Das Erwachen der Lady Mayfield - Julie Klassen - E-Book

Das Erwachen der Lady Mayfield E-Book

Julie Klassen

4,8

Beschreibung

Ein Schrei … Krachen … zerschmettertes Holz. Dann nur noch Schmerz. Eiskaltes Wasser. Dunkelheit. Als die junge Dienerin Hannah erwacht, findet sie sich in einem unbekannten Herrenhaus wieder. Langsam kommen die Bilder wieder. Die Kutsche, in der sie nicht alleine saß. Ein Baby in London. Und da ist ein Ring an ihrem Finger, der sie an eine große Lüge erinnert. Doch vor allem gibt es ein Geheimnis, das ihr Leben überschattet. Und ihr wird bald klar, dass sie in diesem Herrenhaus niemandem vertrauen kann.

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7324-7 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5703-2 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2015SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scmedien.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: Lady MaybeCopyright © 2015 by Julie KlassenAll rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.This edition published by arrangement with The Berkley Publishing Group, an imprintof Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Übersetzung: SuNSiDe, ReutlingenUmschlaggestaltung: OHAWerbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz;www.oha-werbeagentur.chTitelbild: shutterstock.comSatz & Medien Wieser, Stolberg

FürBetsey, Gina, Patty, Suzy und LoriIch bin so dankbar, dass Gott uns damals, als wir alle gerade ein Babybekommen hatten, zusammengeführt hat. Es entstand eine Freundschaft,die von den ersten Schritten unserer Kinder bis zum ersten Rendezvousund weiter bis heute andauert!

Drei Dinge gibt es, die die Erde erschüttern –und vier, die sie nicht erträgt:einen Sklaven, der König wird;einen Narren, dem es zu gut geht;eine unausstehliche Frau, die doch noch einen Mann findet;eine Magd, die an die Stelle ihrer Herrin tritt ...Sprüche 30,21-23

Angenehme BegleitungDame, vierundzwanzig Jahre alt, wünscht sich dringend eine Stellungals Begleiterin. Sie ist musikalisch, kann gut vorlesen, ist inHaushaltsangelegenheiten erfahren und fleißig und hat gute Zeugnisse.Sie wäre eine gute Gesellschafterin für eine ältere Dame.Bitte richten Sie Ihr Schreiben an A.R.A., Poststelle, High Wicombe.Anzeige in der Times of London, 1847

Inhalt

Über die Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Nachwort

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

Julie Klassen hat 16 Jahre lang als Lektorin für Belletristik gearbeitet und schreibt nun hauptberuflich. Sie liebt die Welt von Jane Austen und alles, was damit zu tun hat.

Drei ihrer historischen Romane gewannen den begehrten »Christy Award«.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1

Bath, England1819

Lady Marianna Mayfield saß an ihrem Frisiertisch – fertig angekleidet, frisiert und geschminkt. Sie tat so, als betrachtete sie sich im Spiegel, doch in Wirklichkeit beobachtete sie das Mädchen, das hinter ihr die letzten Sachen einpackte.

Heute Morgen, ganz früh, war Sir John in ihr Zimmer gekommen und hatte ihr mitgeteilt, dass sie Bath noch heute verlassen würden. Er wollte ihr nicht sagen, wohin die Reise ging, weil er befürchtete, dass es ihr dann möglicherweise noch gelingen könnte, Anthony Fontaine eine Nachricht zukommen zu lassen. Er erlaubte ihr auch nicht, ihre Dienstboten mitzunehmen, denn die hätten natürlich nachgefragt, wohin sie fuhren, und hätten Anthony ebenfalls das Ziel verraten können.

Mariannas Magen verkrampfte sich. Glaubte er wirklich, ein weiterer Umzug würde sie aufhalten? Würde ihn aufhalten?

Sie sprang auf, ging zum Fenster und zog den zarten Vorhang zurück. Bei dem Anblick, der sich ihr im Hinterhof vor dem Stall bot, runzelte sie die Stirn. Der Pferdeknecht und der Kutscher machten die neue Kutsche reisefertig – sie ersetzten die Kerzen in den Kutschenlaternen und prüften Räder und Federung.

Jetzt begriff sie, warum er eine Kutsche gekauft hatte, wie man sie normalerweise nur für Überlandfahrten benutzte. Die Equipage war teuer gewesen, doch ein Mann wie Sir John Mayfield ließ sich von Kosten nicht schrecken. Nicht, wenn er entschlossen war, sich mit seiner Frau davonzustehlen und sämtliche Verehrer abzuhängen.

Anthony wird mich finden. Natürlich würde er das. Es war ihm auch nach ihrem letzten Umzug gelungen, als sie hierher nach Bath gezogen waren. Dennoch wünschte sie sich sehnlich, er käme noch rechtzeitig vor ihrer Abreise aus London zurück. Vielleicht würde er Sir John dann endlich die Stirn bieten, ihm ins Gesicht schleudern, was er von seinem sinnlosen Plan hielt, und dieser Farce von Ehe ein für alle Mal ein Ende bereiten.

An der offenen Tür klopfte es. Noch immer stirnrunzelnd, blickte sie auf, in der Annahme, es sei Sir John mit einer weiteren Anordnung.

Doch es war der Butler, Hopkins. »Besuch für Sie, Eure Ladyschaft.«

Mariannas Herz tat einen Sprung.

»Es ist Miss Rogers«, fügte er hinzu. »Möchten Sie sie empfangen oder soll ich sie wieder wegschicken?«

Mariannas kurzes Hochgefühl schwand, aber nicht ganz.

»Lieber Himmel, nein, schicken Sie sie nicht weg«, sagte sie. »Führen Sie sie in den Morgen-Salon.«

»Sehr wohl, Eure Ladyschaft.« Hopkins verbeugte sich und ging.

