheit lastet auf der Gegenwart.

Warum scheint die Sicherheit des Menschen heute mehr wert zu sein als der Mensch an sich? Ist der Imperativ »Alle, zu jeder Zeit!« wirklich eine Utopie? Wenn unsere Antwort auf diese Fragen lautet: »Wir nehmen nur den, der es verdient, aufgenommen zu werden!«, oder: »Wir sollten erst sehen, ob es sich für uns lohnt!«, dann fällen wir die wenig mutige Entscheidung, uns vor der Verantwortung für andere zu drücken. Wir kompromittieren damit auch unsere eigenen Beziehungen, ob eng oder lose, ob die zu unserem Nachbarn oder die zu einem Fremden. Frei sind wir nur, wenn wir in der Lage sind, individuelle und kollektive Verantwortung miteinander zu vereinen. Ich jedenfalls kenne auf diese Fragen nur eine Antwort. Immer wenn ich am Strand stand, die Füße im Wasser, und hinausschaute aufs Meer, dann hatte ich eine Gewissheit: Wer immer an unsere Tür klopft, ob es ein Elender ist, ein Flüchtling oder ein Reisender, er bedeutet die einzige Rettung für die ganze Welt, die einzige Hoffnung gegen die Gewalt der Geschichte.

Schon bevor ich Bürgermeister wurde, und lange bevor die »globale Migrationskrise« sich als entscheidendstes Ereignis unserer Epoche erwies, habe ich den Traum von einer Erlösung übernommen, der ein Vermächtnis meiner Heimat ist. Ich zähle die Fehler nicht mehr, die ich gemacht habe, aber ich weiß, dass ich nicht anders handeln konnte. Ich war nie fähig zu einem Blick, der andere ausschließt. Privilegien und Diskriminierung ertrage ich nicht.

Das Meer und der »Borgo«, wie wir das alte, auf einem Hügel gelegene Dorf nennen, waren die Pole meiner Existenz. Der Lehmhügel, der die kleinen Häuser des Ortskerns umfängt, war die glückliche Grenze meiner Kindheit. Die Olivenbäume, die hingestreckten Wiesen, der Duft nach Jasmin und Birnenbaum, die warmen Farben von Ginster und Kaktusfeige. Wenn ich an meine Wurzeln denke, dann sehe ich eine ewige Sommerlandschaft vor mir. Im Riace meiner Kindheit lernte ich, dass Menschsein etwas Schönes ist: die Weberinnen und die Schäfer, die von früh bis spät ihre Arbeit taten, wie eine tiefe Reflexion, die man mit den Händen macht. Von den Roma mit ihren Tänzen, die unsere religiösen Prozessionen begleiteten, erfuhr ich die Bedeutung des Wortes »Freiheit«: keine enge Bindung zu einem bestimmten Territorium zu haben und doch tief verbunden zu sein mit der Geschichte der Völker.

Meine Mutter hat mich immer ermutigt, neugierig auf andere Menschen zu sein, niemals misstrauisch, und großzügig auch, weil wir alle bedürftig sind. In den Bildern meiner Erinnerung bewahre ich den bitterarmen, entlegenen italienischen Süden wie ein großes Wunder. Es ist dieses Gefühl, das mich später veranlasste, Reisende aufzunehmen, keine Migranten oder Flüchtlinge: In unserer Kultur sind es schon immer die Fremden gewesen, die uns lehrten, den Wert der Gastfreundschaft hochzuhalten. Die Geschichte hat sie an unsere Küste gespült, wie eine Welle, die sich am Ufer bricht, an genau die Schwelle, wo auch ich schon in den Gesichtern meiner Freunde von der Vergangenheit Abschied genommen, wo ich Melancholie und Verlust kennengelernt hatte. Die ganze Welt traf an diesem Punkt zusammen, ein Durchgang, der geprägt ist von ununterbrochenen Passagen.

