Die Pension am Meer - Julie Klassen - E-Book
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Die Pension am Meer E-Book

Julie Klassen

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Beschreibung

Als der Tod ihres Vaters sie verarmt zurücklässt, überredet Sarah Summers ihre Schwestern, ihr Haus an der Küste von Devonshire für Gäste zu öffnen, um ihre kranke Mutter zu versorgen. Die vier Schwestern sind fest entschlossen zusammenzuhalten und beginnen gemeinsam das neue Unternehmen. Bald übernachten die unterschiedlichsten Gäste bei ihnen in der Pension. Und für jede der Schwestern beginnt eine ganz eigene Geschichte: Georgiana wird sich den gesellschaftlichen Konventionen nicht so einfach fügen, Emily bezaubert alle mit ihrem Charme, Sarah lernt einen mysteriösen, schottischen Witwer kennen und Violas innere Narben beginnen zu heilen, auch wenn die äußeren bleiben. Eine bezaubernde Geschichte, die zeigt, dass Neuanfänge immer möglich sind.

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JULIE KLASSEN

Die Pension am Meer

Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Naumann

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,die sich für die Förderung und Verbreitung christlicherBücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7627-9 (E-Book)ISBN 978-3-7751-6204-3 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Satz & Medien Wieser, Aachen

© der deutschen Ausgabe 2024SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbHMax-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: The Sisters of Sea View© Copyright 2022 by Julie KlassenOriginally published in English by Bethany House Publishers, a division ofBaker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.All rights reserved.

Cover design by Jennifer Parker.Cover photography by Todd Hafermann Photography, Inc.Foto Victorian Bathing Machine by Mal Bray.Stadtplan von Old Sidmouth by Bek Cruddace Cartography & Illustration.Die Zitate sind folgenden Quellen entnommen:Kap. 13: Gilbert White, Natural History and Antiquities of Selborne.London: MacMillan and Co., 1875), S. 70, 231f. (überarbeitet);Kap. 27: Maria Edgeworth: Belinda. London: MacMillan and Co., 1896, S. 67f.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.Übersetzung: Susanne NaumannUmschlaggestaltung: Stephan Schulze, HolzgerlingenSatz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Sidmouth ist berühmt für sein mildes Klima. Es bekommt mir sehr gut.

Mein Husten ist praktisch verschwunden und ich werde jeden Tag dicker und kräftiger.

Elizabeth Barrett (Browning)

Überschütte uns schon am Morgen mit deiner Gnade, dann werden wir singen und fröhlich sein bis ans Ende unserer Tage.

Psalm 90,14

Die Aussicht, zukünftig den Sommer an der See (…) zu verbringen, ist reizend.

Jane Austen

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Nachbemerkung der Verfasserin

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

JULIE KLASSEN arbeitete sechzehn Jahre lang als Lektorin für Belletristik. Mittlerweile hat sie zahlreiche Romane aus der Zeit von Jane Austen geschrieben, von denen drei den begehrten »Christy Award« gewannen. Abgesehen vom Schreiben, liebt Klassen das Reisen und Wandern. Um für diesen Roman zu recherchieren, ist sie selbst nach Sidmouth in Devonshire gereist. Mit ihrem Mann und zwei Söhnen lebt sie in Minnesota, USA.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über das Buch

Manche Gäste kommen, um Urlaub zu machen, andere aus geheimnisvollen Gründen …

Als der Tod ihres Vaters sie verarmt zurücklässt, überredet Sarah Summers ihre Schwestern, ihr Haus an der Küste von Devonshire für Gäste zu öffnen, um die kranke Mutter versorgen zu können. Die vier Schwestern sind fest entschlossen zusammenzuhalten und beginnen gemeinsam das neue Unternehmen. Bald übernachten die unterschiedlichsten Gäste bei ihnen in der Pension. Und für jede der Schwestern beginnt eine ganz eigene Geschichte: Georgiana wird sich den gesellschaftlichen Konventionen nicht so einfach fügen, Emily bezaubert alle mit ihrem Charme, Sarah lernt einen mysteriösen, schottischen Witwer kennen und Violas innere Narben beginnen zu heilen, auch wenn die äußeren bleiben.

Eine bezaubernde Geschichte, die zeigt, dass Neuanfänge immer möglich sind.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1

Heile du mich, Herr, dann werde ich gesund, hilf du mir,dann ist mir geholfen. Ich preise nur dich allein.

Jeremia 17,14

April 1819

Sarah Summers nahm das Familienerbstück behutsam in die Hand. Sie wurde von einem warmen Mantel wehmütiger Erinnerung eingehüllt. Der goldgeränderte Porzellanteller zeigte ein buntes Bild dreier Mädchen in chinesischer Kleidung, die dicht beieinandersaßen und einem vierten Mädchen zuhörten, das ihnen vorlas. Ihr Vater hatte den Teller einst ihrer Mutter geschenkt.

Sie strich leicht mit dem Finger über die Gestalten. Dabei bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Als sie einen kleinen Staubfleck entdeckte, zog sie ein Taschentuch aus dem Ärmel und fing an, den Teller blank zu reiben.

In diesem Moment platzten ihre Schwestern herein. Sie trugen Kleider, die ebenso unterschiedlich waren wie ihr Temperament.

»Sarah, sag Vi, dass sie mir meinen Strohhut zurückgeben soll!«

Viola schnaubte. »Er gehört dir ja gar nicht. Er hat …«

Sarah merkte, dass Viola drauf und dran war, den verbotenen Namen auszusprechen, und ihr Herz machte einen Satz, der sie förmlich zusammenzucken ließ – und das war das Ende ihres geliebten Tellers! Er glitt ihr aus der Hand und zerbarst auf dem Boden in, wie ihr schien, tausend Scherben.

