Nach 1945 - Hans Ulrich Gumbrecht - E-Book

Nach 1945 E-Book

Hans Ulrich Gumbrecht

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Beschreibung

Die Atombombe und der Kalte Krieg, aber auch die Währungsreform und das Wunder von Bern kennzeichnen eine Epoche, in der die Vergangenheit unaussprechbar schien und die Zukunft bedrohlich. Das Gefühl, in einer Zeit ohne Ein- und Ausgang, ohne Richtung und ohne Schutz zu leben, beschreibt Hans Ulrich Gumbrecht in seinem neuen Buch als zentral für die Stimmung Nach 1945: Er nennt es Latenz.
In diesem Panorama der Nachkriegszeit begegnen wir nicht nur Beckett, Heidegger oder Camus, sondern auch einem Kind, das 1948 in einer zerbombten deutschen Stadt zur Welt kommt. Gumbrecht experimentiert mit einer Form der Darstellung, die persönliche Erinnerungen in Spannung zur Weltgeschichte setzt. Auf diese Weise gelingt es ihm, zu erklären, warum jene Epoche unser Leben bis heute prägt. Nach 1945 ist eine Genealogie der Gegenwart, die mit Präzision und Blick für große Zusammenhänge erklärt, wie wir wurden, was wir sind. Damit löst der Autor einmal mehr den Anspruch ein, zu den weltweit bedeutendsten Intellektuellen unserer Zeit zu gehören.

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Seitenzahl: 436

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HANS ULRICH GUMBRECHT

NACH 1945

Latenz als Ursprung der Gegenwart

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Born

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp Verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

ISBN 978-3-518-77790-9

www.suhrkamp.de

NACH 1945

 

in liebender Erinnerung an Yasushi Ishii, der am 8. September 1959 in Chiba zur Welt kam und am 17. Dezember 2011 in Tokio starb: ein jüngerer Bruder, der eine ähnliche Vergangenheit durchlebte

Inhalt

Ouvertüre: Ein Auto entfernt vom Tod

1 Auftauchen von Latenz? Der Beginn einer Generation

2 Formen von Latenz

3 Kein Ausgang und kein Eingang

4 Unwahrhaftigkeit und Befragungen

5 Entgleisungen und Behälter

6 Wirkungen von Latenz

7 Entbergung von Latenz? Meine Geschichte mit der Zeit

Coda: Zur Form des Buches

 

Ein Seminartext aus dem Wintersemester 1972/73

 

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Werkregister

Personenregister

Ouvertüre: Ein Auto entfernt vom Tod

S. kann sich nicht an ein einziges Weihnachten in seiner Kindheit erinnern, das er nicht im Haus seiner Großeltern verbracht hätte, einer einsam gelegenen, behaglichen ehemaligen Jagdhütte etwas mehr als 300 Kilometer nordwestlich seiner Heimatstadt. Das Haus war umgeben von hohen Bäumen, die während des Winters und besonders zur Weihnachtszeit für eine postkartenartig perfekte Umgebung sorgten. Dem Großvater war es erstaunlicherweise gelungen, S.’ Eltern ein Auto zu kaufen, einen nagelneuen beigefarbenen Opel Olympia, der aus irgendwelchen komplizierten verwaltungstechnischen Gründen, die S. nicht verstand, das Nummernschild der »britisch besetzten Zone« trug, wo die Großeltern wohnten. S. und seine Eltern lebten in der amerikanisch besetzten Zone. Das Nummernschild verlieh dem Auto, in den Augen von S., eine fast schon exotische Aura von Fremdheit. Ihre Fahrt zur Hütte führte durch die Hügel des Spessart, die das US-Militär damals fast ununterbrochen für Manöver nutzte, wie sie in dem Elvis-Presley-Film G.I. Blues (Café Europa) aus den frühen 1960er Jahren gezeigt werden. Vor allem für diesen Teil der Reise, der durch Schnee und Eis oft gefährlich war, hatten seine Eltern eine Autoheizung angeschafft, und S. war stolz auf seine Aufgabe, die Heckscheibe zumindest teilweise warm und damit durchsichtig für den Fahrer zu halten.