Der Besuch ihrer ehemaligen Gesellschafterin war eine Überraschung, vor allem angesichts der Tatsache, dass Hannah Rogers vor einem halben Jahr aus heiterem Himmel verschwunden war – aber es war eine Überraschung, die ihr gerade recht kam. Marianna warf einen letzten traurigen Blick auf die leeren Schubladen und den ausgeräumten Schrank, dann trat sie auf den Flur hinaus und ging die Treppe hinunter.

Bei ihrem Eintreten erhob sich eine vertraute, gertenschlanke Gestalt, die in Marianna ein nostalgisches Gefühl tiefer Zuneigung weckte – sofort gefolgt vom Gefühl des Verrats, weil diese Frau damals ohne ein Wort einfach gegangen war. Doch sie schluckte ihre Bitterkeit hinunter und rief aus: »Hannah! Du meine Güte, ich hatte nicht erwartet, dich noch einmal wiederzusehen!«

Die junge Frau sah sie an; sie wirkte angespannt. »Mylady.«

Marianna lächelte strahlend. »Dich schickt der Himmel, wirklich – wenn ich an solche Dinge glauben würde. Was für ein Zufall, dass du ausgerechnet jetzt zurückkommst.«

Hannah Rogers faltete die Hände und schlug die Augen nieder. »Ich habe meine letzte Zuwendung nicht erhalten.«

Gesellschafterinnen erhielten ein bescheidenes Gehalt, das als Zuwendung bezeichnet wurde, in Abgrenzung zum vulgären ›Lohn‹, den die anderen Dienstboten erhielten. Marianna hatte nicht mit einer solchen, reichlich späten Forderung gerechnet, doch sie wollte sich nicht herumstreiten.

»Die bekommst du natürlich. Ich habe ohnehin nie verstanden, warum du verschwunden bist, ohne zu verlangen, was dir zustand.« Sie läutete eine Glocke, die auf einem Beistelltischchen stand, und Hopkins erschien.

»Bitten Sie Mr Ward, Miss Rogers ihre ausstehende Zuwendung auszuzahlen.«

Als der Butler das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Marianna wieder an Hannah und fragte: »Wie ist es dir ergangen?«

»Oh …« Miss Rogers lächelte zaghaft. »Ganz gut, danke.«

Doch Marianna glaubte ihr nicht. Sie setzte sich und betrachtete sie nachdenklich, sah den misstrauischen Blick, das blasse Gesicht, die stark hervortretenden Wangenknochen – die Wangen darunter waren eingefallener, als sie sie in Erinnerung hatte.

»Du wirkst gesund«, meinte Marianna, »aber ein wenig müde. Und sehr dünn.«

»Danke, Mylady.«

»Bitte setz dich doch. Ich würde dir gern eine Erfrischung anbieten, aber Sir John hat die meisten Diener bereits entlassen. Wir haben nur noch Hopkins, Mr Ward und ein Mädchen.«

Hannah blieb stehen, und Marianna drängte sie nicht, sondern fragte nur zögernd: »Hast du eine andere Anstellung gefunden? Ich hatte fest damit gerechnet, dass du dich meldest oder mich um ein Zeugnis bittest, doch ich habe nichts gehört.«

»Ja, ich habe eine andere Stellung – oder hatte sie jedenfalls bis vor Kurzem.«

»Ach?«, meinte Marianna. Dann fragte sie hoffnungsvoll: »Also hast du im Moment kein Engagement?«

»Nein.«

Marianna stand auf und griff begeistert nach der Hand der jungen Frau. »Besser kann es sich ja gar nicht treffen! Ich brauche dringend eine Reisebegleitung!«

»Eine Reisebegleitung?«

»Ja. Sir John will uns wieder einmal entwurzeln, dabei hatte ich gerade angefangen, mich in Bath wohlzufühlen. Doch er lässt sich nicht erweichen, also reisen wir ab.« Sie lachte mit gekünstelter Fröhlichkeit. »Bitte begleite mich, Hannah. Er lässt mich nicht einmal meine Zofe mitnehmen; er hat auch sie bereits entlassen.«

Wahrscheinlich würde er auch Miss Rogers verbieten mitzureisen, dachte Marianna, doch sie musste es wenigstens versuchen.

Hannah schüttelte den Kopf. »Ich kann Bath nicht verlassen, Mylady. Nicht jetzt.«

»Aber du musst! Ich werde … ich werde deine Zuwendung verdoppeln. Kann dich das nicht locken? Wenn Sir John nicht einverstanden ist, bezahle ich dich selbst.«

Hannah zögerte, dann meinte sie: »Ich … ich weiß ja noch nicht einmal, wohin Sie reisen.«

»Ich doch auch nicht! Er sagt ja nicht einmal seiner Frau, wohin wir fahren. Ist das nicht geradezu lächerlich? Er denkt, ich würde es einem gewissen Herrn mitteilen, was ich selbstverständlich nie tun würde.«

Wieder schüttelte Hannah den Kopf. »Ich kann im Moment nicht fort von hier. Ich habe Familie hier …«

»Dein Vater lebt doch in Bristol«, erinnerte Marianna sich. »Du hast ihn auch verlassen, als wir hierher gezogen sind.«

»Ja, aber das … war etwas anderes.«

»Ach, so sehr anders wird es schon nicht sein«, widersprach Marianna leichthin. »Ich glaube nicht, dass wir weit fortgehen. Das letzte Mal sind wir nur von Bristol nach Bath gezogen – als könnten ein paar Dutzend Meilen uns voneinander trennen.«

Sie wusste, dass Miss Rogers den Hinweis auf den Mann, der ihre erste große Liebe war, verstand; Hannah war ihm ein paar Mal begegnet, als sie noch für sie arbeitete.

Doch Hannah zögerte immer noch: »Ich weiß nicht …«

»Ach, komm schon, Hannah. Es ist ja nicht für ewig. Wenn es dir dort nicht gefällt, oder wenn du zu deiner Familie zurückkehren musst, kannst du selbstverständlich jederzeit gehen. Du bist ja schon einmal einfach gegangen, als du es wolltest.« Doch Marianna lächelte, als sie das sagte – der kleine Seitenhieb und das Zugeständnis kamen in einem Atemzug.