Aus Argentinien bekamen wir Nachrichten von meinen Tanten: Ich erinnere mich gut an die bunten Luftpostbriefe, die damals Sinnbild waren für Abwanderung, für Grenzen, für eine neu zu erfindende Identität, für ein unbekanntes Land, aber auch für eine Verbindung, die jede Entfernung überwinden kann. Auch hier war es der Süden, in den es die Menschen verschlagen hatte, wenn auch auf einem fernen Kontinent. Ich selbst hingegen würde in den Norden gehen, nach Turin, und das Arbeiterleben in der Großstadt kennenlernen. Obwohl man dort meine Sprache sprach und ich meine Landsleute frequentierte, Auswanderer wie ich, fühlte ich mich entwurzelt. Die Verlorenheit, die ich empfand, hatte etwas von einer Ohnmacht.

Die Migration ist Teil der Geschichte unseres Landes. Die inneritalienischen Wanderungsflüsse sind eine Folge der schwierigen Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie. Unsere Politik hat regionale Realitäten immer vernachlässigt, und sie hat zugelassen, dass der Süden verarmt. So hat sie genau die Bewegung geschaffen, die sie eigentlich beschränken wollte: vom Süden in den Norden, von der Peripherie ins Zentrum.

Auch heute noch ist die Emigration in Kalabrien die einzige Alternative. Um ein Modell für die Zukunft zu entwickeln, muss man sich eine bestimmte Art von Gesellschaft vorstellen, aber wie ist das möglich, an einem Ort, an dem keine Menschen mehr sind? Riace als Ort des Willkommens ist zum Vorreiter geworden, weil es in den Widersprüchen eines ungerechten Systems eine historische Gelegenheit für die eigene Wiedergeburt erkannte. Wir haben nicht »Migrationsströme verwaltet« – ein inakzeptabler Begriff –, wir haben keine Reformmodelle ausgearbeitet –, dazu hatten wir nicht die Mittel –, wir haben nicht mal unsere eigenen Probleme gelöst. Wir haben nur den Glauben an ein Ideal eingefordert, Seite an Seite mit den Fremden, den Neubürgern, weil diese Herausforderung uns alle betrifft und das gar nicht anders sein kann. Die Globalisierung der Migration ist ein nicht aufzuhaltendes Phänomen, und die Politik der Internierungslager, der Pushbacks und Abschiebungen, der immer weiteren Gesetzesverschärfungen kann kein positives Ergebnis bringen. Durch ein absurdes Zusammentreffen, durch eine Laune des Windes, ist die Geschichte auf ein Dorf gestoßen, das mit dem »Virus der Menschlichkeit« infiziert war, einen Ort, an dem es möglich war, sich vorzustellen, dass wir alle Menschen sind. Das hat eine tiefe Spur hinterlassen, das ist das Erbe, das wir weitergeben, der Traum, dessen Verwirklichung noch aussteht.

CAPITOLO 1

Becky oder: Nur ein Stück Papier

Grab von Becky Moses auf dem Friedhof von Riace

Becky Moses kam aus Nigeria.1 Sie hatte ihr Dorf verlassen, weil sie sich weigerte, den Mann zu heiraten, den ihre Familie für sie ausgesucht hatte. Sie war an einen Ort fern ihrer Heimat geflüchtet und hatte begonnen, als Friseurin zu arbeiten. Um nach Italien zu gelangen, begab sich Becky in die Hände von Schleusern. Sie hatte Afrika durchquert, war in Libyen angekommen und fand sich dann auf dem offenen Meer in einem Schlauchboot wieder, mit einem Riesenberg Schulden am Hals.

