Das Ende von allem? Neun Betrachtungen und ein Essay - Hans Ulrich Gumbrecht - E-Book

Das Ende von allem? Neun Betrachtungen und ein Essay E-Book

Hans Ulrich Gumbrecht

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Beschreibung

Wer verspürt nicht Endzeitmelancholie, wenn liebgewonnene Traditionen verschwinden und den sprichwörtlichen Bach hinuntergehen? In neun prägnanten Einzelbetrachtungen und einem übergreifenden Essay beleuchtet Hans Ulrich Gumbrecht kenntnisreich wie kurzweilig den tatsächlichen Niedergang einzelner Phänomene – vom samstäglichen Fernsehabend über ausufernd-körperliche Leidenschaft, Gelehrtheit, das Rauchen, Bargeld und Geisteswissenschaften bis hin zum Stierkampf: scharfsinnige, stilistisch brillante Kommentare auf unsere Gegenwart.

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Seitenzahl: 89

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Hans Ulrich Gumbrecht

Das Ende von allem?

Neun Betrachtungen und ein Essay

Herausgegeben von René Scheu

Reclam

E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

 

 

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962151-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014279-0

www.reclam.de

Inhalt

Prolog

Das Ende von allem?

Zentrifugale Notizen zu einer Symptomatologie der Gegenwart

Neun Essays

Stierkampf

Fernsehabend

Bargeld

Erotische Leidenschaft

Gelehrsamkeit

Fußball-Kämpfer

Analog-Leben

Rauchen

Geisteswissenschaften

Epilog

Notiz des Herausgebers

Von René Scheu

Zu dieser Ausgabe

Prolog

Das Ende von allem?

Zentrifugale Notizen zu einer Symptomatologie der Gegenwart

Museen sind Orte der unmittelbaren Begegnung mit Dingen, die unsere Kultur heraufbeschwören. Ausgeklammert von den Rhythmen und Funktionen des Alltags, stellen sie ihren Besuchern Produkte menschlichen Handelns als ›Originale‹ vor. Die musealen Dinge erweisen sich als Fragmente aus fernen Zeiten, Räumen oder Situationen, die gerade in ihrer Besonderheit Aufmerksamkeit binden und vielschichtige Gefühle auslösen, weil sie allein sich selbst zeigen und so zu Verdichtungen ihrer Ursprungskontexte werden. Im Museum schlagen die Distanzen der verschiedensten Dimensionen, aus denen Originale kommen, dann in die Versuchung eines Berührens um. Doch genau das ist verboten – und macht auf diese Weise besonders deutlich, wie die gezeigten Dinge unsere Begierde provozieren, aber auch die Bedrohung aufrufen, durch sie überwältigt zu werden.

Nichts als eine flexible Leere trennt ja die körperlichen Reaktionen unserer Wahrnehmung von den Originalen, und so bedarf es oft einer Anstrengung des Willens, um uns endlich ihren Kraftfeldern zu entziehen. Wenn wir mit Offenheit und Konzentration auf Museen reagieren, dann kann die wiederholte Dynamik dieses Angezogen-Werdens und Sich-Entziehens in einen Zustand affektiver und auch körperlicher Ermüdung münden, der zu diesen Orten der Begegnung gehört und unsere aktive Teilnahme an ihrem Potential im Zurückblicken spürbar hält.

Seit einigen Jahren aber hat sich zu der Besucherin, die ihre spannungsvollen Positionen im Verhältnis zu den Originalen durchlebt, eine ganz andere Figur gesellt: Mit dem Smartphone in der Hand nähert sie sich jedem Exponat auf die für eine Fotografie angemessene Entfernung und geht von dort zum nächsten Exponat weiter, bis sie die vollständige Sammlung des jeweiligen Museums im elektronischen Gedächtnis gespeichert hat. An keiner Stelle gerät der zügige Fortgang des Aufzeichnens in die Kraftfelder der Originale, was der Serien-Fotografin jeden Aufwand von Müdigkeit erspart. Denn ihr geht es ja gerade um einen Akt, welcher die Wirkung der Originale von ihrem Ort der Nähe befreien und mithin das Ereignis und den Prozess der Konfrontation mit ihnen der Verfügbarkeit einer unbestimmten Zukunft anheimstellen soll. Und selbst solche Akte der Distanzierung von Originalen sind auf dem Weg, Spuren der Vergangenheit zu werden, seit künstliche Intelligenz die Möglichkeit entwickelt hat, gleichsam ›auf Knopfdruck‹ Bilder oder Texte mit der Stil-Aura eines individuellen Malers oder Autors herzustellen. Können wir angesichts dieser Entwicklung die grundlegende Unterscheidung zwischen Original und Kopie überhaupt noch aufrechterhalten? Und wird unsere Erwartung an Kunst und ästhetische Erfahrung die Aufhebung solcher Unterscheidungen überleben?

