Leben der Stimme - Hans Ulrich Gumbrecht - E-Book

Leben der Stimme E-Book

Hans Ulrich Gumbrecht

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Beschreibung

Gesellschaftliches Leben findet seit Menschengedenken primär im Medium der Stimme statt. Daran haben auch die epochalen Erfindungen von Schrift und Buchdruck oder elektronische Technologien nichts geändert. Vielleicht erklären die Unvordenklichkeit der Stimme und ihre elementare Funktionsvielfalt, warum die Geistes- und Kulturwissenschaften sie weitgehend übersehen haben. In Leben der Stimme unternimmt Hans Ulrich Gumbrecht entschlossene Denkschritte in diesem komplexen Bereich menschlicher Existenz.

Mit großem Respekt vor der ungeordneten Allgegenwart des Phänomens, aber nicht ohne klare begriffliche Unterscheidungen erhellt er in den sieben Kapiteln dieses faszinierenden Buches die Bedeutung und den Status der Stimme aus historischer, philosophischer, psychologischer, soziologischer und theologischer Perspektive. Jenseits akademischer Vermessungen ergibt sich daraus ein Impuls zu persönlicher Reflexion über unerschlossene Schichten von Nähe im individuellen Alltag.

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Seitenzahl: 349

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

3Hans Ulrich Gumbrecht

Leben der Stimme

Ein Versuch über Nähe

Aus dem Englischen von Michael Bischoff

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2025

© Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: MICHELS DESIGN

Umschlagabbildung: Ricky Gumbrecht, Yellow 2, 2021, Acryl auf Holz, 61 x 122 cm

eISBN 978-3-518-78223-1

www.suhrkamp.de

Widmung

7Meiner Tochter Laura Teresa und dem wunderbaren Volumen ihrer Stimme gewidmet

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

1 Knoten der Stimme: Impulsenergien und begriffliche Überschneidungen

2 Stimmen und existenzielle Räume: Das Gewebe der Alltagswelten

3 Mitsingen: Die Entstehung mystischer Körper

4 Stimmen in der Geschichte: Ontologische Diskontinuität durchleben

5 Stimmen und Imagination: An der Schwelle zum Handlungsvermögen

6 Stimmen von neutraler Vollkommenheit: Die Ansprache transzendenter Autorität

7 Überwältigende Stimmen: Eine Entbergung von Nähe

Dankbarkeit für intellektuelle Nähe

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1 Knoten der Stimme: Impulsenergien und begriffliche Überschneidungen

Wenn ich an meine Mutter denke, die im Sommer 2012, einige Monaten nach ihrem 91. Geburtstag und in Demenz versunken, starb, höre ich niemals eine Stimme. Zwar gibt es eine deutliche Erinnerung an ihren westfälischen Akzent, der sich in den 70 Jahren, die sie in der phonetisch andersartigen Umgebung Süddeutschlands verbrachte, niemals veränderte – und der in einem solchen Maße zu meiner »Muttersprache« wurde, dass Menschen, denen ich heute begegne, ebenso regelmäßig wie fälschlich annehmen, ich wäre im nördlichen Teil des Landes aufgewachsen. Dieser Akzent jedoch, den ich bis zu meinem Tod nicht verlieren werde, ihre Art der Artikulation, spaltete sich an irgendeinem Punkt vom Klang der Stimme meiner Mutter ab, die ich unwiederbringlich aus dem Gedächtnis verloren habe.

Die Stimme meines Vaters hat dagegen bis heute eine brennende Präsenz behalten, deren irgendwie physischer Wirkung ich nicht zu entkommen vermag. Er war ein bemerkenswert gutaussehender Mann nach Art eines Hollywoodstars der 1940er Jahre, wie manche seiner Bewunderer gerne sagen, wobei »Clark Gable« einer der liebevollen Vergleiche war, die ich seit Kindertagen hörte. Und er war ein bemerkenswert erfolgreicher Mann mit einer steilen beruflichen Karriere als ein Arzt, der in der frühen »Bundesrepublik« einige herausragende Figuren des Landes zu seinen Patienten zählte. Seine Stimme passte allerdings nicht zu Aussehen, Erfolg und Status meines 10Vaters, jedenfalls nicht in der Wahrnehmung seines einzigen Sohnes. Während ich dies schreibe, begleitet sie mich mit dem Klang einer weiblichen Stimme in Altlage – ähnlich der Stimme des weniger gutaussehenden, aber weitaus berühmteren Niklas Luhmann.

Heute empfinde ich es als peinlich, genauer zu sagen, was mich an der Stimme meines geliebten Vaters irritierte. Von Kind an verspürte ich den unbestimmten, aber intensiven Drang, einen Ausgleich für etwas zu finden, das ich als eine fundamentale Schwäche empfand, die sich in meinen Augen in ihr manifestierte. Und ich fürchtete die Anzeichen wie auch die Folgen dieser Schwäche, die ich zu bemerken glaubte. Fühlte sich meine Mutter nicht vielleicht zu anderen Männern hingezogen, zu Männern mit weniger gutem Aussehen, weniger Erfolg und weniger Vermögen – aber einer tiefer klingenden Stimme? Hatte ich nicht solch eine tiefere Stimme in unserer Wohnung gehört, eines Abends beim Einschlafen, nachdem ich Rührei mit einem leichten Geschmack verschreibungspflichtiger Medikamente gegessen hatte? Waren da nicht plötzlich weniger dieser berühmten Patienten, die uns gelegentlich zu einem opulenten Essen in einem Restaurant oder in spektakuläre Ferienorte einluden? Und dann die Spannungen bei diesen endlosen Diskussionen zwischen meinen Eltern über die Entscheidung der Klinik, in der Abteilung, für die mein Vater verantwortlich war, die Zahl der Betten zu reduzieren – eine Entscheidung, die nach mehreren längeren Phasen der Abwesenheit meines Vaters von der Arbeit getroffen wurde, bedingt durch Krankheiten, deren körperliche Symptome ich nicht bemerkte. Einmal verbrachten mein Vater und ich die Sommerferien am Bodensee, ohne meine Mutter und nicht weit entfernt von der Schweizer Grenze. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich mich während der Autofahrten ganz bewusst bemühte, unsere Unterhaltung möglichst kurz zu halten, weil es für mich zu schmerzvoll war, seine Stimme zu hören.

