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Hans Ulrich Gumbrecht

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Beschreibung

Die vor allem von Hans Ulrich Gumbrecht in Gang gebrachte »Philosophie der Präsenz« revidiert die Zentralstellung von Praktiken der Sinnzuschreibung (»Interpretation«) und ihrer hermeneutischen Reflexion innerhalb der Geisteswissenschaften. Die in diesem Band versammelten Aufsätze, die zwischen 1984 und 2004 geschrieben wurden, dokumentieren die Entstehung jener Bewegung einerseits aus einer Transformation der Konstruktion von Zeit, in der sich unsere Gegenwart artikuliert und versteht, andererseits aus der Selbstkritik einer auf die Begriffe »Gesellschaft« und »Bewusstsein« konzentrierten Generation von Geisteswissenschaftlern. Sie zeigen zugleich die Transformation der Präsenz-Philosophie in eine neue Ästhetik der Epiphanie und der Gelassenheit, welche etablierte Paradigmen der Geisteswissenschaften hinter sich lässt.

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Seitenzahl: 553

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Die vor allem von Hans Ulrich Gumbrecht in Gang gebrachte »Philosophie der Präsenz« revidiert die Zentralstellung von Praktiken der Sinnzuschreibung (»Interpretation«) und ihrer hermeneutischen Reflexion innerhalb der Geisteswissenschaften. Die in diesem Band versammelten Aufsätze, die zwischen 1984 und 2004 geschrieben wurden, dokumentieren die Entstehung jener Bewegung einerseits aus einer Transformation der Konstruktion von Zeit, in der sich unsere Gegenwart artikuliert und versteht, andererseits aus der Selbstkritik einer auf die Begriffe »Gesellschaft« und »Bewusstsein« konzentrierten Generation von Geisteswissenschaftlern. Sie zeigen zugleich die Transformation der Präsenz-Philosophie in eine neue Ästhetik der Epiphanie und der Gelassenheit, welche etablierte Paradigmen der Geisteswissenschaften hinter sich lässt.

Hans Ulrich Gumbrecht, geboren 1948 in Würzburg, lehrt seit 1989 an der Stanford University, wo er Albert Guérard Professor für Literatur ist. Neben zahlreichen Gastprofessuren wurde er mit acht Ehrendoktorwürden ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm im Suhrkamp Verlag Unsere breite Gegenwart (es 2627) und zusammen mit Robert Pogue Harrison, Michael R. Hendrickson und Robert B. Laughlin Geist und Materie – Was ist Leben? Zur Aktualität von Erwin Schrödinger (eu 13).

Jürgen Klein, geboren 1945 in Detmold, ist emeritierter Professor für Englische Literaturwissenschaft an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald.

Hans Ulrich Gumbrecht

Präsenz

Herausgegeben und mit einem Nachwortvon Jürgen Klein

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Interne über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-78280-4

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Teil 1Zeit

1 Posthistoire Now

2 Kaskaden der Modernisierung

3 nachMODERNE ZEITENräume

4 Die Gegenwart wird (immer) breiter

Teil 2Die Rahmen der Disziplinen

1 Literaturgeschichte – Fragment einer geschwundenen Totalität?

2 Die Anfänge der Literaturwissenschaft – und ihr Ende?

3 Von der Lesbarkeit der Welt zu ihrer Emergenz.Eine Geschichte über den Dualismus zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften – mit zwei eher abrupten Enden

4 Die Aufgabe der Geisteswissenschaften heute

Teil 3Suche

1 Ein Abschiedsgruß an die Interpretation

2 Das Nicht-Hermeneutische. Skizze einer Genealogie

Teil 4Präsenzen

1 Zehn kurze Überlegungen zu Institutionen und Re/Präsentation

2 Rhythmus und Sinn

3 Wahrnehmung versus Erfahrung oder die schnellen Bilder und ihre Interpretationsresistenz

64 Die Schönheit des Mannschaftssports: American Football im Stadion und im Fernsehen

5 Präsenz-Spuren. Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos

6 Präsenz. Gelassenheit. Über Federico García Lorcas Poeta en Nueva York und die Schwierigkeit, heute eine Ästhetik zu denken

7 Epiphanien

Nachwort von Jürgen Klein

Drucknachweise

7Teil 1Zeit

91Posthistoire Now

für Marco und Sara[1]

Geschichten, so wie sie die europäische Tradition der Historiographie hervorbrachte, können funktional auf die Identitätsvergegenwärtigung sozialer Systeme bezogen werden; Epochenklitterung als historiographisches Verfahren auf die Konturierung der Gestalten historiographisch konstituierter Identität.[2]

Luhmann hat selbst an anderer Stelle gezeigt, dass gesellschaftliche Selbst-Vergegenwärtigung nicht metahistorisch an das Medium der Historiographie gebunden ist:[3] Vielmehr sind es spezifische Anforderungen funktional ausdifferenzierter sozialer Systeme, welche Identitätsvergegenwärtigung auf Geschichte und damit inhaltlich auf den Prozess der Selbstsubstitution des thematischen Systems verpflichten. Wenn wir nun des Weiteren mit Thomas Luckmann davon ausgehen, dass Zeit als Erfahrungsprämisse eine lebensweltliche Grundstruktur ist, welche in je verschiedenen Alltagswelten (oder Gesellschaften) je spezifische Ausprägungen erfährt,[4] dann können wir das ›historische Bewusstsein‹ als eine (hochkomplexe) Konkretisierung der lebensweltlichen Grundstruktur ›Zeit‹ ansehen und – zunächst einmal hypothetisch – nicht allein den Typus der ›funktional ausdifferenzierten Gesellschaft‹, sondern auch das ›historische Bewusstsein‹ als eine Determinante der kulturell spezifischen Korrelation von Geschichtsschreibung und kollektiver Identitätsvergegenwärtigung verstehen.

10Mit der Historisierung des ›historischen Bewusstseins‹ und der ›Identitäts-Repräsentations-Funktion‹ von Historiographie erweitert sich aber der vom Thema dieses Bandes[5] eröffnete Fragehorizont. Nun kann die Doppelstrategie von vergangenheitsbezogener Rekonstruktion und gegenwartsbezogener Systematisierung nicht mehr allein in dem Bestreben konkretisiert werden, aus den Modi der Epochenkonstitution und Epochenklitterung vergangener Historiographie Orientierungen für die Bewältigung historiographischer Gegenwartsprobleme zu gewinnen: Wir haben auch nach den Grenzen der Okkurrenz von ›Historiographie‹ (im uns vertrauten Sinn) und – vor allem – nach den Grenzen der Applikation des ›historischen Bewusstseins‹ als kulturellen Habitus sowie einschlägiger theoretischer Reflexionen zu fragen. Denn es könnte ja sein, dass Historiographie – so wie wir sie kennen – gar nicht in allen Kulturen unserer Gegenwart einen funktionalen Ort hätte; und es wäre sogar denkbar, dass unsere eigene Kultur sich aus jener Phase herausbewegt hätte, in der gesellschaftliche Identitätsvergegenwärtigung überhaupt (oder: nur) mittels Historiographie erfolgreich zu leisten war. Müsste nicht – etwa – die Konjunktur der geschichtstheoretischen und geschichtspragmatischen Kategorie von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ als ein Indiz für wachsende Schwierigkeiten mit der Epochenkonstituierung (der Konstituierung von Zeiträumen aus Phänomenen, die allesamt untereinander durch das Verhältnis der ›Gleichzeitigkeit‹ verbunden sind) gedeutet werden? Und ist nicht der Erfolg von Identitätsvergegenwärtigung mittels Geschichten primär an die Möglichkeit gebunden, Vorvergangenheit, Vergangenheit und Gegenwart von Systemen als je homogene Zeiträume zu repräsentieren?

Die Vermutung, Befürchtung, Hoffnung, es möchte mit dem Zeitalter des historischen Bewusstseins, der Historiographie und der historiographischen Periodisierung an ein Ende gekommen sein, war vor allem ein belebendes Moment für die Diskussionen, aus denen dieser Band[6] hervorgeht. Sie war an das Stichwort ›Posthistoire‹ gebunden, und wenn in der Diskussionssituation vielleicht gerade die Vagheit seiner Bedeutungsgrenzen stimulierend wirkte, so scheint es uns im Rahmen der gedruckten Fixierung von 11Diskussionsergebnissen unerlässlich, einen Versuch zur Präzisierung der Bedeutung und des Applikationsfeldes für das Wort ›Posthistoire‹ zu unternehmen.

Die Frage nach dem Applikationsfeld des Begriffs ›Posthistoire‹ ist eine Frage nach seiner Referenz, spezifischer: Es geht darum, ob unsere eigene Gegenwart ›Posthistoire‹ sei. Doch neben dieser referenzsemantischen Grenze gibt es eine – offenbar generationsbedingte – pragmatische Grenze im Gebrauch des Wortes ›Posthistoire‹. Sie ist – auch – eine Grenze zwischen Zeitgenossen, welche glauben, ihre eigene Zukunft über die frühen achtziger Jahre hinaus bis in jene Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts hinein verlängern zu müssen/dürfen, bezüglich derer man in unserer Gegenwart noch nicht weiß, ›wie es denn weitergehen soll‹, und jenen anderen Zeitgenossen, welche – aus dem einen oder anderen Grund – keinen Anlass sehen, Objekte und Anlässe der Angst in so ferner Zukunft zu identifizieren.[7] Deshalb kann ein Beitrag zum Thema ›Posthistoire‹ – welche Position er auch immer zu beziehen versucht – kein unpolemischer Beitrag sein.

Weil der Gegenstand solchen Streites eine Diagnose unserer Gegenwart ist und weil seiner Dynamik ein Antagonismus von zwei Perspektiven zugrunde liegt, welche die Diagnose fundieren können, wollen wir versuchen, einen Mindestabstand an argumentativer Distanz zu gewinnen, indem wir sowohl den einen (unter dem Blickwinkel des ›historischen Bewusstseins‹ entstandenen) als auch den anderen (von der Posthistoire-These geprägten) Befund ›doppelt temporal modalisieren‹.[8] In den Abschnitten (1) und (2) wird die Gegenwart zweimal als Zukunft der Vergangenheit, in den Abschnitten (3) und (4) als Vergangenheit der Zukunft erscheinen. Am Ende (5) geht es um die Frage, ob sich aus der zweifachen Modalisierung der Gegenwart Orientierungen für eine Form vergangenheitsbewussten und zukunftsgerichteten Handelns ergeben.

