Das Ende der Tage - David Vogel - E-Book

Das Ende der Tage E-Book

David Vogel

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Beschreibung

David Vogels Tagebuch und seine autobiographischen Aufzeichnungen sind ein Zeitdokument von hohem literarischem Rang. Zur Hinterlassenschaft David Vogels, die sein Freund Avraham Goldberg nach dem Krieg entdeckte, gehören diese Texte, die nicht nur ein erschütterndes Zeitdokument darstellen, sondern Vogel literarisch neben Primo Levi und Elias Canetti stellen.

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David Vogel

Das Ende der Tage

Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen 1912–1922 und 1941/42

Mit einem Vorwort von Amir Eshel

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama

Impressum

Die Originalausgabe von Das Ende der Tage erschien unter dem Titel Ketsot Hayamim in dem Sammelband Tachanot Kavot 1990 im Verlag Hakibbutz Hameuchad/Siman Kriah, Tel Aviv, die Originalausgabe von Alle zogen in den Kampf erschien unter dem Titel Kulam Yatseu La’krav dortselbst.

ISBN 978-3-8412-0705-0

© Tamara Vogel-Mizrahi 1993

Translation © by the Institute for the Translation of Hebrew Literature, Tel Aviv, 1993

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Oktober 2013

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung Anika Wien, Berlin

unter Verwendung eines Motivs von© P_Wei/istockphoto

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

www.aufbau-verlag.de

Inhaltsübersicht

Cover

Impressum

Vorwort:‹Zug der Tage› von Amir Eshel

Das Ende der TageEditorische Notiz von Menachem Peri

Alle zogen in den Kampf

Fußnoten

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor/zur Übersetzerin

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Zug der Tage

Zug der Tage,

von weitem,

bewegt sich weiter fort,

von Nichts in das Nichts,

ohne mich.

Hauteville, 29.9.1941

Eine jüdisch-europäische Biographie unseres Jahrhunderts der Lager: Der am 15. Mai 1891 in Satanow (heute Weißrußland) geborene David Vogel verläßt mit achtzehn Jahren seine kleine Heimatstadt. Über Kindheit und Elternhaus wissen wir kaum etwas. Seine Lyrik deutet an manchen Stellen auf die wichtige Figur des Vaters hin, die Landschaftsbilder seiner Gedichte könnte man wohl in Galizien angesiedelt sehen. Nach Wilna (Vilnius) – seinerzeit ein wichtiges Zentrum jüdischen Lebens – geht David Vogel 1909 oder 1910 zunächst, um Hebräisch zu lernen. Dort träumt er davon, in der großen Synagoge als Schamasch, als Gemeindediener, arbeiten zu können. Ein wenig später jedoch muß er die Grenze nach Österreich überqueren, um dem Militärdienst im russischen Heer zu entkommen. Ende 1912 führt ihn sein Weg nach Wien, wo er in das Gymnasium aufgenommen zu werden hoffte. Er wollte in einem solchen Fall studieren oder einfach, daß man ihn ‹zu den Schriftstellern› zählt. Dabei nun wird der träumerische junge Mann – wie Vogel zu jener Zeit häufig beschrieben wird – bitterlich enttäuscht. Er verbringt seine Zeit mit Büchern, läßt sich durch Wien treiben und erlernt nahezu autodidaktisch die deutsche Sprache. Ab und an verdient er ein wenig mit Hebräisch- und Religionsunterricht, und in der Not, was häufig der Fall ist, leiht er sich Geld.

Genau zu dieser Zeit entsteht Vogels Tagebuch Das Ende der Tage – ein spannendes Zeitdokument, in dem das Leben eines jungen jüdischen Mannes osteuropäischer Herkunft, der von literarischen Aspirationen beflügelt ist (und David Vogel war nicht der einzige in Wien zu jener Zeit), einen lebendigen Ausdruck findet. Das Tagebuch setzt an, noch ehe sich Vogel als Lyriker, geschweige denn als Romancier verstand. Auf seinem Weg von Wilna nach Wien und während seines langen Wienaufenthaltes berichtet er darin vom alltäglichen Kampf um das finanzielle Überleben, von Hunger und Not und auch vom Prozeß seiner Selbsterkundung. Es sind die stark schwankenden, sicherlich auch pubertären seelischen Zustände, die diese Aufzeichnungen charakterisieren, doch David Vogel ist zu jener Zeit bereits neben all seinen Depressionen, Begierden und seiner Langeweile auf der Suche nach dem richtigen Wort, nach der genauen Formulierung. Der Stil dieses tiefblickenden Sprachkünstlers ist schon in dieser frühen Phase nicht zu verkennen: ‹Es fehlt mir was›, notiert er am 30. Juni 1914, ‹etwas Namenloses und Unbekanntes. Fehlt. Und klar, daß auch dort und fern von dort etwas fehlen wird. Für immer wird etwas fehlen, für immer und ewig.›

