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Philosoph und Übersetzer, Kritiker und Schriftsteller, Kunstagent und Enzyklopädist: Denis Diderot, 1713 in der Champagne geboren, 1784 in Paris gestorben, war eine der prägenden Figuren jener Bewegung, die als europäische Aufklärung in die Geschichte eingegangen ist. Doch was ist der Fluchtpunkt seines vielgestaltigen Œuvre, das anders als die Werke seiner Zeitgenossen Voltaire und Rousseau, Schiller, Kant und Hume von einer geradezu zentrifugalen Dynamik gekennzeichnet ist?
Entlang von Szenen aus Diderots bewegtem und bewegendem Leben und in genauen Lektüren seiner Schlüsselwerke geht Hans Ulrich Gumbrecht in seinem eleganten Buch dieser Frage nach und entwickelt einen neuen Zugang zu diesem außergewöhnlichen Intellektuellen. Als Kontrastfolie dient ihm dabei das Systemdenken Hegels, der von Diderots Texten ebenso irritiert wie fasziniert war und sie unter den Begriff einer »Prosa der Welt« brachte. Gumbrecht zeigt, wie radikal sich Diderot auf die Konkretheiten und Kontingenzen der Welt eingelassen hat und dadurch ins Zentrum einer intellektuellen Peripherie gelangt ist, in die es noch andere zog: Goya zum Beispiel, aber auch Lichtenberg und Mozart. Die Denkbewegungen dieser Peripherie erreichen uns heute als die von Zeitgenossen.
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Seitenzahl: 529
Veröffentlichungsjahr: 2020
Hans Ulrich Gumbrecht
»Prosa der Welt«
Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung
Aus dem Englischen von Michael Bischoff
Suhrkamp
7Karl Heinz Bohrer gewidmet – für wen sonst hätte ich nochmal ein Buchmit Fußnoten geschrieben?
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Enthusiasmen und zwei Diderot-Fragen
1 »Man kann mit mir machen, was man will« Ein glücklicher Tag in Diderots Leben
2 »Prosa der Welt« Gibt es einen Platz für Diderot in Hegels System?
3 »Ich bin auf dieser Welt, und hier bleibe ich« Ontologie der Existenz in
Le Neveu de Rameau
4 »Sonderbare Dinge, die auf der großen Rolle geschrieben stehen« Kräfte der Kontingenz in
Jacques le fataliste et son maître
Bildteil
5 »Das Wunder – das ist das Leben« Metabolisierender Materialismus in
Le Rêve de d'Alembert
6 »Was für Gemälde!« Urteile und die Singularität der Phänomene in
Les Salons
7 »Prosa der Welt« Wer ist Denis Diderot (und was ist die
Encyclopédie
)?
8 »Ich tue gar nichts« Die letzten drei Jahre in Diderots Leben
Ich bin dankbar
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Namenregister
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Das Jahr 1967 hat nichts Emblematisches, doch sein affektives und intellektuelles Klima war voll von Zukunft. Etwas Großes schien am Horizont heraufzuziehen, von dem wir hofften, es werde eine »Revolution« sein, und meine Generation brauchte dann eine Weile, bis sie sich eingestand, dass der »Mai 1968 in Paris« keine Revolution gewesen war. Natürlich trat ich in den SDS ein (den Sozialistischen Deutschen Studentenbund), und zwar am Morgen jenes Tages Mitte Oktober (das genaue Datum ist mir entfallen), an dem ich mich für mein erstes Semester an der Universität München einschrieb. »Germanistik« und »Romanistik« (in dieser Reihenfolge) lauteten die zwei Fachgebiete oder Themenbereiche, für die ich mich entschied, mit weit weniger Überzeugung und Begeisterung hinsichtlich der »Literatur«, als ich vorgab. Mein Vater, der durch und durch Chirurg war, hatte mich davon überzeugt, dass es in der Medizin keinen Platz für die Psychiatrie gab, von der ich für meine berufliche Laufbahn träumte. Mich mit romanischer Literatur zu beschäftigen (was in diesen deutschen Jahren französische Literatur mit Anhängseln im Italienischen und Spanischen bedeutete) schenkte mir außerdem die unbestimmte Illusion, weiterhin in Paris zu leben, wo ich mein letztes Gymnasialjahr am Lycée Henri IV verbracht hatte, ohne mir der großen Tradition bewusst zu sein, für die dieser Name stand. Was ich über mein Studium in diesem allerersten Augenblick wusste und fühlte, war sehr vage, vor allem im Ver10gleich zu dem Formular, das der SDS mich unterschreiben ließ und in dem ich ganz buchstäblich erklärte, dass ich an den Marxismus als das »einzig wissenschaftliche und wahre Weltbild« glaube. Tatsächlich sollte sich dieser Herbst als äußerst enttäuschend erweisen. In all den Kursen zu »linken« Themen, das kann ich heute sagen, blieben Begeisterung und Inspiration auf der Strecke oder wollten sich erst gar nicht einstellen, während die Veranstaltungen, die sich als politisch neutral gaben (damals eine aussterbende Spezies), nur die abgenutzten Konzepte eines konturenlosen Kanon-Lobs unendlich wiederholten, das ich vom Gymnasium her zur Genüge kannte. Die einzige überraschende Ausnahme war ein von Dr. Ursula Schick gehaltenes Proseminar über »Diderots ästhetische Schriften«, an dem ich gemeinsam mit drei oder vier anderen Studenten teilnahm und für das ich mich wahrscheinlich entschieden hatte, weil ich auf dem täglichen Schulweg in Paris so oft an der Diderot-Statue auf dem Boulevard Saint-Germain vorbeigegangen war. Mir gefiel das Lächeln auf dem grünlich schimmernden Bronzegesicht dieses Autors aus dem 18. Jahrhundert. Im Januar 1968 hielt ich ein Referat über die »Éloge de Richardson«, Diderots enthusiastische Lobrede auf den zeitgenössischen englischen Romancier, und obwohl sein Ton mir »typisch bürgerlich« vorkam, wie ich kritisch anmerkte, hatte Denis Diderot mich zu beeindrucken begonnen. Ich könnte nicht sagen, warum, aber er muss den entscheidenden Anstoß zu meinem Entschluss gegeben haben, nach dem ersten Semester nicht von der Literatur zur Rechtswissenschaft zu wechseln, wie ich es aus praktischen und spirituellen Gründen eigentlich hätte tun sollen, sondern die Romanistik statt der Germanistik sogar zu meinem Hauptfach zu machen. Seit damals – und seit ich die SDS-Ideale zunehmend auf einem selbstironischen Horizont zurückließ – sind Diderot und seine Prosa mir in ei11ner Sympathie verbunden, die zugleich tief und peripher, bedingungslos und willkürlich ist – und das seit nun mehr als fünfzig meistens glücklichen Jahren intellektuellen und beruflichen Lebens. Als mein Freund Karl Heinz Bohrer mir vor etwa einem Jahrzehnt sagte, er erwarte statt so vieler kurzer Aufsätze mindestens ein weiteres ernsthaftes wissenschaftliches Buch von mir, wusste ich gleich, dass es sich mit Diderot befassen musste oder genauer mit den unbekannten Gründen für diese tiefe und dennoch periphere Sympathie. Das war die erste Diderot-Frage, die ich mir stellte. Schon bald wurde mir klar, dass ich die Ungewissheit hinsichtlich der Gründe für meine Sympathie mit den größten (und auch mit einigen nicht so großen) Diderot-Experten teilte. Denn Diderots Prosa weckt bei vielen Lesern Sympathie – und scheint sich doch jedem Versuch einer umfassenden Beschreibung zu entziehen. Angesichts dieses Problems stand ich mehrfach kurz davor, die Arbeit an einem Buch aufzugeben, das niemand brauchte und zu dem mich (außer Bohrer) auch niemand drängte. In einem dieser Momente von Unschlüssigkeit bemerkte der berühmte Pianist Alfred Brendel während eines gemeinsamen Fellowships in Berlin nebenher und in der Öffentlichkeit, dass ich ihn an Diderot erinnere. Das war natürlich zu viel des Guten, aber ich stellte fest – und zwar nicht nur stillschweigend –, dass Brendel etwas explizit gemacht hatte, was ich über viele Jahre nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Die Mischung aus Verlegenheit und Stolz, die mich in dieser Situation befiel, verwandelte sich in eine zweite Diderot-Frage: ob meine über Jahrzehnte empfundene Affinität inzwischen nicht zu einem Hinweis auf Diderots wachsende Attraktivität für Intellektuelle im 21. Jahrhundert geworden war.
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Denis Diderot mag in mancherlei Hinsicht frühreif gewesen sein, als Schüler etwa oder zuweilen in seiner Art des Denkens und Schreibens – aber wie es scheint, war er nie in Hast. Der Fluss der Zeit und die Versprechen der Zukunft lenkten ihn nicht von den vielen Gegenständen, Problemen und Personen ab, für die er sich interessierte. So erschien er seinen Zeitgenossen als aktiv, produktiv und großzügig und war kaum darauf bedacht, die Ereignisse und Bedingungen seines Lebens in unabänderliche Bahnen zu lenken oder zu klar umrissenen Lebenslagen auszuformen.