Einmal fuhren sie auf ihrer Weihnachtsreise hinter einem VW Käfer her, vor dem ein US-amerikanischer Panzer rollte, als dieser plötzlich nach links abdrehte und dann anfing, sich wie in einem wilden, unwiderstehlichen und immer schneller werdenden Tanz im Kreis zu drehen. Der Vater erklärte später, dass wahrscheinlich eine der Ketten des Panzers gerissen sein musste. S. sah, wie der hohe Bug des Panzers den Volkswagen augenblicklich unterhalb der langen Kanone erfasste, seinen vorderen Teil, in dem Fahrer und Beifahrer saßen, zerquetschte, den Wagen mit sich zog und seine Karosserie nach und nach in ein rundes Wrack verwandelte, das nicht mehr wie ein Auto aussah. Sie hatten angehalten und warteten, dass der Tanz des Panzers aufhören würde. Einen Augenblick lang diskutierten die Eltern, ob sie als Ärzte verpflichtet seien, den Insassen des Volkswagens medizinische Hilfe zu leisten. Doch als der Panzer endlich zum Stillstand gekommen war, stellten sie fest, dass jede Hilfe zu spät käme, und fuhren langsam vorbei, um ihre Reise zum Haus der Großeltern fortzusetzen. Mehrere Tage lang wurde S. von der Vorstellung verfolgt, wie zwei menschliche Leichname mit dieser Fahrzeugmetallkugel verschmolzen waren. Aber sie wollten den Großvater nicht warten lassen, der immer peinlich genau den Zeitrahmen ihres frühest- beziehungsweise spätestmöglichen Eintreffens an der Hütte kalkulierte und nur dann zufrieden war, wenn er den Eindruck hatte, dass S.’ Vater weder zu schnell gefahren noch durch irgendwelche Umstände aufgehalten worden war, die außerhalb seiner Kontrolle lagen.

Der Großvater (und Taufpate von S.) war in dem kleinen Dorf geboren worden, das eine halbe Stunde vom Jagdhaus entfernt lag, und hatte es in der NS-Zeit mit einer Reihe von Lokalen im Rotlichtviertel einer nahe gelegenen Industriestadt sowie einer kleinen Fabrik für hochprozentige Spirituosen zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht. In den letzten Wochen des Krieges war er, wie S. heute weiß, zurück aufs Land gezogen, wohl eher, um dem bevorstehenden »Entnazifizierungsprozess« zu entgehen, als zum Schutz vor den amerikanischen Soldaten, von denen er mit großer Herablassung sprach, weil sie sich nicht wie echte Kriegshelden verhalten, sondern darauf bestanden hätten, sämtliche Zimmer der Hütte zu durchsuchen, »als ob ihnen dort irgendeine Gefahr gedroht hätte«. Bis zu seinem Tod im Jahr 1958 sollten der Großvater und seine Frau nicht mehr aus dem Dorf wegziehen. Es gelang ihnen jedoch, mit wöchentlichen Besuchen in der Stadt und dank der Unterstützung eines diabolisch aussehenden Sekretärs namens Molgedey »die Geschäfte« erfolgreich am Laufen zu halten. Der Sekretär redete viel über Materie und davon, dass das Leben nach dem Tod eine Illusion sei, als ob er seinen Selbstmord ankündigen wollte, der sich lange vor dem Tod des Großvaters ereignete.

Die Geschäfte gingen sogar so gut, dass der Großvater sich einen schwarzen Opel Kapitän mit Weißwandreifen und Fahrer leisten konnte, der einen polnischen Namen und eine polizeiähnliche Mütze trug, was wohl seiner Vorstellung von einer korrekten Dienstkleidung entsprach. Jedes Jahr feierten sie Weihnachten in der warmen, behaglichen Hütte, umgeben von der schneebedeckten, romantischen Landschaft, sangen die klassischen Weihnachtslieder und – das mochte S. am liebsten – lauschten Erinnerungen aus der Vergangenheit, die sich für ihn entweder entfernt und glorreich oder unmittelbarer und real anfühlten und in denen die US-amerikanischen und britischen Obrigkeiten stets die Rolle natürlicher Antagonisten spielten, an die man durch zahlreiche pragmatische Arrangements gebunden war. In einer besonders faszinierenden Geschichte, die S. nie ganz verstand, ging es um große Glasbehälter mit Alkohol, die irgendwo im Wald versteckt waren. Kurz nach Kriegsende hatte sich der Großvater sehr zu seinem Bedauern der Notwendigkeit gebeugt und beschlossen, sie zu zerstören, auch wenn er befürchtete, dadurch einen Waldbrand auszulösen.