Einmal abgesehen von diesem noch kaum wirklich bearbeiteten Problemhorizont und der philosophisch spezifischeren Frage, ob sich jene Spannung der Begegnung mit dem Original in räumlicher Distanz überhaupt vollziehen kann, und der eher banalen Vermutung, dass die Handy-bewehrten neuen Museumsbesucher nie wirklich auf die ins Unendliche wachsenden Archive ihres habituellen Aufzeichnens zurückgreifen werden, zeichnet sich dann inmitten einer Institution und ihres weiterlaufenden Rituals die Vision von einem Ende ab. Denn ohne die grundlegenden und je spezifischen Kraftfelder von Räumlichkeit werden Museen nicht existieren können.

Auf solche Grundstrukturen von oft, aber nicht notwendig durch elektronische Technologie zu ihrem Ende kommenden Lebensformen, wie sie ohne Gesten von Diskontinuität oder gar Gewalt die Gegenwart fast unbemerkt durchlaufen und doch schon potentiell spalten, bin ich in den vergangenen Jahren immer wieder gestoßen und habe sie mit einer Reihe von Essays zu beschreiben versucht, die im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung erschienen sind. Überlegungen zu einer denkbaren Konvergenz zwischen den einzelnen Beobachtungen, die sich vielleicht zu einem weitgehend übersehenen gesellschaftlichen oder existentiellen Einschnitt hochrechnen ließen, standen zunächst im Hintergrund.

Die überarbeitete Wiederveröffentlichung der kleinen Texte in diesem Reclam-Band jedoch soll ein Reflexionsbogen des Rückblicks und des Vorausdenkens einleiten. Er führt zu dem Eindruck, dass die verschiedenen thematisierten ›Enden‹ zwar in vielfältigen wechselseitigen Beziehungen zueinander stehen, aber nicht auf eine eindeutige Gegenwartsdiagnose oder gar Zukunftsprognose als Fluchtpunkte hinauslaufen. Im Gegenteil und vielleicht abweichend vom intellektuellen Impuls einer ersten Reaktion haben sich die verschiedenen ›End‹-Beobachtungen in durchaus zentrifugale Richtungen des Denkens weiterentfaltet, aus denen ein von Widersprüchen und Paradoxien durchsetzter Blick auf die für unser Leben anstehenden Jahrzehnte entsteht. Es lässt sich kein Fluchtpunkt der Gegenwart ausmachen und auch kein kompaktes Profil. Stattdessen zeigt uns der von den Enden ausgehende Blick eine symptomatologische Landschaft aus vielfältigen Positionen und Dynamiken, die sich gegenseitig beeinflussen. Dies mag auch damit zu tun haben, dass der heute naheliegende Stil des Nachdenkens über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr der Stil des um 1800 entstandenen ›historischen Weltbilds‹ ist, dessen Stärke eher in dichten begrifflichen Formeln als in fortlaufender Nuancierung und Differenzierung lag.

*

So wie Museen mit den einschlägigen Berufskompetenzen selbst angesichts eines möglichen Endes fortbestehen und sich vielleicht sogar wachsender Beliebtheit erfreuen, gehören zu privaten Räumen auch weiter Bildschirme, um die wir uns noch gelegentlich versammeln, um gemeinsam ein Segment aus den längst alle Stunden des Tages abdeckenden Fernsehprogrammen anzuschauen. Und dies obwohl das Fernsehen eine andere Schicht unseres institutionellen Alltags ausmacht, die mittlerweile zum Ende ihrer prägnant zu fassenden großen Zeit gelangt ist. Diese Zeit setzte um die Mitte des 20. Jahrhunderts ein, als zunächst in den Vereinigten Staaten regelmäßig ausgestrahlte Quiz-Sendungen und fiktionale Serien mit Geschichten aus Familien der Mittelklasse begannen, jene gemeinsamen Stunden des Zusammenlebens auszufüllen, die sie zugleich aushöhlten. Wer in Deutschland damals den Quizmaster Peter Frankenfeld mit seinem karierten Jackett oder die wöchentlichen Episoden von Vater ist der Beste – auch als Themen der Gespräche für den nächsten Tag – miterleben wollte, der musste bestimmte Zeitfenster von 90 oder 45 Minuten in seinem Stundenplan freihalten.

Jene im Leben einer ganzen Generation heutiger Rentner zentrale Abhängigkeit von der Zeit des Fernsehprogramms mit ihren Folgen für das gesellschaftliche Leben verlor ihre Dominanz angesichts der Möglichkeit individueller Aufzeichnungen, also schon viele Jahre vor den ersten Anfängen elektronischer Medien. Inzwischen sind die unsere Bildschirme bespielenden Programme zu einer unablässigen Lieferung von visuellen Materialien geworden, deren interner Zeitstruktur keinerlei Relevanz mehr zukommt. Prinzipiell können wir uns jedes existierende Programmelement in jedem Moment zu Gemüte führen, was eine profunde Veränderung in der Zeitdimension unseres Alltags eingeleitet hat: Viel weniger als früher sind wir auf individuelle Synchronisierungen mit den jeweiligen Gegenwarten einer laufenden Zeit angewiesen, seit jede unmittelbare oder lang zurückliegende Vergangenheit in einer diffusen, immer breiter werdenden Gegenwart abrufbar ist. Und dies betrifft nicht allein die potentiellen Gegenstände des Bildschirms, sondern alle Dokumente, Gegenstände und weitgehend auch Ereignisse aus der Vergangenheit, wie sie in mittlerweile elektronischer Aggregatform verfügbar geworden sind.