Es ist nicht klar, wann genau er seine Geburtsstadt Langres in der Champagne verließ, eine Stadt von ein paar Tausend Einwohnern, in der Diderots Vater als wohlhabender Messerschmied tätig war und sein Onkel der höheren Geistlichkeit angehörte, und wann er die provinzielle Welt seiner Kindheit und Jugend, die ihm auch weiterhin ohne jede Zweideutigkeit am Herzen lag, hinter sich ließ, um sein Studium in Paris fortzusetzen. Es muss 1728 oder 1729 gewesen sein, als Diderot zwischen fünfzehn und sechzehn Jahren alt war, und für die folgenden anderthalb Jahrzehnte wissen wir nur 14von einigen akademischen Institutionen, von häufig wechselnden intellektuellen Interessen und existenziellen Orientierungen, mit denen er die Geduld seines Vaters überstrapazierte, und – als die finanzielle Unterstützung aus Langres deshalb ausblieb – von vielfältigen Aktivitäten zur Bestreitung seines Lebensunterhalts in einem Lebensrhythmus, den seine Biographen recht anachronistisch als den eines »Bohemiens« beschreiben. 1734 heiratete Denis Diderot – ohne die gesetzlich erforderliche Erlaubnis seiner Familie, die er ernsthaft zu erlangen versucht hatte – die drei Jahre ältere Stickerin Anne-Toinette Champion, die ohne Vermögen, von geringem gesellschaftlichem Stand, tief religiös und nach mehreren Quellen sehr schön war. Angélique, die einzige überlebende und überaus geliebte Tochter ihrer Eltern, die schlussendlich mehr als vier Jahrzehnte zusammenlebten, die meiste Zeit unglücklich, aber nie sichtbar getrennt oder in Distanz zueinander, wurde ihrer dreiundvierzigjährigen Mutter und ihrem vierzigjährigen Vater 1753 geboren.
Erst um 1750, weit jenseits der Mitte der durchschnittlichen Lebenserwartung im 17. Jahrhundert, begann Diderot, sich in der intellektuellen Welt von Paris zu etablieren, nicht als geistige Autorität, sondern eher als eine Kraftquelle und eine anziehende Figur innerhalb einer neuen, gerade erst entstehenden Form von Geselligkeit. Schon früh hatte die staatliche Zensur ihn als »un garçon très dangereux«, als einen »sehr gefährlichen Kerl«, identifiziert, und 1749 inhaftierte man ihn dreieinhalb Monate lang im Donjon von Vincennes. Der erste Band der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des arts, des sciences et des métiers, des allumfassenden Buchprojekts, dessen Herausgabe Diderot 1747 zusammen mit dem Mathematiker Jean le Rond d'Alembert übernommen hatte, erschien drei Jahre später und fand sogleich großen Anklang in Europa und sogar in Nordamerika, wäh15rend unter seinen eigenen Schriften eine 1749 erschienene Abhandlung über erkenntnistheoretische Fragen mit dem Titel Lettre sur les aveugles (Brief über die Blinden) nicht nur den Grund für seine Inhaftierung bildete, sondern auch besonders intensive Diskussionen auslöste.
In diesen Jahren lernte Diderot einige der namhaftesten und einflussreichsten Figuren der Pariser Aufklärungskreise persönlich kennen, etwa Voltaire und Rousseau, aber auch Friedrich Melchior Baron von Grimm und Paul-Henri Thiry Baron d'Holbach, zwei wohlhabende Immigranten aus Deutschland, die beide zehn Jahre jünger waren als er und in vielfältiger Weise den materiellen Rahmen für Gespräche und Begegnungen bereitstellten, in deren Klima er zu brillieren vermochte. In diesem Kontext dürfte Diderot auch irgendwann nach 1755 Louise-Henriette Volland begegnet sein, die er »Sophie« nennen sollte und der er bis 1784, dem Jahr, in dem beide starben, mit einer Heiterkeit und Zärtlichkeit zugetan blieb, die er weder bei seiner Frau noch bei Madeleine de Puisieux gefunden hatte, einer kampfeslustigen Schriftstellerin und Philosophin, deren leidenschaftlicher Geliebter er 1745 wurde.
»Sophie« war die unverheiratete Tochter einer angesehenen bürgerlichen Familie und schon um die vierzig Jahre alt, als ihr Verhältnis mit Diderot begann. Sie lebte bei ihrer verwitweten Mutter und über lange Zeiten auch bei ihrer verheirateten Schwester, auf die Diderot oft eifersüchtig war. Die sehr belesene Sophie teilte die intellektuellen Neigungen ihres Freundes. Sie muss gesundheitlich labil gewesen sein, trug eine Brille und hatte, wie Diderot einmal in einem Brief berichtete, »trockene Hände«. Wir besitzen kein Porträt von Sophie und auch nicht die Briefe, die sie an ihren Freund schrieb. Dennoch ist sie für uns sehr lebendig präsent in den hundertsiebenundachtzig (von wahrscheinlich 16mehr als fünfhundert) Briefen, die Diderot an sie schrieb und die erhalten geblieben sind. Wir können diese Briefe als Tagebuch in Briefform begreifen, aber eher noch als Ausdruck seines dauerhaften Wunsches, die unmittelbaren Erlebnisse seines alltäglichen Lebens in all ihren sozialen, intellektuellen und sogar sinnlichen Verwicklungen mit Sophie zu teilen. Wir wissen nicht sicher, ob auch eine erotische Beziehung Teil ihrer Liebe war, wahrscheinlich fand jedoch Sophie Vollands und Denis Diderots Begehren schon bald seine angemessenste und reizvollste Form im Schreiben und Lesen dieser Briefe und vielleicht sogar im ungeduldigen Warten darauf – denn obwohl sie ihre Beziehung nicht streng geheim hielten und die Pariser Wohnung der Vollands nicht weit von d'Holbachs Wohnsitz entfernt lag, wo Diderot viel Zeit verbrachte, fanden sie doch recht selten Gelegenheit zu physischem Zusammensein. Als Sophie Volland 1784 – fünf Monate vor Denis Diderot – starb, hinterließ sie ihm einen Ring und eine in rotes Maroquin gebundene Ausgabe von Montaignes Briefen.
Den Sommer 1760 verbrachte Diderot – wie so oft fern von Sophie Volland – in La Chevrette, einem bei Paris gelegenen Schloss, das sich im Besitz von Louise d'Épinay befand, der reichen und gebildeten Geliebten des Barons Grimm. Der seit 1753 als Ausländer in Paris lebende Grimm hatte sich einen Namen und ein Vermögen gemacht mit der Herausgabe der Correspondance littéraire, philosophique et critique, einer regelmäßig und in Briefform verbreiteten Sammlung von Berichten über neue Publikationen, Debatten, Theateraufführungen und Ausstellungen in der französischen Hauptstadt, deren handgeschriebene Exemplare von einer kleinen Zahl europäischer Aristokraten abonniert worden war, darunter die russische Zarin Katharina die Große, Leopold II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, und Gustav 17III. von Schweden. Wenn Grimm – meist aus geschäftlichen Gründen – auf Reisen war, sorgte Madame d'Épinay für die Kontinuität der Correspondance, während Diderot regelmäßig Beiträge beisteuerte, da er auf dieses Einkommen angewiesen war, wenngleich er sich ansonsten offenbar nicht sonderlich um seine finanziellen Interessen scherte.
So waren Aufenthalte in La Chevrette und gelegentlich auch auf d'Holbachs Landgut in Grandval zu einem festen Bestandteil in Diderots Leben geworden. Ansonsten wechselte er in Paris zwischen der Wohnung, in der er gemeinsam mit Frau und Tochter lebte, und einem Arbeitsraum, den er für seine Arbeit an der Encyclopédie gemietet hatte. So war es ihm möglich, in mehreren Salons zu verkehren, vor allem in denen der Barone von Grimm und d'Holbach. Die Briefe, die er an Sophie Volland und viele seiner Philosophenkollegen[2] schrieb, oft besorgt hinsichtlich des Status ihrer Zustellung, deckten beide Dimensionen seiner intellektuellen Geselligkeit ab. Die enge räumliche Begrenztheit des Lebens eines Mannes, dessen Interessen buchstäblich keinerlei Grenzen kannten, wurde, von seltenen Besuchen in Langres abgesehen, nur ein einziges Mal gesprengt, als Diderot auf Einladung der Zarin und nach jahrelangem Zögern im Juni 1773 nach Sankt Petersburg reiste – und im Herbst des folgenden Jahres nach Paris zurückkehrte.
Verglichen mit Freunden wie Voltaire, Rousseau oder Grimm, war der Horizont seines Lebens in der Tat ausgesprochen begrenzt, aber wie das noch extremere Beispiel Immanuel Kants nahelegt, erschien das damals wohl nicht als ungewöhnlich oder gar als unvereinbar mit der Rolle eines Intellektuellen. Was Diderot von Kant unterschied, war in18dessen das Fehlen eines strengen Arbeitsplans, und das ist tatsächlich erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Texte er schrieb, und erst recht angesichts der wahrhaft heroischen Leistung, die Arbeit an der Herausgabe der Encyclopédie, nach D'Alemberts Ausscheiden 1758 sogar allein, bis 1772 abzuschließen – ein Werk, das insgesamt siebzehn Textbände und zusätzlich elf Bände mit Bildtafeln umfasste. Diderots besondere Stärke – eine durchaus paradoxe Stärke, da sie auf einer Veranlagung beruhte, die eigentlich als verheerend für jeglichen Erfolg gilt – bestand möglicherweise in einer derart radikalen Offenheit für die Welt, dass sie ständig das Risiko heraufbeschwor, sich in den für ihn so faszinierenden Details zu verlieren, wie auch in einer wahrhaft ungewöhnlichen Intensität der Reaktionen auf Erlebnisse und Wahrnehmungen jeglicher Art (in der Sprache des 18. Jahrhunderts lautete der Ausdruck für solche Intensität »Enthusiasmus«). Statt sich in eine einzigartige Stärke zu verwandeln, hätte diese Verbindung aus Offenheit und Intensität für ein räumlich weniger begrenztes Leben durchaus zu einem Problem werden können.