121. (Vor-)Geschichte des Posthistoire

Schon lange bevor phänomenologische Reflexion und mentalitätshistorische Rekonstruktion das ›historische Bewusstsein‹ als eine selbst historische Sinnstruktur zu erfahren begannen, war der Begriffsgehalt zu dem Kompositum ›Posthistoire‹ – zumindest latent – in den meisten Konzepten teleologischer Geschichtsphilosophie vorgegeben. Denn wenn Geschichte die Chance der ›Perfektibilität‹ des Menschen beinhalten und wenn die Wahrnehmung dieser Chance Geschichte ausmachen sollte, dann war zu fragen, wie sich die Qualität von ›Zeit‹ nach der Einlösung der Perfektibilitätsversprechen verändern würde. Gewiss sind die von Hegel und Marx gestifteten Geschichtsmythen die prominentesten einschlägigen Antworten. Doch es ist symptomatisch, dass das Problem von der Qualität der Zeit nach dem Ende der Geschichte erst in der Folge des Zweiten Weltkrieges als Bedrohung erfahren und mit dem Prädikat ›Posthistoire‹ gekoppelt wurde.[9] In Alexandre Kojèves »Introduction à la lecture de Hegel«[10] heißt es:

»Das Verschwinden des Menschen am Ende der Geschichte ist also keine kosmische Katastrophe: die natürliche Welt bleibt, was sie seit aller Ewigkeit ist. Deswegen ist das Verschwinden auch keine biologische Katastrophe: der Mensch bleibt am Leben, insoweit er ein Tier ist, welches in Einklang mit der Natur und dem vorgegebenen Sein existiert. Was verschwindet, ist der Mensch im eigentlichen Sinne, d. h. die das Vorgegebene nichtende Handlung oder Irrtum, oder – allgemein – das Subjekt gegenüber dem Objekt. Das Ende der menschlichen Zeit oder der Geschichte, will sagen: die endgültige Vernichtung des Menschen im eigentlichen Sinne oder des freien, historischen Individuums, bedeutet in der Tat ganz einfach das Beenden aller ›Aktion‹ im emphatischen Sinne dieser Vokabel. Praktisch bedeutet das: das Verschwinden von Kriegen und blutigen Revolutionen. Und auch noch das Verschwinden von Philosophie; denn wenn der Mensch sich selbst wesentlich nicht mehr ändert, gibt es keinen Grund mehr, die (wahren) Prinzipien zu erkennen, die Fundament seines Bewußtseins von Welt und Selbst sind. Alles andere aber kann unendlich 13aufrechterhalten werden: die Kunst, die Liebe, das Spiel usw.; kurz: alles, was den Menschen glücklich macht.

Erinnern wir uns, daß dieses Thema Hegels, unter vielen anderen, von Marx wieder aufgenommen worden ist. Die eigentliche Geschichte, in der die Menschen (die Klassen) untereinander um die Anerkennung und – durch die Arbeit – gegen die Natur kämpfen, heißt bei Marx ›Reich der Notwendigkeit‹; jenseits (der Geschichte) ist das ›Reich der Freiheit‹ angesiedelt, in dem die Menschen (die sich gegenseitig anerkennen) nicht mehr kämpfen und so wenig als möglich arbeiten (in einer ganz gezähmten, d. h. dem Menschen angepaßten Natur).«

Wenn heute von ›Posthistoire‹ gesprochen wird, so ist diese Rede wohl kaum noch je motiviert vom Gedanken an die Welt nach Erfüllung der Versprechen von Geschichtsphilosophie. Vielmehr leiden wir (spätestens seit Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung) an der Verarbeitung des säkularen Schocks, die Versprechen der Aufklärung (und der Geschichtsphilosophie: einer ihrer ›Töchter‹) als Illusion, als den Menschen nicht erreichbare Zielvorstellung erfahren zu haben.[11] An die Bedingung radikal anthropozentrischen – ›rationalen‹ – Denkens gebundene Versprechungen waren Vorstellungen kollektiven Glücks wie die Gleichheit aller Menschen, die Einsicht in die ›wirkliche Wirklichkeit‹ des Seins, das Ende aller Bedürftigkeit. Ihre Realisierung war vom teleologischen Geschichtsprozess und seinen ›Gesetzen‹ in Aussicht gestellt und zugleich den Menschen als Motivation vorgegeben, um ›gemäß der Einsicht in den Gang der Geschichte‹ zu leben und zu handeln.

Man könnte die Struktur des ›bürgerlich‹ genannten Gesellschaftstyps als ein gigantisches Dispositiv zur Konstitution und Reproduktion solcher Hoffnungen deuten und umgekehrt zeigen, wie sehr die ›bürgerliche Gesellschaft‹ über der Aufgabe, solche Hoffnungen zu bewahren, das Vertrauen auf die anthropozentrisch fundierte Kosmologie schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlor (hier liegt wohl der Hauptgrund für Nietzsches neue, die Deutschen befremdende Aktualität). Es scheint ebenjene Krise gewesen zu sein, welche schon bald auch den ontologisch angesetzten Totalitätsbegriff von ›Geschichte‹ zersetzte.[12] Dass schließlich das 20. 14als ›Zukunft‹ des 19. Jahrhunderts dessen Zuversicht auf wachsende ›Humanisierung‹ nicht mehr würde erfüllen können, sollte ›eigentlich‹ nach 1945 keine Frage mehr (gewesen) sein.[13]

2. Geschichte (und Konstitutionsschichten) des ›historischen Bewusstseins‹

Man kann einen epistemologiegeschichtlichen Zusammenhang zwischen der Historisierung des ›historischen Bewusstseins‹ und jenem Perspektivenwandel vermuten, durch den das Phänomen ›Zeit‹ entsubstantialisiert wurde, um nun als von den mentalen Fähigkeiten des Menschen vorgegebene ›Erfahrungsprämisse‹ gesehen zu werden. Mit diesem Perspektivenwandel stellte sich aber auch die Aufgabe, zwischen anthropologischen und historisch spezifischen Konstitutionsschichten von ›Zeit‹ zu unterscheiden. Mit Husserls Vorschlag, ›Zeit als Form der Erlebnisse‹ zu sehen,[14] verfügen wir über einen Vorschlag für die Lösung der einen Seite des Problems, nämlich für die Identifizierung der ›anthropologischen Basis‹ der Erfahrungsprämisse ›Zeit‹. Sie besagt, dass ›Erleben‹ (das heißt: die Selektion zentraler Bewusstseinsinhalte aus dem Überangebot des beständig simultan Wahrgenommenen) unweigerlich eingespannt ist zwischen ›Retention‹ (die Erinnerung an unmittelbar vorausgehende Bewusstseinsinhalte) und ›Protention‹ (die Antizipation unmittelbar folgender Bewusstseinsinhalte). Auf der Grundlage von ›Retention‹ und ›Protention‹ konnten die Menschen ihre Reichweite hinein in die Räume von Vergangenheit und Zukunft verlängern.[15] Gleichsam ›naturwüchsig‹ entsteht schon in Gesellschaften ohne Schriftkultur eine ›kollektive Erinnerung‹,[16] welche sich – chronologisch grob strukturiert – etwa um ein halbes Jahrhundert in die Vergangenheit hinein erstreckt – so weit, wie die 15Tradierung von Erlebnissen durch Augenzeugen in direkter Interaktion reicht. Jenseits dieser Grenze werden chronologische Differenzen zwischen Erfahrungsgegenständen in einem achronischen ›Horizont des Vergangenen‹ neutralisiert.

Mit der Struktur des ›historischen Bewusstseins‹ ist eine hochdifferenzierte Entwicklungsform der anthropologischen Disposition ›Zeit‹ auf uns gekommen, in der eine Sequenz von Evolutionsschüben sedimentiert und zum Teil sogar systematisiert worden ist. Man kann vermuten, dass es die durch Expansion der europäischen Christenheit auferlegte Verpflichtung zur ›Synchronisierung‹ verschiedener, je kulturell spezifischer ›Zeiten‹[17] zusammen mit einer Entkoppelung zwischen chronologisch strukturierter Erinnerungsleistung und direkter Interaktion mit Augenzeugen (seit der Generalisierung volkssprachlicher Schriftlichkeit) war, welche vom Ende des 15. Jahrhunderts an zur Institutionalisierung von drei Merkmalen des für uns selbstverständlichen ›Zeitbegriffes‹ als Grundelement des Wissens führte. Denn erst seither wird Zeit abstrakt gedacht (als losgelöst von je besonderen Handlungssequenzen), als kontinuierlich (das heißt: als unabhängig vom Beginn oder vom Ende spezifischer Handlungssequenzen), erst seither erscheint Zeit als Faktor von Veränderungen, wurde die Erwartung befestigt, dass sich Phänomene ›in der Zeit entwickeln‹. Mit der Erwartung einer ›Entwicklung der Phänomene in der Zeit‹ war die menschliche Aufmerksamkeit auf die ›Entdeckung‹ (adäquater: ›Erfindung‹) von ›Gesetzen‹ solcher Entwicklung gelenkt, und wir wissen, dass deren Struktur zunächst als ›zyklisch‹ konzipiert wurde.

Erst an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert treten Vergangenheit als ›Erfahrungsraum‹ und Zukunft als ›Erwartungshorizont‹ in ein Verhältnis der Asymmetrie,[18] und man hat versucht, diesen Evolutionsschritt als Resultat verbesserter Naturbeherrschung zu interpretieren: Die Menschen produzierten seit der frühen Aufklärung mehr Handlungsmöglichkeiten als die zur Bewältigung je gegenwärtiger Bedürfnisse notwendigen. Unter der Signatur einer konstitutiven Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Gegenwart aber wird Zeit teleologisch, und Zeit, welche ›gerichtet‹ ist wie eine 16Handlung, bedarf eines ›Subjekts‹. Sobald dann endlich die Stelle des ›Subjekts der Zeit‹ von der ›Menschheit‹ besetzt ist, werden auch alle einzelnen Zeitverläufe auf die eine Geschichte der Menschheit bezogen (auf ›den Kollektivsingular von Geschichte‹, wie Koselleck sagt). Fast überflüssig ist es noch hinzuzufügen, dass zum Ziel einer gerichteten Geschichte, deren Subjekt die Menschheit ist, die (Fähigkeit zur) Vervollkommnung der im Menschen angelegten Möglichkeiten wird.