Oh nein! Sarah ging auf die Knie und suchte in heller Panik die Scherben zusammen. Was war sie doch für ein Tollpatsch! In ihrem Bombasinkleid rutschte sie auf den Knien herum, um auch noch das letzte Fragment aufzulesen.

Ob man die zerbrochenen Stücke wohl wieder zusammensetzen konnte?

Emily, die neben ihr stand, schalt ihre Zwillingsschwester: »Sieh nur, was du angerichtet hast!«

Sarah murmelte: »Es ist nicht ihre Schuld.«

Emily grollte: »Natürlich. Viola ist nie an irgendwas schuld. Sie kann tun, was sie will, und wir anderen sollen sie immer nur bedauern.«

»Das reicht jetzt. Autsch!« Sarah hatte sich geschnitten. Sie hob den verletzten Finger an die Lippen und schmeckte Blut. »Könntet ihr beide bitte gehen und irgendetwas Nützliches tun, während ich hier sauber mache?«

Emily schnaubte erneut, drehte sich um und verließ das Zimmer in einem Geflatter aus blassem Musselinstoff. Viola folgte ihr.

Ihre jüngeren Schwestern hatten die Trauerkleidung letztes Jahr abgelegt. Doch Sarah betrauerte mehr als einen Verlust. Sie trug jetzt seit über zwei Jahren ihre schwarze Trauerkleidung, obwohl sie nie verheiratet gewesen war und ihr Vater nun schon fast ein Jahr tot war.

Sie legte die Scherben vorsichtig in eine Handschuhschachtel. Irgendwann würde sie sie wieder zusammenfügen und kleben. Die meisten Fragmente waren ziemlich groß, bis auf … oh nein! Drei Stücken waren praktisch zerbröselt.

Der traurige Anblick tat weh. Er war eine grausame Erinnerung daran, dass ihre Familie nie wieder wie früher sein würde.

Sie holte einen Besen und fegte den restlichen Staub zusammen. Dann machte sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter, um ihr das Missgeschick zu beichten.

Sie fand sie wie gewöhnlich in ihrem Zimmer, auf einem französischen Schlafsofa mit Baldachin, gestützt von mehreren Kissen, sodass sie in halb sitzender Stellung ruhte. Heute war sie ausnahmsweise vollständig angekleidet, in ein Gewand aus schwarzem Krepp.

»Es tut mir so leid, Mama. Mir ist etwas ganz Dummes passiert, ich war so ungeschickt!«

»Worüber regst du dich denn so auf?«

»Ich habe deinen Teller zerbrochen.«

»Meinen Teller? Welchen?«

»Den aus chinesischem Porzellan, mit den vier Mädchen.«

Sarah legte ihr die Schachtel auf den Schoß. Die sanften Augen ihrer Mutter trübten sich, als sie den Inhalt sah. »Oh wie schade.« Zögernd nahm sie eine Scherbe in die Hand.

»Vorsichtig!«, mahnte Sarah. »Ich habe mich schon geschnitten.«

Ihre Mutter schien es nicht gehört zu haben. »Dein Vater war so stolz darauf. Er hat ihn in einem Geschäft in der Bond Street gefunden. Er sagte, sie erinnerten ihn an unsere vier Mädchen – das war natürlich, bevor Georgiana kam. Er bestand darauf, dass wir ihn im Wohnzimmer aufstellten, obwohl er überhaupt nicht zum Mobiliar passte.« Sie schüttelte den Kopf, ein leichtes Lächeln trat auf ihre Lippen. »Er war so ein sentimentaler Schatz … damals.«

Sarahs Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. »Ja.«

Ihr früher so liebenswürdiger Vater war in den beiden letzten Monaten seines Lebens zornig und verbittert geworden. Auch das war ihr Fehler, jedenfalls teilweise.

»Wie furchtbar schade.« Ihre Mutter legte die Scherben seufzend zurück in die Schachtel. »Du hast ihn geliebt, ich weiß.«

»Ja, aber dir hat er doch auch so viel bedeutet.«

Eugenia Summers sah zu ihr auf. »Ja, ich mochte ihn sehr, weil dein Vater ihn mir geschenkt hat. Aber mir bricht nicht das Herz über seinem Verlust, und deines sollte ebenfalls nicht brechen.«

»Danke, Mama. Du bist sehr freundlich.«

»Und du, mein liebes Mädchen, lädst dir viel zu viel auf. Das hast du schon immer getan. Vor allem, seit … aber davon wollen wir jetzt nicht reden.« Mama zwang sich zu einem Lächeln und wechselte das Thema. »Mr Alford wird jeden Moment kommen, nicht wahr?«

»Ja. Der Tee ist gleich fertig. Ich hoffe, er bringt gute Nachrichten.«

Mama drückte ihre Hand. »Leider, meine Liebe, bezweifle ich das.«

Nach Papas Tod war ihr Anwesen, das an die männliche Erbfolge gebunden war, an einen Verwandten gefallen, den sie kaum kannten.

Zum Glück hatte ihr Vater dieses Haus von Geld gekauft, das von einem Onkel mütterlicherseits stammte. Deshalb war Sea View nicht an den männlichen Erben gefallen und ihr Vater hatte es in seinem Testament seiner Gattin vermachen können. Darüber hinaus hatte er ihr ein Wittum hinterlassen, dessen Einzelheiten sie allerdings noch nicht kannten. Sie hofften aber, dass es ausreichte, ihnen allen ein, wenn auch bescheidenes, Auskommen zu sichern.

Seit sie vor sechs Monaten nach Sidmouth gezogen waren, hatten sie ihre sämtlichen Ausgaben von Mamas Kleider- und Nadelgeld bestritten, von dem sie seit Jahren kleinere Beträge zurückgelegt hatte. Doch dieser Notgroschen war schon stark zusammengeschmolzen.