Am 10.8.1914 verzeichnet David Vogel in seinem Tagebuch: ‹Die ganze Zeit nur Trägheit. Und ein bißchen Taumel. Jetzt stehe ich vor großen, einschneidenden Veränderungen. Der Krieg.› Wahrscheinlich ahnte er aber nicht, daß man ihn kurz danach als russischen Staatsbürger und somit potentiellen Feind Österreichs internieren wird. In den kommenden zwei Jahren bleibt er in Haft und widmet sich nur noch selten seinem Tagebuch. Nach der Entlassung im Juli 1916 verweisen die Eintragungen eher indirekt auf die Erfahrungen der Haft. Diese Zeit hinterließ dennoch Spuren im reiferen und schlichteren Tonfall, in dem David Vogel über seine komplexe Beziehung zu Ilka, seiner ersten Frau, nachdenkt. Gerade in der Art und Weise, wie er Ilka in ihrer Krankheit beschreibt – sie hatte Tuberkulose, wie später Vogel selbst –, kündigen sich Züge seiner künftigen weiblichen Prosafiguren an. Als Mann und Frau stehen sie einander gegenüber wie zwei gewaltige Pole. Und obwohl Vogel meint, Ilka bedrohe ihn mit ihrem übermächtigen Wesen, liebt er sie, eigenwillig und kapriziös, wie er ist, sehr. Auch nach 1916 bleiben seine Tagebucheintragungen spärlich, was unmittelbar auf seine Beziehung zu Ilka zurückzuführen ist. Am 22. Mai 1917 berichtet er, so unglaublich es sich anhören mag: ‹Manchmal sehne ich mich nach der Haft.› David Vogel bleibt hierin voller Widersprüche: 1919 heiratet er Ilka schließlich.

Ab 1918 machte sich David Vogel allmählich einen Namen als vielversprechender Lyriker. Seine Gedichte erscheinen in fast allen bedeutenden Organen hebräischer Literatur jener Zeit. Vogels Entscheidung für das Hebräische als seine Schaffenssprache, also weder für die jiddische noch für die russische oder gar die deutsche Sprache, ist dabei besonders zu beachten. Seine Biographie, die vom fehlenden Heimatempfinden gezeichnet ist, hebt hervor, daß er als Dichter einzig und allein in der Sprache seiner Wahl – im Hebräischen – beheimatet war. Von alledem erwähnt der Tagebuchautor jedoch verblüffenderweise nichts. Die letzte Eintragung in sein Tagebuch stammt vom 2. August 1922. Die schwerkranke Ilka wird in einem Sanatorium außerhalb Wiens behandelt, und David Vogel quält sich, wie schon 1912, mit der Frage, wo das Geld für den nächsten Tag herkommen soll.

In den zwanziger Jahren wird Vogel auch im Kreis der jüdischen Autoren Wiens bekannt: Man trifft sich im Café Arkade, spricht über die Lage der hebräischen Literatur, über den Zionismus und die Kunst. 1923 veröffentlicht er seinen ersten Lyrikband [1], im Dezember 1925 folgt ein Aufsatz über ihn sowie eine Reihe übersetzter Gedichte in der Berliner Jüdischen Rundschau [2]. Doch zu dem Wiener Kreis hebräischer Autoren bleibt der Lyriker distanziert. Nie ganz zugehörig zu sein, nie den ästhetischen Standpunkt des Betrachters preiszugeben, ist und bleibt für David Vogel zeit seines Lebens Leitmotiv. Die einzige Ausnahme dabei ist seine Annäherung an Avraham Ben-Yitzchak Sonne, einen weiteren Außenseiter im Kreis der jüdischen Autoren Wiens jener Zeit. Noch Jahre nach ihrer Begegnung wird sich David Vogel an diesen besonderen Lyriker, der auch Elias Canettis Anerkennung genoß, erinnern.