Sie fuhr fort: »Ich stehe das nicht durch, ganz allein mit Sir John an einen unbekannten Ort zu reisen, ohne ein freundliches Gegenüber zwischen uns. Ohne ein einziges vertrautes Gesicht. Er besteht darauf, dass wir vollständig neues Personal einstellen, wenn wir angekommen sind. Nicht einmal Mr Hopkins und Mr Ward nehmen wir mit.«

Wie aufs Stichwort ging die Tür auf, und der Sekretär ihres Mannes trat ein. Sie sah, wie sich Hannah bei seinem Anblick versteifte.

»Ah, Mr Ward! Sie erinnern sich doch noch an Hannah Rogers?«

Der dünne Mann mit dem schütteren Haar und der pockennarbigen Haut sah sie mit ausdruckslosen Augen an. »Ja, Mylady. Sie ist einfach verschwunden, wenn ich mich recht erinnere.«

»Ja. Nun gut, wie auch immer. Sie ist gekommen, um ihre ausstehende Zuwendung einzufordern, die ihr natürlich zusteht und die Sie ihr bitte ohne weitere Fragen auszahlen werden.«

Seine Augen glitzerten vor Missbilligung und vielleicht auch Auflehnung. »Sehr wohl, Mylady. Hopkins hat es mir ausgerichtet.«

Er wandte sich steif an Miss Rogers. »Ich habe eine kleine Summe von Ihrer Zuwendung einbehalten, weil Sie ohne Ankündigung einfach verschwunden sind, und die elf Tage abgezogen, die am Quartal noch fehlten. Hier ist der Rest.«

Miss Rogers streckte verlegen die Hand aus, und der Mann ließ mit spöttischem Lächeln ein paar Sovereigns und ein paar Schillinge hineinfallen.

»Danke«, murmelte Hannah. Er drehte sich wortlos um und verließ das Zimmer.

Marianna, die ihn beobachtet hatte, schauderte. »Ich kann nicht sagen, dass ich traurig bin, ihn hierzulassen. Ein widerlicher Mensch. Er kehrt nach Bristol zurück und kümmert sich von dort aus um Sir Johns Angelegenheiten.«

Hannah betrachtete die Münzen in ihrer Hand. »Ich bin Ihnen sehr dankbar für das Angebot, Mylady. Wirklich. Aber ich muss … noch darüber nachdenken.«

Marianna Mayfield musterte sie. Irgendetwas war anders an Miss Rogers. Aber was? »Nun gut, aber überleg nicht zu lange«, sagte sie. »Wir brechen heute Nachmittag um vier Uhr auf; so will es Sir John, es sei denn, ich kann ihm seinen albernen Plan noch ausreden. Eifersüchtiger alter Narr.«

Hannah sah sie mit gequältem, ja fast verzweifeltem Gesichtsausdruck an, dann sagte sie: »Wenn ich um halb vier nicht da bin, warten Sie nicht auf mich; dann komme ich nicht.«

Die Stunden vergingen nur allzu rasch. Das Mädchen packte weiter Koffer um Koffer, Marianna ging weiter ruhelos auf und ab. Doch Anthony kam nicht. Und Hannah auch nicht.

Marianna stand am Wohnzimmerfenster und sah hinunter auf die Straße. Die Reisekutsche, gezogen von vier Pferden, stand vor dem Haus. Das Sattelpferd stampfte hin und wieder ungeduldig mit dem Huf.

Das Mädchen, der Butler und ein Mietbursche verstauten die Koffer im Imperial – einer Art großer, flacher Reisekiste auf dem Dach der Kutsche. Das restliche Gepäck wurde auf die hinteren Außensitze gehievt und festgeschnallt, wo zwei Diener hätten sitzen können, wenn Sir John ihr erlaubt hätte, diese mitzunehmen.

Plötzlich trat Sir John ins Zimmer, höchst imposant anzusehen in seinem Jagdrock, und wies sie schroff an, ihr Handgepäck zu nehmen und sich reisefertig zu machen, damit Hopkins anfangen konnte, das Haus abzuschließen; dann machte er auf dem Absatz kehrt. Sein grimmiger Ausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass Widerworte vergeblich waren.

Eine von Mariannas Freundinnen hatte einmal zu ihr gesagt, was für ein Glück sie doch habe, einen so entschlossenen, selbstsicheren Ehemann zu haben. Marianna war anderer Ansicht, doch sie wusste, dass die Bitte hierzubleiben auf jeden Fall sinnlos gewesen wäre – das Haus war bereits verkauft. Sie schaute auf ihre Broschenuhr. Zwanzig nach drei. Noch zehn Minuten …

Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass ihre ehemalige Gesellschafterin noch rechtzeitig kommen würde, nahm ihr Gepäck und verließ das Haus.

Sir John stand neben der Kutsche und sprach mit dem Mietkutscher, der das Sattelpferd auf der ersten Etappe reiten würde. Sie nahmen weder Pferdeknecht noch Wache mit. Als Marianna näher trat, griff Sir John ins Innere der Kutsche und nahm ein Steinschlossgewehr aus dem verborgenen Gewehrkasten der Kutsche. Er prüfte es, dann legte er es wieder zurück in seinen Behälter. Anscheinend wollte er die Wache selbst übernehmen. Vielleicht sollte sie doch froh sein, dass Anthony nicht gekommen war.

Ihr Blick fiel erneut auf ihre Broschenuhr. Halb vier. O nein! Sie hatte so gehofft, dass Hannah doch noch käme.

Plötzlich tauchte ganz hinten am Camden Place, an der Kreuzung Lansdown Street, eine vertraute Gestalt auf. Mariannas Herz hob sich schlagartig. Doch dann sah sie, dass ein großer, dunkelhaariger, junger Mann hinter Hannah hergelaufen kam und sie am Ellbogen packte. Die beiden waren zu weit weg, als dass Marianna hätte hören können, was er sagte, doch sie sah, wie Hannah den Kopf schüttelte und ihm sanft ihren Arm entzog. Sie wirkte traurig, aber nicht verängstigt. Vielleicht ein Verehrer? Wenn ja, dann wunderte es sie nicht, dass Hannah Bath nicht verlassen wollte.