Am 28. Dezember 2015 landete sie an der Küste Kalabriens und kam kurz darauf nach Riace. Es hätte ihr das Schicksal vieler anderer Frauen blühen können, die gezwungen sind, ihre nie endende Schuld mit Prostitution und Abhängigkeit von der Mafia zu bezahlen. Zufällig haben die bürokratischen Wege sie nach ihrer Anlandung und Identifizierung aber nach Riace geführt. Wir haben sie in unserem Dorf in einem sogenannten CAS aufgenommen, einer Erstaufnahmeeinrichtung, die ebenso wie die kleineren und dezentraleren SPRAR-Projekte von der italienischen Regierung instituiert worden waren, um den zunehmenden Flüchtlingsstrom zu bewältigen.2

In Riace waren die CAS keine verlassenen Hotels, die von Spekulanten ausgeschlachtet wurden, und auch keine Kasernen oder Fabrikhallen mit aseptischen Schlafsälen, in denen kein Gedanke an Gastfreundschaft aufkommen konnte. Hier handelte es sich vielmehr um über das Dorf verstreute Häuser, kleine Wohnungen, die im Lauf der Jahre hergerichtet und zu Orten des Willkommens umgewandelt wurden.

Um diese CAS zu betreiben, wurden Vereinbarungen mit den lokalen Gemeinden und Verwaltungsbezirken getroffen. Es waren schwierige Jahre, damals nach 2015, als die Ankünfte der Flüchtlingsboote stetig zunahmen: Einerseits trat die italienische Regierung über die Präfektur3 von Reggio Calabria ständig an uns heran, um uns trotz beschränkter Plätze um die Aufnahme von Menschen zu bitten, während andererseits dieselbe Regierung in Form des Innenministeriums uns die nötigen Mittel verweigerte, um den Gästen menschenwürdige Standards bieten oder die Gehälter des Fachpersonals zahlen zu können. Trotz aller Schwierigkeiten haben wir alles versucht, um Wege der Integration für unsere Gäste zu entwickeln.

Kurz nach ihrer Ankunft hatte Becky, so wie viele andere auch, begonnen, sich mit dem Italienischen vertraut zu machen, einen Beruf zu erlernen und sich einer Welt zu öffnen, die völlig anders war als die, die sie bis dahin gekannt hatte. Sie entpuppte sich schnell als fröhliche junge Frau, die ganz von dem Wunsch erfüllt war, sich eine Zukunft aufzubauen. Leider erlitten ihre Träume mit den Auswirkungen des Minniti-Orlando-Dekrets,4 das in erster Linie das Ziel hatte, die Zuwanderung zu beschränken und Rückführungen zu erleichtern, sowie mit der endgültigen Ablehnung ihres Asylantrags einen herben Rückschlag. Wenn sie nicht diesen entsetzlichen Tod gestorben wäre, hätte sie wahrscheinlich nicht in Italien bleiben dürfen, sondern wäre in ihre Heimat abgeschoben worden.

Am 22. Dezember 2017 kam Becky zu mir ins Rathaus, um ihren Personalausweis zu erneuern, den sie bei einer Busfahrt verloren hatte. Im »Globalen Dorf« – dem Herzen der Altstadt, in dem sich auch die Häuser des Willkommens befinden – hatte sich bereits die Nachricht verbreitet, dass das CAS-Projekt bald geschlossen werden würde, und ohne Ausweis lebte Becky riskant, denn wenige Tage später wäre ihre Aufenthaltserlaubnis abgelaufen. In ihren Augen war dieses Stück Papier auch die Bestätigung, dass sie ein Mensch war, es war ein Beweis ihrer Identität, ein Zeugnis, dass sie keine Kriminelle, kein Phantom und keine Illegale war. Becky kannte ihre Rechte: Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie Silvester 2016 in Riace bei einer Protestaktion, weil der Staat wieder einmal mit der Bereitstellung der finanziellen Mittel für Aufnahme und Integration im Verzug war, in der ersten Reihe stand.