1925, ausgerechnet ein Jahr nachdem Vogel endlich die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, verläßt er plötzlich Wien und geht nach Paris. Diese Stadt bedeutet eine neue Phase seines künstlerischen Wirkens. Vogel befaßt sich von nun an intensiv mit der französischen Sprache, wandert täglich durch die Cafés von Montparnasse und schreibt eine Reihe von Gedichten, in denen er seiner Bewunderung für die Stadt Ausdruck verleiht. Er fühlt sich inspiriert und schreibt an der Novelle Im Sanatorium. Wahrscheinlich ermöglicht es ihm die nun gewonnene Distanz zu Wien, in diesen Monaten mit seinem großen Roman Eine Ehe in Wien zu beginnen.

Doch die Faszination durch Paris mündet nicht in ein Gefühl der Ansässigkeit. Im Mai 1929 wandert die Familie Vogel – er ist mittlerweile zum zweitenmal verheiratet, nun mit Ada Nadler – in das damalige Palästina ein. Weder eine Überzeugung von der zionistischen Idee noch Begeisterung für die neuen dort entstandenen kollektivistischen Lebensformen veranlaßten ihn zu diesem Schritt. Mit der Idee hatte er bereits 1923 gespielt, wobei seine Hoffnung, die Sonne Palästinas könne seiner Tuberkulose entgegenwirken, wohl maßgeblich war. Der Dichter wird im damaligen Palästina warmherzig empfangen, man bietet ihm sogar eine Stelle als Literaturlehrer an dem angesehenen Herzliah-Gymnasium an (was 1929 keinesfalls selbstverständlich war). Er ist aber von der Hitze und den Lebensbedingungen entsetzt und lehnt dieses Angebot ab. Es vergeht kaum ein Jahr, bis er im Frühjahr 1930, von Frau und Tochter begleitet, das Land am Mittelmeer verläßt.

Zunächst geht es nach Wien: Da sich Vogel jeder Beschäftigung, die nicht Schreiben ist, entzieht, leidet die Familie hier – wie später in Berlin, wo er die Übersetzung seines Romans durchsetzen will – buchstäblich unter Hunger. Im Dezember 1931 kehrt Vogel nach Paris zurück, wo er nun die Novelle An der See schreibt; hier wird er die Jahre bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verbringen. In Paris entstehen Gedichte, die gelegentlich in hebräischen Literaturzeitschriften veröffentlicht werden, doch es gelingt Vogel nicht, einen zweiten Gedichtband in Palästina herauszubringen. Das lyrische Werk David Vogels, das zu den bedeutendsten Werken der hebräischen Moderne zählt, wird erstmals 1966 von Dan Pagis veröffentlicht; [3] ein weiterer Band folgt 1983. [4] Die späte Anerkennung seines Werkes läßt sich im Hinblick auf den sehr subjektbezogenen poetischen Ansatz David Vogels erklären. Andere hebräisch schreibende Dichter seiner Generation gingen nach Palästina, um dort zu bleiben, beteiligten sich am zionistischen Projekt und schrieben an und für das Kollektiv. Doch David Vogel arbeitet aus einer ganz anderen Perspektive an seinen Wortgemälden. Er interessiert sich gerade zu der Zeit, wo die Welt von gestern verschwindet, für die Klänge des Waldes, für die untergehende Sonne im Dorf, für das leidende, sehr private Subjekt.

Indessen vermochte der feinfühlige David Vogel sehr wohl die anschwellende Katastrophe in Europa zu spüren. 1938 konnte er noch seinen Freund Hillel Bawli, der sich auf dem Weg nach Amerika befand, treffen. ‹Du bist glücklich, daß du nach Amerika gehst›, soll ihm Vogel gesagt haben, ‹wir werden hier demnächst bombardiert. Die Zerstörung ist nahe.› Die Tatsache, daß sich David Vogel überall als Wahlexilant bewegte, wird ihm in den kommenden Jahren zum Verhängnis: Am 3. September 1939 erklärt Frankreich Nazideutschland den Krieg. Am 4. September wird überall in Frankreich bekanntgegeben, daß sich deutsche Staatsbürger oder Bürger des Großdeutschen Reiches innerhalb der nächsten 24 Stunden in die entsprechenden Sammellager für Ausländer begeben sollen. Auch David Vogel, der sich zu jenem Zeitpunkt in Hauteville aufhält, wird interniert. Zum zweitenmal in seinem Leben fällt Vogel der Geschichtsgroteske unseres Jahrhunderts zum Opfer – Vogel, der Liebhaber französischer Sprache und Kultur, bleibt bis zum Juni 1941 unter menschenunwürdigen Bedingungen, diesmal als Staatsbürger des Nazireiches und somit potentieller Feind der Grande Nation, in Haft.