Hannah wandte sich von dem Mann ab und ging auf die Kutsche zu.

»John, sieh doch!«, rief Marianna. »Da ist Miss Rogers! Sie wird uns begleiten.«

Ihr Mann versteifte sich und drehte sich um. Sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich.

Hannah Rogers eilte auf sie zu; ihre Reisetasche schlug ihr gegen die Beine.

Marianna strahlte. »O Hannah, ich bin so froh, dich zu sehen! Ich hatte solche Angst vor dieser Reise, aber wenn du mitkommst, ist es nicht halb so schlimm.«

»Das Angebot gilt doch noch?«, fragte Hannah. Sie atmete schwer vom schnellen Laufen.

Marianna ignorierte den Blick ihres Mannes und strahlte ihre erneut engagierte Gesellschafterin an. »Natürlich.«

»Und ich kann gehen, wenn es mir nicht gefällt?«

»Du bist keine Gefangene, Hannah. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir sagen.« Sie warf Sir John einen bedeutungsschweren Blick zu und wartete auf seinen Einspruch. Er würde ganz sicher darauf bestehen, dass sie allein reisten.

Doch Sir John presste nur die Lippen zusammen und sagte nichts.

Der Bursche verstaute Hannahs Tasche beim übrigen Gepäck, dann stiegen die drei in die Kutsche und nahmen auf den vornehm mit Samt bezogenen Sitzen Platz. Marianna streckte die Hand aus, berührte die goldenen Quasten der üppigen blauen Fenstervorhänge und murmelte: »Welch hübsche Kutsche.« In unbehaglichem Schweigen fuhren sie durch die Nacht, sie hielten nur an, um die Pferde zu wechseln. Marianna saß verkrampft und müde neben Sir John auf der Sitzbank, so weit entfernt von ihm wie möglich. Sie lehnte sich gegen die Kutschenwand und schaute aus dem Fenster; dabei mied sie sorgfältig seinen Blick.

Das Licht der Kutschenlaternen glomm schwach, aber stetig. Irgendwann setzte die Morgenröte ein und färbte den Himmel in zartem Rosa, das sie auf dem Weg zum Bristolkanal, einer Meeresbucht an der Westküste, begleitete.

Miss Rogers, die auf dem Notsitz kauerte, schien mit jeder Meile, die sie zurücklegten, unruhiger zu werden. Abwechselnd runzelte sie die Stirn, biss sich auf die Lippen, verschränkte ihre Hände und löste sie wieder. Draußen begann es zu nieseln. Wenn Marianna sich nicht sehr täuschte, schimmerten auch die Augen ihrer Gesellschafterin feucht.

Als sie zum x-ten Mal durch einen unbekannten Weiler fuhren, bot sich den dreien beim Blick aus dem Fenster ein ernüchternder Anblick: Draußen auf der Straße befand sich ein niedriger hölzerner Pranger. Zwei Frauen steckten darin, mit den Knöcheln im Holzblock. Eine der beiden blickte finster und schrie den johlenden Passanten Flüche ins Gesicht. Die andere blickte in die Ferne – mit so viel Würde, wie ihre demütigende Situation zuließ. Marianna überlegte, wessen sich die beiden Frauen wohl schuldig gemacht hatten. Sie war betroffen, wie unterschiedlich sie die Folgen ihres Handelns trugen – was auch immer sie getan haben mochten. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Würde auch sie irgendwann die Folgen ihres Handelns tragen müssen? Sie schüttelte den unbequemen Gedanken ab. Ihr würde nichts geschehen. Es war nicht ihre Schuld – und nicht ihre Idee gewesen. Und immerhin war das Ganze jetzt schon zwei Jahre her, ohne dass etwas passiert war.

Etwas später hielten sie abermals an einem Gasthaus. Bisher waren sie vierspännig gefahren, immer gelenkt von wechselnden Kutschern auf dem Sattelpferd. Doch in dem Gasthaus, an dem sie jetzt hielten, standen ihnen nur zwei Pferde zur Verfügung, die noch dazu überhaupt nicht zusammenpassten. Der müde Kutscher verabschiedete sich; seinen Platz nahm ein eifriger junger Mann von vielleicht achtzehn oder zwanzig Jahren ein. Er baute den Vorkasten der Kutsche zu einem Kutschbock um und nahm die Zügel auf.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte Sir John, ohne die Straße hinter ihnen aus dem Blick zu lassen. »Das ist schon die letzte, kürzeste Etappe der Reise.«

Als sie den Hof des Gasthauses verließen, ging das Nieseln in einen stürmischen Regen über. Der Wind wurde mit jeder Meile stärker; die Kutsche schwankte bedenklich.

Als der Kutscher die Pferde seitlich an die Straße lenkte und hielt, war ihnen allen schwindelig. Er drehte sich auf dem Sitz um und blickte durch das Vorderfenster zu ihnen herein. Sir John öffnete die Sprechklappe, um sich anzuhören, was der junge Mann ihnen sagen wollte, doch Wind und Regen rissen ihm beinahe die Worte von den Lippen.

»Die Straßen sind sehr schlecht, Sir. Und der Sturm nimmt zu. Ich halte es nicht für ratsam weiterzufahren.«

»Komm schon, Junge, es kann doch nicht mehr weit sein.«

»Etwa drei Meilen.«

»Und kein Gasthaus mehr auf dem Weg?«

»Nein, Sir. Aber vielleicht lässt ein Bauer uns in einer Scheune unterkommen.«

»In einer Scheune – mit den Damen? Auf keinen Fall. Wir müssen weiter. Ich habe meine Gründe.«

»Aber Sir …«

»Es wird sich auch für dich lohnen.« Sir John reichte dem Mann eine kleine, prall gefüllte Börse durch die Klappe. »Noch einmal so viel, wenn du uns sicher ans Ziel bringst.«

Die Augen des jungen Mannes wurden groß. »Jawohl, Sir.« Er wischte sich den Regen aus dem Gesicht, ließ die Klappe zufallen und drehte sich nach vorn.