11Dieser Eindruck von Schwäche und die Anstrengungen, die ich unternahm, um mit ihm fertigzuwerden, haben tiefe Spuren in meinem Leben hinterlassen. Nach einem schwierigen Beginn in der Volksschule setzte ich alles daran, durch höchste Aufmerksamkeit und unablässigen Fleiß in der Schule ein erkennbar überragender Schüler zu werden, einer mit den besten Noten in allen Fächern, der zudem bis zum Abitur keinen einzigen Tag im Unterricht fehlte und bei seinen Mitschülern derart beliebt war, dass er sogar zum Schulsprecher gewählt wurde. Schließlich schien die Ehre der Familie auf dem Spiel zu stehen, und ich musste sie jeden Tag verteidigen – mit der naheliegenden Folge, dass ich niemals Spaß an der Schule hatte. Zu keinem Zeitpunkt waren diese Probleme und meine Reaktionen darauf losgelöst von der Stimme meines Vaters.

Das mag erklären, warum ich mich der Pubertät mit der Angst im Nacken näherte, meine erwachsene Stimme könne der meines Vaters gleichen – eine mögliche Entwicklung, die im Unterschied zu den Noten und der Beliebtheit in der Schule jenseits meiner Kontrolle lag. Also begann ich jeden Morgen mit einem mir selbstauferlegten Test. Ich räusperte mich, sprach mit mir selbst oder sang, um herauszufinden, ob meine neue Stimme sich endlich zeigte und wie sie beschaffen war. Zu einem bestimmten Zeitpunkt – später als bei meinen Klassenkameraden – begann der Eindruck die Oberhand zu gewinnen, dass meine erwachsene Stimme zumindest »durchschnittlich tief« und kein triftiger Grund für peinliche Verlegenheit, Angst und permanente Kompensierung sein würde.

Und tatsächlich hatte ich Glück. Meine Stimme liegt zwischen Bariton und Bass und sie hat sich als eine erwiesen, die mir als Redner bei akademischen und öffentlichen Veranstaltungen gute Dienste leistet, da ihr Volumen selbst große Räume ohne Mikrofon zu füllen vermag. Aber auch wenn ich für diese physische Tatsache immer noch Dankbarkeit empfinde, ohne zu wissen, wem sie zu gelten hat: Stolz war ich auf diese 12Stimme nie und bis heute ist mein Verhältnis zu ihr kein entspanntes. Immer wenn ich sie außerhalb gewöhnlicher Alltagsgespräche einsetze, prüfe ich nervös, ob sie noch gut funktioniert – um dann der Welt mit einem sonderbaren Eifer zu zeigen, dass es so ist. Stimmen, und nicht nur meine eigene, werden in meinem Leben immer einen besonders intensiv empfundenen Platz einnehmen, weil ich mich an ihnen messe, während ich weiterhin obsessiv Stärke gegen die empfundene Schwäche der Stimme meines Vaters aufbaue, an deren Klang ich mich seit seinem Tod 2005 immer noch äußerst lebhaft erinnere. Stimmen gehen mir ganz buchstäblich nach, und bis vor kurzem fehlte mir die nötige Distanz, um auf einer allgemeineren Ebene über sie nachzudenken.

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Im gegenwärtigen kulturellen, vor allem akademischen Klima kommt einem fast unvermeidlich eine Interpretation in den Sinn, die den traumatischen Einfluss der Stimme meines Vaters aufzulösen verspricht. War ich nicht einem banalen Geschlechtsstereotyp aufgesessen, als ich annahm, dass mein Vater als Mann eine tiefe, eben »männliche« Stimme haben musste und dass das Fehlen einer solchen eine Schwäche mit negativen Auswirkungen auf Ehre und Stellung meiner Familie enthüllte? Es steht außer Frage, dass Männer mit einer Altstimme in vielerlei Hinsicht stark und erfolgreich sein können, woraus folgt, dass ich mir gar keine Sorgen hätte machen sollen. Und dennoch wird dieser rückblickende Kommentar weder den Schmerz meiner Kindheitsjahre ungeschehen machen noch eine erlösende Wirkung auf die dadurch getriggerten neurotischen Verhaltensweisen haben.

Zwar illustriert meine Geschichte tatsächlich einen historischen Gender-Bias, den überwunden zu haben wir hoffen mögen. Ich habe inzwischen jedoch auch den Eindruck, dass sie 13als Beispiel für gewisse Erscheinungen dienen könnte, die eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen, aber mit den Konzepten der Geistes- und Sozialwissenschaften nur schwer zu erfassen sind. In meinen Augen gehören sie zu einer, wie ich es nennen möchte, »Ontologie der individuellen Existenz«. Dabei denke ich an individuelle körperliche Merkmale, wie wir sie an Menschen wahrnehmen, mit denen wir interagieren. Wir wissen natürlich, dass wir es nicht vermeiden können, in irgendeiner Weise auf solche Merkmale zu reagieren – auf Körper, die hochgewachsen sind, auf Gesichter, die wir als gutaussehend empfinden, auf »Missbildungen« oder auf den Klang individueller Stimmen, von denen die meisten Menschen angeblich etwa einhundert in Erinnerung behalten und unterscheiden können. Zugleich haben wir alle gelernt, dass solche spontanen Reaktionen in unserem sozialen Leben keine Rolle spielen sollten, weil sie einen Grundsatz der Gleichheit untergraben, der uns verpflichtet, Details zu ignorieren, die der andere nicht zu kontrollieren vermag, zum Beispiel eben die Körpergröße oder die Tonlage der eigenen Stimme. Das ist einer der Gründe, weshalb wir uns kaum jemals mit den Phänomenen befassen, die zur Ontologie der individuellen Existenz gehören. Ein zweiter Grund für diese Zurückhaltung hängt mit der Tatsache zusammen, dass es keine allgemeinen Regeln für den Umgang mit diesen Merkmalen gibt. Gesichter oder Stimmen, die den einen anziehend erscheinen, mögen von anderen als abstoßend empfunden werden. Es dürfte keinerlei Aussicht auf die Existenz gemeinsamer Filter sozialen Wissens bestehen, die wir alle bei dieser existenziellen Dimension einsetzen und die unsere sozialen Beziehungen durchgängig prägten.