Als ich sie fragte, ob sie die notwendigen Passbilder dabeihatte, lächelte sie und zog sie prompt aus der Tasche. Sie beteuerte mehrmals, dass sie den Ausweis wirklich verloren hatte, dass sie einfach unachtsam gewesen war, dass ich ihr wirklich glauben müsse. In einer kleinen Gemeinde wie Riace kann der Bürgermeister in Ausnahmefällen die Aufgaben des Standesbeamten übernehmen. Tatsächlich war dieser wenige Monate zuvor in Pension gegangen, und ich hatte interimsmäßig sein Amt ohne Besoldung inne, wie vom Gesetz vorgesehen. Ohne viel Federlesens stellte ich Becky Moses den Ausweis aus und setzte meine Unterschrift darunter. Noch heute bin ich stolz auf die Tatsache, dass mein Name auf diesem Ausweis steht.

Becky lächelte, als sie an diesem 22. Dezember 2017 mein Büro verließ. In diesem Lächeln, in dem auch Verzweiflung lag, fand ich die Kraft, dem damaligen Präfekten von Reggio Calabria, Michele Di Bari, einen Brief zu schreiben. Es war ein harter Brief, und ich teilte ihm darin mit, dass die Gemeinde Riace das Ankunftszentrum mit sofortiger Wirkung nicht mehr weiterführen konnte, weil unabdingbare Voraussetzungen fehlten, um lebensnotwendige Dienstleistungen sicherzustellen. Es war gefährlich, weitere Menschen aufzunehmen, weil wir in den Häusern keinen elektrischen Strom mehr hatten, und keine Mittel, um Medikamente und Nahrung zu kaufen, wie etwa die Milch für die vielen Kinder, die wir beherbergten. Ich beschrieb unsere Situation, in der wir die Achtung der Menschenwürde nicht mehr gewährleisten konnten, auch wenn das bedeutete, dass unsere Gäste anderswohin transferiert wurden, in andere CAS-Projekte, wo es diese Schwierigkeiten vielleicht nicht gab. Diesen Brief schrieb ich auch, um Probleme mit der öffentlichen Ordnung zu vermeiden.

Wenige Tage später, am 3. Januar 2018, war Beckys gesetzlich geregelte Aufnahmezeit in Riace abgelaufen. Bei ihrem Besuch in der Gemeinde hatte sie mir erzählt, dass sie wahrscheinlich nach Neapel gehen würde, wo sie Freunde hatte, oder auch nach San Ferdinando,5 in die Slumsiedlung zwischen Gioia Tauro und Rosarno – ein Tummelplatz für Mafia und »Caporali«,6 und eine Schande für den italienischen Staat. In dieser illegal errichteten Barackenstadt wohnten Landsleute von ihr, die bereit waren, sie ein paar Tage zu beherbergen. Wer weiß, ob diese Freunde ihr am 11. Januar, dem Tag ihres 26. Geburtstags, alles Gute gewünscht haben.

Es ist kalt im Januar, in der Ebene von Gioia Tauro. Man ist mit vielen anderen zusammen in einer Baracke untergebracht, wo es nicht mehr als ein paar alte Decken oder ein Feuer gibt, um sich zu wärmen. Vielleicht hatten Beckys Freunde ein Lagerfeuer neben ihrem Zelt entzündet, vielleicht schafften sie nicht, es unter Kontrolle zu bringen: Die Plastikplanen und Holzbalken, mit denen die Baracken gebaut sind, brauchen nicht viel, um Feuer zu fangen.

Becky starb bei einem Brand unklaren Ursprungs, am 26. Januar 2018, kurz vor zwei Uhr nachts. Zwei Freundinnen, die sich mit ihr im Zelt befanden, wurden schwer verletzt ins Krankenhaus von Polistena eingeliefert, eine von ihnen später ins Zentrum für schwere Verbrennungen im Krankenhaus von Catania. In den Überresten des Feuers, das sich schnell ausbreitete und auch auf andere Zelte in der Nähe übergriff, fand man Beckys Personalausweis. Mit ihrem Foto, den großen Augen, den hohen Wangenknochen, den welligen, langen Haaren, die ihr Gesicht umrahmten. Und mit meiner Unterschrift. Erst einen Monat zuvor hatte ich ihr dieses Dokument ausgehändigt, hatte gesehen, wie sie lächelte vor Freude über ihre zurückeroberte Identität.