Marianna protestierte. »John, der Junge hat recht. Es ist töricht, weiterzufahren und uns alle in Lebensgefahr zu bringen.«

Plötzlich richtete sich Hannah auf. »Lassen Sie mich bitte aussteigen. Ich hätte nicht mitkommen dürfen. Es war ein Fehler.«

Marianna starrte sie überrascht an. Sir John ebenfalls.

»Ich muss zurück«, beharrte Hannah. Ihre Stimme klang verzweifelt.

Sir John presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und schüttelte den Kopf. »Wir fahren nicht zurück.«

»Ich weiß – ich finde schon eine Möglichkeit. Lassen Sie mich einfach aussteigen.«

Sie erhob sich und beugte sich zum Schlag hinunter, doch er hinderte sie mit ausgestrecktem Arm daran, ihn zu öffnen.

»Ich kann Sie nicht guten Gewissens aussteigen lassen«, sagte er. »Nicht auf dieser einsamen Straße in einem solchen Sturm.«

»Hannah«, bat Marianna. »Du hast doch zugestimmt mitzukommen. Ich brauche dich.«

»Aber ich muss …«

Da knallte der Kutscher mit der Peitsche, die Pferde zogen an, die Kutsche setzte sich in Bewegung. Zu Mariannas Erleichterung hatte ihre Gesellschafterin die Chance verpasst, sie zum zweiten Mal sitzenzulassen.

Hannah traten Tränen in die Augen und rollten ihr über die eingefallenen Wangen.

»Siehst du, was du getan hast, John?«, warf Marianna ihrem Mann vor. »Du hast sie verletzt. Die einzige Freundin, die ich auf der Welt habe, und du hast sie verletzt.« Und trotzig fügte sie hinzu: »Es wird nicht funktionieren. Er wird mich finden.«

Sir John presste die Lippen zusammen und starrte geradeaus, obwohl durch das Vorderfenster wegen des flatternden Mantels des Kutschers so gut wie nichts zu sehen war. Marianna sah zu Hannah hinüber, doch die hatte ihr Gesicht abgewandt, um ihre Tränen zu verbergen.

Sie überlegte, was die junge Frau, die früher immer so gelassen und selbstbeherrscht war, wohl so erregt hatte. Doch dann dachte sie auch schon wieder an ihre eigenen Probleme. Sie drehte sich zum Fenster und starrte hinaus in den strömenden Regen, auf den unkrautbewachsenen Rand zwischen der Straße und der steilen Küstenlinie und die gelegentlichen Ausblicke auf den Bristolkanal dahinter. Er wird mich finden, tröstete sie sich. Er hat mich noch jedes Mal gefunden.

Doch Sir John hatte diesmal sehr viele Vorsichtsmaßnahmen getroffen und wirkte entschlossener denn je. Nun, sie war noch entschlossener. Die Dinge hatten sich geändert – sie musste jetzt an ihr Kind denken. Sie würde dieses Kind sehr viel mehr lieben, als ihr eigener Vater sie geliebt hatte. Bei diesem Gedanken wurde ihr schwer ums Herz. Wenn sie doch nur eine Möglichkeit hätte finden können, Anthony eine Nachricht zukommen zu lassen. Doch es war zu spät.

Plötzlich verloren die Wagenräder den Halt auf dem schlammigen Untergrund und schlitterten über die Straße wie über Eis. Die Kutsche schlingerte. Die Pferde wieherten. Marianna schrie auf.

Hannah schrie ebenfalls: »Allmächtiger Gott, hilf uns! Beschütze ihn!«

Die Kutsche neigte sich zur Seite. Ein Peitschenknall, ein lautes Wiehern, sie schienen zu fliegen. Dann fielen sie. Sie stürzten über die Böschung, den Abhang hinunter, auf den Kanal zu. Ein heftiger Aufprall erschütterte ihren ganzen Körper und betäubte ihre Sinne. Ein Rad trudelte am Fenster vorbei. Und weiter wirbelten sie durch die Luft, bis die Kutsche auf die Felsen prallte und sich wiederholt überschlug, bis Hannah jede Orientierung verloren hatte. Die ganze Welt war ein einziges Chaos. Dann kam ein zweiter Aufprall.

Und dann Schwärze.

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Kapitel 2

Schmerz. Kälte. Ein Gewicht, das sie zu erdrücken drohte. Sie rang nach Luft …

Es gelang ihr, die Augen ein paar Millimeter zu öffnen. Sie sah farbige Blitze, Licht, wie durch ein Prisma gebrochen. Gelb-weiße Sonne. Blaues Wasser. Wasser? Etwas Rotes blitzte auf. Dann wieder Blau. Ein Hauch Purpur und Gold. Verwirrung. Eine Hand in der ihren, ganz kurz nur, wieder verschwunden. Metall, das in ihre Finger biss.

Warum kann ich nicht aus diesem Traum aufwachen?

So kalt. So schwer. Alles wurde wieder dunkel.

»Hallo? Hören Sie mich?«

Die Stimme eines Mannes. Ich muss dieses Gewicht loswerden. Sie rang verzweifelt nach Luft, atmete in schnellen, flachen Zügen.

»Lady Mayfield? Können Sie mich hören?«

Ihre Augen öffneten sich flatternd. Sie sah verschwommene Gesichter. Alles war verwirrend. Warum befand sich das Seitenfenster über ihr?

»Es ist alles in Ordnung. Wir helfen Ihnen. Ich bin Arzt. Dr. Parrish.« Der Mann nickte zu dem jüngeren Gesicht hinüber, das neben ihm schwebte. »Mein Sohn Edgar. Wir holen Sie und Ihren Mann hier heraus.«

Ihren Mann … Sie blickte an sich hinunter und sah, dass der schlaffe Körper Sir Johns quer über ihr lag. Lebendig oder tot? Sein Hut tanzte träge auf dem Wasser, mit dem die untere Hälfte der Kutsche angefüllt war. Seine Beine waren gespreizt, das eine in einem unnatürlichen Winkel gebeugt.