Unter den zur Ontologie der individuellen Existenz gehörenden Phänomenen nimmt die Stimme eine besonders komplizierte Stellung ein. Denn im Blick auf »Bedeutung« erfüllt die Stimme eine doppelte Funktion. Zusammen mit der Schrift 14ist sie das Medium, durch das wir propositionale Gehalte zum Ausdruck bringen, die wir, vereinfacht gesagt, in unserem Geist gebildet haben – und aus dieser Perspektive unterscheiden Stimmen sich von Körperformen oder Gesichtern, die niemals eine genau umschriebene Bedeutung artikulieren. Zugleich jedoch – und darin den Körperformen oder Gesichtern durchaus ähnlich – lösen Stimmen vage Assoziationen aus, die nicht die festumrissene Gestalt propositionaler Inhalte besitzen. Ein Beispiel ist die peinliche »Schwäche«, die ich aus der Stimme meines Vaters »heraushörte«, sobald er sprach. Auf dieser zweiten Ebene – und im Unterschied zur Ebene der Stimme als Medium für propositionale Inhalte – scheint es unmöglich zu sein, die ausgelösten Assoziationen vollkommen von gewissen körperlichen Merkmalen zu trennen, die wir wahrnehmen und die zu diesen Assoziationen führen. Hier mag einer der Gründe liegen, warum ich nicht an die Stimme meines Vaters denken kann, ohne sie in meinem Gedächtnis zu »hören«.

Zugleich ist es unmöglich (eine weitere Besonderheit der Stimme), den von einer Stimme ausgedrückten propositionalen Inhalt vollständig von den durch sie gleichfalls ausgelösten Assoziationen zu trennen. Wenn mein Vater über die von mir so bewunderten Fußballweltmeister von 1954 sprach, produzierte seine Stimme auch weiterhin den Effekt einer peinlichen Schwäche. Diese große, ja untrennbare Nähe zwischen Bedeutungen, Assoziationen und den physischen Wahrnehmungen, von denen sie abhängen (dieses ganze Syndrom werde ich als »Knoten der Stimme« bezeichnen), ist verantwortlich für die spezifische Komplexität und den komplizierten Charakter der Stimme als Phänomen.

Wir verarbeiten diesen »Knoten«, sobald wir eine Stimme in einer für uns verständlichen Sprache hören, während wir den von einer Stimme artikulierten propositionalen Gehalt natürlich verfehlen, wenn er in einer Sprache formuliert wird, die wir nicht beherrschen. Warum uns manche Stimmen, die wir 15gehört haben, samt ihrem Klang im Gedächtnis bleiben (die Stimme meines Vater), andere dagegen nicht (die Stimme meiner Mutter), scheint eine weitere Frage zu sein, auf die es nur subjektive Antworten gibt. In meiner Vorstellung kann ich zum Beispiel deutlich den jeweils unterschiedlichen Klang der Stimmen meiner vier Kinder produzieren, wenn sie nicht da sind. Ich »höre« auch recht obsessiv den stets gleichen Satz in der Stimme meiner Urgroßmutter Marie, die zusammen mit den Familien ihrer beiden Söhne in derselben engen Wohnung lebte und gelegentlich drohte, sie werde sich »aus dem Fenster stürzen«, und zwar »direkt vor die vorbeifahrende Straßenbahn«, wenn die Spannungen ihr dort allzu unerträglich wurden. Eine weitere, für mich lebendig gebliebene Stimme ist die ihres Sohnes, meines Großonkels Franz, der 1953 nach acht Jahren Gefangenschaft in einem sibirischen Konzentrationslager in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. »Frei will ich sein, frei, frei«, rief er zuweilen plötzlich oder sang es fast mit einem tiefen, irritierend melodiösen und nasalen Tonfall während unserer gemeinsamen Sonntagnachmittagsspaziergänge, bis er sich eines Wintertags an einem Baum erhängte; sein gefrorener, schneebedeckter Leichnam wurde erst Wochen später gefunden.

Ich glaube allerdings nicht, dass dieses Beharrungsvermögen mancher Stimmen in unserem Gedächtnis notwendig mit ihrer existenziellen Bedeutung für uns zu tun hat oder ein Ausweis der Authentizität tragischer Handlungsverläufe ist. Stimmen, die Schauspielerinnen oder Schauspieler den von ihnen verkörperten Figuren leihen, mögen in diesem Sinne beliebig sein, werden jedoch oft zu einem wesentlichen Moment ihrer fesselnden Darstellung. Es hat mir stets gut gefallen, wie Marlon Brando dem von ihm verkörperten Vito Corleone im ersten Teil der Pate-Trilogie einen perfekten italoamerikanischen Akzent verlieh, mit einem Grundton ernsthafter Freundlichkeit und sogar Sorge, die in mir Sympathie für das organisierte Ver16brechen auslöste, für das diese Figur stand. Doch während ich sehr detailliert beschreiben könnte, was ich da höre und welche Gefühle die Stimme des Paten in mir auslöst, wüsste ich nicht zu sagen, warum genau sie diese Wirkung hat. Wie gesagt, es gibt keine sozial objektiven Codes, die unsere Verarbeitung des Klangs verschiedener Stimmen festlegten.

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Obwohl Stimmen unter den zur Ontologie der individuellen Existenz gehörenden Phänomenen sich jeder systematischen begrifflichen Erfassung zu widersetzen scheinen, hat ihr Begriff in den letzten sechs Jahrzehnten des Schreibens und Debattierens in den Geisteswissenschaften eine fast dramatische Geschichte erlebt. Auf einer sachkundigen Lektüre der Philosophie Edmund Husserls basierend, erlangte sie eine grundlegende Bedeutung innerhalb der »Dekonstruktion« als dem von Jacques Derrida in seinem ersten Buch Die Stimme und das Phänomen von 1967 begründeten intellektuellen Stil.[1]  Die von Husserl tatsächlich oft hervorgehobene Tatsache, dass wir beim Sprechen unsere eigene Stimme hören, war nach Derrida verantwortlich für die Überzeugung, dass wir auch unser Bewusstsein in seiner Gesamtheit verstehen, analysieren und beschreiben könnten. Unter Verweis auf die unausweichlich zeitliche Struktur des Bewusstseins und der Sprache wollte Derrida diesen Glauben als Illusion entlarven, eine Illusion, die mit der diskursiven Entfaltung von Platons Philosophie in Form von Dialogen begann, das heißt mit Figuren, die sich selbst zuhören, während sie sprechen; eine Illusion schließlich 17und vor allem, die er als grundlegend für die gesamte »metaphysische« Tradition des westlichen Denkens verstand.