Sarah sah sich im Zimmer ihrer Mutter um. »Soll ich ein paar Stühle holen oder …?«

»Nein, wir empfangen ihn im Wohnzimmer. Ich glaube, das schaffe ich. Er soll nicht sehen, wie schwach ich geworden bin.«

»Gut.« Sarah ging in den Salon neben dem Zimmer ihrer Mutter, stellte die Handschuhschachtel auf ihren Arbeitstisch und ging dann hinunter, um das Teetablett zu holen.

Während sie den Tee aufbrühte, bereitete die Köchin einen Teller mit Johannisbeertörtchen vor und stellte ihn auf das Tablett. »Die habe ich selbst gebacken. Der Bäcker ist meiner Ansicht nach viel zu teuer.«

Sarah begutachtete den Teller. Die dünne Glasur konnte die verbrannten Ränder der recht schief geratenen Küchlein nicht verbergen. Das Backen hatte noch nie zu Mrs Besleys Stärken gehört, doch ihr Gast würde damit vorliebnehmen müssen.

Sie dankte der Köchin und ging wieder hinauf ins Erdgeschoss. Dort halfen sie und Viola ihrer Mutter ins Wohnzimmer und gleich darauf traf auch schon der Anwalt der Familie, Nigel Alford, ein. Sie hatten den Mann nach dem Tod ihres Vaters kurz kennengelernt, doch dies war sein erster Besuch in Sea View.

Emily und Georgiana kamen ebenfalls in den Salon. Sarah schenkte Tee ein, Emily reichte den Teller mit den Törtchen herum. Der Anwalt kostete, verzog das Gesicht und legte das Gebäck wieder hin.

Er trank einen Schluck Tee, räusperte sich und wandte sich dann an die Witwe seines ehemaligen Klienten.

»Der letzte Wille Ihres Mannes wurde bestätigt. Der größte Teil des Besitzes fällt wie erwartet an den Erben. Nachdem ich die ausstehenden Schulden beglichen habe, muss ich Ihnen leider sagen, dass Ihre finanzielle Situation alles andere als rosig aussieht.« Er konzentrierte sich auf ihre Mutter, als seien die Mädchen gar nicht da. »Das Wittum aus dem Ehevertrag besteht aus einer Jahresrente, deren Zinsen Ihnen jährlich ausgezahlt werden. Leider reichen sie für den Lebensunterhalt einer so großen Familie nicht aus. Ich schlage deshalb vor, dass Sie das Haus verkaufen, da Sie es ohnehin nicht mehr lange unterhalten können.«

»W-wir werden uns einschränken«, unterbrach Sarah ihn. Dabei hörte sie selbst, wie verzweifelt sie klang. »Wir können sparen.«

Er runzelte die Stirn. »Ich bezweifle, dass Sie schon allein die Steuern bezahlen können, ganz zu schweigen von den anderen Kosten, ganz gleich, wie sparsam Sie leben.«

Sie konnte nicht glauben, was sie hörte. »Wo sollen wir denn leben, wenn wir das Haus verkaufen?«

Er zuckte die Achseln. »Sie könnten ein paar Zimmer mieten. Das wäre sehr viel billiger als ein großes Haus wie dieses.«

Sarah fuhr auf. »Wir sind zu fünft, Mr Alford, unsere treuen Dienstboten nicht mitgerechnet. Jessie ist jung und kann leicht eine andere Arbeit finden, aber unsere Köchin und unser Diener sind zu alt, um sich eine andere Anstellung zu suchen.«

Jetzt endlich sah er die Schwestern an, musterte eine nach der anderen. »Dann sollten die Damen vielleicht in Erwägung ziehen, selbst eine Arbeit anzunehmen. Natürlich eine, die Ihrem Stand und Ihrer Erziehung geziemt. Als Gouvernante zum Beispiel.«

»Das wäre entsetzlich«, widersprach Mama. »Ganz bestimmt können Sie das nicht nachempfinden. Sie hatten vermutlich nie eine geliebte Tochter oder Schwester, die sich in einer solchen Situation befand. In einer elenden, einsamen Stellung, gesellschaftlich geächtet, ohne Anschluss an die Familie, angewiesen auf die Gesellschaft von ein paar verzogenen Kindern.«

Der Anwalt blinzelte, sein Adamsapfel in dem faltigen Hals hüpfte nervös auf und ab. »Nein, ich … nun ja, es war ja nur ein Vorschlag.«

Sarah sagte: »Wir möchten gern zusammenbleiben, Sir. Wenn das möglich ist.«

Er nickte ernst. »Ich verstehe. Aber Wünsche werden nicht immer wahr.« Dann stand er auf, um sich zu verabschieden. »Bitte, denken Sie über meinen Rat nach und teilen Sie mir mit, ob ich Ihnen behilflich sein soll, das Haus zu verkaufen.«

Hatte er ihr überhaupt zugehört? Eines war klar: Dieser Mann würde ihnen nicht helfen können. Wenn sie zusammenbleiben wollten, musste sie ganz allein einen Weg finden.

Mr Alford verabschiedete sich und ging. Sarah zog sich in die Bibliothek zurück, um sich einen Überblick über ihre finanzielle Lage zu verschaffen und ihre Ausgaben in den letzten Monaten mit den Einkünften aus Mamas Wittum zu vergleichen. Zu ihrem Leidwesen hatte der Anwalt recht. Es stellte sich heraus, dass ihnen das Geld, sobald ihr Notgroschen aufgezehrt war, nicht reichen würde. Die Regierung erhob nicht nur eine Grund- und Fenstersteuer, sondern auch eine Steuer für ihre Bediensteten und für viele weitere Dinge: Salz, Zeitungen, Seife, Kerzen, Tee, Nadeln, Zucker, Kaffee, Kutschen, Tapeten und mehr. Dazu kam die Kirchensteuer. Zusätzlich zu all dem liefen natürlich die Ausgaben für Essen, Brennstoff und Kleidung weiter, ganz zu schweigen von den Kosten für den Arzt und die Medizin, die Mama brauchte.