Sie waren nur noch zu zweit in dem Ding, das einmal eine Kutsche gewesen war. Wo befand sie sich? Sie wollte den Kopf drehen, doch ein heftiger Schmerz verhinderte das. Sie konnte ihn ohnehin kaum bewegen, weil sie festgeklemmt war. Durch das gähnende Loch an der Stelle, wo sich einst das Dach befunden hatte, blickte sie auf die schwere See des Kanals.

Der jüngere Mann über ihr folgte ihrem Blick. Er deutete auf etwas. »Pa, sieh mal. Ist da noch jemand, dort draußen?«

Der ältere Mann blinzelte. »Ich weiß nicht. Es ist zu weit weg.«

Doch sie wusste es. Ein roter Mantel schwamm auf der Flut; er zog die Gestalt, die er verhüllte, vom Ufer fort.

Der ältere Mann sah sie wieder an. »War noch jemand bei Ihnen?«

Sie nickte und spürte einen brennenden Schmerz, als bohrte ihr jemand Nadeln in den Kopf.

Der Mann nahm in ehrfürchtigem Schrecken den Hut ab. »Es ist zu weit, um hinterherzuschwimmen – selbst wenn wir schwimmen könnten.«

In ihren Ohren dröhnte es. Das konnte nicht sein.

»Eine Bedienstete?«, fragte er.

Eine Gesellschafterin steht höher als ein Dienstbote, dachte sie. Sie ist eine Dame. Sie öffnete den Mund, wollte es erklären, doch es kam kein Laut heraus. Ihr Hirn und ihre Zunge schienen keine Verbindung zu haben. Sie presste eine Hand auf ihre schmerzende Brust und nickte abermals.

»Wir können nichts mehr für sie tun. Es tut mir so leid. Aber jetzt wollen wir Sie hier herausholen.«

Vor ihren Augen stieg Dunkelheit auf, und sie versank in ihr.

Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, schwebte dasselbe Gesicht über ihr, näher diesmal. Es war das ältere Gesicht, das sich über sie beugte, doch der Mann sah ihr nicht in die Augen, sondern betrachtete eine Stelle weiter unten. Wer war er? Er hatte ihr seinen Namen gesagt, doch sie hatte ihn vergessen. Sie konnte nicht viel vom Zimmer sehen, ohne ihren Kopf zu bewegen; auf jeden Fall war es ihr unbekannt. Wo war sie? Wie lange war sie schon hier? Ihr Kopf fühlte sich träge an, benebelt; sie war sich ihrer selbst kaum bewusst.

»Sie öffnet die Augen«, sagte die Stimme einer Frau – eine Stimme, die sie nicht kannte.

Sie versuchte, der Stimme den Kopf zuzudrehen, doch der Schmerz, der sie dabei durchfuhr, war so stark, dass sie einen Moment lang nichts mehr sah.

Die Stimme des Mannes drängte: »Mylady? Wie fühlen Sie sich?«

»Sie hat Schmerzen, George«, tadelte die Frau. »Das kann sogar ich sehen.«

Sie öffnete den Mund, versuchte zu sprechen. »Er … lag …«

Er nahm ihre Hand und sah sie besorgt an. »Sir John ist schwer verletzt, Mylady. Aber er lebt, also besteht Hoffnung. Überlassen Sie ihn mir, ja? Machen Sie sich keine Sorgen. Sie haben selbst schwere Verletzungen, aber Sie werden wieder gesund werden.«

»Der … der …?«

Er verzog das Gesicht, als hätte er sie verstanden. »Ich fürchte, der Kutscher ist tot. Die Leinen sind gerissen, als die Kutsche umstürzte, und die Pferde konnten sich befreien. Der junge Mann hatte nicht so viel Glück.«

Sie schloss die Augen. Armer Mann, dachte sie. Aber eigentlich hatte sie keinerlei Erinnerung an ihn.

»Es ist nicht Ihre Schuld, Mylady. Sie dürfen sich nicht aufregen.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben die Pferde wegrennen gesehen mit schleifenden Leinen; nur deshalb haben wir nach der Kutsche gesucht. Das Wappen hat uns dann Ihre Identität verraten, aber natürlich hatten wir Sie auch erwartet.« Er tätschelte ihre Hand. »So, und jetzt ruhen Sie sich aus. Mrs Parrish und ich kümmern uns um Sie und Ihren Gatten.«

Gatte … Sie schloss die Augen und schob den unangenehmen Gedanken fort.

Sie lag da, ab und zu kam sie zu nebelhaftem Bewusstsein und glitt wieder zurück in die Ohnmacht. Der freundliche Arzt hatte ihr Laudanum gegen die Schmerzen gegeben. Ein gebrochener Arm, hatte er gesagt. Und eine Kopfverletzung – ein Schnitt und eine Gehirnerschütterung. Ab und zu hob jemand sanft ihren Kopf an und gab ihr einen Schluck Wasser oder Brühe zu trinken, doch sie hatte keinerlei Zeitgefühl.

Die Stimme der Frau sagte: »Sir John ist sehr schwer verletzt, es würde mich wundern, wenn er die Woche übersteht.«

Eine zweite Frauenstimme antwortete: »Schhhhh! Sie kann dich hören!«

Trotz der Distanz zwischen ihnen hatte sie ihm ein solches Unglück nicht gewünscht. Armer Sir John, dachte sie.