Derrida hatte zwar nicht die Absicht, das Phänomen der Stimme aus der Liste der in den Geisteswissenschaften zu behandelnden Themen zu streichen, doch die äußerst starke – und zuweilen undifferenzierte – Resonanz, die die Dekonstruktion vor allem in den 1970er und 1980er Jahren fand, verlieh dem Konzept eine negative Konnotation und schloss es zeitweilig aus den laufenden philosophischen Debatten aus. Vor diesem Hintergrund ist es recht erstaunlich, dass die Stimme und insbesondere die Singstimme im Spätwerk Friedrich Kittlers, eines der Pioniere der Medientheorie, ein nahezu ekstatisches Comeback feierte, zumal Kittler mit notorischem Eifer auf seiner Nähe zu Derridas philosophischen Positionen bestand. Im ersten Band seines unvollendet gebliebenen Meisterwerks Musik und Mathematik setzt er die Darbietungen der antiken griechischen Rhapsoden mit einem »Sieg als helles Wissen« gleich, weil es den Sängern und ihrem Publikum dadurch möglich wurde, die prosodischen Strukturen, denen sie folgten, zu erfassen und schließlich in mathematischen Ausdrücken zu beschreiben.[2]  Kittler sah darin eine ursprüngliche Verbindung zwischen Musik und Mathematik, die von der Medienwissenschaft als eine Matrix verfolgt werden sollte, welche über die Jahrhunderte immer wieder neue Entwicklungen und Gattungen hervorgebracht hatte.

Da Kittler ein Denker und Autor war, der mit bemerkenswertem mythographischem Talent begriffliche Konfigurationen seiner eigenen Zeit mit dichten Bildern in seinen Augen entscheidender historischer Momente zusammenbrachte, machten die Media Studies die Stimme zu einem ihrer bevorzugten 18Themen. Repräsentativ erscheint hier unter mehreren im frühen 21. Jahrhundert herausgegebenen und diesem Konzept gewidmeten Sammelbänden der von Doris Kolesch und Sybille Krämer edierte Band mit dem Titel Stimme.[3]  In ihrem Vorwort und nach einer ausdrücklichen Distanzierung von der aus der Dekonstruktion stammenden negativen Konnotation des Begriffs nennen die Herausgeberinnen zwei Hauptziele des Buchs. Angesichts der Tatsache, dass die »Stimme« inzwischen zu einem Brennpunkt vieler verschiedener akademischen Bemühungen geworden sei, betonen sie erstens die Notwendigkeit, ein neues Repertoire spezifischer Konzepte zu erarbeiten, die in der Lage seien, die zentrifugale Vielfalt in den Traditionen verschiedener Fachgebiete zu überwinden. Zweitens wollen Kolesch und Krämer das breite Spektrum historischer Kontexte und kultureller Dimensionen aufzeigen, in denen das Phänomen der Stimme eine zentrale Rolle spielt.

Ohne jeden Zweifel bieten die zwölf Beiträge dieses Buchs ein farbiges Bild der vielen faszinierenden Aspekte dieses Themas, und das jeweils auf einem hohen Niveau fachspezifischer Expertise. Es finden sich Beiträge über die Geschichte der Opernstimmen, über Stimmen, die ohne den menschlichen Körper durch moderne Technologie erzeugt werden, über die Macht der Stimme in der politischen Rhetorik, über die Funktionen von Tierstimmen, über das Schweigen in Kunst, Literatur, Theater und Ritual. Nicht zu leisten vermag dieses Buch allerdings die angekündigte philosophische Grundlegung, die den Weg zu einer neuen, integrierten Terminologie oder vielleicht sogar einer einheitlichen Theorie ebnen würde. Und es stellt sich die Frage, ob man dieses Defizit den Autoren und Herausgeberinnen anlasten muss oder ob es eine unvermeidliche Folge der spezifischen inneren Komplexität des Themas 19darstellt. Können wir uns wirklich Konzepte vorstellen, die sich umfassend auf die drei verschiedenen Erscheinungsebenen anwenden lassen, die hier gleichzeitig im Spiel sind und berücksichtigt werden müssen, wenn wir über das Leben oder den Knoten der Stimme sprechen: auf »Stimme« als Medium der Sprache (in dem das Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat »willkürlich« im Sinne Saussures ist); auf »Stimme«, insofern sie als Teil und Symptom des Charakters oder der Psyche der sprechenden Person prozessiert wird (wobei der Klang sich nicht von den dadurch hervorgerufenen Assoziationen trennen lässt); und auf »Stimme« in ihrem rein materiellen Sein (für die wissenschaftliche Beschreibungsinstrumente noch am ehesten geeignet erscheinen)? Natürlich könnten wir von einer etwas utopischen philosophischen Umgebung oder einem einzelnen philosophischen Genie träumen, die in der Lage wären, derart übergreifende und dennoch kohärente Konzepte zu entwickeln. Doch vor dem Hintergrund unserer verschiedenen Diskurstraditionen mit den ihnen jeweils innewohnenden Beschränkungen und spannungsreichen Unverträglichkeiten erscheint es unrealistisch, solch eine Lösung zu erwarten. Das mag erklären, warum die Faszination der »Stimme« im letzten Jahrzehnt und hinter dem stereotyp wiederholten Versprechen erstaunlicher interdisziplinärer Pluralität offenbar etwas von der Strahlkraft verloren hat, von der sie in ihrer bemerkenswerten akademischen Geschichte seit 1967 geprägt war. Ist es zu spät für ein Buch über die »Leben der Stimme«?

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Einer der wenigen intellektuellen Impulse, die mich ermuntert haben, solch ein Projekt nicht aufzugeben, geht auf Roland Barthes' berühmten Aufsatz »Die Rauheit der Stimme« aus dem Jahr 1972 zurück, ein Text, der von Intuitionen nur so 20sprüht.[4]  Barthes bietet dort keinerlei Hinweis für eine Lösung des philosophischen Problems einer integrativen Terminologie, um die der Band von Doris Kolesch und Sybille Krämer sich gut 30 Jahre später erfolglos bemühen sollte, doch er thematisiert einige schwierige begriffliche Unterscheidungen und Unverträglichkeiten, die in dieselbe Richtung gehen wie unsere Vorstellungen zum »Knoten der Stimme«. Auch spürte ich in diesem Text eine ansteckende Begeisterung für einige verwandte ästhetische Effekte, denn er behandelt die »Stimme« aus der Perspektive des Gesangs, genauer aus der Sicht der Aufführungspraxis des hauptsächlich deutschen Repertoires der Kunstlieder. Im Blick auf das Lied als einen Raum, »in dem eine Sprache einer Stimme begegnet«, bezeichnet Barthes als »Rauheit der Stimme« jene Fälle, in denen die Stimme zugleich als »Sprache und Musik« funktioniert, und entfaltet in seinem Aufsatz Schritt für Schritt die Seite der »Musik«. Nun zeigt sich die ursprünglich hervorgehobene Gleichzeitigkeit von Sprache und Stimme natürlich nicht nur im Gesang, sondern in allen Situationen, in denen wir die Stimme einsetzen. Der Fokus auf Gesang als einem besonders guten Beispiel macht jedoch den Unterschied zwischen Stimme als Medium von Sprache und Stimme als spezifischer Spur des individuellen Körpers der Sprechenden oder Singenden greifbarer. Hier liegt wahrscheinlich der Grund für die Fruchtbarkeit des von Barthes verfolgten Ansatzes.