Die Kutsche und die Pferde würden sie auf jeden Fall verkaufen müssen. Was konnten sie sonst noch tun? Sie hatte eigentlich ein Küchenmädchen einstellen wollen, das ihre überarbeitete Köchin entlasten sollte, doch das kam nun nicht mehr infrage. Sarah überlegte, ob sie sich selbst im Backen versuchen sollte, um Mrs Besley zu helfen und die hohen Kosten für den Bäcker zu sparen.

Sie saß noch am Schreibtisch über den Büchern, als es am Türrahmen klopfte. Sarah sah auf. Es war Miss Fran Stirling. Ihre Anspannung wich augenblicklich und ihr wurde etwas leichter ums Herz.

»Ich habe Sie gar nicht kommen hören.«

»Jessie hat mich eingelassen.«

Mamas ehemalige Zofe, eine schlanke, brünette Frau Mitte dreißig, hatte ein hübsches Gesicht, in dem allenfalls die etwas scharfe Nase etwas unvorteilhaft wirkte. Sie hatte jahrelang ihren Lohn gespart und konnte vor einigen Jahren damit und mit einem kleinen Erbe von ihrem Großvater ihre Anstellung aufgeben und eine schlichte kleine Pension im Osten von Sidmouth kaufen. Sie hatte den Kontakt mit ihrer früheren Herrin jedoch immer durch einen regen Briefwechsel aufrechterhalten und war die Erste gewesen, die sie nach ihrem Umzug in Sidmouth willkommen geheißen hatte.

Jetzt legte die adrett gekleidete Frau den Kopf schräg und betrachtete Sarah forschend. »Meine Liebe, Sie sehen so verzweifelt aus.«

Sarah seufzte und erklärte ihr in nüchternen Worten die Situation. Sie wusste, dass ihre Freundin nicht versuchen würde, die Tatsachen schönzureden.

Miss Stirling hörte aufmerksam zu, dann nickte sie nachdenklich und sah sich um. »Gut, meine Liebe. Ich denke, Sie werden tun müssen, was so viele andere in Sidmouth tun, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie müssen Zimmer vermieten, an zahlende Gäste. Ich selbst kann ganz gut davon leben, und Ihr Haus ist ja viel größer als meins.«

»Wirklich? Glauben Sie denn, dass wir das schaffen? Wir haben doch überhaupt keine Ahnung davon!«

»Doch, die haben Sie! Schließlich war Ihre Mutter eine der berühmtesten Gastgeberinnen in der ganzen Grafschaft. Wie oft haben Sie auswärtige Gäste beherbergt und Hauspartys, Weihnachtsfeste, große Abendeinladungen und dergleichen gegeben!«

»Ja, aber das war für Familienmitglieder und Freunde. Ich kann mir nicht vorstellen, hier Fremde zu Gast zu haben.«

»Es erfordert ein wenig Gewöhnung, das will ich gar nicht bestreiten. Ich bringe Ihnen auch sehr gerne alles bei, was ich weiß …« Miss Stirling lächelte breit. »Und nach den zwei Minuten, die das dauert, helfe ich Ihnen bei allem anderen, soweit ich kann.«

Sarah dachte über Miss Stirlings Rat nach, dann begann sie, sich einen Plan zurechtzulegen.

Am nächsten Tag berief sie den Familienrat ein. Diesmal versammelten sich alle in Mamas Zimmer. Mama selbst lag auf dem Bett, in ihrem üblichen schwarzen Kleid, ein Plaid über den Knien. Miss Stirling war ebenfalls gekommen, um sie mit Rat und Tat zu unterstützen.

Als sich alle eingefunden hatten, erläuterte Sarah zunächst die bedrohliche Lücke zwischen ihren Einkünften und Ausgaben und präsentierte dann ihren Plan, wie sie diese Lücke füllen könnten: indem sie Gästezimmer in Sea View vermieteten.

Viola mit ihrem vernarbten Mund und ihrem ständigen Bemühen, Menschen soweit wie möglich zu meiden, protestierte als Erste. »Ich will keine Fremden hier haben!«

Mama runzelte die Stirn. »Ich auch nicht. Eine Pension? Nichts gegen Sie, Miss Stirling, aber das klingt so … so … gewöhnlich.«

»Wie wäre es mit einem Logierhaus?«, schlug Sarah vor.

Die stets tolerante Miss Stirling erklärte: »Dieser Ausdruck bezeichnet meistens ein komplettes Haus, das man für einen Ferienaufenthalt mieten kann.«

»Wir müssen eine andere Bezeichnung finden«, beharrte Mama. »Wie wäre es mit … Gästehaus? Das klingt ein bisschen vornehmer.«

Fran nickte. »Das finde ich auch. Außerdem passt es hervorragend zu einem so schönen Haus wie Sea View.«

»Wie wir es nennen, ist doch egal«, meinte Emily. »Wo sollen wir die Gäste denn unterbringen? Wir haben nur sehr wenige ungenutzte Zimmer.«

Sarah sah auf ihrer Liste nach. »Im oberen Stock sind sechs Zimmer in einer vernünftigen Größe – sogar sieben, wenn man mein Zimmer mitrechnet.«

»Aber vier davon bewohnen wir doch selbst!«

»Wir müssen eben auf eigene Zimmer verzichten. Und das große Ankleidezimmer mit seinem schönen Meerblick können wir auch als separates Schlafzimmer vermieten.«

Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Willst du das Zimmer deines Vaters ebenfalls vermieten? An Fremde?«

»Ja, Mama. Es hat zwar keine Aussicht, aber es ist eines der größten Zimmer. Ich räume die paar Sachen von ihm noch aus und packe sie sorgfältig weg. Er hat doch nur ein paar Monate darin geschlafen, bei unserem ersten Aufenthalt hier.«

Mama seufzte . »Wahrscheinlich hast du recht.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Georgiana. »Wo soll ich schlafen?«

»Vielleicht bei mir?«, bot Sarah an.