Sie lag mit geschlossenen Augen da und versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern. Ihre Gedanken wanderten langsam zurück, bis ein paar vereinzelte Bilder vor ihrem geistigen Auge auftauchten …

Sir John, der einen Schürhaken packte und frustriert auf ein Holzscheit einhieb. Sir John, der sie mit zusammengepressten Lippen ansah. »Ich will eine Frau, die mir treu ist. Ist das zu viel verlangt?«

Ein anderes Bild. Sein sonst strenges Gesicht blickte weich und ruhig und stand vor ihrem geistigen Auge wie ein Porträt, eine mit dem Pinsel eingefangene, von Spinnweben überzogene Erinnerung. Ein gut aussehendes Gesicht, falls sie ihrer Erinnerung glauben konnte. Graublaue Augen und klare, männliche Züge, umrahmt von hellbraunem Haar …

Sie hatte ihn einst bewundert, erinnerte sie sich. Was hatte sich zwischen ihnen geändert? Waren sie je glücklich gewesen?

Sie versuchte, sich an ihr früheres Leben zu erinnern – woher sie gekommen waren. Bath, dachte sie. Und davor Bristol. Sie erinnerte sich vage, wie Sir John verkündet hatte, dass sie nach Bath ziehen würden. Sie wusste noch, dass sie hin- und hergerissen gewesen war. Sollte sie seinen Wünschen gehorchen? Sollte sie gehen?

Sie hatte es nicht gewollt, doch schließlich hatte er beide mitgenommen, seine Frau und ihre Gesellschafterin. So, wie er sie auch beide auf diese Reise mitgenommen hatte. Ja, sie erinnerte sich an Bath, an das hübsche Haus am Camden Place. Und an das hässliche Haus in der trostlosen Trim Street. Trim Street? Was um Himmels willen hatte sie dorthin geführt …? Sie verzog das Gesicht, versuchte nachzudenken. Doch die Erinnerung entfloh ihr.

Sie hatte wohl einen Laut der Erregung ausgestoßen, denn eine freundliche Frauenstimme beschwichtigte sie: »Aber, aber. Es ist alles in Ordnung. Sie sind in Sicherheit.« Eine sanfte Hand hob ihren Kopf an. »Trinken Sie …«

Ein Tassenrand berührte ihre Lippen, sie nahm einen Schluck.

»So«, sagte die Frau. »Sehr schön, meine Liebe.«

Die warme Brühe beruhigte ihre schmerzende Kehle. Die warmen Worte beruhigten ihre verwirrte Seele.

Sie wusste, dass es ein Traum war, doch sie konnte nicht aufwachen. Sie träumte, sie hätte ein hilfloses Kind in einem Korb am Bristolkanal zurückgelassen. Sie hatte es holen wollen, doch sie lag da wie gelähmt und konnte sich nicht bewegen. Die Flut kam. Näher und näher; jetzt leckte sie bereits am Korbrand. Eine Hand streckte sich danach aus – eine Frauenhand. Doch die Frau war im Wasser, die Flut nahm sie mit sich, das vollgesogene Kleid und der schwere Mantel zogen sie nach unten.

Sie griff nach der Hand der Frau, wollte sie retten, doch die nassen Finger entglitten ihr. Dann fiel ihr wieder das Kind ein. Sie drehte sich um, aber es war zu spät. Der Korb glitt bereits hinaus auf das Meer …

Sie schnappte nach Luft, fuhr hoch und öffnete die Augen. Verwundert sah sie sich um. Das Bett mit dem Baldachin war nicht ihres. Den Frisiertisch mit dem Spitzendeckchen kannte sie ebenfalls nicht.

Sie schloss die Augen und versuchte nachzudenken. Wo war sie? Was war geschehen? Der Unfall mit der Kutsche – das war es. Sie waren nicht mehr in Bath. Und auch nicht in Bristol. Irgendwo im Westen, vermutete sie, aber sie hatte keine Ahnung, wo. Was stimmte nicht mit ihr? Warum konnte sie sich an nichts erinnern? Es fühlte sich an, als läge eine warme, dunkle Decke über ihrem Verstand, die jede Erinnerung und jedes klare Denken unmöglich machte.

Doch eines wusste sie, eines wurde ihr plötzlich mit Schrecken klar. Sie vergaß etwas. Etwas sehr Wichtiges.

Die Tür ging auf, und die freundliche Frau kam herein, eine Schüssel mit Wasser und ein paar Tücher in der Hand. »Guten Morgen, Mylady«, begrüßte sie sie warmherzig. Sie stellte die Schüssel auf das Nachttischchen, dann trat sie an den Waschtisch, um die Seife zu holen.

»Guten Morgen, Mrs … es tut mir leid, ich habe Ihren Namen vergessen.«

»Das ist schon in Ordnung, Mylady. Ich vergesse auch immer alle Namen. Ich bin Mrs Turrill.«

Die nette Frau musste, nach den vielen Linien und Falten in ihrem langen sympathischen Gesicht zu schließen, um die sechzig sein. Ihr Haar war noch braun, doch um die Taille war sie sehr viel fülliger, als eine junge Frau es gewesen wäre.

Mrs Turrill half ihr, sich das Gesicht und die Hände zu waschen und die Zähne zu putzen. Dann öffnete sie eine Schublade der Frisierkommode und holte ein frisches Nachthemd und einen leichten Morgenrock heraus.

»Was für ein Segen, dass Ihre Kleider verschont geblieben sind. Ihr Koffer muss hinausgeschleudert worden sein.«

Noch eine Erinnerung. Koffer und Reisetaschen, auf dem Rücksitz festgebunden. »Ja …«, murmelte sie.

»Es dauert nicht mehr lange. In ein paar Tagen dürfen Sie aufstehen und wieder Ihre hübschen Sachen anziehen.« Die Haushälterin hob das Mieder eines blauen Satinkleids an. »Das hier gefällt mir sehr. Es sieht ganz neu aus.«

War es neu? Es musste neu sein, sie konnte sich nicht erinnern, es je gesehen zu haben.

»Und hier ist ein hübsches Tageskleid.« Die Haushälterin schüttelte ein zweckmäßiges Musselinkleid aus und betrachtete den Ausschnitt. »Da fehlt ein Knopf. Ich bin nicht besonders geschickt mit der Nähnadel, aber das kann ich reparieren.«

Das Tageskleid in blassem Rosé war ihr vertrauter. Erleichtert erkannte sie es. Sie hatte ihre Erinnerung also nicht gänzlich verloren.