1 Auftauchen von Latenz? Der Beginn einer Generation

Der 15. Juni 1948 war ein heller und schwüler Dienstag in Bayern. Was aus Deutschland werden sollte, erschien vollkommen unklar, während die Vergangenheit als unmittelbare, aber kaum jemals angesprochene Bürde auf dem Land lastete. Niemand schien zu ahnen – und nur wenige schien es überhaupt zu interessieren –, dass eine Woche später die Zukunft entschieden sein würde. Die Titelseite der Süddeutschen Zeitung unterschied sich nicht sonderlich von der heutigen – mit Ausnahme der Schwarz-Weiß-Fotografie (die den in Deutschland geborenen und zum US-Staatsbürger gewordenen Schriftsteller Carl Zuckmayer mit Frau und Tochter zeigte) und des Preises, der damals 20 Pfennig pro Stück betrug. Fünf Texte auf der oberen Hälfte der Seite brachten die nicht nur für Deutschland wesentlichen politischen Bedingungen des Augenblicks zusammen, und sie taten dies auf seltsam distanzierte Weise. So wurde berichtet, dass sämtliche Vorbereitungen für die anstehende Währungsreform innerhalb der drei von den westlichen Alliierten besetzten Zonen nun getroffen seien und die Bekanntgabe eines genauen Zeitpunkts für die Durchführung der Geldneuordnung ausschließlich von den Besatzungsmächten abhänge. Ein anderer Text berichtete über eine Wahlrede des amerikanischen Präsidenten Truman in Berkeley, Kalifornien, in der dieser an die Sowjetunion appelliert hatte, sich den konstruktiven Bemühungen um die Sicherung einer demokratischen und vereinten Zukunft Deutschlands nicht zu entziehen (aller Wahrscheinlichkeit nach waren die westlichen Siegermächte ebenso wie die Sowjetunion für eine Teilung Deutschlands, auch wenn sie sich aus Gründen der politischen Legitimation gegenseitig die Schuld zuschieben mussten). Zwei Kurzmeldungen behandelten das Zögern des französischen Parlaments bei der Ratifizierung der ersten politischen Schritte zur Schaffung eines westdeutschen Staates, auf die sich die drei westlichen Siegermächte zusammen mit Holland, Belgien und Luxemburg 13 Tage zuvor bei einem Gipfel in London verständigt hatten. Schließlich wurde noch der amerikanische Militärgouverneur, General Clay, zitiert, der auf einer Pressekonferenz versichert hatte, die USA würden jede mögliche Anstrengung unternehmen, »eine ostdeutsche Vertretung« in den neuen Staat mit einzubeziehen. Vier dieser fünf Texte waren in dem für Nachrichtenagenturen typischen neutralen Stil gehalten (tatsächlich stammten sie von AP, Dena-Reuter beziehungsweise UP); der eine Artikel aber, den die SZ-Redaktion selbst verfasst hatte, war, obwohl es darin um die wahrhaft existenzielle Frage der unmittelbar bevorstehenden Wirtschaftreform ging, wahrscheinlich der nüchternste von allen.

Nur zwei Artikel auf der Titelseite schlugen einen lebhafteren, stellenweise sogar aggressiven Ton an, obwohl sie Themen berührten, bei denen eigentlich mehr Takt und Zurückhaltung von deutscher Seite geboten gewesen wären. Einer davon war das heute immer noch beliebte »Streiflicht« in der linken Spalte des Titelblattes. In dieser Kolumne wurde am 15. Juni 1948 die weltpolitische Strategie der Vereinigten Staaten kritisiert, insbesondere deren Unterstützung des genau einen Monat und einen Tag zuvor im ehemaligen britischen Mandatsgebiet gegründeten jüdischen Staates durch eine Fremdenlegion, deren Gründung der Senat gerade erst zugestimmt hatte. Mit ungeniert antisemitischem Unterton machte sich das »Streiflicht« unter dem Banner des Pazifismus über 64 nichtjüdische Deutsche lustig, die sich freiwillig gemeldet hatten, um für die neue jüdische Sache zu kämpfen, aber von den israelischen Behörden abgelehnt wurden: »[W]enn wir [Deutschen] auf diese Weise einer permanent militanten Schicht im Volke ledig würden, so könnten wir uns nichts Besseres wünschen.«1 Die ausführlichste, enthusiastischste und selbstgefälligste Berichterstattung galt jedoch der »zweiten internationalen Jugendkundgebung«, die mit 1400 Teilnehmern aus 21 Ländern in München stattfand. Unter den Ehrengästen waren auch 30 ehemalige deutsche Kriegsgefangene, die zu diesem Anlass von den französischen Behörden entlassen worden waren. Carl Zuckmayer erntete tosenden Applaus für sein Bekenntnis, die deutsche Jugend könne nicht für das verantwortlich gemacht werden, was während des jüngsten Kapitels der deutschen Geschichte geschehen sei. Für den folgenden Tag wurde die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität München an den französischen Schriftsteller Jules Romains angekündigt, die im Rahmen der »Kundgebung« nach allen Regeln der akademischen Etikette erfolgen sollte. Überraschenderweise war, wenn auch verspätet, sogar eine Abordnung aus Spanien angereist, aus einem Land also, das in der politischen Nachkriegsordnung vollkommen isoliert dastand, weil seine Militärregierung offiziell mit Hitler verbündet gewesen war. Diese Delegation wurde ganz besonders warmherzig begrüßt.

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