Auch wenn Diderots Freunde und Bewunderer ihn als eine belebende Gestalt in ihren Zirkeln stets gerne willkommen hießen, hielt er selbst sich nicht für einen Salonlöwen, sondern für einen von Natur aus scheuen Menschen. So schrieb er unter dem Datum »Montag, den 15. September 1760« aus Madame d'Épinays Schloss La Chevrette an Sophie Volland, er habe das Wochenende eigentlich in Paris verbringen wollen, da am Sonntag im Dorf Jahrmarkt gewesen sei.[3] Er habe die dort übliche Menschenmenge gefürchtet, mit all den jungen Bauernfrauen und den herausgeputz19ten Damen aus Paris, die sich von der vorgeblichen Unschuld hätten anziehen lassen: »Ich fürchte die lärmende Menge. Also hatte ich beschlossen, nach Paris zu fahren und den Tag dort zu verbringen […]; es war eine buntgemischte Menge von sauber herausgeputzten jungen Bäuerinnen und vornehmen Damen aus der Stadt, mit Wangenrouge und Schminkpflästerchen, mit Schilfrohrstöckchen in der Hand, einem Strohhut auf dem Kopf und einem Kavalier am Arm.« Es kam indessen anders: »Aber Grimm und Madame d'Epinay hielten mich zurück. Sehe ich, daß sich der Blick meiner Freunde umwölkt und ihre Gesichter immer länger werden, so weicht jeder Widerstand in mir, und man kann mit mir machen, was man will.«[4]
In gewisser Weise hätte dieser Sonntag Mitte September 1760 für den selbsterklärten Umfaller Denis Diderot also kaum schlechter beginnen können. Doch statt mit Ärger oder schlechter Laune zu reagieren, vergaß er seine ursprüngliche Absicht und die Enttäuschung über sich selbst, als er den Blick auf die im Schloss versammelten Leute richtete: »Wir hielten uns gerade, auf unterschiedliche Weise beschäftigt, in dem traurig-prachtvollen Salon auf und gaben ein sehr angenehmes Bild ab.«[5] Selbst in der zwanglosen Situation des 20Schreibens eines Briefs an Sophie ist Diderots Sprache präzise und scheut in ihrer Präzision nicht vor scheinbar unbedeutenden Details und den dadurch entstehenden Widersprüchen zurück. Er empfand den Raum, in dem Madame d'Épinay, Melchior Grimm und ihre Gäste sich »auf unterschiedliche Weise« beschäftigten, als zugleich »traurig« und »prachtvoll«, und obwohl die verschiedenen Gruppen »ein sehr angenehmes Bild« abgaben, beschrieb er deren Aktivitäten jeweils einzeln, wie eine Folge von einfachen, mit starken Konturen gezeichneten Skizzen. Die erste dieser Zeichnungen in Diderots Prosa zeigt die beiden Gastgeber, die sich von zwei Künstlern porträtieren lassen:
Am Fenster, das auf die Gärten geht, ließ sich Grimm malen, und Madame d'Epinay stützte sich auf die Stuhllehne des Mannes, der ihn malte. Ein Zeichner, der etwas tiefer saß, zeichnete ihr Profil mit einem Bleistift. Es ist entzückend, dieses Profil. Eine jede Frau wäre versucht nachzuprüfen, ob es ihr wirklich ähnlich sei.[6]
Während Madame d'Épinay beobachtet, wie ein Maler Grimm porträtiert, wird sie selbst zum Gegenstand einer Zeichnung, die der dort anwesende Diderot betrachtet. Ihn 21faszinieren dabei nicht (wie Leser des 21. Jahrhunderts vielleicht denken mögen) Kaskaden der Selbstreflexion, sondern die komplexe Form einer Gruppe von Figuren, die ähnlich einer Skulptur betrachtet werden (das »sehr angenehme Bild«). Und dann reagiert Diderot, zugleich als Protagonist der Szene und als deren Beobachter, auf die Zeichnung der Madame d'Épinay mit großer Intensität (»es ist entzückend, dieses Profil«) und lässt sich zu einer Assoziation bezüglich der potenziellen Eifersucht anderer Frauen hinreißen, die das Porträt der Gastgeberin als allzu schmeichelhaft empfinden könnten.
Das nächste der jeweils durch Absätze voneinander getrennten Prosabilder zeigt Monsieur de Saint-Lambert, einen in den Zirkeln der damaligen Oberschicht allgegenwärtigen Offizier und Dichter, der »in einem Winkel die letzte Broschüre« liest – »die ich Ihnen schickte«, wie Diderot, nun an Sophie Volland gerichtet, hinzufügt. (Könnte es sich dabei um die jüngste Lieferung der Correspondance littéraire handeln?) Diderot selbst spielt Schach mit Madame d'Houdetot, Saint-Lamberts Mätresse, berühmt-berüchtigt wegen der starken Anziehung, die sie und Jean-Jacques Rousseau drei Jahre zuvor füreinander empfunden hatten.[7] Es folgen sechs weitere Szenen: Madame d'Épinays Mutter mit ihren Enkelkindern und deren Erziehern; zwei Schwestern des Mannes, der Grimm malt, beim Sticken; eine dritte Schwester des Malers spielt auf dem Cembalo ein Stück des italienischen Komponisten Scarlatti; Monsieur de Villeneuve, ein Freund von Madame d'Épinay, erweist der Hausherrin die Ehre und beginnt ein Gespräch mit Diderot; Monsieur de Villeneuve und Madame d'Houdetot kennen sich bereits, und Diderot entnimmt einigen beiläufigen Bemerkungen, 22dass sie einander nicht grün sind. Der spezifische Ton und die Anmut seiner Prosa verdanken sich einer Überlagerung dreier verschiedener Diskursebenen: der kompakten, zuweilen sogar aphoristischen Präzision der Beschreibungen; der Intensität in den Reaktionen, Assoziationen und Eingebungen Diderots, der zugleich Teil der beschriebenen Szene ist und sie von außen beobachtet; und der Übergänge von der konzentrierten Offenheit gegenüber der ihn umgebenden Welt zu Augenblicken, in denen Diderot sich an Sophie Volland wendet, um sie daran teilhaben zu lassen. Wie diese Offenheit gegenüber der Welt sich in eine Öffnung gegenüber Sophie verwandelt, zeigt sich besonders deutlich, als Diderot später über das Sonntagsdiner spricht:
Die Zeit des Diners kam. An der Tafelmitte saßen Madame d'Epinay auf der einen und Monsieur de Villeneuve auf der anderen Seite. Sie gaben sich viel Mühe, und dies mit dem feinsten Anstand. Wir speisten üppig, fröhlich und lange. Eis, oh, meine Freundin, was für Eis! Sie hätten dasein müssen, um das gute Eis zu genießen. Sie, die Sie es so sehr mögen.[8]
Ursprünglich aus Italien kommend, hatten Rezepte für die Herstellung von Speiseeis seit der frühen Neuzeit die Küche der Könige und des Hochadels erobert und entwickelten sich nun im 18. Jahrhundert zu einer auch in anderen Kreisen verbreiteten gastronomischen Vorliebe. Diderot, der of23fenbar wusste, dass Sophie diesen Geschmack mit ihrer Mutter und ihrer Schwester teilte, geht auch hier wieder von der Beschreibung einer geselligen Szene über zu seiner eigenen sinnlichen Reaktion, die dann den Wunsch auslöst, die drei Frauen an dieser Wahrnehmung teilhaben zu lassen. Aus seiner Konzentration auf einen sinnlichen Augenblick wird auf diese Weise eine Geste der Großzügigkeit und der Nähe.