Sie hob eine Hand, um sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen, und hielt abrupt inne, als sie den Ring an ihrem Finger sah. Sie starrte die Hand an, als sei sie ein anderes Wesen – die Hand einer anderen. Ein schmales Goldband mit Amethysten und tief dunkelblauen Saphiren schimmerte daran. Sie erkannte den Ring sofort und seufzte erleichtert auf. Offenbar kam ihre Erinnerung zurück.

Doch dann legte sich auch schon wieder der schwere Schatten über sie. Die nagende Furcht. Ihre Erinnerung kam zwar zurück, doch sie vergaß etwas. Etwas sehr viel Wichtigeres als ein Kleid oder einen Ring.

Am Vormittag kam der freundliche Arzt vorbei und fand sie vor, wie sie ihren Ring betrachtete.

»Den hätten Sie beinahe verloren«, sagte er. »Sie hielten ihn in der Hand, fest umklammert. Ich habe ihn Ihnen selbst wieder an den Finger gesteckt.«

Sie zögerte. »Oh. Ich – ich danke Ihnen.«

Er sah sie an. »Wie geht es Ihnen?«

»Ich bin noch ganz verwirrt.«

»Das ist kein Wunder, Mylady. Sie hatten einen Schock. Und die Gehirnerschütterung, die Sie erlitten haben, kann durchaus dazu führen, dass Sie ein paar Tage lang etwas durcheinander sind.«

Vielleicht war das die Erklärung für ihre wirren Gedanken und verworrenen Erinnerungen. Seine Ruhe nahm ihr etwas von ihrer Angst. Sie sah sich in dem sonnigen Zimmer um und fragte: »Wo bin ich?«

»In Clifton House, zwischen Countisbury und Lynton in Devonshire. «

Devonshire? Hatte sie gewusst, dass er so weit fort wollte? Der Name ›Clifton‹ sagte ihr nichts. Sie fragte: »Ist dies Ihr Haus?«

»Gute Güte, nein! Es ist Ihr Haus. Gehört Ihrer Familie schon seit Ewigkeiten, auch wenn Sir John nie hier gelebt hat. Mein Sohn schaut nach dem Anwesen, seit die letzten Pächter letztes Jahr fortgezogen sind.«

»Ich … verstehe«, murmelte sie, obwohl sie überhaupt nichts verstand.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Mylady. Ihre Erinnerung wird wiederkommen.« Er rieb sich die Hände und strahlte sie an. »Gut. Jetzt wollen Sie wahrscheinlich Ihren Mann sehen.«

Das Lächeln, das schon auf ihre Lippen getreten war, erlosch. Nein, sie wollte ihn nicht sehen. Im Gegenteil, der Gedanke erfüllte sie mit Unbehagen. »Ich … ich weiß nicht«, meinte sie ausweichend.

»Ich verstehe schon. Aber er sieht gar nicht so schlimm aus. Ein paar Beulen und Schnitte im Gesicht, am Kopf und an den Händen, aber die meisten Verletzungen sind innerlich.«

Zögerte sie nur, weil sie seine Verletzungen nicht sehen wollte, oder hatte sie andere Gründe? Sir John hatte ihr doch nie wehgetan, oder? Warum hatte sie dann Angst?

Der Arzt nahm ihren gesunden Arm und half ihr aufzustehen. Der Raum drehte sich um sie und verschwamm vor ihren Augen. Sie lehnte sich Halt suchend an ihn.

»Schwindelig?«

»Ja«, keuchte sie.

Mrs Turrill, das Nähkörbchen in der Hand, kam herein und schnalzte missbilligend. »Sie kann noch nicht aufstehen, Doktor.«

»Das sehe ich. Ich wollte ihr nur über den Flur helfen, damit sie Sir John sehen kann. Aber ich glaube, wir warten besser noch ein oder zwei Tage.«

»Das würde ich auch sagen. Außerdem möchte ich sie kämmen und richtig anziehen, bevor sie zu ihm geht.«

»Ich fürchte, das wird er in seinem gegenwärtigen Zustand gar nicht wahrnehmen.«

»Vielleicht nicht«, antwortete sie. »Aber eine Frau möchte sich hübsch fühlen, wenn sie zu dem Mann geht, den sie liebt.«

Zusammen halfen sie ihr, sich wieder hinzulegen.

Sie wusste, dass sie von Sir John sprachen, doch vor ihrem inneren Auge stand ein anderes Gesicht. Sie kuschelte sich in die Bettdecke, schob die Gedanken an Sir John fort und versuchte, die schwache Erinnerung an leuchtend blaue Augen und ein liebevolles Lächeln zurückzuholen. Doch andere Bilder schoben dieses Gesicht beiseite – ein roter Mantel, der auf dem Wasser schwamm, eine Hand, die ihr entglitt – hatte sie das nur geträumt oder erinnerte sie sich an etwas, das tatsächlich geschehen war?

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Kapitel 3

Am folgenden Nachmittag kam Dr. Parrish in ihr Zimmer und setzte sich an ihr Bett. »Und wie fühlen Sie sich heute, Mylady?«

»Besser, glaube ich.«

»Werden Sie auch gut betreut?«

Sie nickte. »Mrs Turrill ist überaus freundlich.«

Er strahlte sie an. »Das freut mich zu hören. Sally Turrill ist meine Cousine; ich habe sie selbst für die Stelle empfohlen. Es waren durchaus nicht alle glücklich über meine Wahl.«

»Ich bin froh, dass Sie sie ausgewählt haben.«

»Sie wissen gar nicht, wie sehr mich das freut. Männer behalten nun einmal gerne recht, wissen Sie?« Er zwinkerte ihr zu. Dann erzählte er ihr, dass Mrs Turrill alles für ihre Ankunft vorbereitet und sich nach dem Unfall erboten habe, neben den Pflichten der Köchin und Haushälterin zusätzlich die einer Pflegerin und Zofe für sie zu übernehmen.

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