Nun kann man sich fragen, ob mit der Funktionalisierung dieses Geschichtsbegriffs als Medium je nationaler Identitätskonstitution und -vermittlung während des 19. Jahrhunderts nicht schon jene Krise des ›historischen Bewusstseins‹ einsetzt, in der heute manche die Vorgeschichte des Posthistoire sehen wollen. Wenn sich das ›Lebensgefühl der heutigen Intelligenz‹ charakterisieren lässt (und ich will das tun) als »ein eigentümliches Gefühl von Zeitlosigkeit, … in lauter Zwischendrin gefangen, der Geschichte entfremdet, der Zukunftsfreude entwöhnt«,[19] dann heißt das: aus Teleologie-Implikationen konstituierte Bilder von der Zukunft sind uns nicht mehr Orientierung oder gar Motivation, aber wir können doch auch nicht zurück in einen Zustand, wo Vergangenheit und Zukunft in einem Verhältnis der ›Symmetrie‹ standen. Gelungenes Handeln der Vergangenheit kann uns nicht problemlos wieder Richtschnur für zukunftsbezogenes Handeln in der Gegenwart werden.

Das seit der Frühen Neuzeit konstituierte ›historische Bewusstsein‹ ist ein bewundernswertes Erbe. Doch da es uns heute als Bezugshorizont des Handelns im Alltag zu entgleiten droht, dürfen wir mit Fug und Recht die Frage stellen, ob ihm der Status einer ›evolutionären Errungenschaft‹ zukommt. Zwar hat die Geschichtswissenschaft ihre Techniken zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit[20] enorm verbessert, aber die so repräsentierten Räume der Vorwelt werden eher zur Evasion aus der Gegenwart genutzt denn zur Orientierung zwischen der Vergangenheit und 17Zukunft. Nicht mehr nur die Vergangenheit, sondern auch die aus der Vergangenheit ›hochgerechnete‹ Zukunft ist als Bezugsinstanz gegenwärtigen Handelns suspendiert. Für die Pragmatik der Geschichtsschreibung ergibt sich aus dieser Lage der Nebeneffekt, dass es uns immer schwerer fällt, Relevanzprofile (etwa als Vorgaben der Periodisierung) in die Vergangenheit zu projizieren. Weil wir nicht wissen, wie wir angesichts einer ungewissen Zukunft handeln sollen, wird auch das Bedeutungsprofil der re-präsentierbaren Vergangenheit eingeebnet.

3. Gegenwart als Vergangenheit der Zukunft: Posthistoire Now!

Als wir in den chronologischen Schlagschatten des (un-)heiligen Jahres 1984 gerieten und die räumliche Präsenz der Pershings in der Bundesrepublik Deutschland schon Gegenwart geworden war, machte sich die wendige Presse ans Abwiegeln: Unisono verkündeten Zeit und Stern: »Der Weltuntergang steht nicht bevor« und/oder: »Der Weltuntergang findet nicht statt«.[21] Haben die Intellektuellen und von ihnen mit »magischer Bedeutsamkeit«[22] aufgeladene Jahreszahlen die Menschheit neurotisiert? Ich behaupte, dass das ›Ende der Zeiten‹ zu einem kollektiven Zukunftshorizont geworden ist, weil eine Fülle von auferlegten Erfahrungen in der Gegenwart eine Denkbewegung suggerieren, aus der dieselbe – nicht mehr nur für Intellektuelle – als eine Vergangenheit der vertanen letzten Chancen zur Rettung der Menschheit vorstellbar wird.

Vor wenigen Jahren noch bedurfte es außergewöhnlicher mentaler Flexibilität, um die kühle statistische Feststellung, dass die Zuwachsraten nicht mehr wuchsen, in unseren Erwartungshorizont zu integrieren. Heute kostet es uns erheblichen Verdrängungsaufwand, wenn wir vergessen wollen, dass die Energieressourcen unseres Planeten bis zum Jahr 2030 aufgebraucht sein werden, sofern wir uns nicht an Formen des Lebens gewöhnen können, welche schon 18das 18. Jahrhundert für immer hinter sich gelassen zu haben glaubte.[23] Wir beginnen zu begreifen, dass die ›Geschichtsgesetze‹ von ›Fortschritt‹ und ›Perfektibilität‹ an die Bedingung der Möglichkeit permanenter Expansion gebunden waren. Mit dem materiellen Raum der Expansion hat sich aber auch der mentale Raum des Fortschrittsglaubens geschlossen.

Der Mensch als Subjekt der Geschichte und Rationalität als Stil seines Handelns flößen mittlerweile mehr Schrecken ein als die schlimmsten Götzen der Urzeit. Wir wissen, dass der Mensch diesen Planeten zerstören kann – und zwar viel sicherer, als das je die Ahnen unserer Gattung von irgendeinem Gott befürchten mussten. Dennoch reichen, wie wir täglich in fast protokollarischer Form nachvollziehen können, weder die Allgegenwart dieses Wissens noch Rationalität als Medium von ›Abrüstungsgesprächen‹ hin, um auch nur den Schein der Linderung solcher Angst herbeizuführen. Und wie sollte auch das Selbstwertgefühl der Menschheit anders denn zynisch sein, da es ihr auf der Schiene des technischen Fortschritts gelungen ist, sich selbst als Faktor der eigenen Erhaltung weitgehend überflüssig zu machen? Der Menschenbedarf von polytheistischen Göttern zum Ausspielen wechselseitiger Intrigen und der monotheistischen Transzendenz zur Inszenierung eines sinnsetzenden Erlösungswerkes[24] war ungleich dringender als der Menschenbedarf der Menschheit zum Zweck der Selbsterhaltung – über die ihr verbleibenden Jahre.

Während Nordamerikaner, Europäer und Japaner ihre eigenen Ressourcen schon weitgehend verzehrt haben und den Weg des ›Fortschritts‹ nur mangels Alternativen weiter beschreiten, nehmen sie Besitz von den Rohstoffen der Afrikaner, Asiaten und Südamerikaner. So vertiefen sie den Hiat zwischen deren und ihren eigenen Geschichten, weil man der Dritten Welt nicht einmal hinreichend Verfügungsgewalt über sich selbst und ihre Rohstoffe einräumt, um den Weg des Fortschritts auch nur zu beginnen. Solange das Bedürfnis nach Selbstbestimmung dort noch artikuliert wird, haben wir die Chance, uns bewusstzumachen, dass die Illusion von der einen Weltgeschichte von Kolonialismus und Imperialismus als Dispositiv (bestenfalls) der Verdrängung und (meist) der Zerstörung 19genutzt wurde. Re-Regionalisierung der Geschichte wäre ein erster Schritt zur Bewahrung.

Das Ende der Ressourcen, der Mensch als Subjekt seiner eigenen kollektiven Zerstörung, die entschlossene Ausbeutung der Dritten Welt als ›Brennmaterial‹ für einige Überlebensjahre der Industriegesellschaften – das sind wahrlich keine bloßen Intellektuellen-Probleme. Aber sie setzen die Verbreitung, ja die Universalisierung einer Bewusstseinslage durch, die bis vor kurzem als ›typisch intellektuell‹ galt. Während nun das Prädikat ›Posthistoire‹ schon längst eine kollektive Bewusstseinslage eher trifft als den subtilsten Gedanken einer subtilen Hegel-Interpretation, sind viele Intellektuelle zum trostreichen Ufer eines ekstatischen Individualismus aufgebrochen. Seit dem späten 19. Jahrhundert hatten ja selbst Naturwissenschaftler die Vernunft als ein ›Mikroskop‹ zum Vordringen in die ›Tiefe‹ der ›wirklichen Wirklichkeit‹ verabschiedet und sich mit der Erfahrung begnügt, dass die von Vernunft entworfenen ›Wirklichkeitsmodelle‹ immerhin erfolgreich zum Zweck der Naturbeherrschung seien. In der Entkoppelung von Symptom und Ort der Krankheit etwa, wie sie – trotz Freud – im Grundkonzept der Psychoanalyse angelegt ist,[25] hätte eine Chance gelegen, der Verwechslung von Erfolgen der Naturbeherrschung mit ›Einsichten in die Wirklichkeit der Natur‹ ein Ende zu machen. Stattdessen reichte Jacques Derridas genial(isch)e Lektüre jenes eher marginalen Freud-Textes, in dem das Funktionieren des Gedächtnisses mit dem ›Wunderblock‹ korreliert wird, schon aus, um die Illusion zu nähren, man könne durch den Nebel ›logozentrischen Denkens‹ zum Wirklichkeitsgrund der ›architrace‹ vorstoßen.[26] Als Brücke hin zur Welt der individuellen ›architraces‹ ließ sich dann auch ohne Widerstand die Kunst benutzen. ›Ästhetisierung der Wahrheit‹ hat Konjunktur. Das ist noch erschreckender als die Angst vor dem Ende der Ressourcen oder der Selbstzerstörung der Menschheit. Und ebenso erschreckend wie der Zeitungsaufmacher: »Der Weltuntergang findet nicht statt!«

204. Gegenwart als Vergangenheit der Zukunft: die Wiedergeburt der Aufklärung als Fehlgeburt

Historisches Bewusstsein und historiographische Periodisierung sind für Derridas Anhänger, die ›Dekonstruktivisten‹ logozentrischer Sinnstrukturen und ›Kulturgüter‹, sozusagen Parade-Symptome für ein Denken, welches menschliche Erfahrungsmöglichkeiten diszipliniert und reprimiert. Und wenn man von der Korrelation ›Ausbreitung der Schriftkultur/historisches Bewusstsein‹ ausgehend eine Assoziationskette hin zu der Korrelation ›Schriftlichkeit/Logozentrismus‹ bildet, kann man nicht umhin, wenigstens die historische Rekonstruktion anzuerkennen, welche solche Verurteilung des Logozentrismus fundiert. So ist es dann auch geradezu zu einem ›Stilelement‹ des Dekonstruktivismus geworden, die Dimension zeitlicher Distanzen und historischer Vermittlungen zwischen Sinnstrukturen auszublenden. Die Begegnung mit ›Erfahrungsspuren‹ etwa, die sich unter dem logozentrischen Diskurs der griechisch-antiken Philosophie verbergen sollen, kann demnach – dekonstruktivistisch – für einen Leser unserer Gegenwart ganz unmittelbar – vor dem Hintergrund der Tradition philosophischer Hermeneutik gesehen: allzu unproblematisch – gelingen.