Der nächste Schritt in Diderots Beschreibung dieses mit so schlechten Erwartungen begonnenen, inzwischen jedoch immer angenehmeren Sonntags hat gleichfalls mit Wahrnehmung zu tun, richtet den Blick dann jedoch auf »Anmut« als Modalität ästhetischer Erfahrung und als Begriff, der schon mehrfach in seinen Briefen aufgetaucht war. Nach dem Essen setzt sich Emilie, ein fünfzehnjähriges Mädchen, das Diderot gegenüber Sophie schon erwähnt hatte, ans Cembalo und beeindruckt mit ihrem Spiel die ganze Gesellschaft: »Die Dame, von der ich Ihnen bereits erzählte, jene, die so anmutig und kunstreich Klavier spielte, setzte uns alle in Erstaunen, die einen durch ihr einmaliges Talent, mich durch den Zauber ihrer Jugend, durch ihre Sanftheit, Bescheidenheit, Grazie und Unschuld.« Die Beschreibung lässt an den berühmten Aufsatz über das »Marionettentheater« denken, in dem Heinrich von Kleist einige Jahrzehnte später die Anmut als spezifische ästhetische Qualität menschlichen Verhaltens analysieren sollte, die vom Fehlen jeglicher Absicht zu gefallen abhängt. Diderot sieht sich allerdings allein mit seinem Enthusiasmus für Emilies Anmut. Seine Freunde bewundern eher ihr technisches »Talent«, statt sich von ihrer Unschuld entzücken zu lassen. So beginnt denn Diderot mit Monsieur de Villeneuve ein Gespräch über ihre unterschiedlichen Ansichten. Monsieur de Villeneuve meint, ungewöhnliches Talent müsse stets durch weitere praktische und theoretische Unterweisung entwickelt werden:
24Ich sagte zu Monsieur de Villeneuve: »Wer wollte es wagen, an diesem Werk etwas zu verändern? Es ist so gut.« Doch wir haben, Monsieur de Villeneuve und ich, unterschiedliche Prinzipien. Wenn er Unschuldige träfe, täte er nichts lieber, als sie zu unterweisen. Er sagt, dies sei eine andere Art Schönheit.[9]
Erstaunlich an dieser Passage ist nicht nur Diderots Verständnis von Anmut als Dimension ästhetischer Erfahrung, das Mitte des 18. Jahrhunderts noch recht exzentrisch gewirkt haben muss. Er ist außerdem ganz selbstverständlich bereit, mit Monsieur de Villeneuve darin einig zu sein, dass sie in dieser Frage uneins sind, ohne deshalb den Drang zu verspüren, einen Konsens herzustellen – und ohne ihm deshalb gram zu sein. Monsieur de Villeneuve und er, so schreibt Diderot, hätten hier einfach »unterschiedliche Prinzipien«. Deshalb können sie im weiteren Verlauf ihres Gesprächs auch zwanglos zu einem anderen Thema wechseln, in ihrem Fall zu den intellektuellen und sozialen Vorzügen Sophie Vollands, ihrer Mutter und ihrer Schwester, die Monsieur de Villeneuve bei einem früheren Aufenthalt »auf dem Lande« kennengelernt hatte. Und wieder öffnet sich Diderots beschreibende Prosa gegenüber der Geliebten, diesmal in Gestalt eines Dialogs, der mit einer Bemerkung Monsieur de Villeneuves beginnt (hier kursiviert):
»Madame Volland … ist eine Frau mit seltenen Vorzügen.« – »Und ihre ältere Tochter …« – »Sie hat Geist wie ein Dämon.« – 25»Sie hat viel Geist; doch es ist vor allem ihre Offenheit, die mir gefällt. Ich möchte fast wetten, daß sie wissentlich noch nie gelogen hat, seit sie die Kinderschuhe ausgezogen hat.«[10]
Wo genau Diderots Diskurs aus einem Selbstzitat in ein an Sophie Volland gerichtetes Kompliment übergeht, ist nicht ganz klar. Wir können jedoch sagen, das fortlaufende Wechselspiel zwischen der Beschreibung des Tages in seinen verschiedenen Phasen und den wiederholten Momenten der Öffnung gegenüber seiner Geliebten wird letztlich zu einer Diskursform eigenen Rechts.
Der Abend endet mit Musik und Tanz.
Man ließ die Geigenspieler kommen und tanzte bis zehn. Mitternacht stand man vom Tisch auf. Um zwei spätestens hatten wir uns alle zurückgezogen; und der Tag war ohne die Langeweile vergangen, die ich gefürchtet hatte.[11]
Im Rückblick auf diesen langen Tag räumt Diderot erfreut ein, dass seine früheren Befürchtungen und Erwartungen sich als falsch erwiesen hatten. Die Schwäche, die es ihm nicht erlaubte, an seinen Plänen festzuhalten, wenn sie mit 26den Erwartungen seiner Freunde in Konflikt gerieten, hatte sich als Stärke erwiesen, als Stärke, die Welt einfach geschehen zu lassen. Für ihn selbst unerwartet und doch typisch für ihn, hatte diese Stärke den Sonntag des 14. September 1760 zu einem glücklichen Tag gemacht – da er es verstanden hatte, sich auf die Gegenwart von Personen, Objekten, Wahrnehmungen und Gefühlen in ihrer Konkretheit und Besonderheit zu konzentrieren, ohne sonderlich über Ziel und Zweck nachzudenken. »Die Langeweile, die er gefürchtet hatte«, stellte sich nicht ein.
Wir können diese bedingungslose Offenheit, die sich jeder idiosynkratischen Projektion enthält, als »Diderots Großzügigkeit« bezeichnen – und die kompakte Präzision seiner Prosa war das Medium dieser Großzügigkeit. Die Offenheit, Großzügigkeit und Präzision im Verhältnis zur Welt verwandelten sich jedoch ständig in eine andere Art von Großzügigkeit, den Wunsch nämlich, mit seiner Geliebten zu teilen, was ihm in und an der Welt Vergnügen bereitete. Die Bereitschaft, die Welt geschehen zu lassen, erklärt letztlich auch, warum Diderot niemals zum Sklaven der verstreichenden Zeit wurde. Frei von Obsession oder Nervosität arbeitete er voller Zuversicht daran, der Nachwelt in Erinnerung zu bleiben. Und doch wollte er ohne Spektakel und Rituale sterben, ganz plötzlich, inmitten seiner glücklichen Teilhabe am Geschehen der Welt.[12]
2
Diderot-Lektüren – und das gilt nicht nur für seine Briefe – wecken häufig Gefühle der Empathie. Was ich in ersten Umrissen als seine Offenheit gegenüber der materiellen und sozialen Welt im Verein mit einer besonderen Art von Großzügigkeit beschrieben habe, lässt an die Präsenz und zuweilen sogar Nähe eines lebendigen Menschen in diesen Texten denken, einer Person, die uns schon bald vertraut vorkommt. Das dürfte der Grund sein, weshalb Diderot seit langem schon ein besonders beliebter Autor im Kanon der französischen Literatur ist, die seit dem Mittelalter so makellos die Jahrhunderte überspannt, reich an strahlenden Autorenprofilen und deren unterschiedlichen Tonlagen. Doch sich bei einem Autor wohlzufühlen oder sogar Sympathie für ihn zu empfinden bedeutet noch nicht, dass man auch einen klaren Begriff von seinem intellektuellen und literarischen Stil hätte. Diderot ist hierfür ein herausragendes Beispiel.
Aufgrund einer seltsamen, aber wiederkehrenden Mischung fließender und stabiler Strukturen fällt es schwer, sich ein Bild von seiner Lebensweise zu machen und die Umrisse seines Werkes zu erfassen. Als wollte Diderot uns necken, weckt er nahezu unwiderstehlich unser Interesse und scheint sich dann zurückzuziehen. Wie wir gesehen haben, war sein alltägliches Leben eine permanente, vielleicht sogar ruhelose Bewegung innerhalb eines sehr begrenzten Raumes, unterbrochen von wenigen einschneidenden Ereignissen und begleitet von langfristigen, aber gleichfalls schwer zu bestim28menden Beziehungen zu seiner Tochter und seiner Frau in Paris, seinen streng traditionell eingestellten Eltern in Langres, seinem Bruder, einem Domherrn, und seinen beiden Schwestern, von denen eine als Nonne in Langres starb, sowie zu seiner geliebten Brieffreundin Sophie Volland. Ganz ähnlich gibt es auch in seinem Werk nicht den einen besonderen Text (oder die kleine Zahl kanonisierter Bücher), die wir als dessen Gravitationszentrum begreifen könnten, sodass hier ein thematischer Kern zu fehlen scheint. Während er selbst trotz seiner Begeisterung für die antike römische Poesie und für die Musik kaum prosodische Formen verwendete, war seine Vielseitigkeit in vielen verschiedenen Prosaformen doch erstaunlich. Diderot schrieb Romane und Erzählungen, ernste, lustige wie auch (nach den geschmacklichen Gattungskonventionen des 18. Jahrhunderts) »pornographische«, zwei Theaterstücke, gespickt mit reichlich Pathos und detaillierten Regieanweisungen, außerdem Aphorismen, philosophische Fragmente und eine Reihe von Abhandlungen in Brief- oder Dialogform und natürlich viele Artikel für die Encyclopédie. Ohne erkennbare programmatische Absichten erfand er auch einen neuen Diskurs für die Darstellung und Diskussion zeitgenössischer Kunst und unter dem Titel Le Rêve de D'Alembert eine einzigartige textliche Mischform, die mehrere dieser Prosatonlagen miteinander verband.