Die Erinnerung an sie bleibt für immer. Sie wurde auf dem Friedhof von Riace beigesetzt, in einer Grabnische in einer der oberen Reihen. Man muss den Blick zum Himmel heben, um ihr trauriges Gesicht zu sehen.

Heute ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen mich, wegen der Verfahren und bürokratischen Praktiken, die wir in Riace angewandt haben. Wenn mich eine Schuld trifft, werde ich die Verantwortung übernehmen. Wer aber übernimmt die Verantwortung für den Tod von Becky Moses? Wer sind die Schuldigen? Wie kann es sein, dass ein Mensch ohne Hoffnung in der Hölle von San Ferdinando landen muss? Wie kann es sein, dass die Ablehnung eines Asylantrags den Tod bedeutet? Welchen Wert hat das Leben von Becky Moses? Diese Gedanken quälen meine Seele, sie sind mein Albtraum.

Wenige Monate nach Beckys Tod, in der Nacht vom 2. auf den 3. Juni 2018, forderte das Elend ein weiteres Opfer. Sein Name war Soumaila Sacko, er wurde erschossen.

Sein Tod ist in vielerlei Hinsicht mit dem von Becky verbunden: Nach dem Brand im Januar, der nur einer von vielen war, wollten viele Bewohner der Barackenstadt die Plastikplanen abreißen und feuerfeste Materialien für ihre Hütten benutzen. Der Junge aus Mali, der als Aktivist der Basisgewerkschaft USB (Unione sindacale di base) für die Rechte der afrikanischen Erntehelfer kämpfte, wusste von einer verlassenen Ziegelfabrik bei San Calogero, nicht weit von der Barackenstadt entfernt, in der unbenutzte Wellbleche lagerten. Mit zwei Freunden, Madiheri Drame und Madoufoune Fofana, war er in die Fabrik eingedrungen, um die Bleche zu holen.

Einer der beiden Überlebenden hat bezeugt, dass ganz plötzlich ein Stück entfernt ein weißer Panda hielt, dem ein »weißer Mann« entstieg. Er hatte ein Gewehr, schoss zunächst auf Soumaila und traf ihn in den Kopf, und anschließend auf Madiheri, den er am Bein verletzte. Mein Freund Peppe Marra, der mit Soumaila in der Gewerkschaft aktiv war, präzisierte später, dass der Schütze viermal gezielt hat, aus einer Entfernung von 150 Metern. Dann machte er sich aus dem Staub, und Madoufoune schlug Alarm. Die Fahrt ins Krankenhaus war vergeblich: Soumaila starb, ermordet vom weißen Mann.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buchs7 ist der Prozess vor dem Schwurgericht in Catanzaro im Gang, und der 43-jährige Antonio Pontoriero aus San Calogero ist der vorsätzlichen Tötung sowie des illegalen Besitzes und Tragens von Waffen und Munition angeklagt. Als Neffe eines der ehemaligen Fabrikbesitzer habe er auf die drei Jungen geschossen, weil er überzeugt war, der »Besitzer« des verlassenen Gebäudes zu sein. Zusammen mit weiteren Mitgliedern seiner Familie, die von der lokalen Presse auch mit dem ’Ndrangheta-Clan der Mancuso in Verbindung gebracht wird, kontrollierte er die umliegende Gegend, ohne irgendeine Berechtigung dafür zu haben.

Es wird oft vergessen, dass die ersten schweren Erschütterungen des Systems der Willkommenskultur schon auf die Regierung Gentiloni (12/2016–6/2018) zurückgehen, ebenso wie sich in dieser Zeit die Haltung von Medien und Politik gegenüber Nichtregierungsorganisationen grundsätzlich geändert hat. Die repressive Politik gegen Riace hat also begonnen, als mit Marco Minniti ein Innenminister in der Regierung saß, der ursprünglich aus Reggio Calabria stammte und dem Partito Democratico8 angehörte.