Nach der endgültigen Kapitulation Frankreichs wird Vogel aus der Haft entlassen. Er kehrt nach Hauteville, das jetzt im Bereich des Vichyregimes liegt, zurück, wohl ahnend, daß seine Zeit bereits zur Neige geht. Vom 10. Dezember 1941 datiert das uns letztbekannte Gedicht David Vogels [5]:

Stampfende Truppen in der ganzen Welt,

Alle zogen in den Kampf

Mordeswind wütet unterm Himmelszelt –

Doch ich bin im Moment noch hier.

Ich weiß, auch über mich wird der Wind hergehen,

Über Frau und Kind.

Wofür soll ich töten, wofür getötet werden?

Aus langem Tod kamen wir soeben,

eine kurze Lebensbrücke

eilig überquerend,

in einen langen Tod.

Und arm sind wir

und hungrig.

Blinder Nebel wälzt sich

in weichem Schnee,

versperrt die Straße

und Waldwellen,

die vom Berg heruntergleiten,

vor meinen Augen.

Und ohne Wärme sind wir.

Hier

verblieb mir

fast ein Nichts,

es reicht für einen Löffel Suppe.

Einen Armen rufe ich,

mit mir zu essen,

neben mir im Stroh zu liegen.

Hauteville, 10.12.1941

‹… Ich bin im Moment noch hier.› – Im Nachlaß David Vogels fanden die Forscher ein 127 Seiten umfassendes dichtbeschriebenes Manuskript, bei dem es sich, wie sie vermuteten, um ein Tagebuch handelte. David Vogel soll es während seiner zweiten Haft geschrieben haben. Jahrelang galt dieser Text, den Vogel zum erstenmal in seinem Leben auf jiddisch verfaßte, wegen der Entzifferungsschwierigkeiten als nahezu unzugänglich. Als erster konnte der Tel-Aviver Literaturwissenschaftler und Herausgeber Vogels Menachem Peri den Text ins Hebräische übertragen und in dem 1990 erschienenen Sammelband Tachanot Kavot veröffentlichen. In seinem ausführlichen Nachwort datiert Menachem Peri David Vogels Arbeit an dem Text auf die Zeit nach der Entlassung aus französischer Haft, ‹sehr wahrscheinlich› auf 1942. Mit Nachdruck bestreitet Peri die Annahme, es handele sich um ein Tagebuch. Er hält das Manuskript vielmehr für den ‹Entwurf eines autobiographischen Romans›. Seine These untermauert er unter anderem mit dem Hinweis auf den Namen des Protagonisten: Im Manuskript heißt dieser mit Nachnamen stets ‹Weichert›, eben nicht ‹Vogel›. Bei der Wahl des Vornamens konnte sich David Vogel offensichtlich nicht entscheiden, ob Weichert ‹Ernst› oder ‹Rudolf› heißen soll. Peri entschied sich als Herausgeber für Rudolf – wegen der Figur Rudolfs in Vogels Roman Eine Ehe in Wien.