Im Gegensatz zu dieser seiner gewollten Absenz spricht geradezu eine Hypersensibilität des historischen Bewusstseins aus den Schriften jener westdeutschen Philosophen, Soziologen und Kulturkritiker, die seit einigen Jahren angetreten sind, die Aufklärung zu retten – oder gar ›zur Vollendung zu führen‹. In manchmal biederem, manchmal blindem Eifer werden widerständige Gegenwartserfahrungen aus dem Weg geschoben oder geräumt. So macht etwa ein Jürgen Habermas nicht einmal vor den kanonisierten Schriften der Frankfurter Schule halt, wenn er Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung vorwirft, »ihre Kritik der Aufklärung so tief anzusetzen, daß das Projekt der Aufklärung selbst in Gefahr gerät«.[27] Gewiss zu Recht schlägt Habermas die für ihn unbequeme Aufklärungskritik seiner Schulhäupter deren spezifischer Erfahrung des Zweiten Weltkriegs zu, nämlich der Erfahrung emigrierter 21Intellektueller. Aber er bestreitet, dass solche Erfahrung noch für uns gegenwärtig sein könnte: »Diese Stimmung, diese Einstellung ist nicht mehr die unsere. Dennoch breiten sich, im Zeichen eines poststrukturalistisch erneuerten Nietzsche, Stimmungen und Einstellungen aus, die jener zum Verwechseln ähnlich sind. Dieser Verwechslung möchte ich vorbeugen.«[28] Nur: Welche Erfahrungen könnte anführen, wer behaupten will, dass wir seit dem Zweiten Weltkrieg auf der teleologischen Linie der Verwirklichung von Aufklärungs-Versprechen fortgeschritten seien? Es reicht wohl nicht mehr hin, pauschal an den »vernünftigen Gehalt der kulturellen Moderne« zu erinnern, »der in dem bürgerlichen Ideal festgehalten […] worden ist«,[29] seit mit seinen Implikationen und historischen Zukunftsperspektiven der Vernunftbegriff selbst in Frage gestellt ist.

Eine solche Perpetuierung – oder ›Wiedergeburt‹ – der Aufklärung muss so lange eine Fehlgeburt bleiben, wie man nicht den behaupteten Zusammenhang zwischen Aufklärung und Geschichte des 20. Jahrhunderts (bis hin zum Zustand der Welt in den achtziger Jahren) zu entkräften vermag. Bisher leben die Neuaufklärer eher von der weit verbreiteten argumentativen Schlichtheit ihrer Gegner. Gewiss kann man Helmut Kohl entgegenhalten, dass die Krise der achtziger Jahre (wenn es sich denn um eine – vorübergehende – Krise handeln sollte) nicht allein »einer subversiv überbordenden Kultur« angelastet werden kann. Mit anderen Worten: Man kann festhalten, dass die ›geistig-moralische Krise‹ auch von »Ökonomie und Staat ausgeht«.[30] Bloß ist damit noch lange nicht bewiesen, dass der »Gehalt der kulturellen Moderne« eine probate Vorgabe für die Lösung von Zukunftsproblemen unserer Gegenwart ist (einmal ganz abgesehen von dem Sachverhalt, dass die Ausblendung der Kultur als Anhaltspunkt zum Verständnis der Krise ebenso naiv ist wie ihre Verabsolutierung in demselben Zusammenhang). Wie wenig die Neu-Aufklärer bisher auf zentrale kollektive Erlebnisse und Erfahrungen der Gegenwart reagiert haben, wird augenfällig an dem offenbar pejorativ gemeinten Namen ›Neokonservative‹, mit dem sie die verschiedensten Gruppen ihrer Gegner 22belegen. Im Haushalt der politischen Sprache gewinnt das Prädikat ›konservativ‹ seine spezifische Bedeutung durch den Gegensatz zu ›progressiv‹. Aber wer wollte sich denn im Ernst heute noch als fortschrittsvertrauend, fortschrittsoptimistisch präsentieren?[31]

Das 20. Jahrhundert lässt sich nicht unter einer Perspektive des ›Fortschritts‹ periodisieren, und vielleicht fällt uns überhaupt seine Periodisierung nicht deshalb so schwer, weil wir ihm ›zu nahe‹ stehen, sondern weil wir gar nicht über Periodisierungsschemata ohne Fortschrittsimplikationen verfügen. Worauf können Perspektivierungen der Aufklärung und der künstlerischen Moderne als ›unvollendete Projekte‹[32] überhaupt noch bauen? Hans Robert Jauß setzt auf das Nachhol-Pensum einer Ergänzung politischer Aufklärung und Revolution durch ästhetische Erziehung und Evolution, auf eine Kombination von französischer Aufklärung und deutschem Idealismus.[33] Aber auch dieses Projekt hat seine geschichtliche Chance ja schon gehabt – und vertan. Die Tradition der europäischen Aufklärung hält für unsere Gegenwart – für die Vergangenheit der Zukunft – keine Lösungspotentiale mehr bereit. Und an dieser bitteren Erfahrung führt auch der Sachverhalt kaum vorbei, dass sich probate Lösungen anderswo ebenso wenig abzeichnen.

5. Zukunft?

Ähnlich wie die Gattungsgeschichte der utopischen Romane in Frankreich mit den politischen Programmen der ersten Jahre nach 1789 ihre Fortsetzung fand, kann man in den wissenschaftlichen Zukunftsprognosen unserer Gegenwart eine neue Entwicklungsstufe der negativen Utopie aus der Mitte des 20. Jahrhunderts sehen. Wir wissen, wie die Welt werden kann (und wahrscheinlich werden wird), und unsere Instinkte lehnen sich gegen diese 23Zukunftsbilder auf. Was wir nicht wissen: wie die Erfüllung der furchterregenden Prognosen zu verhindern wäre und wie anders die Welt werden könnte und sollte. Niemand wagt es mehr, ›glückliche Gegenwelten‹ in der Zukunft zu lokalisieren.[34] Unser Zukunftshorizont gerät zur Bedrohung, wenn wir ihn – ohne Verdrängung – aus jenen Erwartungen konstituieren, die das historische Bewusstsein liefert; er bleibt leer, wenn es gelingt auszusteigen aus der Koppelung von Vergangenheit als Erfahrungsraum und Zukunft als Erwartungshorizont.

Wir haben festgestellt, dass es angesichts der Schwierigkeit, Orientierungen für zukunftsbezogenes Handeln in der Gegenwart zu finden, kaum mehr möglich ist, ein konsensfähiges Relevanzprofil in die von der Geschichtswissenschaft vergegenwärtigten Vergangenheiten zu legen. Doch selbst wenn keine Vergangenheit mehr Vorgabe des Handelns sein kann, es gibt eine Vergangenheit, die der als ›Posthistoire‹ erfahrenen Gegenwart ähnlich sieht: das Spätmittelalter. Das 14. und 15. Jahrhundert umfassen eine von der Angst vor dem Weltende beherrschte Epoche, allerdings nicht deshalb, weil man eine Linie der Entwicklung nicht mehr weiterdenken konnte, sondern weil die Hoffnung auf Kompatibilisierung des Alltags mit dem ›Wissen‹ um den Schöpferwillen geschwunden war (noch war Gott das gefürchtete Subjekt des ›drohenden Weltendes‹). Das Spätmittelalter war eine Zeit, die (Mystik und Protestantismus zeigen es gleich eindrucksvoll) nach einem neuen, in Subjektivität fundierten Verhältnis zur Transzendenz drängte – so wie man heute das intersubjektiv verbindliche (aber von einer ›Glaubenskrise‹ affizierte) wissenschaftliche Wissen ›vom Menschen‹ in unhinterfragbarer Selbsterfahrung zu überschreiten sucht. Das Spätmittelalter war eine Phase der Involution,[35]der Rückkehr zu beinahe vergessenen Praxisformen, welche wenigstens die Erinnerung an glücklichere Vergangenheiten beschwören konnten, und wir stehen nicht an, in der Formel von der ›Aufklärung als unvollendetem Projekt‹ ein Involutions-Symptom für unsere Gegenwart zu sehen.

Der Blick hin bis zum Spätmittelalter belebt die Hoffnung auf eine Zukunft, in deren Gegenwart die Probleme ihrer eigenen Vergangenheit (unserer Gegenwart) unbegründet erscheinen 24mögen; aber auch diese Sicht des Spätmittelalters kann unser Bild von einer glücklichen Zukunft nicht konkretisieren. Deshalb ist es die vordringliche Pflicht des Historikers, nicht nur kleinlaut einzugestehen, sondern unüberhörbar zu machen, dass er weder die Reaktivierung von Handlungsmodellen der Vergangenheit noch die Prätention auf zukunftsbewältigende Orientierungen für gegenwärtiges Handeln noch die problemverdrängende Fortsetzung einer im historischen Bewusstsein fundierten historiographischen Praxis billigen kann.

»Wenn es uns nicht gelingt, einen geschichtlichen Begriff von Geschichte zu konstituieren, so läßt sich das Projekt der Moderne nicht vor dem Rückzug in eine ewig gleiche Natur bewahren, so steht ein Rückfall in eine mythische Geisteslage auf der Tagesordnung.«[36] Keine prägnantere Diagnose der Gegenwart ist mir bekannt: Denn zwischen der Ablehnung des Regresses und dem Bekenntnis der Ratlosigkeit besteht Taubes auf der Notwendigkeit einer Lösung, deren Kriterien er angibt. Wir müssen ›einen geschichtlichen Begriff von Geschichte konstituieren‹, d. h.: Wir müssen lernen, Geschichte anders zu denken, ohne aufzuhören, überhaupt geschichtlich zu denken. Was wären Grundelemente eines neuen Begriffs von Geschichte? Vielleicht die Ersetzung des einen Telos durch viele Nahziele; vielleicht die Substitution des Begriffes von der ›Perfektibilität‹ durch einen Begriff von der Erhaltung des Menschen; vielleicht die Ablösung des (zur Vervollkommnung aufgerufenen) geistigen durch den (um seine Erhaltung besorgten) physischen Menschen.

Solchen bescheidenen Zielen entspräche eine retrospektive Periodisierung, in der die Zeit seit der Aufklärung als eine Sequenz von Reflexionsphasen hin zu der Einsicht erschiene, dass die Selbstzerstörung für die Gattung ›Mensch‹ nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich geworden ist. Unter diesem Blickwinkel jedenfalls werden die dominierenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts miteinander kompatibel: der naturwissenschaftliche und technologische ›Fortschritt‹ (bis hin zur Aufhebung des Bedarfs der Menschheit an Menschen), die Unfähigkeit zur vernunftbegründeten Konfliktlösung (nur der je Schwächere bezichtigt jenen anderen der ›Unmenschlichkeit‹, der die Leiden seiner Mitmenschen sieht, ohne mit ihnen zu leiden).

25Doch noch hat die Präsenz popularisierter Formen der optimistischen Aufklärungs-Anthropologie ein Übergewicht, so dass man fragen muss, wer nun überhaupt bereit sein würde, sich auf die physische Selbsterhaltung als Nahziel menschlicher Geschichte einzulassen. Und weil diese Frage ja auch eine paradoxe Frage ist, könnte man meinen, dass neben den Fortschritten hin zur technologischen Möglichkeit der Selbstzerstörung und neben der Erfahrungsreihe hin zur Einsicht in die Unmöglichkeit vernunftfundierter Konfliktlösung sogar die neuerdings vielgepriesene Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts allzu lange bei der Vorführung der Möglichkeit verharrte, tradierte Sinngestalten und den Habitus der Konstitution von Sinngestalten in der Kommunikation überhaupt zu problematisieren und zu überschreiten.