Im April 2017 wurde das Minniti-Orlando-Gesetz verabschiedet, das »dringende Verfügungen für die Beschleunigung der Verfahren zum internationalen Schutz sowie Maßnahmen zur Eindämmung der illegalen Einwanderung« auf den Weg brachte. Eines der Ziele war eine Verkürzung der Asylverfahren, und es kann daher auch als Generalprobe für die »Sicherheitsdekrete« des späteren Innenministers Matteo Salvini bezeichnet werden.

Eine konkrete Folge dieses Gesetzes war etwa die deutliche Beschränkung der Möglichkeiten des Asylsuchenden, gegen die Verweigerung des Flüchtlingsstatus Einspruch zu erheben. Die dritte Instanz, und damit die Möglichkeit, gegen eine Ablehnung Revision einzulegen, wurde praktisch abgeschafft. Überdies wurde in der ersten Instanz die persönliche Anhörung durch eine Videoaufzeichnung der Befragung des Asylbewerbers vor der Territorialkommission ersetzt. Es gibt keine Möglichkeit zum Disput, und der Richter ist nicht berechtigt, dem Asylbewerber Fragen zu stellen. Das ganze Verfahren erfährt so eine Entmenschlichung, es wird kalt und bürokratisch.

Als das Dekret in Kraft trat, hatten wir viele Gäste in Riace. Viele junge Nigerianer hatten schon zwei Ablehnungen ihres Asylantrags erhalten und verloren so die Chance auf einen weiteren Einspruch. Sie wollten aber unter allen Umständen vermeiden, in ihr Herkunftsland zurückkehren zu müssen, aus dem sie aus den unterschiedlichsten Gründen geflüchtet waren, wobei ein Grund für alle gleichermaßen galt: das allgemein menschliche Bestreben, ein besseres Leben zu finden. Einige hatten sich lebenslang verschuldet, bei Wohltätern oder solchen, die dies zu sein vorgaben, oder auch bei Verwandten und Schleppern. Sie wollten so bald wie möglich ein Stück Papier in Händen halten, das es ihnen erlauben würde, legal zu arbeiten, um ihre Schulden zurückzahlen zu können. Natürlich waren auch ein paar dabei, die heiraten wollten, um durch die Ehe mit einer Italienerin oder einem Italiener eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Ich selbst habe aber als Bürgermeister nur eine einzige Hochzeit zelebriert, auch wenn es sich heute in manchen Medien so anhört, als hätte ich eine Agentur für einsame Herzen eröffnet und Partnervermittlung im großen Stil betrieben. Die Wahrheit ist: Alles, was ich getan habe, geschah aus einem einzigen Grund, nämlich weil ich das Grauen in den Augen der Menschen gesehen habe, die fürchten mussten, in ihr Herkunftsland zurückgeschickt zu werden.

Am 19. Dezember 2019, wenige Tage vor Weihnachten, wurde mir ein neuer Ermittlungsbescheid9 zugestellt. Diesmal ging es darum, dass ich zwei Menschen einen Personalausweis ausgestellt hatte, die – so jedenfalls die Staatsanwaltschaft – darauf keinen Anspruch hatten. Es handelte sich um eine Frau aus Eritrea mit ihrem Kind, die auf die wiederholte Bitte der Präfektur von Reggio Calabria im April 2016 im Aufnahmezentrum von Riace angekommen waren. Bei ihrer Ankunft war der kleine Junge erst eine Woche alt. Sie wurden in einem der Aufnahmeprojekte von Riace registriert und erhielten als Bezugsberechtigte Wohnung und soziale Leistungen. Am 8. August wurde den beiden eine Meldebescheinigung ausgestellt, da sie bereits ordnungsgemäß im Einwohnerregister Riaces verzeichnet waren. Was die Staatsanwaltschaft mir zum Vorwurf macht, ist die Tatsache, dass ich der Frau und ihrem inzwischen viermonatigen Kind im September 2016 zwei Personalausweise ausgestellt habe, obwohl sie keinen Aufenthaltstitel hatten. Der zuständige Sozialarbeiter hatte mich darum gebeten, vor allem, weil der Kleine ernsthafte gesundheitliche Probleme hatte und eine Versichertenkarte brauchte, damit er so schnell wie möglich in kinderärztliche Behandlung gebracht werden konnte. Ohne den Personalausweis hätte er aber diese Versichertenkarte nicht bekommen. Daher zögerte ich nicht, ihm den Ausweis auszustellen. Dieser Akt wird mir im Prozess als Falschbeurkundung im Amt nach Artikel 480 des Strafgesetzbuchs zum Vorwurf gemacht. Meiner Meinung nach ist das ein juristisches »Missverständnis«, das in offensichtlichem Kontrast steht zu den Prinzipien unserer Verfassung und zu den Menschenrechten.