»Aber ich möchte so gern ein Zimmer für mich allein.«

»Tut mir leid, aber das ist nicht mehr möglich.«

Die Fünfzehnjährige überlegte. »Könnte ich vielleicht in eine der beiden leeren Kammern auf dem Dachboden ziehen?«

»Auf dem Dachboden?« Mama runzelte schon wieder die Stirn. »Da schlafen die Dienstboten.«

Sarah beschwichtigte sie: »Ich wüsste nicht, was dagegenspricht. Im Moment schläft doch nur Jessie da oben.« Ihre Köchin und der Diener hatten Zimmer unten, neben der Küche.

»Nun gut«, gab Mama nach.

Georgie lächelte wieder.

Sarah fügte hinzu: »Außerdem muss ich euch alle bitten, mir entweder mit den Gästen zu helfen oder auf andere Art Geld zu verdienen, damit wir jemand für die Arbeit einstellen können.«

»Ich helfe«, erklärte sich Georgiana bereit. »Ich kann Betten machen.«

»Gut. Viola?«

Die schüttelte den Kopf. Ihr mit Sommersprossen übersätes Gesicht war ganz blass geworden. »Unter gar keinen Umständen. Georgie mag es amüsant finden, die Rolle eines Hausmädchens zu spielen – ich nicht. Ich bin die Tochter eines Gentleman. So etwas ist unter meiner Würde.«

Insgeheim wusste Sarah, dass sie nicht ganz unrecht hatte.

»Du hast doch gehört, was Sarah gesagt hat«, mahnte Emily. »Wir müssen alle unseren Teil beitragen.«

Mama meinte nachdenklich: »Ich könnte … Flickarbeiten übernehmen. Oder vielleicht ein wenig neue Tischwäsche nähen? Ich fühle mich schrecklich, weil ich so schwach bin, ich wünschte, ich könnte mehr tun.«

Viola reckte eigensinnig ihr Kinn nach vorne. »Wenn ich schon schuften muss wie ein Sklave, will ich wenigstens im Hintergrund bleiben. Ich will nichts mit den Gästen zu tun haben.«

Emily schnaubte. »Willst du vielleicht Mrs Besley beim Kartoffelnschälen und Abwaschen helfen? Oder willst du die Wäsche machen?«

Viola schauderte.

Ihre Mutter hob beschwichtigend die Hände. »Keine meiner Töchter wird als Wäscherin arbeiten! Wir werden die Wäsche zum Waschen weggeben, das ist ja wohl das Mindeste.«

»Jeder Dienstbote, den wir einstellen, jede Arbeit, für die wir Geld ausgeben, schränkt unsere wenigen Mittel noch mehr ein«, rief Sarah ihnen in Erinnerung. »Wir brauchen Geld für den Fleischer, den Gemüsehändler und den Kerzenmacher, ganz zu schweigen von Löhnen und Steuern.«

»Aber bei der Wäsche müssen wir die Grenze ziehen. Wir haben keine Mangel. Und all die vielen Laken und Handtücher!«

Miss Stirling mischte sich ein. »Ich gebe meine Wäsche auch weg. Das ist nur vernünftig. Ich kenne jemanden, der das macht.«

»Gut. Danke.«

»Und was machst du, Emily?«, fragte Viola angriffslustig. »Die Bettpfannen leeren?«

Sarah versuchte rasch, weiteren Streit zu verhindern. »Zum Glück haben wir das neue Wasserklosett und dann ist da ja noch die Toilette im Garten, die allerdings ein wenig instand gesetzt werden müsste.«

»Ich weiß auch jemanden, der das tun könnte«, sagte Miss Stirling.

Sarah griff nach einem Blatt Papier. »Ich sollte vielleicht eine Liste machen.«

Emily sagte: »Ich schreibe die Anzeigen für die Zeitungen und übernehme die Korrespondenz.«

»Danke, Emily«, antwortete Sarah. »Aber du wirst auch bei den Gästezimmern helfen müssen.«

Emily stöhnte. »Wenn es nicht anders geht.«

»Anzeigen?« Ihre Mutter runzelte schon wieder die Brauen. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Müssen wir wirklich alle mit der Nase darauf stoßen, dass wir unseren Lebensunterhalt selbst verdienen müssen?«

»Ich glaube nicht, dass Ihr Name für die Anzeigen wichtig ist«, sagte Miss Stirling. »Der Name des Hauses und eine Beschreibung seiner schönen Lage und komfortablen Ausstattung genügt.«

»Das ist doch ein Lichtblick.«

Fran fügte hinzu: »Schade, dass der Reiseführer von Sidmouth schon vor ein paar Jahren erschienen ist. Eine Erwähnung darin hätte geholfen, er ist sehr beliebt. Zeitungsanzeigen sind sicherlich auch nicht schlecht. Allerdings sind sie teurer.«

Mama wechselte das Thema. »Welche Mahlzeiten müssen wir anbieten?«

Alle sahen Miss Stirling an.