Womit allerdings nicht unbedingt ›Blut und Boden‹ oder sozialistischer Realismus als Kunstformen des ›Posthistoire‹ gefeiert werden sollen.

262 Kaskaden der Modernisierung

Niemand, der sich mit Problemen und Begriffen wie Moderne und Modernisierung, Epochen und Epochenübergänge, Fortschritt und Stagnation beschäftigt – zumindest niemand, der dies innerhalb der westlichen Kultur tut und mit dem Interesse, die Identität der eigenen historischen Gegenwart zu diskutieren, kann es vermeiden, sich der Tatsache einer ›unsauberen‹ Überschneidung zwischen verschiedenen Begriffen von Moderne und Modernisierung zu stellen. Wie Kaskaden scheinen diese unterschiedlichen Auffassungen von Moderne in hastigem Ablauf aufeinander zu folgen, aber rückblickend beobachtet man auch, wie sie sich überschneiden, wie ihre Wirkungen sich potenzieren und wie sie sich in einer (schwer zu beschreibenden) Dimension der Gleichzeitigkeit gegenseitig beeinflussen.

Aufgrund der Etymologie dieser Worte, die sich in den verschiedenen europäischen Sprachen vom lateinischen ›hodiernus‹ (d. h. ›heutig‹) ableiten, war es seit der Antike möglich, das Adjektiv ›modern‹ zur Unterscheidung gegenwärtiger von früheren Stadien in der Geschichte von Institutionen zu verwenden.[1] So verweist ein Ausdruck wie ›papa modernus‹ wohl kaum auf einen besonders ›aufgeschlossenen‹ (oder gar ›fortschrittlichen‹) Papst, sondern 27einfach auf den ›gegenwärtigen Papst‹ in einem bestimmten chronologischen Moment. Während dieser Wortgebrauch noch immer sehr lebendig ist, stammen die interessanten Probleme bezüglich ›modern‹ ausschließlich von einer anderen Ebene der Bedeutungen, nämlich von der gegenseitigen Beeinflussung unterschiedlicher Epochenbegriffe, die alle an diesen einen Signifikanten ›modern‹ gebunden sind. Es gibt einen Begriff der Frühmoderne, der, indem er Ereignisse wie die Entdeckung der Neuen Welt oder die Erfindung der Druckerpresse[2] hervorhebt, Bewegungen und Veränderungen zusammenfasst, so dass sie den Eindruck erwecken, das, was seither das ›dunkle Mittelalter‹ genannt wurde, ›hinter sich gelassen zu haben‹. Während diese Moderne der Renaissance für das 19. Jahrhundert ein zentraler Gegenstand der Faszination war, befassen die Historiker unserer eigenen Gegenwart sich eher damit, einen komplexen Prozess der epistemologischen Modernisierung zu beschreiben, dessen Zentrum sie zwischen 1780 und 1830 vermuten.[3] Genau auf diesen Übergang als zeitgenössische Situation bezieht sich Hegel, indem er seiner eigenen Philosophie den Status verleiht, die Geschichte zum Ende zu bringen, und in einer komplementären These behauptet, die Kunst habe nunmehr ihre 28Funktionen für die Menschheit verloren. In scheinbarem Widerspruch zum hegelschen Begriff ›vom Ende der Kunstperiode‹ hat eine dritte Vorstellung der Moderne, häufig Hochmoderne genannt, einen viel engeren Anwendungsbereich. Sie beschwört eine besonders produktive Phase in der Geschichte der westlichen Literatur und Kunst während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, eine Zeit, die besonders durch radikale Programme und gewagte Experimente geprägt war.[4] Obwohl es stimmen mag, dass der Begriff der Postmoderne zuerst bei der Beschreibung bestimmter stilistischer Eigenschaften entstand, die es zuließen, einen Unterschied zwischen der Literatur und Kunst der Hochmoderne und des späten 20. Jahrhunderts zu begründen,[5] kann es keinen Zweifel darüber geben, dass dieser aktuellste Begriff der Moderne mittlerweile zum Brennpunkt einer neuen epistemologischen Diskussion geworden ist, die versucht, die Identität unseres eigenen Millennium-Endes zu bestimmen, und dabei zugleich seinem Status als Konstruktion von Zeitlichkeit besondere Aufmerksamkeit widmet.

Einen Aufsatz damit zu beginnen, auf vier unterschiedliche Konstellationen und Konzepte hinzuweisen, die leicht zu verwechseln sind, weil alle vom selben Namen ›Moderne‹ repräsentiert werden können, muss die Erwartung wecken, dass die darauf folgende Argumentation allzu leicht vorhersehbar wird. Muss ich nun nicht durchschaubarere Definitionen vorschlagen, die uns in die Lage versetzen, die vier verschiedenen Epochen der Moderne eindeutig voneinander zu unterscheiden? Ich leugne nicht, dass eine größere Klarheit bei der Verwendung dieser Begriffe hilfreich wäre. Aber trotzdem muss man betonen, dass (anders als bei systematischen Begriffen) die Probleme, welche den historiographischen Begriffen innewohnen, nicht durch transparente oder sogar konsensuelle Definitionen gelöst werden können. Es ist weniger die Aufgabe des Historikers, Klarheit durch Definitionen zu gewinnen, als immer komplexere und anspruchsvollere Beschreibungen der vergangenen Momente und Situationen zu entwickeln – Beschreibungen, die in 29immer komplexeren Begriffen von der Epoche reflektiert werden. Im Grunde sollte es nicht unser Interesse sein, die Vergangenheit zu beseitigen, indem wir sie mit stromlinienförmigen Begriffen kontrollieren, sondern eher, uns selbst und unsere Gegenwart mit möglichst reichhaltigen Bildern der historischen Verschiedenheit zu konfrontieren. Deshalb ist es, indem ich versuche, die Unterschiede zwischen den vier erwähnten ›Modernen‹ hervorzuheben, mein Ziel, die Dynamik ihrer kaskadenartigen Folge als eine Vorgeschichte zu analysieren, die uns dabei helfen wird, den besonderen historischen Status unserer Jetztzeit zu erfassen. Innerhalb dieser ganz konventionellen hermeneutischen Prozedur der Gegenüberstellung von Gegenwart und Vergangenheit steht jedoch etwas weniger Konventionelles auf dem Spiel. Es könnte ja sehr wohl der Fall sein, dass die Möglichkeit eines solchen Gegensatzes vom Chronotopen der ›historischen Zeit‹ abhinge – den wir oft als ein metahistorisches Phänomen missverstehen, obwohl die Dauer seiner Existenz (höchstens) auf die Zeitspanne der verschiedenen Modernen begrenzt ist. Wenn es sich herausstellen würde, dass in den und durch die Kaskaden der Modernisierung der Chronotop der historischen Zeit zu seinem Ende gekommen ist, dann würde die Beschreibung der Vergangenheit nicht mehr – zumindest nicht mehr notwendigerweise – als ein Hintergrund für die Identifizierung der Gegenwart dienen. In diesem Falle hätte die historische Analyse der Kaskaden von Modernisierung den Status einer ›mise-en-abime‹ für diesen Typus von Analyse und für den Chronotop ›historische Zeit‹ als ihre zentrale Voraussetzung.

Frühmodern

Die Reihe von Innovationen, welche, wie ich bereits angedeutet habe, durch die Druckerpresse und die Entdeckung des amerikanischen Kontinents metonymisch repräsentiert werden kann, verweist auf die Entstehung des westlichen Typs der Subjektivität – einer Subjektivität, die sich zur Rolle des Beobachters erster Ordnung[6] und zur Funktion der Produktion von Wissen verdichtet 30hat. Im Gegensatz hierzu präsentierte während des Mittelalters das vorherrschende Selbstbild des Menschen diesen als Teil einer göttlichen Schöpfung, deren Wahrheit entweder dem menschlichen Verstehen entzogen oder im besten Falle durch Gottes Offenbarung enthüllt war. Statt neues Wissen zu produzieren, war es vielmehr die Aufgabe menschlichen Studiums, alles offenbarte Wissen vor dem Vergessen zu bewahren – und diese offenbarte Wahrheit durch die Predigt und vor allem das Feiern der Sakramente präsent werden zu lassen.[7] Die zentrale Verschiebung hin zur Moderne liegt deshalb in der Möglichkeit, sich selbst in der Rolle des Subjekts zu sehen (was im Zusammenhang mit der protestantischen Theologie den Status der Sakramente zu einem reinen Akt der Erinnerung macht). Anstatt Teil der Welt zu sein, sieht sich das moderne Subjekt als ihr gegenüber exzentrisch, und anstatt sich selbst als Einheit von Körper und Geist zu beschreiben,[8] beansprucht das Subjekt – zumindest das Subjekt als exzentrischer Beobachter und als Produzent von Wissen[9] –, ein rein geistiges und geschlechtsneutrales zu sein. Diese – horizontale – Achse der Konfrontation des geistigen Subjektes mit einer Welt aus Objekten (welche den Körper des Subjekts einschließt) ist die erste strukturelle Vorbedingung der frühen Moderne. Ihre zweite Vorbedingung liegt in der Idee einer – vertikalen – Bewegung, mit der das Subjekt die Welt der Objekte liest oder interpretiert. Indem es die Welt der Objekte wie eine Oberfläche durchdringt, ihre Elemente als Signifikanten entziffert und diese, sobald ihnen eine Bedeutung verliehen wurde, als bloße 31Materialität hinter sich lässt, glaubt das Subjekt, die geistige Tiefe des Signifikats und der Bedeutung, d. h. die endgültige Wahrheit der Welt zu erreichen. Der Schnittpunkt dieser beiden Polaritäten – zwischen Subjekt und Objekt, Oberfläche und Tiefe – hat schon Jahrhunderte vor der Institutionalisierung der Hermeneutik als philosophische Teildisziplin das ›hermeneutische Feld‹ konstituiert.[10] Das hermeneutische Feld impliziert die Annahme, dass die Signifikanten als der materiellen Oberfläche der Welt zugehörig niemals ausreichen, um die ganze Wahrheit auszudrücken, die in ihrer geistigen Tiefe präsent ist, und begründet deshalb die beständige Forderung nach Interpretation als einem Akt, der die Unzulänglichkeiten des Ausdrucks ausgleicht. Obwohl es gute Gründe gibt, anzunehmen, dass das hermeneutische Feld seit dem 18. Jahrhundert den Höhepunkt seiner Komplexität und Akzeptanz überschritten hat, liegt es natürlich unseren konventionellen Begriffen von Literatur, Kunst und sogar von Wissen noch immer gleichsam ›natürlich‹ zugrunde. Dies ist umso erstaunlicher, da das hermeneutische Feld seit dem Ende der Aufklärung einer ununterbrochenen Folge von Herausforderungen und Krisen ausgesetzt war.