Fast sein halbes Leben lang, von der Mitte der 1740er Jahre bis 1772, sicherte ihm seine Arbeit an Publikation und Abschluss der Encyclopédie eine stabile Arbeitsgrundlage und Einkommensquelle. Doch seine Beiträge zu diesem Werk und dessen logistische Herausforderungen waren mehrdimensional und in ihrer Intensität durchaus unterschiedlich – was ihre Einschätzung und Würdigung noch weiter erschwert. Sein Mitherausgeber d'Alembert hatte den Prospekt und die Einleitung zur Encyclopédie geschrieben, während Dide29rot viele der gut vierhundert Autoren rekrutierte (von denen uns zweihundert namentlich bekannt sind, weil sie nicht zögerten, ihre Artikel zu unterzeichnen). Er redigierte diese Texte (auch wenn wir nicht genau wissen, wie weit diese Redaktion ging) und steuerte das Projekt durch die komplizierten Konstellationen der Zeit, mit wechselnden Strategien der Zensur und fluktuierenden finanziellen Interessen der Verleger. Auch wenn Diderots wahrhaft leidenschaftliche intellektuelle Initiative und sein langfristiges Engagement innerhalb der Encyclopédie vielleicht erstaunlicherweise der Darstellung des Handwerks und der Technik seiner Zeit galt, beide in einer Reihe wichtiger Artikel und vor allem in den elf Bänden mit Abbildungen (»Volumes des planches«), dürfte das einzigartige historische Verdienst dieses zugleich wechselhaftesten und beständigsten aller philosophes des 18. Jahrhunderts in der Ausdauer liegen, mit der er die erste Ausgabe des Projekts zum Abschluss brachte.
Doch obwohl seine Arbeit an der Encyclopédie dieselbe wechselseitige Durchdringung von Dauerhaftigkeit und Fluidität wie seine Lebensweise und sein sonstiges Werk aufwies, vermochte selbst ein Werk dieser Größenordnung ihm keine stabile Identität aufzuprägen. 1765, nur ein Jahr vor der Aufhebung des Verbots, das die Auslieferung der letzten zehn Textbände verhindert hatte, und sieben Jahre vor dem Abschluss der Tafelbände, hatte sein Freund Grimm Katharina die Große überreden können, Diderots Bibliothek zu kaufen (wobei er die Bücher bis zu seinem Tod in Paris behalten durfte) und ihm den Titel eines »Bibliothekars« zu verleihen, verbunden mit einem vorweggenommenen Salär für fünfzig Jahre und der Einladung zu einem Besuch in Sankt Petersburg – der er dann erst 1773 nachkam. Die neue finanzielle Lage erlaubte es Diderot, seinen vielfältigen Interessen noch intensiver nachzugehen, und ließ deren zentrifugalen Cha30rakter noch deutlicher hervortreten, da sie ihn von der Notwendigkeit befreite, seine Texte auch zu publizieren, mit all den Risiken und Konzessionen, die das mit sich brachte. Sie ermöglichte es ihm auch, dank einer beträchtlichen Mitgift eine Heirat für seine Tochter zu arrangieren, die ihm gesellschaftlich vorteilhaft erschien.
Auch wenn behauptet wird, Diderot habe seine Abhängigkeit von der französischen Zensur und dem Buchmarkt gegen ein Leben von Gnaden einer ausländischen Monarchin eingetauscht, gibt es aus den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens doch keinen Hinweis darauf, dass Katharina ihre potenzielle Macht über ihn jemals genutzt hätte. In jeder praktischen Hinsicht und mit Ausnahme der Reise nach Sankt Petersburg, von der Diderot bei aller Dankbarkeit und aufrichtigen Bewunderung für die Zarin zu keinem Zeitpunkt begeistert war, scheint er dadurch ausschließlich größere intellektuelle und persönliche Freiheit gewonnen zu haben. Da er nun weniger institutionelle Verpflichtungen und dafür größere Unabhängigkeit besaß, erreichten sein Leben und sein Werk in ihrer paradoxen Form ein Endstadium – eine Form ohne feste Konturen und ohne definierenden Inhalt.
Diese paradoxe Form hatte einen langanhaltenden Einfluss auf die Rezeption seiner Schriften und auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen. Seit dem späten 18. Jahrhundert – zu einem Gutteil wegen der Zerstreuung seiner unveröffentlichten Manuskripte in Frankreich und Russland und trotz recht vieler oft sehr guter Editionen einzelner Werke – wurden nicht weniger als sechs Versuche unternommen, seine Schriften zu sammeln und seine »Sämtlichen Werke« zu publizieren, der letzte davon wurde 1994 begonnen. Allein in den letzten vierzig Jahren erschienen mehr als zehn zum Teil dickleibige Biographien. Die meis31ten davon ertrinken in Details und zeichnen kein präzises Bild, und erst recht vermitteln sie keinen Eindruck von den treibenden Kräften seines Lebens. Die Zahl der kritischen Artikel zu einzelnen Texten übersteigt die Lesefähigkeit jedes Wissenschaftlers und verleiht dem bibliographischen Wissen über Diderot den Status eines eigenen wissenschaftlichen Spezialgebiets. Selbst Jean Starobinski, der philosophisch subtilste unter allen Fachleuten für die Geistesgeschichte Frankreichs im 18. Jahrhundert und Autor eines meisterhaften Buchs mit dem Titel La Transparence et l'obstacle, das eine komplexe Synthese des Werks von Jean-Jacques Rousseau bietet, scheute bei Diderot vor einem ähnlichen Versuch zurück, als er 2012, ein Jahr vor dessen 300. Geburtstag, eine Sammlung mit fünfzehn Aufsätzen veröffentlichte, die sich mit einer eindrucksvollen Verbindung aus philologischer Strenge und historischer Intuition dem komplexen Horizont zentraler Aspekte in Diderots Leben und Schreiben widmete.[13]
Im Vorwort zu diesem Buch zieht Starobinski indessen eine ganz entscheidende hermeneutische Folgerung aus dem paradoxen Status der Diderot'schen Texte. Stärker noch als bei anderen Klassikern hat dessen Werk, das kein zentrales Thema und keine festumrissenen Konturen besitzt, in seinem Verständnis und seiner Wertschätzungen einen dramatischen Wandel erfahren. Noch vor einigen Jahrzehnten schien Diderots Dialog Jacques le fataliste et son maître, mit dem er 1765 begann und der sechs Jahre vor dem Tod des Autors in Grimms Correspondance erschien, als Kritik an jeglichen Thesen zu »Schicksal« und »Notwendigkeit« im menschlichen Dasein im Zentrum des intellektuellen Interesses zu stehen. Die intellektuelle Welt des 21. Jahrhunderts 32scheint dagegen ein anderes Werk anziehender zu finden, nämlich Le Neveu de Rameau, einen Dialog, an dem Diderot sogar noch früher als an Jacques le fataliste zu arbeiten begonnen hatte, der jedoch zu seinen Lebzeiten nie gedruckt wurde und dessen Originalmanuskript für den größten Teil des 19. Jahrhunderts verschollen blieb, weshalb im Französischen lange Zeit die Rückübersetzung einer frühen deutschen Übersetzung durch Goethe die einzige Textgrundlage bildete. Einem Protagonisten in der ersten Person Singular, der allen Erwartungen an einen Aufklärungsintellektuellen zu entsprechen scheint, stellt Diderot dort eine als »Er« bezeichnete Person gegenüber, den Neffen eines berühmten Komponisten, der als historische Persönlichkeit wie auch als Verkörperung der Provokation sein Leben am Rande der aufgeklärten Gesellschaft verbracht hatte. Damit bot Diderot eine zugleich komplexe und instabile Bedeutungskonstellation, die wir heute benutzen können, um einige der aus der Aufklärung überkommenen Grundwerte und Motive durchzuspielen und zu untergraben. Im Titel seines Buchs, Diderot, un diable de ramage, und in seinem ersten Aufsatz beleuchtet Starobinski eine Eigenschaft Diderots, die dieser als Autor dem Neffen als seinem Protagonisten zugeschrieben hatte. Es handelt sich nach einer arkanen Bedeutung des Ausdrucks »un diable de ramage« (wörtlich übersetzt: »ein Gezwitscher-Teufel«) um die Fähigkeit des Neffen, spontan zahlreiche menschliche Stimmen nachzuahmen, ein Vermögen, das man hauptsächlich mit bestimmten Vögeln assoziiert und im übertragenen Sinne oft auch Menschen zuschreibt. »Un diable de ramage«, so können wir sagen, ist ein Mensch mit buchstäblich mehreren Stimmen, der nicht bereit ist, sie zu einem einzigen abgerundeten Profil zurechtzustutzen. Wenn wir in unserer identitätsverliebten Welt die Formel von der »fehlenden konventionellen Identität als einer speziellen Identitäts33konstellation« einzusetzen beginnen, könnten einige der Porträts, die zu seinen Lebzeiten von Denis Diderot gemalt wurden, eine neue Relevanz erlangen. Diderot selbst war besessen von dem Eindruck und vielleicht sogar besorgt über die Möglichkeit, dass diese Bilder niemals zur Deckung kamen und deshalb keinen spezifischen Charakter abzubilden vermochten.[14] Verglichen mit zeitgenössischen Bildern Voltaires und Rousseaus, stellen wir fest, dass die Diderot-Porträts sich zwar nicht sonderlich voneinander unterscheiden, aber sämtlich nicht in der Lage sind, markante physiognomische Merkmale herauszuarbeiten wie etwa die längliche Gesichtsform und die stets ausgemergelte Erscheinung Voltaires oder das zugleich distanzierte und freundliche Lächeln, das dem Auge des Betrachters auf den meisten Rousseau-Porträts begegnet. Bei Diderot vermag selbst die Adlernase, die auf allen sein Profil zeigenden Gemälden deutlich vorspringt, keinen Eindruck zu machen, wenn wir ihn in Frontalansicht sehen. Gerade die Frontalansicht ist jedoch bei den Diderot-Porträts niemals voll entwickelt, während Voltaire und Rousseau uns meist direkt ansehen (siehe dazu im Bildteil die Abbildungen 1 bis 7).