Um solche Gesten der Menschlichkeit noch weiter zu erschweren, unternahm das von Innenminister Matteo Salvini initiierte »Sicherheitsdekret«,10 das im Oktober 2018 in Kraft trat, den Versuch, die Eintragung von Asylbewerbern ins Melderegister abzuschaffen, obwohl diese für manche Leistungen unerlässlich war. Leoluca Orlando, der Bürgermeister von Palermo, erhob laut seine Stimme gegen dieses schändliche Dekret und fuhr demonstrativ – und teils eigenhändig – fort, Asylsuchende in das Register seiner Stadt einzuschreiben, um ihre Menschenwürde zu schützen und ihnen weiterhin den Zugang zu lebensnotwendigen Dienstleistungen zu gewähren.

Jenseits der moralischen Verpflichtung, die uns zwingt, die Menschenrechte zu wahren, ist das Recht auf Gesundheit auch in Artikel 32 der italienischen Verfassung als primär, absolut und unverletzlich bezeichnet. Der Personalausweis war im vorliegenden Fall eine gesundheitliche Notwendigkeit, zumal für ein viermonatiges Kind. Ein Mensch, ein Kind, hätte ohne dieses Dokument sterben können. Alles andere ist sekundär, fast irrelevant.

Die tragische Geschichte von Becky Moses und die einer Mutter mit ihrem kranken Kind haben vieles gemeinsam: eine dramatische Flucht, den sehnsüchtigen Wunsch nach einem Neuanfang, eine zermürbende Reise durch die Wüste, mit all den Gefahren und Qualen, denen insbesondere Frauen auf einem solchen Weg ausgeliefert sind. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass beide Frauen im Besitz eines Personalausweises waren, der von mir als Bürgermeister ausgestellt worden war. Auch Becky Moses war zwar im Melderegister von Riace eingetragen, hatte aber keine Aufenthaltserlaubnis, sondern nur eine Meldebescheinigung.

Ich habe mir daher die Frage gestellt, warum man mich wegen des Ausweises für die Frau aus Eritrea und ihrem Kind juristisch belangt hat, wegen des anderen für Becky aber nicht. Ich habe darauf nur eine Antwort gefunden: Weil Becky tot ist. Weil ihre Geschichte, ihr Dokument in Zusammenhang mit einer Tragödie steht. Wenn es in San Ferdinando ein Sicherheitsdefizit gab, dann fällt das in den Verantwortungsbereich der Präfektur von Reggio Calabria, der dieses Hoheitsgebiet untersteht, und sie muss folglich befürchten, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Von 9/2015 bis 9/2018 war Michele Di Bari als »Außerordentlicher Regierungskommissar« für die Überwindung des stetigen Niedergangs und der unhaltbaren Zustände in San Ferdinando zuständig. Im Mai 2019 hat er sein Amt als Präfekt von Kalabrien aufgegeben und wurde von Innenminister Salvini zum Abteilungschef für das Einwanderungsressort im Innenministerium nach Rom berufen. Di Bari hat bei der Initiierung des gerichtlichen Verfahrens gegen mich und bei der Delegitimierung des Modells Riace eine entscheidende Rolle gespielt.