Von seinem Ausgangsgedanken einer »Rauheit der Sprache« geht Barthes dann zu einer Unterscheidung zwischen zwei Dimensionen des Gesangs über, die er als »Phänogesang« und als »Genogesang« bezeichnet. Der »Phänogesang« umfasst »alle 21Merkmale, die zur Struktur der gesungenen Sprache gehören […], kurz, alles, was beim Vortrag im Dienst der Kommunikation, der Darstellung und des Ausdrucks steht: wovon gewöhnlich die Rede ist, woraus der Stoff der kulturellen Werte gewebt ist«. Der »Genogesang« ist dagegen »das Volumen der singenden und sprechenden Stimme, der Raum, in dem die Bedeutungen keimen, und zwar ›aus der Sprache und ihrer Materialität heraus‹; es ist ein signifikantes Spiel, das nichts mit der Kommunikation, der Darstellung (von Gefühlen) und dem Ausdruck zu tun hat«. Worauf es hier am meisten ankommt, ist die Fokussierung auf das »Keimen« einer besonderen Art von Bedeutungen (wir haben sie oben »Assoziationen« genannt), die der »Materialität« der Sprache innewohnen.

Um den Unterschied zwischen »Phänogesang« und »Genogesang« zu verdeutlichen, verweist Barthes auf die Vortragsstile zweier Sänger, des damals weltberühmten deutschen Baritons Dietrich Fischer-Dieskau und des Schweizer Baritons Charles Auguste Louis Panzéra, dessen Kunst er seit vielen Jahren mit wahrer Leidenschaft verfolgt hatte. Fischer-Dieskau erscheint als der Meister des »Phänogesangs«, das heißt der Lunge, »dieses blödsinnige[n] Organ[s]« (sic!), und der Atmung, das heißt als der Sänger, der die »Klarheit des Sinns« im höchsten Maße erfüllt hat. Panzéra steht dagegen für den »Genogesang«, für die von ihm produzierte »metallische Kürze der Schwingung« der Vokale und Konsonanten der französischen Sprache. Er führte »sein r über die Normen des Sängers hinaus – ohne diese Normen zu verleugnen: Sein r war zwar gerollt, wie in der gesamten klassischen Gesangeskunst, aber diesem Rollen haftete nichts Bäuerliches oder Kanadisches an; es war ein künstliches Rollen, der paradoxe Zustand eines zugleich vollständig abstrakten (durch die metallische Kürze der Schwingung) und vollständig materiellen (durch die offenkundige Verwurzelung in der sich bewegenden Kehle) Ton-Buchstabens.«

22Die einseitig Fischer-Dieskau zugeschriebene »Tyrannei der Bedeutung« gelangt bei Barthes immer stärker auf die Minusseite seiner ästhetischen Bewertung, was durchaus verständlich für eine Kunstform ist, die die Zuhörenden oft mit Sprachen konfrontiert, welche sie nicht verstehen. Welchen Sinn hätte es, in einem für die meisten von ihnen unzugänglichen Diskurs ein Höchstmaß an Transparenz zu erreichen? Doch die Abneigung gegenüber dem »Phänogesang« sollte uns nicht vergessen lassen, dass wir in den meisten Situationen gleichzeitig und dennoch unterschiedlich sowohl auf die artikulierten Bedeutungen als auch die physischen Klänge reagieren, die beim Einsatz der Stimme hervorgebracht werden. Barthes lässt jedoch die Seite der »Sprache« hinter sich und beendet seinen Aufsatz mit einer These, die sich ausschließlich auf die ästhetische Funktion der Stimme als eines rein materiellen Klangs bezieht und recht typisch für die französischen Denker seiner Generation ist: »Die ›Rauheit‹ ist der Körper in der singenden Stimme, in der schreibenden Hand, im ausführenden Körperteil. Wenn ich die ›Rauheit‹ einer Musik wahrnehme […], so kann ich nicht umhin, mir eine neue, vermutlich individuelle Bewertungstabelle zu erstellen, da ich entschlossen bin, meinen Bezug zum Körper des oder der Singenden oder Musizierenden zu hören und dieser Bezug erotisch ist, aber keineswegs ›subjektiv‹ (nicht das psychologische ›Subjekt‹ in mir hört; die Lust, die es sich erhofft, verhilft ihm nicht dazu, sich zu festigen – sich auszudrücken –, sondern, im Gegenteil, zum Selbstverlust). Diese Bewertung wird ohne Gesetz vor sich gehen; sie wird dem Gesetz der Kultur entgegenarbeiten, aber auch dem der Antikultur.« Obwohl ich der impliziten Annahme, dass jede von der Rauheit der Stimme vermittelte Beziehung zwischen verschiedenen Körpern »erotisch« sein und zu »jouissance« führen müsse,[5]  nicht zustimme, halte ich 23an Barthes' Vorstellung fest, wonach die Art von körperlichem Kontakt, die aus dem Gebrauch unserer Stimme hervorgeht, weder ans Subjekt gebunden ist noch irgendeiner Regelmäßigkeit oder einem »Gesetz« folgt. Kein Kodex und keine Regel machten es für mich zwingend, in der Stimme meines Vaters eine Schwäche wahrzunehmen, die in einer Verbindung zu mir stand, noch war es meine individuelle Entscheidung oder Interpretation, dass ich dies tat. In existenzieller Hinsicht hat die väterliche Stimme einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf meines Lebens genommen, während ihr Status in epistemologischer Hinsicht weitgehend ungewiss und deshalb eine intellektuelle Herausforderung bleibt.