Die zwei wohl berühmtesten Diderot-Porträts, das von Jean-Honoré Fragonard und das von Louis-Michel van Loo (das im Salon von 1767 gezeigt wurde), scheinen ihn in der Bewegung festzuhalten. Fast überrascht schaut er vom Lesen auf (Fragonard) oder vom Schreiben (van Loo). Ein anderes Porträt, das Dmitri Lewizki während Diderots Besuch in Russland Ende 1773 oder Anfang 1774 malte, und eine Büste von Jean-Baptiste Pigalle von 1777 zeigen ihn, als machte er gerade eine Pause (vielleicht um Luft zu holen, 34nachdem er gesprochen hat und bevor er weiterspricht). Diese wiederkehrenden bildlichen Bewegungsgebärden scheinen das Zeugnis mehrerer Zeitgenossen zu bestätigen, die darin übereinstimmen, dass Diderot niemals redete, ohne zu gestikulieren und sogar ohne sein Gegenüber zu berühren (in den Wochen seines Aufenthalts in Sankt Petersburg beklagte sich Katharina die Große darüber, offenbar allerdings ohne jegliche Missstimmung). Vor allem jedoch untergräbt diese ironische Wirkung der Bewegung unvermeidlich jegliche potenzielle Aufklärungsmonumentalität, wie sie in vielen Darstellungen Voltaires und Rousseaus erkennbar ist oder sogar vorherrscht. Statt deutliche Merkmale herauszuarbeiten, die Künstler aufgreifen und in ihren Porträts hervorheben konnten, scheinen die Diderot-Gemälde die Identifizierung einer spezifischen Persönlichkeit von der zweidimensionalen Leinwand in seine reale Präsenz und damit in den dreidimensionalen Raum zu verschieben, in dem Bewegungen sich entfalten können.
Wenn wir diesen Vergleich zwischen Voltaire, Rousseau und Diderot, die seit langem als die drei zentralen Protagonisten der französischen Aufklärung kanonisiert sind, von der Kunstgeschichte auf die Geistesgeschichte übertragen, stoßen wir auf ein erstaunlich ähnliches Verhältnis. Voltaire und Rousseau werden mit bestimmten Schlüsselbegriffen ihres Werkes assoziiert, mit ihrer ersten Resonanz in der Gesellschaft – und selbst mit der späteren Umwandlung dieser Bedeutungen wie auch der ihnen zugrundliegenden Werte in gesellschaftliche und politische Realitäten. Im Gegensatz dazu und vielleicht aus Mangel an Begriffen und Werten, die man hätte kanonisieren können, erfährt Diderot hauptsächlich – wenn nicht sogar ausschließlich – Anerkennung wegen seiner logistischen Leistung bei der Herausgabe der Encyclopédie, während Voltaire für die Öffentlichkeit steht, 35an deren Entstehung er (hauptsächlich durch seine Briefe) so entscheidenden Anteil hatte, und Rousseau seit den »radikalen« Momenten der Französischen Revolution als Verfechter der Gleichheit gilt.
Diese zugegebenermaßen oberflächlichen und dennoch nützlichen Unterschiede können erklären helfen, warum aus der Perspektive der Rezeption und Resonanz das 19. Jahrhundert als eine Zeit, in der auf Öffentlichkeit basierende politische Systeme sich durchgesetzt haben, die Zeit Voltaires war, während das 20. Jahrhundert, das von der Verwirklichung der Gleichheit besessen und bezaubert war, Rousseau gehörte. Anders als diese beiden großen französischsprachigen Denker des 18. Jahrhunderts waren Diderots Schriften permanent, wenn auch peripher präsent, eher am Horizont der intellektuellen Aufmerksamkeit und niemals so zentral, dass sie mit bestimmten historischen Augenblicken oder sozialen Bewegungen verbunden worden wären. Die Hauptfrage, der ich in diesem Buch nachgehen möchte, lautet, ob unser 21. Jahrhundert Diderots Zeit werden könnte.
Dies natürlich nicht mangels Alternative oder nach der Logik einer banalen Vorstellung von historischer »Gerechtigkeit«, wonach er es »endlich verdiente, die Aufmerksamkeit zu erhalten, die ihm immer verwehrt blieb«, sondern weil einige seiner Obsessionen, Faszinationen, Besorgnisse und Ahnungen einschließlich ihres lebendigen Äquivalents, das heißt der paradoxen Persönlichkeitsstruktur, die zu entdecken wir begonnen haben, eine besondere und besonders erhellende Affinität zu unserer Zeit aufweisen könnten. Ich las Starobinskis erstes Kapitel in Diderot, un diable de ramage als Ermunterung, in diese Richtung zu gehen. Allerdings möchte ich betonen, dass solch ein Ausgangspunkt keinerlei Vorannahmen bezüglich irgendwelcher Regelmäßigkeiten oder gar »Gesetze« der Geschichte impliziert, die eine Affini36tät zwischen unserer Zeit und Diderots speziellem Ort auf der intellektuellen Landkarte des 18. Jahrhunderts als »notwendig« erscheinen ließen. Falls sich die These der Affinität als fruchtbar erweist, werden wir darin einen Zufallseffekt erblicken müssen – was allerdings deren potenzielle Bedeutung für unsere Gegenwart wie auch für ein neues Verständnis Diderots und seines Werkes keineswegs schmälern würde.
*
Die Verwendung unserer paradoxen Formel als Prämisse für den Versuch einer umfassenden Beschreibung von Diderots intellektuellem Stil und auch seines Lebens, der Formel einer Identität, die möglicherweise aus dem Fehlen einer stabilen Identität hervorging, hat uns bisher geholfen, einem Verständnis der Stellung Diderots in seiner eigenen Umwelt näherzukommen und eine erste Frage zu entwickeln, nämlich die nach dem besonderen Verhältnis seines Werkes zu unserer Zeit. Um dieses Werk angemessen analysieren zu können, fehlen uns aber immer noch geeignete und spezifischere Konzepte. Georg Wilhelm Friedrich Hegels Bemerkungen über Diderot, insgesamt zehn Passagen im Gesamtwerk des deutschen Philosophen, können uns helfen, einen ersten und wahrscheinlich sogar entscheidenden Schritt in diese Richtung zu tun. Diese Bemerkungen verteilen sich über drei Jahrzehnte in Hegels Schaffen, und wenn sie konkreter werden, verweisen sie nicht auf Diderots abstraktere philosophische Abhandlungen, sondern auf seine Reflexionen über Malerei, auf Jacques le fataliste und Le Neveu de Rameau, die beiden letzten Texte, die Eingang in den literarischen Kanon fanden. Was Hegel zu sagen hat, ist deshalb besonders interessant, weil Diderots Werke offensichtlich 37keinen erkennbaren systematischen Platz in seinem Denken hatten. Ihre Stellung musste daher zu etwas werden, das Hegel gerne als »Negativität« bezeichnete, oder anders gesagt, es handelte sich um Beobachtungen und Formen der Erfahrung, die Hegels Denken Widerstand boten und deren Aufhebung (oder Einfügung in das systematische Gebäude seiner Philosophie) ihn zwang, seine eigenen Begriffe und Argumente zu schärfen. Gerade aus dieser Perspektive und erstaunlicherweise auf den ersten Blick zeigte sich angesichts des fundamentalen Unterschieds zwischen ihrer beider Denken, dass Diderot für Hegel bedeutsam war, und diese Bedeutung hat auch die gebührende wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden.[15] Um Diderots Ideen und Ansichten in sein System einfügen zu können, musste Hegel jedoch eine Reihe von Begriffen verwenden (oder zumindest stillschweigend voraussetzen), die uns letztlich helfen können, Diderots Werk zu beschreiben, und das sogar unabhängig von Hegels Schriften.