Die antwortete: »Auf jeden Fall Frühstück und vielleicht auch Dinner – zumindest an bestimmten Wochentagen.«

Ihre Mutter stöhnte. »Das wird Mrs Besley gar nicht gefallen. Sie ist nicht mehr die Jüngste und hat sowieso schon damit gedroht, zu kündigen.«

»Ich rede mit ihr«, sagte Sarah. »Vielleicht können wir die Wogen ja ein wenig glätten. Und vielleicht könntest du ihr bei der Erstellung der Menüs helfen, Mama? Darin warst du doch immer so gut.«

»Gern.«

Niemand fragte Sarah, welche Arbeiten sie übernehmen würde, denn alle wussten, dass sie ohnehin den Löwenanteil tragen würde.

Jetzt brauchte ihre Mutter Ruhe, deshalb gingen Sarah und Emily zusammen mit Miss Stirling durch die Gemeinschaftsräume im Erdgeschoss – Esszimmer, Frühstückszimmer, Wohnzimmer, Salon und Bibliothek – und danach die Treppe hinauf zu den Schlafzimmern. Sie besprachen die notwendigen Reparaturen und Veränderungen, die an den Zimmern vorgenommen werden mussten, sowie Neuanschaffungen für die Schlafzimmer, das Wasserklosett und das Badezimmer, wie etwa Bettlaken und Handtücher.

Beim Öffnen eines der in die Jahre gekommenen Türriegels sagte Miss Stirling: »Sie sollten auch Schlösser an den Gästezimmern anbringen. Sonst könnte noch jemand behaupten, seine Wertsachen seien aus dem Zimmer verschwunden, und Sie dafür haftbar machen.«

»Wissen Sie jemanden, der uns dabei helfen könnte?«

»Oh ja. Ich kenne genau den Richtigen. Mr Farrant ist in solchen Sachen sehr geschickt.«

Zum Schluss hatte Sarah eine Einkaufsliste und eine Liste mit den Erledigungen und Arbeiten, die anstanden und die ihre beschränkten Mittel noch weiter zusammenschmelzen lassen würden.

Hoffentlich würden sie den Aufwand und die hohen Kosten nicht noch bereuen. Sie konnte nur beten, dass sich alles am Ende lohnen würde.

Später am Tag ging Sarah nach unten; sie wollte zusammen mit Mrs Besley ihre Kollektion von Kochbüchern durchsehen.

Unter der Anleitung, dem Zuspruch und mit der tatkräftigen Hilfe der alten Köchin bereitete sie dann ihren ersten Schwung kleiner Löffelbiskuits zu, nach einem Rezept, das sie in The Art of Cookery Made Plain and Easy von Mrs Glasse gefunden hatte. Die süßen Kekse bestanden aus nur drei Zutaten: Eier, Zucker und Mehl, sorgfältig verrührt und klecksweise auf das bemehlte Blech gesetzt.

Während sie als Erstes herausfand, wie man Eier aufschlug, ohne dass Eischalenstückchen in der Schüssel landeten, brach ihr alter Diener Lowen Zuckerstücke von dem großen Kegel für sie ab und zerkleinerte sie zu feinem Zucker.

Nach einer Stunde schmerzten ihre Arme vom vielen Rühren und ihr Gesicht war erhitzt, weil sie ständig die Ofentür öffnete und hineinschaute, um nachzuverfolgen, wie die blassen Kekse aufgingen und Farbe bekamen.

Um nicht untätig herumzustehen, trat sie an den Tisch und fing an ein wenig aufzuräumen, doch urplötzlich stieg ihr ein verbrannter Geruch in die Nase und ließ sie zum Ofen herumfahren – leider zu spät. Der Anblick der gleichmäßigen Reihen schwarzer Häufchen auf dem Blech nahm ihr allen Mut. Jetzt verstand sie, warum es Mrs Besley so schwerfiel, makellose Backwaren zu fabrizieren, während sie gleichzeitig so viele andere Gerichte zubereiten musste, und das alles nur mithilfe von Jessie, die ihr, soweit ihre eigenen Pflichten es zuließen, zur Hand ging.

Doch sie würde nicht aufgeben! Beim nächsten Blech passte sie besser auf und kurze Zeit später legte sie ein Dutzend süßer Törtchen auf einen Teller. Sie waren zwar alles andere als gleichmäßig braun und als sie eines probierte, stellte sich heraus, dass sie recht hart geworden waren, doch sie waren durchaus essbar.

Mrs Besley und Lowen aßen ebenfalls eines und murmelten leise etwas Wohlwollendes, allerdings fiel ihr auf, dass sie zwischen den einzelnen Bissen große Schlucke Tee nahmen. Doch wie auch immer, trotz des alles andere als perfekten Ergebnisses war Sarah stolz auf sich.

Es war ein Anfang.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 2

Damen, die in einem Haus oder einer Wohnung mit zwei oder drei leer stehenden Zimmern wohnten, besonders, wenn es sich um Zimmer mit Meerblick handelte, konnten damit Geld verdienen – die seaside landlady war geboren. Übernachtungsmöglichkeiten anzubieten war ein idealer Geschäftszweig für Frauen: Es war gesellschaftlich akzeptiert und bot ihnen die Möglichkeit, ihr hauswirtschaftliches Wissen anzuwenden.