Auch ohne die Gattung festzulegen, darf man vermuten, daß Alle zogen in den Kampf klare autobiographische Merkmale aufweist. Die tagebuchartigen Eintragungen Rudolf Weicherts setzen mit dem 3. September 1939 und der französischen Kriegserklärung ein. Es dauert dann doch noch einen Monat, bis der österreichische Staatsbürger und Jude Weichert von der französischen Gendarmerie verhaftet wird und in das Sammellager in Bourg kommt. Als letzte Freiheit bleibt Weichert sein innerer Monolog, seine Sprache. Weichert-Vogel macht von seiner minuziösen Sprache besonders da Gebrauch, wo er die Figuren der anderen Häftlinge nachzeichnen will. Sie alle – Herr Meinart und Mai, ‹die Arier›, Dr. Jochen Seligson und Richard Fried, die Juden, der Baron von Malachowsky, Herr Deichmann, Rosenstiel und viele andere – werden vom Erzähler bis in die kleinste menschliche Geste skizziert. Durch die Beschreibung ihrer Kleinlichkeit, zugleich aber auch Größe, gewinnen die Häftlinge ständig an Tiefe und Statur. Aus seiner unverwechselbar scharfsinnigen Perspektive scheut sich der distanzierte Weichert nicht, seine Mithäftlinge zu kommentieren und gelegentlich zu verurteilen. Vogel-Weichert, der immanente Outsider, schont dabei seine Figuren nicht. Ganz in der Tradition des großen jiddischen Autors Mendele Mocher Ifarim erzählt er deren Geschichte bisweilen mit Sarkasmus, so im Fall des Häftlings Liechtenstein, mit spitzem Kinn und schwarzen Augen, der sich überall als Katholik vorstellte. Als Liechtenstein sich bemüht, allen zu erklären: ‹Jude bin ich Gott sei Dank nicht›, kommentiert dies Weichert: ‹Seit jenem Ausspruch war mir zu meinem Bedauern klar, daß er sehr wohl Jude war, und ein häßlicher obendrein.›

In der Lagerwelt, der Welt der Umkehrung aller Vorstellungen einer freien Gemeinschaft, wo die Häftlinge neben Rang und Position auch nahezu alle elementaren menschlichen Rechte eingebüßt haben, wo alle scheinbar gleichermaßen der Willkür stumpfsinniger Militärs ausgesetzt sind, entwickeln sich neue Lebens- und Verhaltensnormen. Menschliche Normen wie die Achtung der Wahrheit oder die Korrektheit des Umgangs untereinander werden hier hinterfragt. Die Komplexität der menschlichen Situation im Lager stellt für Weichert-Vogel gleichzeitig den Rahmen für die leise anklingende Aussage über das Verhältnis von Schuld zu Beschuldigtem dar. An manchen Textstellen werden die Positionen der französischen Machthaber und der Häftlinge ausgetauscht. Weichert geht so weit zu behaupten, daß es Häftlinge gibt, die gar nicht befreit werden wollen – offenbar eine Projektion seiner eigenen Schuldzuweisung. Er, der in seinem Selbstzweifel immer noch glaubt, der Haft irgendeine Kausalität entnehmen zu können, schreibt anderen Häftlingen den seelischen Zustand des immanenten Gefängnisses zu. So sagt er an einer Stelle: ‹Beinahe habe ich die Schuld eines Verbrechens empfunden, welches ich nie begangen habe.› Doch dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt wie alle Versuche, im Lager irgendeinen Sinn zu finden.

In Alle zogen in den Kampf, dem letzten uns bekannten Werk David Vogels, entfaltet seine poetische Kraft sich in vollem Umfang. Beispielhaft ist das Kapitel Arandon, die zweite Station der Häftlinge auf ihrer Irrfahrt durch Südfrankreich. Dieses Kapitel ist von einer Brot-Teig-Metaphorik geradezu bestimmt. Der Mond wird mit einem Butterbrötchen oder einem Kloß Nudelteig verglichen. Als einer der Häftlinge in den Krankenwagen gebracht wird, zeichnet der Autor dieses Bild, ein Bild vom Brot, das in den Ofen geschoben wird, nach. Zu Recht sagt Menachem Peri, dies sei die Sprache eines hungrigen Menschen. In der Authentizität der Darstellung der Condition humaine im Lager darf Alle zogen in den Kampf nicht nur als einer der besten Texte David Vogels gelten, sondern kann neben den autobiographischen Werken Primo Levis als eines der erschütterndsten literarischen Zeugnisse jüdischer Autoren von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs bestehen.