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Barthes beschwört die Komplexität und den nicht nur intellektuellen Reiz dessen herauf, was ich mit dem Ausdruck »Knoten der Stimme« zu erfassen versuche, und das mit einer Doppelstrategie, deren zwei Bestandteile zusammenwirken, ohne diskursiv komplementär zu sein. Dass Barthes dies wagt, macht die durchschlagende Qualität seiner Reflexion aus. Vor allem zeigt er, dass – und in manchen Fällen auch warum – Begriffe aus der westlichen philosophischen Tradition niemals vollständig die Phänomene zu erfassen vermögen, die er zu bestimmen versucht, wobei es ihm irgendwie und paradoxerweise dann doch gelingt, sie besser zu verstehen. Zudem illustriert er das Thema, indem er aktiviert, was seinen Lesern aus Darbietungen von Sängern wie Fischer-Dieskau oder Panzéra in Erinnerung geblieben sein mag. Solch ein zweigleisiges Vorgehen scheint sich aus praktischer Notwendigkeit grundsätzlich aufzudrängen, wenn man über die Stimme schreibt.

Was die epistemologische Seite betrifft, ist die Lage tatsächlich noch komplizierter, als Barthes sie darstellt, denn für die 24klassische Unterscheidung zwischen Geist und Körper gilt streng genommen, dass sie mit Blick auf den Knoten der Stimme in den meisten Fällen zugleich funktioniert und nicht funktioniert. Sie funktioniert für »Stimme« als ein Medium, das propositionale Inhalte artikuliert, und sie funktioniert nicht für die andere phänomenologische Schicht, die Barthes als »Rauheit der Stimme« bezeichnet. Genau diese fundamentale Mehrdeutigkeit in der Funktionsweise der verfügbaren begrifflichen und diskursiven Traditionen hindert uns daran, das Thema in einer kohärenten, sei es induktiven oder deduktiven Weise zu behandeln und seine Komplexität so zu entfalten, wie mein ursprünglich vorgesehener Titel für dieses Buch dies zum Ausdruck gebracht hätte: »Phänomenologie der menschlichen Stimme«. Ein ähnliches Problem betrifft die Beziehung zwischen Phänomenen der »Stimme« und dem Konzept der »Präsenz«, das mich in früheren Phasen meiner Arbeit faszinierte.[6]  »Präsenz« im Sinne des lateinischen »prae-esse« (»davor-sein«), das heißt »Präsenz« als eine räumliche Dimension, die zwischen unserem Körper und anderen Objekten in seiner Umgebung zu entwickeln wir nicht umhinkommen, spielt beim Knoten der Stimme ganz offensichtlich eine wichtige Rolle. Es gibt jedoch keine Möglichkeit, »Präsenz« in der Stimme so sauber vom »Keimen der Bedeutung« getrennt zu halten, wie meine typologische Unterscheidung zwischen »Präsenzkulturen« und »Sinnkulturen« dies anzudeuten versucht. Denn um es mit einer schon früher verwendeten paradoxen Formulierung zu sagen: Stimme ist ein Präsenzphänomen und ist keines.

Solche Schwierigkeiten dürften meine Lektorin Eva Gilmer zu ihrer nüchtern treffenden Bemerkung veranlasst haben, 25»Stimme« sei ein »unordentliches Thema«[7]  – eines, das sich gegen eine epistemologisch kohärente und diskursiv zusammenhängende Darstellung sträubt. Das Problem ist jedoch nicht auf das Thema »Stimme« oder auch auf Phänomene beschränkt, die zur »Ontologie der individuellen Existenz« gehören. Es scheint sich immer dann einzustellen, wenn wir über das »menschliche Leben« nachzudenken oder zu schreiben versuchen, ohne das Konzept »Leben« auf seine nichtphysischen Dimensionen zu reduzieren, wie das in den Geisteswissenschaften meist geschieht.[8]  Aus dieser Perspektive betrachtet, verwandeln sich die vielfältigen begrifflichen Schwierigkeiten, die ich in dem Ausdruck »Knoten der Stimme« zusammengefasst habe: aus einem Grund, der Auseinandersetzung mit diesem Thema in seiner vollen Komplexität aus dem Weg zu gehen, wird ein komplexer Anstoß, solch eine Auseinandersetzung gerade zu wagen. Wenn wir uns mit Phänomenen des menschlichen Lebens in einer nichtreduktiven Weise befassen wollen, müssen wir die mit ihrer Stellung als »unordentliche Themen« zusammenhängenden epistemologischen Schwierigkeiten ak26zeptieren und angehen. Die menschliche Stimme ist sicher nicht der einzige Fall dieser Art, aber möglicherweise besitzt sie eine paradigmatische Stellung.

Da es nicht den einen sowohl phänomenologisch als auch epistemologisch »zwingenden« Lösungsweg gibt, stellt sich die Frage, wie ein guter Aufbau für ein umfassendes Buch über die menschliche Stimme aussehen könnte. Als ich nach einer praktikablen Antwort auf diese Frage suchte, erinnerte ich mich daran, dass ich vor mehr als einem Jahrzehnt mit einem ähnlichen Problem gekämpft hatte, als ich nach der Form für ein Buch mit dem Titel Stimmungen lesen suchte.[9]  Dass in »Stimmung« die Wurzel »Stimme« enthalten ist, ermutigte mich, auf eine Lösung zurückzugreifen, die ich schon früher eingesetzt hatte. Die effizienteste Strategie für eine umfassende Darstellung unordentlicher Themen besteht möglicherweise darin, sie im buchstäblichen Sinne des Wortes zu umschreiben. Das heißt konkret, dass ich einerseits den diskursiven Raum der systematisch erforderlichen, aber epistemologisch unmöglichen Entfaltung des Themas leer lasse, andererseits jedoch diese begriffliche Leerstelle mit einer Reihe von Essays über Teilaspekte und spezifische involvierte Phänomene umgebe. Umschreibende Darstellungen dieser Art können niemals Anspruch auf irgendein Maß an Vollständigkeit erheben, sie besitzen keine eigene Ordnung und keinen logischen Abschluss, und sie neigen dazu, wie wir in Roland Barthes' Text »Die Rauheit der Stimme« gesehen haben, auf die Möglichkeit zurückzugreifen, ihre Themen durch farbige Beispiele zu verdeutlichen. Zugleich bietet das Fehlen einer übergreifenden systematischen Struktur die Möglichkeit, die verschiedenen Kapitel meines Buchs unabhängig voneinander zu lesen, sofern es 27Raum gibt, an einige grundlegende begriffliche Prämissen zu erinnern und sie zu wiederholen.