Epistemologisch modern

Was uns vielleicht am eindeutigsten von der frühen Moderne unterscheidet, ist deren Vertrauen – ein, wie wir sehen werden, blindes Vertrauen – auf das Wissen, das vom Beobachter erster Ordnung produziert wird. Zwischen der frühen Moderne und unserer epistemologischen Gegenwart liegt ein Prozess der Modernisierung, der sich auf die Jahrzehnte vor und nach 1800 erstreckte und die Rolle eines Beobachters hervorbrachte, der dazu verdammt ist, sich beim Beobachten der Welt selbst zu beobachten. Diese Rolle entspricht genau der Beschreibung der neu entstehenden ›Humanwissenschaften‹, mit deren Auftreten Michel Foucault in seinem Buch Die Ordnung der Dinge[11] die diskursive Schwelle von 1800 kennzeichnet. Aber sie ist auch synonym mit Niklas Luhmanns 32Definition des Beobachters zweiter Ordnung (obwohl Luhmann seinen Begriff nicht historisiert). Über einen Zuwachs an Komplexität in der institutionalisierten – und erst von jetzt an: selbstreflexiven – Subjektrolle hinaus hat das Entstehen des Beobachters zweiter Ordnung drei weitere epistemologische Transformationen zur Folge.

Indem ein Beobachter zweiter Ordnung sich beim Akt der Beobachtung selbst beobachtet, wird er sich unvermeidlich seiner körperlichen Konstitution – des menschlichen Körpers im Allgemeinen, seines Geschlechts wie auch seines individuellen Körpers – bewusst, und zwar bewusst als einer komplexen Bedingung seiner eigenen Wahrnehmung von Welt. Zugleich steht nun für jene materiellen Oberflächen der Welt, auf die allein die Wahrnehmung sich beziehen kann (die aber innerhalb des hermeneutischen Feldes auf einen untergeordneten Status reduziert waren), eine Umwertung an. Das Interesse des frühen Materialismus an der Anatomie, an den Funktionen und Objekten der menschlichen Sinne, und seine zunehmende Faszination für die Besonderheit der ästhetischen Erfahrung scheinen historische Symptome zu sein, die eine solche Rückkehr von Körpern und Materialitäten in das Blickfeld des Beobachters vorausahnen lassen. Sobald jedoch die Wahrnehmung als physischer Akt und die materielle Welt als ihr Objekt zum Thema werden, kommt die Frage auf, wie sich Wahrnehmung zu Erfahrung verhält, Erfahrung, welche ausschließlich auf Begriffen beruht – und ob die physische Wahrnehmung und die begriffliche Erfahrung überhaupt miteinander vermittelt oder in Einklang gebracht werden können. Wir sind heute noch immer – und vielleicht intensiver denn je – mit diesen Problemen konfrontiert. Wenn, zweitens, der neue, selbstreflexive Beobachter weiß, dass der Inhalt jeder Beobachtung von seiner besonderen Position abhängt (wobei das Wort ›Position‹ natürlich eine Vielfalt von sich überschneidenden Bedingungen abdeckt), dann wird deutlich, dass – zumindest solange man die Annahme einer existierenden ›realen Welt‹ aufrechterhält – jedes einzelne Phänomen eine Unendlichkeit von möglichen Wahrnehmungen, Erfahrungsformen und Repräsentationen provozieren kann. Keine dieser vielfältigen Repräsentationen kann jemals für sich beanspruchen, angemessener als alle anderen oder ihnen epistemologisch überlegen zu sein. Dies ist das Problem, auf das Foucault als die ›Krise der Repräsentierbarkeit‹ 33verweist.[12] Drittens ist es möglich, das, was Reinhart Koselleck und andere Historiker wiederholt als ›Temporalisierung‹ oder auch als ›Beschleunigung der Zeit‹ im 19. Jahrhundert beschrieben haben, mit der Krise der Repräsentierbarkeit in Verbindung zu bringen.[13] Denn wir können in dem neuen kulturellen Habitus des 19. Jahrhunderts – der auch der unsere ist –, Phänomene mittels ihrer Entwicklungen oder ihrer Geschichte zu beschreiben, eine Strategie sehen, der von nun an potentiellen Unendlichkeit in den Repräsentationen aller Phänomene gerecht zu werden. Jede neue Repräsentation kann somit in immer komplexere Entwicklungsmodelle oder historische Darstellungen integriert werden. So gesehen sind die Historisierung und Narrativierung Möglichkeiten, mit steigender Komplexität in der Weltwahrnehmung und Erfahrung zurechtzukommen, und gewiss nicht so etwas wie ›epistemologischer Fortschritt‹.

Die These, gemäß der die Temporalisierung von einer Krise der Repräsentierbarkeit motiviert ist, die wiederum auf die Entstehung des Beobachters zweiter Ordnung zurückgeht, führt zu der Konsequenz, dass das, was wir ›historische Zeit‹ nennen, selbst ein historisch spezifischer Chronotop ist. Was genau ist spezifisch an der ›historischen Zeit‹? Wir haben uns so vollkommen an dieses komplexe Erfahrungsmuster gewöhnt, dass es schwierig ist, die nötige Distanz zu gewinnen. Man scheint jedoch behaupten zu können, dass die Zeit erst seit dem 19. Jahrhundert die Funktion zugeschrieben bekommen hat, immer und unvermeidlich Ursache von Veränderung zu sein. Innerhalb der historischen Zeit kann man sich nicht vorstellen, dass irgendein Phänomen von der Veränderung ausgenommen ist – und dies führt zur allgemeinen Anerkennung der Prämisse, dass unterschiedliche historische Epochen nicht mit Hilfe irgendwelcher Standards metahistorischer Art verglichen werden dürfen.[14] Gleichzeitig verleiht Zeit als absolute 34Ursache der Veränderung der Innovation die Strenge eines bindenden Gesetzes. Von jetzt an kann es sich kein Individuum, keine Gruppe und kein ›historischer Moment‹ mehr leisten, lediglich als Wiederholung seiner Vorläufer gesehen zu werden. Die Aussage, jemand oder etwas ›bleibe‹ nach einer Anzahl von Jahren ›der-‹ oder ›dasselbe‹, wird zu einem zunehmend zweifelhafteren Kompliment. Wenn also jede Gegenwart als Modifikation ihrer Vergangenheit und als von der Zukunft zu modifizierend erfahren werden muss, verstehen wir, dass die historische Zeit die strukturelle Möglichkeit der ›Modalisierung von Zeit‹ hervorbringt.[15] Jede der drei Dimensionen von Zeit kann nun aus den Perspektiven der anderen beiden Dimensionen vorgestellt werden: die Gegenwart als Zukunft der Vergangenheit und als Vergangenheit der Zukunft; die Zukunft als Vergangenheit einer ferneren Zukunft und als Gegenwart der Zukunft; die Vergangenheit als Zukunft einer ferneren Vergangenheit und als Gegenwart der Vergangenheit. Da die historische Zeit nun von so vielen konvergierenden Impulsen in Bewegung gesetzt scheint, ist es nicht mehr möglich, die Gegenwart als Spanne einer Kontinuität zu denken. Für den Chronotop der historischen Zeit verwandelt sich die Gegenwart in einen ›unmerklich kurzen Augenblick‹,[16] in jenen strukturellen Ort, an dem sich jede Vergangenheit in Zukunft verwandelt. Aber sie ist auch der Ort – und dies könnte die wichtigste Konsequenz aus der Temporalisierung des 19. Jahrhunderts sein –, an dem die Rolle des Subjekts mit der historischen Zeit verknüpft wird. In jedem gegenwärtigen Moment muss sich das Subjekt eine Reihe von zukünftigen Situationen vorstellen, welche sich von der Vergangenheit und der Gegenwart unterscheiden müssen und unter denen es seine bevorzugte Zukunft 35auswählt. Nur durch diese Koppelung mit der historischen Zeit und durch die Funktion, die sie innerhalb dieser Dimension erfüllt, kann das Subjekt – zumindest auf der Ebene seiner Selbstreferenz – zum Handlungssubjekt werden. Und diese Wechselbeziehung zwischen Zeit und Handlung vermittelt den Eindruck, dass die Menschheit in der Lage ist, ihre Geschichte selbst zu ›machen‹.

Offensichtlich setzt die Philosophie der Geschichte als Praxis des Denkens und als Diskurs ebendiese epistemologische Konstellation voraus – man könnte sogar behaupten, dass das intellektuelle Programm der Geschichtsphilosophie unmittelbar hierauf reagiert. Wenn auch ›Geschichtsphilosophie‹ als Begriff bis auf Voltaire zurückgeht, so gibt es doch keinen Zweifel, dass Hegels Werk den weitesten Bereich an möglichen Assoziationen und Verbindungen zwischen ihr und den neuen Strukturen der Wahrnehmung und Erfahrung von Welt bietet. Auf dieser Ebene bietet es sich an, eine Beziehung herzustellen zwischen dem Motiv des ›Weltgeistes‹*, der sich seiner selbst bewusst wird, und dem Beobachter zweiter Ordnung, der durch die Fähigkeit definiert ist, seine eigenen Beobachtungen beobachten zu können. Sogar epistemologische Strukturen werden jetzt unter dem Gesetz der Verzeitlichung repräsentiert – und das bedeutet: als Entwicklung.[17] Die Geschichtsphilosophie ist die wichtigste Quelle für die grundlegenden narrativen Modelle von temporalisierter Repräsentation. Deshalb ereignet sich die Ankunft des selbstreflexiven ›Weltgeistes‹* am Ende jener Erzählung, durch die sich die Philosophie der Geschichte selbst repräsentiert – erzählt –, am Ende einer Weltgeschichte, deren frühere Stadien von weniger komplexen Beobachtungsmustern beherrscht waren. Das 36enge Verhältnis zwischen Subjektivität und Welt jedoch, auf das Hegel in der Ästhetik als Bedingung der wahren Kunst verweist,[18] entspricht einer Form der Erfahrung, die für den Beobachter erster Ordnung charakteristisch ist. Es kann mit einer höheren Stufe der Reflexivität (oder mit dem Beobachter zweiter Ordnung) nicht in Einklang gebracht werden – und dies erklärt, warum Kunst im Sinne von Hegels Begriff unter den Bedingungen einer selbstreflexiven Subjektivität und unter der Herrschaft temporalisierter Formen der Repräsentation zu ihrem Ende kommen muss.[19] Es gibt jedoch eine Ausnahme von den zeitgenössischen epistemologischen Zwängen, eine Ausnahme, die Hegel für die Kunst und die Repräsentation alten Stils offenlässt – und er verweist auf sie mit dem schwer zu interpretierenden Begriff ›objektiver Humor‹.[20] Während die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt, das vom objektiven Humor vorausgesetzt wird, vergleichsweise oberflächlich bleibt, unterstreicht Hegel, dass objektiver Humor »nur im Umfang eines Liedes oder nur als Teil eines größeren Ganzen« erreicht werden kann. Man kann den Verdacht hegen, dass diese doppelte Formel zumindest indirekt dazu dienen soll, längere narrative Diskurse von den Formen der Repräsentation, die unter dem ›objektiven Humor‹ zusammengefasst werden, auszuschließen.