In zweien der zehn Fälle, in denen Diderots Name bei Hegel erscheint, ist der Bezug textlich unspezifisch – und beide finden sich spät in Hegels Werk. Seine postum erschienenen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie erwähnen Diderot 38zusammen mit Voltaire, Montesquieu, Rousseau und d'Alembert als Repräsentanten dessen, »was man französische Philosophie genannt hat« und was »auch als Atheismus verpönt ist«.[16] Später innerhalb derselben Vorlesungen erscheint Diderot als einer aus einer kleinen Gruppe intellektueller Autoritäten, mit denen Hegels Philosophenkollege Friedrich Heinrich Jacobi in einer frühen Phase seines intellektuellen Lebens in Genf und Paris Kontakt hatte.[17] Interessanter ist allerdings schon eine Passage in einem Hegel-Manuskript von 1807 mit dem Titel »Wer denkt abstrakt?«, in dem er auf Jacques le fataliste als Beispiel für seinen protosoziologischen Eindruck verweist, wonach französische Bedienstete (»Bediente«) – wie Bedienstete allerorten – über ihre Herren auf einer hochabstrakten (heute würde man eher sagen: pragmatischen) Ebene dächten, während französische Adlige anders als zum Beispiel deutsche die Gewohnheit hätten, in einem »familiären« Ton mit ihrem Personal zu sprechen:
Der vornehme Mann ist familiär mit den Bedienten, der Franzose sogar gut Freund mit ihm; dieser führt, wenn sie allein sind, das große Wort, man sehe Diderots Jacques et son maître, der Herr tut nichts als Prisen-Tabak nehmen und nach der Uhr sehen und läßt den Bedienten in allem Übrigen gewähren.[18]
Während Hegel in dieser Passage einen literarischen Text lediglich zu dem Zweck benutzt, einer seiner zahlreichen Thesen über die Eigentümlichkeiten der französischen Gesell39schaft größere Glaubwürdigkeit zu verleihen, werden Funktion und Status, die Hegel Diderots Worten als »typisch französischer« Beschreibung alltäglicher Szenen zuweist, aus einer allgemeineren Perspektive in einer Passage aus Hegels 1826 gehaltenen Vorlesungen über die Ästhetik thematisiert:
In der Poesie ist das gemeine häusliche Leben, das die Rechtschaffenheit, Weltklugheit und Moral des Tages zu seiner Substanz hat, in gewöhnlichen bürgerlichen Verwicklungen, in Szenen und Figuren aus den mittleren und niederen Ständen dargestellt. Bei den Franzosen hat besonders Diderot in diesem Sinn auf Natürlichkeit und Nachahmung des Vorhandenen gedrängt.[19]
Hegel verweist dann auf Goethe und Schiller, die in einigen ihrer Jugendschriften »einen ähnlichen Weg einschlugen« und innerhalb dieser »Natürlichkeit und Partikularität« nach »tieferem Gehalte« suchten. Außerdem verweist er auf Kotzebue, einen damals weithin bekannten Autor, und auf den Schauspieler Iffland, deren Bemühungen um die Darstellung der alltäglichen Welt er als »oberflächlich« und als Ausdruck »spießbürgerlicher Moralität« beschreibt. Wodurch sich Diderot in seiner Darstellung des »gemeinen häuslichen Lebens« nun genau von Goethe und Schiller – und erst recht von Kotzebue und Iffland – unterscheidet, wird hier indessen nicht deutlich. Wir können allenfalls sagen, dass Hegel Diderots Darstellung des Alltäglichen mit Oberflächlichkeit assoziiert, wenngleich mit einer Oberflächlichkeit, die eine nicht weiter explizierte positive Konnotation trägt. Gegen Ende der Vorlesungen über die Ästhetik taucht Diderots Na40me erneut auf, diesmal in einem Kontext, in dem Hegel sich mit dem »menschlichen Fleisch« als einer der größten mimetischen Herausforderungen jedes Malers befasst. Der »glanzlose Seelenduft« menschlichen Fleisches lasse sich nicht durch Details, das heißt nicht »als materielle Farbe, als Striche, Punkte usf.«, sondern nur als »selbst lebendiges Ganzes« erfassen. Dann zitiert Hegel Diderot in Goethes Übersetzung als eine Autorität, die seine eigene Auffassung bestätigen kann:
Schon Diderot in dem von Goethe übersetzten Aufsatz über Malerei sagt in dieser Hinsicht: »Wer das Gefühl des Fleisches erreicht hat, ist schon weit gekommen, das übrige ist nichts dagegen. Tausend Maler sind gestorben, ohne das Fleisch gefühlt zu haben, tausend andere werden sterben, ohne es zu fühlen.«[20]
In all diesen Passagen, in denen auf Diderot Bezug genommen wird, findet sich kein einziges philosophisches Konzept, das dessen Denken – wenigstens tentativ – einen Platz in Hegels System zuweisen könnte. Die Bemerkungen zur Darstellung des menschlichen Fleisches eröffnen jedoch die Möglichkeit, den von Hegel erfundenen Begriff zu ergänzen, der hier zwar implizit bleibt, aber sein Interesse an Diderot zu erklären vermag. An früherer Stelle in den Vorlesungen über die Ästhetik hatte Hegel selbst eine unzweideutige Möglichkeit der Bezugnahme auf den menschlichen Leib und andere nichtgeistige Phänomene genannt und dazu auf die »Breite der Prosa im menschlichen Dasein« verwiesen – ein Ausdruck, den er dann ausführlich erläuterte:
41Der menschliche Organismus in seinem leiblichen Dasein fällt […] einer Abhängigkeit von den äußeren Naturmächten anheim und ist der gleichen Zufälligkeit, unbefriedigten Naturbedürfnissen, zerstörenden Krankheiten wie jeder Art des Mangels und Elendes bloßgestellt.
Weiter hinauf in der unmittelbaren Wirklichkeit der geistigen Interessen erscheint die Abhängigkeit erst recht in der vollständigsten Relativität. Hier tut sich die ganze Breite der Prosa im menschlichen Dasein auf. Schon der Kontrast der bloß physischen Lebenszwecke gegen die höheren des Geistes, indem sie sich wechselseitig hemmen, stören und auslöschen können, ist dieser Art. Sodann muß der einzelne Mensch, um sich in seiner Einzelheit zu erhalten, sich vielfach zum Mittel für andere machen, ihren beschränkten Zwecken dienen, und setzt die anderen, um seine eigenen engen Interessen zu befriedigen, ebenfalls zu bloßen Mitteln herab. Das Individuum, wie es dieser Welt des Alltäglichen und der Prosa erscheint, ist deshalb nicht aus seiner eigenen Totalität tätig und nicht aus sich selbst, sondern aus anderem verständlich.[21]
Von Anfang an sei hier betont, dass Hegels Ausdruck »Prosa«, den ich hier auf Diderots Werk und Leben anwenden möchte, sich natürlich nicht ausschließlich auf das bezieht, was wir leicht als Objekte in ihrer »Stofflichkeit« oder ihrer Zugehörigkeit zur »Natur« erkennen. »Prosa« bezieht sich in Wirklichkeit auf alles, was sich nicht dem menschlichen Denken in seiner Abstraktheit zuordnen und darunter subsumieren lässt. Deshalb steht »Prosa« auch für Zufälligkeit, Abhängigkeit, unerfüllte Wünsche, für Fragmentierung (die »Partikelchen des Ganzen«[22] ) und für Singularität, ja für al42les, was die Flüge des Geistes »hemmen, stören und auslöschen« könnte, und letztlich für jenes, was weder geistiger Art ist noch durch Begriffe oder Strukturen kontrolliert werden kann.
Am Ende der komplexen Passage aus den Vorlesungen über die Ästhetik, deren Anfang ich gerade zitiert habe, verwendet Hegel nochmals den Ausdruck »Prosa« in Verbindung mit »der Welt« und fügt dessen semantischen Bestandteilen noch »Veränderlichkeit«, »Verflechtung in Relatives« und »Lebendigkeit« hinzu. So wird er zu einer zentralen Dimension der »Negativität«, jener Phänomene, die, wie oben angemerkt, keinen Platz in Hegels System haben und deshalb ständig und unvermeidlich einen Drang zur Aufhebung auslösen:
Dies ist die Prosa der Welt, wie dieselbe wohl dem eigenen als auch dem Bewußtsein des anderen erscheint, eine Welt der Endlichkeit und Veränderlichkeit, der Verflechtung in Relatives und des Drucks der Notwendigkeit, dem sich der Einzelne nicht zu entziehen imstande ist. Denn jedes vereinzelte Lebendige bleibt in dem Widerspruche stehen, sich für sich selbst als dieses abgeschlossene Eins zu sein, doch ebensosehr von anderem abzuhängen, und der Kampf um die Lösung des Widerspruchs kommt nicht über den Versuch und die Fortdauer des steten Krieges hinaus.[23]
In einem späteren Kapitel der Vorlesungen über die Ästhetik kommt Hegel auf das Konzept der »Prosa« in einem weniger übertragenen Sinne zurück und unterscheidet die »poetische Vorstellung« von der »Prosa« als deren Gegensatz. Das selbstgesetzte Ziel ist hier die Entwicklung einer Beschreibung des von ihm so genannten »Poetischen« durch Ausschließung 43der als »Prosa« bezeichneten Phänomene und Seinsschichten, die sich nicht mit dem Geist versöhnen lassen. Wenn Hegel sagt, »Auffassen, Gestalten und Aussprechen« seien »rein theoretisch«, muss alles »Praktische« folgerichtig in den Bereich der »Prosa« fallen,[24] was in erster Linie für die Natur und den menschlichen Leib als Grundlage und Voraussetzung gilt:
Was zunächst den Inhalt angeht, der sich für die poetische Konzeption eignet, so können wir […] sogleich das Äußerliche als solches, die Naturdinge ausschließen; die Poesie hat nicht Sonne, Berge, Wald, Landschaften oder die äußere Menschengestalt, Blut, Nerven, Muskeln usf., sondern geistige Interessen zu ihrem eigentlichen Gegenstande. Denn wie sehr sie auch das Element der Anschauung und Veranschaulichung in sich trägt, so bleibt sie doch auch in dieser Rücksicht geistige Tätigkeit und arbeitet nur für die innere Anschauung, der das Geistige nähersteht und gemäßer ist als die Außendinge in ihrer konkreten sinnlichen Erscheinung.[25]
Diderots Prosa mit ihrer Darstellung des »häuslichen Lebens« und ihrer fehlenden »Tiefe«, eine Prosa, deren Qualität Hegel zuvor schon und – durchaus erstaunlich – im Vergleich mit ähnlichen Bemühungen deutscher Autoren und Künstler gewürdigt hatte, konzentriert sich auf die Phänomene »in ihrer konkreten sinnlichen Erscheinung«. Im Kontext seiner Reflexion über die »poetische Vorstellung« zeigt sich indessen, dass der Ausdruck »Prosa«, den Hegel hier mit dem »gewöhnlichen Bewußtsein« assoziiert, nicht nur 44auf Phänomene verweist, die mit dem Geist nicht kompatibel sind, sondern auch bestimmte Muster und Konfigurationen umfasst, in denen solche konkreten Phänomene sich den menschlichen Sinnen darbieten. Das sind die Muster, die ganzheitlichere oder organischere Sichtweisen untergraben:
Andererseits läßt das gewöhnliche Bewußtsein sich auf den inneren Zusammenhang, auf das Wesentliche der Dinge, auf Gründe, Ursachen, Zwecke usf. gar nicht ein, sondern begnügt sich damit, das, was ist und geschieht, als bloß Einzelnes, d. h. seiner bedeutungslosen Zufälligkeit nach, aufzunehmen. […] Das Verstehen einer verständig zusammenhängenden Welt und deren Relationen ist dann nur mit dem Blick in ein Neben- und Durcheinander von Gleichgültigem vertauscht, das wohl eine große Breite äußerlicher Lebendigkeit haben kann, aber das tiefere Bedürfnis schlechthin unbefriedigt von sich läßt.[26]
Durch diese Überlegungen zieht sich eine Doppeldeutigkeit, deren sich Hegel wahrscheinlich bewusst ist. Was er als »prosaisch« bezeichnet, steht im Gegensatz zum Drang des Geistes hin zu synthetischen Formen der Erfahrung und des Denkens und behindert ihn wahrscheinlich sogar, aber dennoch billigt er dem »Prosaischen« in seiner Konkretheit, seiner Singularität und seinem Nebeneinander die Qualität einer »äußerlichen Lebendigkeit« zu. Diese Lebendigkeit muss der implizite – und vielleicht sogar vorbewusste – Grund gewesen sein, weshalb er Diderots Texte über das »häusliche Leben« schätzte.