Nur für die Interaktion mit anderen Menschen brauchen wir noch die Koordination in einer und derselben Gegenwart. Von dieser einen Ausnahme abgesehen hat der Strukturwandel der Zeit – gemeinsam mit dem Statuswandel des Raums – zu einem Schub der Individualisierung in unserer Existenz beigetragen, einer Individualisierung allerdings, die nicht wie ihre Vorgängerformen aus der Epoche der Romantik von einem expliziten Pathos der Freiheit eingerahmt ist. Eher handelt es sich, auf das Fernsehen zurückgewendet, um die Freiheit – und um die Einsamkeit – des Binge Watchers, der immer und beliebig lang beliebig viele Episoden einer Serie konsumieren kann. Von außen mag man diesen Grad einer in die Einsamkeit führenden Freiheit durchaus als Suchtphänomen identifizieren, auch wenn sich potentiell Süchtige schon den kleinsten Ansätzen zu ihrer Einschränkung mit Irritation und Protest widersetzen.

*

Dieses noch um 1990 kaum vorstellbare weitgehende Ende individueller Abhängigkeit von den Dimensionen des Raums und der Zeit, wie sie ›das Ende des Museums‹ und ›das Ende des Fernsehens‹ veranschaulichen, ist kein Spezifikum einer der heute koexistierenden menschlichen Kulturen. Es steht als Möglichkeit global zur Verfügung, weil seine Effekte vor allem an den sich schnell zu öffnenden Zugang zu Geräten und Funktionen elektronischer Technologie gebunden sind. Wem dieser Zugang aus wirtschaftlichen Gründen nicht offensteht oder wer aus eigenem Entschluss auf ihn verzichtet, der wird immer noch einen Eindruck von den Wirkungen der neuen Individualität haben, sie aber aus der Perspektive einer erlittenen oder gewünschten Distanz erfahren. Aus entgegengesetzter Richtung formuliert: Die chronologisch junge Individualität in ihrer Annäherung an ein Ende der Abhängigkeit von Raum und Zeit ist für die meisten Zeitgenossen schnell zum Normalstatus des Alltags geworden.

Geschichtlich gesehen jedoch – und im paradoxalen Gegensatz zur Pathologie-Perspektive auf die Sucht-affine Einsamkeit der Binge Watchers – ist die auf breite Resonanz stoßende Version des menschlichen Alltags mit ihrer neuen Individualität im Zentrum einer Einlösung jener Begriffe nahegekommen, welche bis vor kurzem ausschließlich für unsere Vorstellungen von Göttern reserviert waren. Menschliches Leben steuert heute auf ein vielfaches Ende seiner – typisch menschlichen – Begrenzungen zu. So haben die Covid-Jahre gezeigt, wie wir in einem unverhofften Status von ›Allgegenwart‹ leben. Gespräche mit Menschen auf anderen Erdteilen oder Begegnungen mit den in Museen ausgestellten Originalen aus fernen Dimensionen sind von der Bewegung unserer Körper im Raum unabhängig geworden und verursachen nicht einmal mehr, wie noch vor wenigen Jahren, Kosten, die uns zur Sparsamkeit anhalten könnten. Und schon kündigt die emergierende Technologie des ›Metaversums‹ eine Zukunft an, welche selbst die bisher fehlende Berührbarkeit ferner Gegenstände und Körper herstellen soll.

*

Der Vergangenheitsseite des Gottesprädikats von der ›Ewigkeit‹ entspricht die durch elektronische Speichermedien hergestellte Abrufbarkeit aller Dinge und Momente aus früheren Zeiten, welche die traditionelle Imagination einer vollständigen Erinnerung verwirklicht (und tendenziell überbietet, weil sie auch all das einschließt, was wir nicht selbst erlebt oder erfahren haben). Auch die nahe Zukunft beginnt sich nun mit einem Grad von Gewissheit zu erschließen, den wir zu schätzen lernen, wenn wir etwa die heutige Zuverlässigkeit von Wettervorhersagen mit den stets vagen meteorologischen Spekulationen aus dem letzten Jahrhundert vergleichen. Vergangenheit und Zukunft werden fortschreitend für die Gegenwart unserer Sinne und unseres Verstandes einholbar. Dies ist die neue – menschliche – Ewigkeit.