37Hochmodern

Es ist möglich, die Geschichte von Kunst und Literatur in Europa seit 1800 als Verkettung unterschiedlicher Reaktionen auf unterschiedliche Aspekte innerhalb der Krise der Repräsentation zu analysieren.[21] Jeder einzelne Roman, von Balzac etwa, thematisiert in einem frühen Stadium der Handlung das eine oder andere Problem, welches vom Verlust des Glaubens an eine objektive Weltsicht herrührt – um den Lesern am Ende die beruhigende Gewissheit zu geben, dass zumindest für moralisch hervorragende Protagonisten eine solche Objektivität noch immer zugänglich sei. Im Gegensatz hierzu inszeniert Flaubert, dessen literarischer ›Realismus‹ diese Selbstbezeichnung bereits von der zeitgenössischen Malerei übernommen hat, immer wieder die unversöhnlichen Divergenzen innerhalb einer Vielfalt von Diskursen und Perspektiven auf die Welt – und das sind bei ihm Divergenzen, die das auktoriale Niveau seiner Romane niemals auszubalancieren beginnt. Die Erfindung der Photographie wird von der Hoffnung begleitet, dass sie die relativierende Positionalität des Beobachters und seines Körpers durch die Herstellung eines unmittelbaren Kontakts zwischen Welt und Bildplatte tilgen könne – aber sie führt zu der (entmutigenden) Erfahrung, dass jedes Bild eine Inschrift der zufälligen situativen Umstände trägt, unter denen es produziert wurde.

Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führt die Ansammlung solcher ästhetischer Innovationen, Experimente und Effekte – die alle von der Krise der Repräsentierbarkeit ausgelöst zu sein scheinen – zu einem erodierenden Einfluss auf das hermeneutische Feld. Es gibt vielfältige Symptome eines zunehmenden Ungleichgewichts innerhalb jener vertikalen Achse, die traditionellerweise die ›lediglich materielle Oberfläche der Signifikanten‹ mit der ›geistigen Tiefe des Signifikats‹ verknüpfte. Die neue Aufmerksamkeit, die etwa der Symbolismus der Gestaltung von ge38druckten (oder handgeschriebenen) Texten oder den Klängen der gesprochenen Sprache (in einem berühmten Fall sogar den ›Farben der Vokale‹) zollt, zeigt, dass die Signifikanten inzwischen eine Anzahl von – hauptsächlich ästhetischen – Funktionen übernommen haben, welche die Funktion der Repräsentation von Bedeutung überschreiten. Umgekehrt ist es der ehrgeizige Anspruch der ›Programmmusik‹* Richard Wagners, bestimmte Sinnstrukturen mit Hilfe musikalischer Töne auszudrücken, welche bis dahin den Status rein akustischer Materialität hatten.[22] Nicht zufällig geht Nietzsches radikale Infragestellung des ›Willens zur Wahrheit‹ mit einem Lob der Oberflächen (Masken, Buchstaben usw.) einher, die nichts außer Oberflächen sind (d. h. nur die Materialität von Masken, Buchstaben usw.).

Was die Kulturhistoriker als ›Hochmoderne‹ bezeichnen, der Zeitpunkt, der von den (für uns) ›historischen Avantgarden‹ der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beherrscht wurde, ist das radikalste Niveau dieser Deregulierung des Gleichgewichts von Signifikant und Signifikat – ein Zustand, um dessen Eroberung Künstler und Autoren enthusiastisch wetteiferten. Niemals zuvor und niemals danach sind Dichter so überzeugt davon gewesen, ihre historische Mission, ›subversiv‹ und ›revolutionär‹ zu sein, zu erfüllen (was wohl zumindest teilweise das enorme Prestige der Avantgardisten unter den Intellektuellen von heute erklären kann). Anstatt (wie Balzac es tat) die Möglichkeit der Repräsentation zu verteidigen, anstatt auf die wachsenden Probleme mit dem Prinzip der Repräsentierbarkeit hinzuweisen (Flauberts Anliegen), sind Surrealisten und Dadaisten, Futuristen und Kreationisten – zumindest in ihren Manifesten – zunehmend entschlossen, mit der Funktion der Repräsentation aktiv zu brechen. Die Zeitungsfetzen z. B., die Picasso und Braque in einige ihrer Collagen einarbeiten, können nicht repräsentieren, was sie bereits sind. Sie sind, was sie sind, und sie lenken deshalb die Aufmerksamkeit nur auf den Akt des Bruches mit der Repräsentation, auf die Qualität des Materials, das sie zu dem macht, was sie sind – und auf die Form der 39Wahrnehmung, die auf ihre Materialität reagiert. Von einer hegelianischen Perspektive aus gesehen, bedeutet dies, dass die epistemologische Modernisierung um 1800, von der die beginnende Krise der künstlerischen und literarischen Repräsentation ein Teilaspekt war, dazu führt, eine selbstzerstörerische Dynamik im Kunstsystem zu produzieren. Sie ist selbstzerstörerisch zumindest im Verhältnis zu den traditionellen Repräsentations-Funktionen von Kunst und Literatur.

Aber die Funktionen der Repräsentation zu problematisieren und schließlich auf sie zu verzichten, ist nur eine Seite der künstlerischen und literarischen Bewegung Hochmoderne. Es ist jene Seite der Hochmoderne, die wir, zumindest bis vor kurzem, für das Ganze zu halten geneigt waren – wahrscheinlich weil sie in jenen europäischen Ländern vorherrschte, die das Zentrum auf der Karte des kulturellen Prestiges besetzten. Aber die Peripherie dieser Karte (Italien, Spanien, Nord- und Südamerika) brachte eine andere Version der Hochmoderne hervor. Um deren spezifischen Charakter zu erläutern, kann man auf einen – damals international berühmten – Aufsatz von José Ortega y Gasset verweisen, der im Jahr 1925 unter dem Titel La deshumanización en el arte veröffentlicht wurde. Was Ortega (zu Recht oder zu Unrecht) in diesem Text angreift und als ein Symptom für den kulturellen Verfall ansieht, ist die Tendenz in der für ihn zeitgenössischen Kunst und Literatur, über die Gestalt des Menschen oder der Menschheit hinauszugehen, einschließlich dessen, was der Mensch oder die Menschheit als die spezifischen Formen und Inhalte ihrer eigenen Weltsicht erfahren. Die künstlerische und literarische Praxis in jenen Ländern der Peripherie kann genauso innovativ, experimentell und manchmal schockierend sein wie die des kulturellen Zentrums – aber sie bricht niemals vollkommen mit der Funktion der Repräsentation. So ist es z. B. für eine Generation junger spanischer Dichter, die 1927 anlässlich des dreihundertsten Todestages von Góngora die barocke Schönheit seiner Verse wiederentdeckt haben, von größter Bedeutung, gegen ein traditionelles Vorurteil zu beweisen, dass es durchaus möglich ist, verständliche Bedeutungen in Góngoras Texten zu finden.[23] Eine solche Abweichung 40von den surrealistischen Angriffen auf die Repräsentation wird sogar noch augenfälliger in den Gedichten des jungen Jorge Luis Borges, der in seiner argentinischen Heimat[24] sich darum bemüht, gegenüber einem bestimmten modernistischen Diskurs, der kaum aggressiver ist als die Texte von Federico García Lorca oder die Gemälde von Pablo Picasso, eine Alternative der Repräsentation offenzuhalten.

Deshalb kommt, während die Hochmoderne Zentraleuropas der düsteren Seite von Hegels Prognose vom Ende der Kunst entspricht, die Moderne-Version aus der Peripherie einer Ausnahme vom Ende der Repräsentation nahe – wie sie Hegel unter dem Begriff des ›objektiven Humors‹ einräumt. In der Mitte der zwanziger Jahre manifestiert sich Borges’ literarische Produktion ausschließlich in kurzen lyrischen Formen. Es ist seine erklärte Absicht, eine Repräsentation der Alltagswelt hervorzubringen, mit der er besonders vertraut ist, eine Repräsentation der Alltagswelt in den Vorstädten von Buenos Aires. Am Ende findet Borges subtile Möglichkeiten, jene epistemologischen Rahmenbedingungen zu umgehen, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die literarische und künstlerische Produktion so stark beengt hatten. Indem er seine Abhängigkeit von den Vorgängern und zeitgenössischen Poeten immer wieder betont (und nicht leugnet), widersteht er – oft auf ironische Weise – den Zwängen der Innovation. Anstatt dem epistemologischen Druck zu folgen, jedes Phänomen mittels der Erzählung seiner Entwicklung zu repräsentieren, überträgt Borges Elemente der nationalen oder lokalen Geschichte bewusst aus ihrer zeitlichen Folge in einen Chronotop der Gleichzeitigkeit. Sein berühmtes Gedicht Fundacíon mítica de Buenos Aires etwa füllt einen geographischen Raum mit der gleichzeitigen Präsenz von mythologischen Sirenen und Helden aus der Zeit der Entdeckung Ame41rikas, von romantischen Gründervätern der argentinischen Nation und zeitgenössischen Politikern.