Zwei Jahrzehnte vor Hegels Vorlesungen über die Ästhetik war eine weitaus heftigere Reaktion auf eine Struktur, die aus epistemologischer Sicht der »Prosa der Welt« ähnelte, er45schienen, und zwar in seinem ersten Buch, der 1807 veröffentlichten Phänomenologie des Geistes. Schon dort verwies Hegel auf einen Text von Diderot, nämlich auf Le Neveu de Rameau, der 1805 in Goethes Übersetzung erschienen war. Im Unterschied zu dem Abstand jedoch, den er 1826 zwischen dem Geist und der poetischen Vorstellung auf der einen, der »Prosa der Welt« auf der anderen Seite sah, entschied sich der jüngere Hegel für, wie er offenbar glaubte, Diderots Seite dieses semantischen Gegensatzes, der auf fiktionaler Ebene in Le Neveu de Rameau durch die Gegenüberstellung zwischen einem Philosophen (»Ich«) und Rameaus Neffe (»Er«) als einer gesellschaftlich randständigen Existenz zum Ausdruck gebracht wird. Die Passage aus der Phänomenologie des Geistes, auf die ich hier verweise, befasst sich mit der Analyse der »Bildung«.
Unter »Bildung« verstand Hegel den existenziellen Prozess, in dem der Geist sich selbst aufgeben muss (Entäußerung), um sich selbst fremd zu werden (Entfremdung) und schließlich mit einem höheren Maß an Individualität, Komplexität und Reflexion zu sich selbst zurückzukehren. Kein individueller Geist kann danach existieren, ohne diese Bewegung vollzogen zu haben:
Die Welt [des] Geistes zerfällt in die gedoppelte [Welt]: die erste ist die Welt der Wirklichkeit oder seiner Entfremdung selbst; die andere aber die, welche er, über die erste sich erhebend, im Äther des reinen Bewußtseins sich erbaut. Diese, jener Entfremdung entgegengesetzt, ist eben darum nicht frei davon, sondern vielmehr nur die andere Form der Entfremdung, welche eben darin besteht, in zweierlei Welten das Bewußtsein zu haben, und beide umfaßt.[27]
46Während Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, wie dargelegt, versuchen, das »Poetische« und das »Prosaische« getrennt und gleichsam in einem hierarchischen Verhältnis zu halten, das zur Aufhebung des prosaischen im poetischen Denken führt, wirft die Phänomenologie recht überraschend ein Schlaglicht auf die grundlegende Spannung zwischen Entfremdung und reinem Bewusstsein. Es wird als »zerrissenes Bewußtsein« beschrieben und gerät zum entscheidenden positiven Prinzip in der Dynamik der »Bildung«, einem Prinzip positiver Unruhe, wie wir vielleicht sagen könnten. Schon früh in diesem Kapitel zitiert Hegel ein paar Worte aus dem Munde des exzentrischen Diderot'schen Protagonisten, dem Neffen Rameaus, und zwar mit einer verächtlichen Bemerkung über jene Zeitgenossen, die nicht »zerrissen« und daher nicht »individuell« genug sind und deshalb unter den Begriff der verschiedenen sozialen »Arten« subsumiert werden können. Einer »Art« anzugehören sei »von allen Spitznamen der fürchterlichste; denn er bezeichnet die Mittelmäßigkeit und drückt die höchste Stufe der Verachtung aus«.[28]
Nur ein paar Seiten weiter in der Phänomenologie des Geistes erscheint Diderots Protagonist, in dem Hegel die Veranschaulichung und fiktionale Verkörperung des »zerrissenen Bewußtseins« erblickt, erneut als wahrhaft erstaunliches Objekt der Begeisterung und sogar der Identifikation. In einem Diskurs, der Worte aus Rameaus Neffe in Goethes Übersetzung mit seinen eigenen philosophischen Begriffen mischt, wird aus der Argumentation hinsichtlich der Bildung ein heftiger Angriff auf die Flachheit des reinen und »ruhigen Bewusstseins« des Diderot'schen Philosophen (»Ich«) und gegen dessen wohlmeinende eindimensionale »Offenheit«:
47Der Inhalt der Rede des Geistes von und über sich selbst ist also die Verkehrung aller Begriffe und Realitäten, der allgemeine Betrug seiner selbst und der anderen; und die Schamlosigkeit, diesen Betrug zu sagen, ist eben darum die größte Wahrheit. Diese Rede ist die Verrücktheit des Musikers, der »dreißig Arien, italienische, französische, tragische, komische von aller Art Charakter, häufte und vermischte, bald mit einem tiefen Baß stieg er bis in die Hölle, dann zog er die Kehle zusammen, und mit einem Fistelton zerriß er die Höhe der Lüfte …, wechselweise rasend, besänftigt, gebieterisch und spöttisch.« – Dem ruhigen Bewußtsein, das ehrlicherweise die Melodie des Guten und Wahren in die Gleichheit der Töne, d. h. in eine Note setzt, erscheint diese Rede als »eine Faselei von Weisheit und Tollheit, als ein Gemisch von ebensoviel Geschick als Niedrigkeit, von ebenso richtigen als falschen Ideen, von einer so völligen Verkehrtheit der Empfindung, so vollkommener Schändlichkeit als gänzlicher Offenheit und Wahrheit […]«.[29]
In Hegels Phänomenologie ist es zugleich Voraussetzung und Schlussfolgerung des Kapitels über Bildung, dass der Geist aus seiner »Verwirrung als Geist« zu sich selbst zurückkehren muss, wenn er ein »noch höheres Bewusstsein« erlangen soll.[30] Diderots Protagonist erscheint nicht nur als Meister solch einer produktiven und notwendigen Verwirrung, wir können auch sicher sein, dass Diderots von Hegel so genannte »Prosa der Welt« denkbar nahe an den Status einer notwendigen Dimension und Stufe auf dem Weg zur Bildung kommt, einer Dimension und Stufe, die auf dem Weg zu Individualität und ihrer intellektuellen Komplexität durchgearbeitet werden muss.
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48Und dennoch lässt sich aus unserer Lesart dieser Passage aus der Phänomenologie nicht auf eine allgemeine Affinität (oder gar Ähnlichkeit) zwischen Hegels gesamtem philosophischen System und Diderots Denken mit seinen ständig wechselnden Positionen schließen. Denn zur Identifikation Hegels (als Autor) mit Rameaus Neffe (als Diderots Protagonist) kam es in einem frühen Stadium seines philosophischen Weges und im sehr speziellen Kontext eines Kapitels über Bildung. Statt diesen einen philosophischen Moment der Nähe und Konvergenz allzu ernst zu nehmen, will ich den Blick nun auf Konzepte lenken, die wir in der mikroskopischen Konzentration auf Hegels Texte gewonnen haben, um den grundlegenden Unterschied zwischen Diderot und Hegel darzulegen und in Umrissen eine breitere Sicht der historischen Situation zu entfalten, der Diderot angehörte und in der er einen nur schwer zu bestimmenden intellektuellen Platz einnimmt. Genauer gesagt, ich möchte einerseits zu zeigen versuchen, dass