Nur mit Vorbehalt läßt sich das französische Sammellager, von dem David Vogel hier berichtet, mit den deutschen Konzentrationslagern vergleichen, doch fühlt man sich dennoch versucht, die letzte Szene von Alle zogen in den Kampf aus der Perspektive jenes anderen Lagers zu lesen: Von Loriol aus werden die Häftlinge, wie Tiere in Viehwaggons gepfercht, in unbekannte Richtungen abtransportiert. Das Jahr – 1941. Bedenkt man, daß David Vogel dieser französischen grotesken Haft noch entkommen konnte, daß er noch als freier Mensch, gegen die Zeit, Alle zogen in den Kampf verfassen konnte, ist es erlaubt zu sagen, daß er sein eigenes Ende vorausgeahnt hat. Anfang 1944 verliert sich die Spur David Vogels. Seiner sechzehnjährigen Tochter, die nach dem Krieg bei den französischen Behörden um Auskunft über das Schicksal ihres Vaters ersuchte, wurde 1946 aus Nizza lakonisch mitgeteilt, David Vogel sei als déporté politique am 7. Februar 1944 an Deutschland ausgeliefert worden. Wir wissen es heute genauer: Einen Monat später, am 7. März 1944, wurde der Autor zusammen mit 1300 anderen jüdischen Männern und Frauen nach Auschwitz deportiert. Dieses Lager hat er nicht überlebt.

Bevor er von den Nazis verschleppt wurde, hatte David Vogel das Manuskript von Alle zogen in den Kampf zusammen mit anderen Texten im Garten der alten französischen Dame, bei der er bis zu seiner Verhaftung 1944 wohnte, vergraben. Nach dem Krieg konnte sein Freund Avraham Goldberg das Manuskript retten. Erst im Januar 1990 findet die Odyssee der Blätter, die David Vogel in der ihm noch verbliebenen Zeit an uns adressierte, mit dem von Menachem Peri herausgegebenen Band ihr Ende.

Amir Eshel

Das Ende der Tage

Das Ende der Tage, gezwängt in die Nacht,

Gezwängt in den Tod.

Hie die Mutter, da das Töchterlein,

Beide lieben mich allein,

Verehren, begehren mich im Verein.

Wähle ich Mutter oder Töchterlein?

Jung und zart die Tochter zum Küssen,

Die Mutter wird sich bald ins Alter fügen müssen,

Die Liebe dieser noch nicht verglüht,

Die Liebe jener kaum erblüht.

Und ich weiß nicht, ob die Alte oder die Junge,

Eine wie die andere übt flink die Zunge,

Die eine lockt mit roter Feuersglut,

Die andere mit schneeweißem Tugendmut,

Und ich in der Mitte. Eifersüchtig blicken die beiden,

Eine will das Glück der anderen nicht leiden.

Und ich weiß weder aus noch ein:

Wähl’ ich die Mutter oder ihr Töchterlein?

Ein unreifes Mädel noch die Kleine,

Kindlich feucht ihre Liebe, die reine,

Wie soll ich nur mit dem Küssen beginnen,

Falls nach einem Kusse steht ihr Sinnen?

Der Mutter Leib ist mir hingegeben,

Wo ich auch steh’, gilt mir ihr Streben.

Sie spürt ihre Blüte langsam vergehen,

Des Lebens Herbst und Winter wehen,

Und möchte dann in langer Wintersruh’

Lichte Träume hegen ab und zu,

So vor dem Einschlafen mit einem Knaben

Noch Liebesgaben.

Dieses unveröffentlichte Gedicht, ein unreifes Jugendwerk, das David Vogel seinem Jugendfreund Abraham Landa mit Bleistift ins Heft schrieb, sei Vogels Tagebuch Das Ende der Tage vorangestellt. Die darin angesprochene Liebesaffäre mit Chana (Chanja) und ihrer Mutter zieht sich durch die ersten drei Jahre des Tagebuchs. Chanas verheiratete Mutter, deren Mann in Amerika weilte, war die erste Frau, die Vogel besaß, und sie war es auch, die ihn mit der Tochter zusammenführte, um ihn ‹für immer› an sich zu binden – eine jüdische ‹Lolita›-Geschichte, bei der Vogel neunzehn und das Mädchen elf war. Zu dem Zeitpunkt, da das Tagebuch einsetzt, hatte Vogel die Beziehung zur Mutter bereits abgebrochen, während die zur Tochter – trotz der erbitterten Gegenwehr der Mutter – fortdauerte, nachdem beide, Mutter und Tochter, zum Vater nach Amerika gefahren waren.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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