Helena Wojtczak, Women of Victorian Sussex

Einen Monat später, in der ersten Maiwoche, legte die sechsundzwanzigjährige Sarah Summers ihren schwarzen Bombasin ab und zog ein schlichtes Kleid aus dunkelblauem Batist an – nicht weil sie nicht mehr trauerte, sondern weil sie wusste, dass Gäste nicht von einer trübseligen Gastgeberin empfangen werden wollten. Sie stand vor ihrem kleinen Spiegel, strich das dunkle, in einem schlichten Knoten zurückgenommene Haar glatt und sah in ihre müden blauen Augen. Peter hatte oft gesagt, dass sie schöne Augen hätte …

Sie blinzelte die Erinnerung an seinen liebevollen Blick und den Schmerz, der dabei in ihr aufstieg, fort. In der geöffneten Truhe am Fuß ihres Bettes lagen das weiße Leinenhemd, das sie in seiner Abwesenheit genäht hatte, und der letzte Brief, den er ihr geschrieben hatte, bevor er in See stach. Sie kannte die wenigen Zeilen auswendig, doch sie faltete den Brief trotzdem auf und las:

Meine liebe Sarah, ich werde dich vermissen. Möge die Zeit, die wir getrennt sind, rasch und fruchtbar vergehen. Ich bete, dass Gott dich beschützt, bis wir wieder vereint sind. Bitte vergiss nicht, das Buch, das ich mir vom Pfarrer geliehen habe, zurückzugeben. Danke. Gott segne dich.

Der Deine, Peter.

Die Mischung aus Zuneigung, Glauben und Sachlichkeit war so typisch für ihn, dass auch jetzt wieder ein bittersüßes Beben ihre Lippen erzittern ließ. Sarah hatte gebetet, dass er gesund zu ihr zurückkehren möge, doch ihre Gebete waren nicht erhört worden.

Sie zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart und legte noch ein paar ihrer Habseligkeiten in die Truhe, um im Zimmer Platz für Emily zu schaffen. Dann klappte sie entschlossen den Deckel zu.

Danach trat sie hinaus auf den Flur und begann, die Gästezimmer nacheinander zu inspizieren.

Mama, die nicht in der Lage war, Treppen zu steigen, hatte ihr Zimmer im Erdgeschoss behalten. Viola war in das daran angrenzende Ankleidezimmer gezogen.

Emily würde mit in Sarahs kleines Zimmer im Obergeschoss ziehen, doch sie musste ihre persönlichen Besitztümer noch umräumen.

Georgie war in eine der früheren Dienstbotenkammern auf dem Dachboden gezogen und genoss es sehr, nicht nur ein Zimmer, sondern fast ein ganzes Stockwerk für sich allein zu haben.

Viola weigerte sich weiterhin, bei den Vorbereitungen zu helfen., Mama wollte sie auch nicht zu sehr drängen, nicht zuletzt, weil sie ihre Einwände sehr gut verstand. Die Situation war für die einst so stolzen Töchter und die Gattin eines Gentleman mehr als demütigend. Aber was blieben ihnen sonst für Möglichkeiten? Sarah wollte die Familie unbedingt zusammenhalten. Wenn ihr Plan fehlschlug, wären sie und ihre Schwestern gezwungen, sich Stellungen als Gesellschafterinnen oder, schlimmer noch, als Gouvernanten zu suchen, wie der Anwalt es ihnen geraten hatte. Und wer würde sich dann um ihre kränkelnde Mutter kümmern?

Die hübsche Emily, die in der Familie am gewandtesten mit der Feder war, hatte Inserate verfasst und an Zeitungen in Bath und in London sowie an ein paar Blätter im weiteren Umland geschickt. Danach hatten sie ungeduldig auf Antworten gewartet. Sidmouth erfreute sich zwar zunehmender Beliebtheit unter Touristen, doch sie gingen davon aus, dass sie in erster Linie ältere Leute und Kranke beherbergen würden, die sich an der Südküste eine Verbesserung ihres Gesundheitszustands erhofften.

Das erste Schreiben, das sie erhielten, war jedoch ein zorniger Brief von einem Major Hutton, der erst kürzlich in das Westmount-Anwesen direkt neben ihnen eingezogen war. Er hatte gehört, dass sie Sea View für Gäste öffnen wollten, und war alles andere als glücklich darüber, dass sich Fremde in nächster Nähe zu seinem privaten Wohnsitzes aufhalten würden. Er drohte sogar mit seinem Anwalt, falls einer ihrer Gäste je seinen Grund und Boden betreten sollte. Sarah hoffte sehr, dass es nicht dazu kommen würde. Kostspielige Rechtsstreitigkeiten konnten sie nun wirklich nicht gebrauchen. Sie hatte dem Major einen freundlichen Besuch abstatten wollen, doch der Diener, der an die Tür gekommen war, hatte ihr gesagt, dass sein Herr sich nicht wohlfühle und keinen Besuch empfange. Mit dem Bild eines alternden Griesgrams vor Augen, der an irgendwelchen Kriegsverletzungen laborierte, hatte sie es daraufhin bei einer höflichen Antwort bewenden lassen, in der sie versprach, dass ihre Gäste die Grundstücksgrenzen achten und sie alle ihm so wenig Umstände wie möglich bereiten würden.

Wenn sie denn jemals Gäste haben würden, denen sie eine solche Rücksicht ans Herz legen mussten …

Zu ihrem Erstaunen kam die erste Zimmerreservierung von einem Mr Callum Henshall aus Kirkcaldy, Schottland, der mit seiner Tochter kommen wollte. Emily versicherte ihr, dass sie so hoch im Norden keinerlei Anzeige aufgegeben hatte, deshalb war ihnen allen völlig unklar, wie der Mann von Sea View erfahren hatte.

Sarah betete insgeheim, dass ihre ersten Gäste nicht allzu anspruchsvoll sein würden. Sie und ihre Schwestern hatten noch so wenig Erfahrung! Wie Miss Stirling gesagt hatte, hatten sie zwar früher häufig Gäste auch in großer Zahl gehabt, doch das waren keine zahlenden Kunden gewesen. Außerdem hatten damals noch viele Dienstboten einen Großteil der Arbeit übernommen.

Sie hoffte sehr, dass es ihnen trotz aller Unvollkommenheiten gelingen würde, ihre Gäste zufriedenzustellen und sich einen guten Ruf zu erwerben, um weitere Gäste zu gewinnen.