Postmodern

Eine Möglichkeit, unsere Gegenwart als Postmoderne zu verstehen, liegt darin, sie als Überwindung der Hochmoderne des Jahrhundertbeginns zu betrachten, und das bedeutet, als befreit von jener Besessenheit der Innovation, die ein Vermächtnis des Chronotops ›historische Zeit‹ ist. Dann stellt die Hochmoderne die Vergangenheit dar, welche von der postmodernen Gegenwart hinter sich gelassen wird. Die philosophisch interessantere und, wie ich glaube, plausiblere Version des Begriffs der Postmoderne jedoch ist es, unsere Gegenwart als eine Situation zu begreifen, welche die angesammelten Auswirkungen jener Modernen, die seit dem 15. Jahrhundert aufeinander gefolgt sind, rückgängig macht, sie neutralisiert und transformiert. Die Postmoderne problematisiert die Subjektivität und das hermeneutische Feld, die historische Zeit und sogar, aus einem bestimmten Blickwinkel, die Krise der Repräsentation (indem sie sie radikalisiert). Ein – verhältnismäßig komplexer – Grund, der dagegenspricht, unsere Gegenwart einfach als eine weitere Moderne zu verstehen, die auf die Hochmoderne folgt, rührt von der Erfahrung her, dass, wie ich zu beweisen versuchen werde, die nichtdestruktive Seite der Hochmoderne tatsächlich als ein Teil der Postmoderne wiederkehrt, anstatt von dieser überwunden zu werden (wie eine konsequente Logik der Innovation uns erwarten ließe). Vielleicht bedeutsamer (weil weniger auf Begriffen und Argumenten beruhend) ist unser elementarer Eindruck, dass das Tempo der Veränderung, nach Phasen beispielloser Beschleunigung während des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nun beginnt, sich zu verlangsamen. Wir sind überrascht festzustellen, dass die Zeitspanne, die zwischen der Mitte der sechziger Jahre (der Studentenrevolte und der jungen Beatles) und unserer Gegenwart verstrichen ist, so groß ist wie diejenige, die den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vom Ende des Zweiten Weltkrieges trennt. Wenn es deshalb unser Eindruck ist, die Zeit habe begonnen ›langsamer zu verstreichen‹ und ›die Gegenwart dehne sich wieder aus‹, so bedeutet dies natürlich nicht, dass die Anzahl relevanter ›Ereig42nisse‹ sich ›objektiv‹ verringert habe. Aber solche Gefühle zeigen doch, wie sehr wir uns aus dem Chronotop der ›historischen Zeit‹ mit ihren bedingungslosen Imperativen zur Veränderung und Innovation herausbewegen.[25]

Es ist noch immer schwierig, mehr über den neu entstehenden Chronotop zu sagen, als dass er ›nicht mehr modern‹ ist. Seine Zukunft hat die Anziehungskraft eines offenen Horizontes verloren, den wir in jeder Gegenwart formen und wählen können. Er erscheint vielmehr als besetzt und (auf negative Weise) von den – zumeist unbeabsichtigten oder unerwarteten – Konsequenzen von Handlungen und Ereignissen, die in der Vergangenheit liegen, vorherbestimmt. Während wir somit einen Widerwillen dagegen entwickelt haben, die Schwelle von der Gegenwart hin in eine Zukunft zu überschreiten, die sich als unerfreulich ankündigt, haben wir auch den Ehrgeiz verloren, die Vergangenheit hinter uns zu lassen, sie zu überwinden und zu überflügeln. Im Gegenteil, unsere Techniken der Erinnerung, Bewahrung und sogar Reproduktion von Objekten und Umgebungen, die der Vergangenheit angehören, sind so enorm verbessert worden, dass ›das Leben in der Vergangenheit‹ zum ersten Mal vielleicht nicht mehr nur eine Metapher für historische Phantasie ist. Da die Gegenwart der Konvergenzpunkt einer Vergangenheit, die hinter uns zu lassen wir uns nicht geneigt fühlen, und einer Zukunft, in die wir nicht eintreten wollen, bildet, mag es tatsächlich sinnvoll sein, wenn wir diese Gegenwart als ›sich ausdehnend‹ erfahren. Aber ist dies mehr als eine unklare Metapher für einen noch unklareren Eindruck über den Zustand unserer gegenwärtigen Kultur? Ist es möglich, einige greifbare Strukturen dahinter zu identifizieren? Zumindest auf der Ebene der Epistemologie könnte man behaupten, das Äquivalent für den ›langsameren Fluss der Zeit‹ und eine ›ausgedehntere Gegenwart‹ sei eine Verschiebung von der – modernen – Gewohnheit, die vielfältigen Repräsentationen identischer Phänomene als Entwicklungen und Geschichten zu gliedern, hin zu dem – post43modernen – Habitus, sie als Varianten zu handhaben, die simultan verfügbar sind. Wenn allerdings Variation zur vorherrschenden epistemologischen Form unserer Gegenwart wird, könnte dies erklären, warum wir uns selbst als immer weniger gewillt (und nicht so sehr als unfähig) empfinden, Ursprünge und Endpunkte für Geschichten zu identifizieren oder nach den Originalen als Grundlage für die Kopien und nach Authentizität als Gegensatz zur Künstlichkeit zu suchen. In einer ähnlichen Bewegung wird die Geschichte aus einer narrativen Sequenz unterschiedlicher Zeitepochen in eine Anschauungsform verwandelt, welche europäische Geisteswissenschaftler seit einiger Zeit ›historische Anthropologie‹ nennen, d. h. die Rekonstruktion eines weiten Bereichs von möglichen Mustern, die das menschliche Lehen formen und organisieren können.[26]

Einige der vorherrschenden Eindrücke, die wir mit der Kultur unserer Gegenwart assoziieren, könnten somit unter dem Begriff einer ›De-Temporalisierung‹ zusammengefasst werden. Die Innovation von Gewohnheiten und Verhaltensformen ist heute gewiss keine absolute Verpflichtung mehr – es sei denn, man hat zwingende pragmatische Argumente für eine Veränderung wie Funktionalität oder ökonomischen Gewinn. Folglich erscheint die Zeit auch nicht mehr länger als absolute Ursache der Veränderung. Wenn sich die Zukunft deshalb nicht als ein Horizont präsentiert, der in der Gegenwart geformt und bestimmt werden soll, wenn die Furcht vor unbeabsichtigten Folgen[27] das Vertrauen in die rationale Wahl überwiegt, dann neutralisiert – oder zumindest schwächt[28] – 44die Detemporalisierung jenen Aspekt von ›Ursächlichkeit‹, den sich das Subjekt im Lauf des 18. Jahrhunderts einverleibt hat. Solange wir den Aspekt der Ursächlichkeit als für Subjektivität wesentlich betrachten, können wir die hier beobachtete Veränderung begrifflich als De-Subjektivierung fassen. Doch eine Subjekt-Konfiguration, deren Ursächlichkeits-Attribution geschwächt (oder neutralisiert) erscheint, verliert nicht notwendigerweise an Komplexität und Differenziertheit als Beobachter der Welt. Deshalb erkennen wir, obwohl unsere Beobachtungen der Welt weiterhin eine Unendlichkeit an Repräsentationen hervorbringen (unter denen es unmöglich ist, zwischen mehr oder weniger ›angemessenen‹ zu unterscheiden), dass diese nicht mehr zu Erzählungen der Entwicklung synthetisiert werden. Dies bedeutet, dass innerhalb des bereits beschriebenen Paradigmas der ›Variation ohne Originale‹ Unterscheidungen wie die zwischen Repräsentation und Referent, Oberfläche und Tiefe, Materialität und Bedeutung, Wahrnehmung und Erfahrung an Gewicht verlieren. Wir sind weit entfernt davon, das Ergebnis dieser begrifflichen Zusammenbrüche voll zu begreifen (ganz zu schweigen davon, es ausreichend analysiert zu haben). Aber wir können auf sie mit dem Blick auf eine dritte epistemologische Tendenz unserer Gegenwart als De-Referentialisierung verweisen.

Sicherlich ist es möglich zu behaupten, dass viele der Phänomene, die ich erwähnt habe, um unsere eigene Gegenwart zu charakterisieren, in zeitlich früheren historischen Perioden und Zusammenhängen vorgekommen seien – vielleicht sogar mit besonderer Intensität in den Jahrzehnten nach der letzten Jahrhundertwende. Dies würde jedoch nicht notwendigerweise meine Beschreibung unserer Gegenwart widerlegen. Denn es ist meine wichtigste Voraussetzung, dass De-Temporalisierung, De-Subjektivierung und De-Referentialisierung heute zu weithin institutionalisierten (ja beinahe globalen) Rahmenbedingungen des menschlichen Lebens geworden sind – so schwer es auch manche Geisteswissenschaftler finden, diese Situation zu akzeptieren. Im Gegensatz hierzu waren jene Zeichen ihres Vorkommens, die wir in den Dokumenten des frühen 20. Jahrhunderts finden, äußerst exzentrische Positionen in hochintellektuellen Debatten. Gibt es nun einen vorherrschenden Stil oder eine vorherrschende Form in der Literatur und der Kunst der postmodernen Gegenwart, die sie von der Hochmoderne ab45hebt? Die unmittelbare Antwort muss heißen, dass eine solche Frage, wenn wir denn die Bedeutung des Begriffs ›Postmoderne‹, für den wir uns entschieden haben, ernst nehmen, unangemessen ist. Denn sowohl die Möglichkeit, eine bestimmte Zeitspanne mit einem bestimmten literarischen Stil z. B. in Verbindung zu bringen, als auch die Möglichkeit, die Identität eines solchen Zeitraumes zu bestimmen, indem man ihn vergangenen Zeiträumen entgegensetzt, gehören zum Chronotop der historischen Zeit. Dessen ungeachtet kann man beobachten, dass die radikalen Gesten der Hochmoderne heute ihr Potential zur Provokation verloren haben. Trotz gelegentlicher (und zumeist nostalgischer) Comebacks auf der postmodernen Szene und trotz eines hohen Grades an Kanonisierung erscheint uns die Ästhetik der historischen Avantgarden wie eine Sackgasse. Was kann denn noch der nächste Schritt sein, wenn jemand einmal gezeigt hat, wie linguistisches Material, Pinselstriche und Farben in der Lage sind, nicht zu repräsentieren? Es gibt kein Jenseits zu dieser Einsicht, und weil es kein Jenseits zu ihr gibt, gibt es auch kein definierbares Ende des ›Endes der Repräsentation‹ und des Widerhalls der hegelschen These vom Ende der Kunstperiode.[29] Zugleich ist es wahr, dass jene Formen zeitgenössischer Literatur, die sowohl populär sind als auch von intellektuellen Lesern geschätzt werden, etwa die Romane von García Márquez oder Eco, von Pynchon oder Fruttero und Lucentini, die radikale, auf reine Form konzentrierte Kargheit der Avantgarden nicht teilen – trotz all ihrer internen Divergenzen. Wenn wir die Genealogie jener Literaturformen zu rekonstruieren versuchen, welche die postmoderne Gegenwart charakterisieren, würde uns dies weniger zu Finnegan’s Wake oder zu Bretons Manifesten als zu Borges’ frühen Gedichten und zu seinen cuentos



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