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Welchen intellektuellen – und vielleicht sogar existenziellen – Sinn hätte ein Versuch, die menschliche Stimme zu umschreiben? Wie unterschiede sich das von der zentrifugalen Pluralität, die Sammelbände diverser Beiträge verschiedener Autorinnen und Autoren wie der bereits erwähnte von Doris Kolesch und Sybille Krämer bieten? Ich glaube, der Akt des Umschreibens und der Prozess des daran geknüpften Verstehens besitzen eine Affinität zu der Art, wie wir unser Leben führen – normalerweise, ohne viel darüber nachzudenken. Wir führen unser Leben, indem wir die Fähigkeiten sowohl unseres Körpers als auch unseres Geistes aktivieren und dabei ständig zwischen verschiedenen existenziellen Dimensionen wechseln, vom Schlafen und Träumen zum Essen, Gehen und Fahren, von der Ausübung unserer beruflichen Tätigkeit zum Sprechen und Zuhören, zum Lesen von Romanen, zum Genießen von Musik oder einer Landschaft, zum Sex, zum Shoppen, zum Nachdenken über Investitionen und wieder zum Schlafen. Diese Dimensionen sind stets miteinander verflochten, aber wir durchlaufen sie kaum jemals in genau derselben Reihenfolge. Deshalb sorgen unsere existenziellen Alltagsreisen für Intensität und Langeweile, Dichte und Erschöpfung, und zwar ohne einen Wesenskern oder einen logischen Abschluss. »Leben der Stimme« scheint mir daher ein adäquater Titel für ein Buch zu sein, das diese existenziellen, über keine phänomenologisch eigentümliche Struktur verfügenden Linien verfolgt. Je besser es mir gelingt, die verschiedenen Dimension der Stimme in ihrem Nebeneinander, ihren Überschneidungen und ihren Verflechtungen aufzuzeigen, desto überzeugender sollte dieses Buch über die Stimme als einen paradigmatischen Lebensbereich werden.

28Die sechs Kapitel des Buchs reichen von diversen sozialen Effekten der Stimme und einer ausführlichen Reflexion über ihre mögliche Stellung in geschichtlicher Zeit bis hin zu der Art, wie Stimmen die individuelle Existenz durchdringen und transzendieren. Beginnen werde ich mit der Frage, ob es eine menschliche Entsprechung für die Praxis mancher Tiere gibt, die mittels wiederholter Produktion von Tönen Aktions- und Herrschaftsterritorien markieren. Aus dieser Perspektive entwickle ich im zweiten Kapitel das – äußerst flexible – Konzept »existenzieller Räume«, die auf Beziehungen der Distanz und Nähe zwischen individuellen Körpern zurückgehen und hauptsächlich durch die physische Intervention der jeweiligen Stimmen reguliert werden. Obwohl diese existenziellen Räume – vielleicht erstaunlicherweise – auch in unserem digitalen Zeitalter immer noch ganz wesentlich als Kern und Gewebe des alltäglichen Lebens fungieren, erreichen sie doch kaum jemals einen Zustand stabiler Habitualisierung und Institutionalisierung. Das macht es schwierig, die Prozesse ihres Entstehens, Veränderns und Verschwindens zu erfassen, und mag zugleich erklären, warum wir trotz ihrer Allgegenwart normalerweise nur ein vages Bewusstsein von ihnen haben.

Von der Konstituierung existenzieller Räume aus stimmbasierten Interaktionen als Gewebe des alltäglichen Lebens werde ich dann im dritten Kapitel zu dem Drang übergehen, mit anderen Stimmen »mitzusingen« und dadurch eine spezifischere Art von Kommunikation herzustellen, die anders als die wissensbasierten sozialen Formen, mit denen sich üblicherweise die Soziologie beschäftigt, nicht nur die Verfügbarkeit bestimmter körperlicher Funktionen voraussetzt, sondern auch Körper in ihrer substanziellen Präsenz umfasst. Für diese besondere Art des Zusammenseins verwende ich den theologischen Begriff der »mystischen Körper«, ohne damit jedoch irgendwelche religiösen Konnotationen zu verbinden. Dabei werde ich mich auf ein bekanntes Beispiel mystischer Körper 29konzentrieren, nämlich den gemeinsamen Gesang von Menschenmengen in einem Stadion. Dieser Ansatz erfordert zunächst einmal einen Vorschlag für die Unterscheidung zwischen sprechenden und singenden Stimmen und wird die Analyse einer speziellen Art atmosphärischer Intensität erleichtern, die einige überraschende Effekte aufweist, darunter die schon in der Bibel thematisierte Fähigkeit, »in Zungen zu reden«, aber auch einige unvermeidliche Risiken birgt, vor allem das des Ausbrechens von Gewalt, die auf die Funktion von Stimmen in mystischen Körpern zurückgehen.

Rituale des »Mitsingens« geben gelegentlich Anlass zu Thesen über ein inhaltsfreies Prozessieren von Stimmen als Medium eines vorgeschichtlichen Zustands menschlicher Geselligkeit, und dieses Motiv wird im vierten Kapitel aufgegriffen, das sich mit den verschiedenen Schichten in der Beziehung zwischen Stimmen und Zeit im Sinne von »Geschichte« befasst. Mehr noch als die vorangehenden Erörterungen über Stimmen und verschiedene Arten der Geselligkeit entfaltet die Frage nach der Historizität von Stimmen ein breites Spektrum verschiedener ontologischer Schichten, begrifflicher Diskontinuitäten und praktischer Probleme im Zusammenhang mit meinem unordentlichen Thema. Vor allem verfügen wir natürlich über keine dokumentarischen Quellen für Stimmen aus den Zeiten vor der Erfindung der Tonaufzeichnung kurz vor 1900. Obwohl das erst recht für die Jahrtausende gilt, in denen die menschliche Stimme sich zum Medium für die Artikulation von Bedeutung entwickelt haben muss, besitzen wir doch mythologische Erzählungen, die sich genau mit dieser Entstehung und ihren Bedingungen befassen. Aus der Sicht ihrer epistemologischen Mehrdeutigkeit verwandelt sich die Stimme in einen Testfall für Hegels Auffassung, wonach die Körperorgane nicht zu der von ihm definierten Dimension der Geschichte gehören können, weil sie nicht zwischen dem Weltgeist und dem Geist menschlicher Individuen vermitteln. Letzt30lich und anstelle einer einzigen überragenden Erkenntnis wird unsere Fokussierung auf die Stellung der menschlichen Stimme in geschichtlicher Zeit vielfältige Illustrationen bieten und uns herausfordern, die existenziellen Folgen ihrer ontologischen und epistemologischen Komplexität genauer zu durchdenken.