Ich habe Becky Moses, die als Asylbewerberin endgültig abgelehnt war, einen Personalausweis ausgestellt, damit sie einen Namen hätte unter den Namenlosen in den Plastikzelten und Wellblechhütten von San Ferdinando, wo sie sich vor den italienischen Behörden verstecken musste. Einem Ort der Schande und der Unmenschlichkeit, der doch den Namen des Staates trägt. Warum aber habe ich für diesen Ausweis keine Strafanzeige erhalten, wie für die anderen beiden? Vielleicht weil man Beckys Geschichte gerne für immer tief in der Erde vergraben möchte?

Ich glaube, dass die Antwort auf diese Frage von entscheidender Bedeutung ist, nicht nur für mich, um Klarheit in das Labyrinth zu bringen, dem ich persönlich durch die Kriminalisierung meiner Person ausgeliefert bin. Aber viel mehr noch, um zu verstehen, welche Welt wir dabei sind zu errichten und auf welcher Seite wir darin stehen wollen.

Die italienische Linke hat, als sie im September 2019 an die Regierung kam, keine klare Haltung zu Salvinis Sicherheitsdekreten gefunden.11 Wenn sie das nicht nachholt, ist ihr Vertretungsanspruch gescheitert. Wie kann sie den neuen Proletariern, den durch die Welt irrenden Bürgern, den Unsichtbaren von gestern und heute eine Stimme geben, wenn sie ideologisch leer ist? Wenn wir das akzeptieren, sind wir schon verloren. Wenn wir die Grenzen der Akzeptanz immer mehr ausweiten, werden wir in Intoleranz, Einsamkeit und Angst ersticken.

CAPITOLO 2

Das Fest der Roma

Das Fest der Heiligen Cosmas und Damian

Als ich ein Kind war, wurde meine Mutter im Dorf »die Freundin der Roma« genannt, oder manchmal auch mit leicht verächtlichem Unterton »die Zigeunerfreundin«. Sie hat sich nicht groß darum gekümmert. Auch wenn sie nur einen Hauptschulabschluss hatte, war sie eine sehr intelligente und gebildete Frau. Sie war eine große Leserin und praktisch ununterbrochen in Bücher vertieft. Mein Vater hat immer erzählt, wie er Jahre zuvor, als sie jung verheiratet waren, die ganze Provinz Reggio Calabria durchkreuzte, um eine Ausgabe von Ugo Foscolos Klassiker »Die letzten Briefe von Jacopo Ortis« für sie aufzutreiben.

Meine Mutter besaß eine Engelsgeduld, vor allem mir gegenüber. Als Zehnjähriger hatte ich eine Phase, in der ich mich kategorisch weigerte, mir die Schuhe zu binden, bevor ich aus dem Haus ging, und sie erzählte gern, wie sie alle ihre Überredungskünste aufwandte und auch meinen vier Jahre älteren Bruder Giuseppe einspannte, um mir die Notwendigkeit von gebundenen Schnürsenkeln nahezubringen. Doch es war immer dieselbe Leier, meine Antwort stand fest: »Ich will nicht machen, was alle machen, ich binde sie nicht zu.« Meine Mutter gab sich aber nicht geschlagen und malte mir aus, wie ich mit meinen losen Schnürsenkeln im Dorf stolpern und hinfallen würde. Irgendwann gab ich nach.

Die Meinung anderer Leute interessierte meine Mutter nicht, denn sie scherte sich nicht um Etikette, und ich glaube, ich habe in dieser Beziehung viel von ihr übernommen. Gastfreundschaft war für sie etwas ganz Natürliches, kein politischer Akt, sondern eine spontane Geste, und auch eine christliche Verpflichtung, weil sie sich in der sakralen Tradition der Heiligen Cosmas und Damian verortete, die Märtyrer unter Kaiser Diokletian gewesen waren und noch heute die Schutzpatrone von Riace sind.