In den letzten drei Kapiteln werde ich mich mit mehreren Beispielen aus der menschlichen Existenz befassen, in denen Stimmeffekte den Bereich individueller Kontrolle und Handlungsfähigkeit übersteigen. Die Stimme meines Vaters wurde deshalb traumatisch für mich, weil ich nicht in der Lage war, den unangenehmen Szenen, die sie in meiner Vorstellung auslösten, zu entgehen oder sie zumindest abzumildern. Im fünften Kapitel werde ich zu den verschiedenen Aspekten des Wechselspiels zwischen Stimme und Imagination zurückkehren. Dass wir Halluzinationen vor allem und ganz spontan mit Stimmen assoziieren, beweist, dass sie in der Dynamik unseres Geistes eine dominierende und autoritative Stellung einnehmen. Um diese nur selten erwähnte Stellung zu verstehen, müssen wir jedoch ein neues Konzept von »Imagination« entwickeln, das es uns erlaubt, zwischen den spezifischen Wirkungen akustischer Wahrnehmungen und ihren Folgen in unserem Geist zu unterscheiden.

Im sechsten Kapitel wird es um Stimmen gehen, die nur Strenggläubige nicht als Hervorbringungen der menschlichen Fantasie qualifizieren werden, das heißt um Stimmen transzendenter Wesen in den drei klassischen monotheistischen Religionen. Wie beschreiben die verschiedenen Mythologien und theologischen Traditionen die Stimmen ihrer Götter, oder wie stellen sie sich diese Stimmen vor? In welchem Verhältnis stehen die göttlichen Stimmen zur individuellen weltlichen Existenz? Und in gegebenenfalls welcher Weise greifen sie in diese ein? Ausgehend von diesen Fragen werden wir eine überraschende Divergenz beobachten. Während die Tora die Stim31me Gottes in vielfältiger Form und Tonalität heraufbeschwört, die in einem Wunsch zu konvergieren scheinen, dem Kontakt zur Transzendenz eine ontologisch unmögliche Unmittelbarkeit zu verleihen, trennen die christlichen Schriften die Stimme Gottes von der Sphäre der Inkarnation und damit vom Leben Jesu, weisen ihr eine Funktion ferner Bestätigung zu und eröffnen die Möglichkeit, bestimmte Funktionen der göttlichen Stimme auf den Priester zu übertragen. Dem Islam scheint es dagegen gelungen zu sein, ohne Rückgriff auf irgendwelche derart anthropomorphe Konzepte oder Bilder wie die Stimme eine bedingungslose Autorität für seinen Gott zu etablieren.

Eine Reflexion über die vertraute, ja vielleicht allzu vertraute Verbindung des individuellen Gewissens als der höchsten Ebene einer innerpsychischen und daher weltlichen Autorität mit einer – für die meisten von uns – seltsam »neutralen« Stimme wird die Diskussion des Verhältnisses der Stimme zu Ebenen der Transzendenz im Sinne eines ontologisch Höheren beschließen. Das letzte Kapitel geht dann über zu einer ganz anderen Bedeutung des Überwältigtseins von realen individuellen Stimmen, das für mich persönlich eine fast ausschließlich angenehme Erfahrung ist. Hier geht es konkret um Stimmen, die für mich derart wichtig waren, dass ich mir mein Leben buchstäblich nicht ohne sie vorstellen kann. Seit meiner Kindheit und wahrscheinlich aufgrund des Fehlens klassischen Operngesangs in meiner Erziehung vermittelten mir fünf Stimmen aus der populären Musik, die von Elvis Presley, Edith Piaf, Janis Joplin, Whitney Houston und Adele, die Offenbarung, den Trost und zuweilen sogar die ekstatische Freude einer physischen Nähe, die ich als unwiderstehlich empfand, ohne dass ich mich für sie im engeren Sinne »entschieden« hätte. Diese Stimmen »passierten« mir ähnlich den Eltern und Geschwistern, die unser Leben innerhalb eines unseren Willen übersteigenden Horizonts bestimmen, den wir »Schicksal« 32nennen. Im Rückblick glaube ich, dass die Stimmen von Elvis Presley, Edith Piaf, Janis Joplin, Whitney Houston und Adele in Augenblicken des Übergangs eine entscheidende Bedeutung für mich erlangten und mir ein Erlebnis substanzieller Nähe vermittelten, das in persönlichen Begegnungen oder Gesprächen nicht hätten entstehen können. Sie gaben mir vielmehr das Gefühl und sogar die Sicherheit, hier eine Möglichkeit zu haben, mich an etwas festzuhalten, das mich davor bewahrte, mich zu verirren und in formloser Komplexität zu verlieren.

Ich habe zwar nicht die Absicht, eine unpersönliche Nähe dieser Art und die Chance, daran festzuhalten, als abschließende These oder als eine existenzielle Dimension darzustellen, nach der das ganze Buch und insbesondere sein letztes Kapitel streben würden, doch sie verdichten und konkretisieren den möglichen Ertrag, den eine Auseinandersetzung mit dem unordentlichen Thema der Stimme aus ihren verschiedenen Perspektiven erbringen mag. Ich denke, das entspricht dem Gefühl einer ganz »persönlichen« Nähe zu anderen Menschen, die unsere individuelle Existenz durchdringt. Eine Nähe und keine leibhaftige Vereinigung, weil wir unseren eigenen Körper als Voraussetzung individuellen Lebens nicht aufgeben oder transzendieren können. Und dennoch Nähe statt lediglich gemeinsamer Lebensbedingungen, denn spirituell mit anderen zu leben, wird ständig differenziert und auf wechselnde Grade räumlicher Nähe und Distanz heruntergebrochen, die uns mit ihnen verbinden und uns von ihnen trennen. Diese stets präsente und niemals stabile Beziehung im Raum ist die Herausforderung, die unsere Stimmen prozessieren und absorbieren.

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2 Stimmen und existenzielle Räume: Das Gewebe der Alltagswelten