Bitte, Gott, steh uns bei.

Die zweiundzwanzigjährige Emily Summers sog tief die frische, belebende Luft ein. Es war ihr letzter freier Tag, bevor die ersten Gäste eintrafen, und sie war entschlossen, ihn in vollen Zügen zu genießen. Sie stand oben auf dem Salcombe Hill und blickte über die Büsche und windzerzausten Bäume auf das unter ihr liegende Sidmouth.

Sidmouth, ihr neues Zuhause – ob es ihr nun gefiel oder nicht. Sie lebten jetzt seit über sechs Monaten hier, doch für sie fühlte es sich noch immer nicht wie ein Zuhause an. Ob es das je werden würde?

Sie vermisste ihr früheres Heim – Finderlay, in der Nähe von May Hill, Gloucestershire, doch der Blick, der sich ihr hier bot, war überaus lieblich, das musste sie zugeben. Sie überlegte, was Charles wohl zu dieser Gegend sagen würde. Würde ihm bewusst werden, wie sehr er sie vermisste, würde er seine Meinung ändern und zu Besuch kommen? Sie hätte sich nicht so sehr gegen ihren Umzug hierher gewehrt, hätte er nicht bedeutet, Charles zu verlassen und die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm aufzugeben.

Georgiana stand ein paar Meter entfernt und warf ein Stöckchen für einen zotteligen Terrier, einen Streuner namens Chips, der ihr nachlief, wann immer sie das Haus verließ. Georgiana wollte ihren letzten freien Tag mit einer Freundin verbringen, hatte sich aber bereit erklärt, zuerst einen langen Spaziergang mit Emily zu machen. Sarah war zu beschäftigt und Viola hatte abgelehnt, sie wollte bei Mama im Haus bleiben.

Mama hatte versucht, sie zu dem Spaziergang zu überreden, doch es war nur ein halbherziger Versuch gewesen. Es war immer dasselbe. Viola tat, was Viola wollte – und nur sehr wenig, was sie nicht wollte. Und wegen ihres … Zustands … übte niemand aus der Familie allzu viel Druck auf sie aus.

Bei der Vorbereitung auf ihren Umzug hatte Emily alles gelesen, was sie über diese Gegend finden konnte, und den Rest wusste sie von ihren vielen Spaziergängen. Sidmouth war an der Mündung des Flusses Sid gelegen, der hier in den Ärmelkanal floss. Das Tal, in dem die Stadt lag, wurde im Westen vom Peak Hill, dessen schroffe Klippen sandsteinrot schimmerten, und im Osten vom Salcombe Hill, auf dem sie gerade standen, begrenzt.

Unter ihr verlief die Strandpromenade, gesäumt von Einrichtungen für die Kurgäste wie dem York Hotel, mehreren Pensionen, medizinischen Badeanstalten und schließlich ihrem allerliebsten Geschäft: Wallis' Buchhandlung.

Hinter diesen Gebäuden führten schmale Sträßchen in die Stadtmitte. Dort gab es strohgedeckte Cottages, etliche kleine Läden, die Markthalle und die Kirche mit ihrem quadratischen, mit Zinnen versehenen Turm.

Östlich vor der Stadt erstreckte sich eine weite, grasbewachsene Fläche, die für Rasenbowling und Kricketspiele genutzt wurde.

Auf der anderen Seite der Grünfläche konnte man ihr Haus erkennen, eines von drei großen, frei stehenden Anwesen. Ihr Vater hatte es vor zwei Jahren als Ferienhaus gekauft, in der Hoffnung, dass die berühmte Seeluft von Sidmouth Mama guttun würde. Doch dann war er nach nur einem einzigen Aufenthalt hier gestorben.

Der Wind blies Emily eine schwarze Haarsträhne in die Augen und behinderte ihre Sicht. Sie wollte sie zurückstreichen und spürte dabei Tränen auf ihren Wangen. Seufzend wischte sie Strähne und Tränen fort. Es wurde Zeit zurückzugehen.

Die beiden Schwestern stiegen den Salcombe Hill hinunter. Auf der Straße traten sie zur Seite, um ein Bauernfuhrwerk vorbeizulassen. Dann überquerten sie auf der Holzbrücke an der Mühle den Fluss, winkten dem Müller zu und gingen die High Street hinauf in die Stadt.

Beim Laden des Gemüsehändlers, wo die Straße sich wie ein Ypsilon in zwei Stränge teilte, bogen sie nach rechts in die schmale Back Street ab, weil Emily noch zum Postamt wollte. Gleich darauf stiegen ihnen die Gerüche von Bier, paniertem Fisch und Rauch aus dem Old Ship in die Nase. Sie gingen weiter, an dem Textilwarenladen und gleich darauf am Fleischergeschäft vorbei. Davor saß ein Junge auf einem Pferd, einen Korb über dem Arm, bereit, den Kunden auf Anfrage ihre Einkäufe nach Hause zu liefern.

Georgie blieb mit dem verspielten Hündchen draußen, während Emily die Tür zum Postamt öffnete. Die Glocke ertönte. »Guten Tag, Mr Turner.« Sie fragte, fast flüsternd: »Ist etwas da für V. S., postlagernd?«

Er blickte auf. »Mit der Exeter-Post ist nichts mitgekommen, aber vorhin wurde ein Brief persönlich abgegeben.«

Emilys Herz machte einen freudigen Satz, während sie gleichzeitig eine gewisse Nervosität verspürte. Da war sie, die erste Reaktion auf eine ganz spezielle Anzeige. »Der ist für meine Schwester Viola. Ich nehme ihn mit.« Sie streckte die Hand aus und nach kurzem Zögern händigte er ihr den Brief aus.

»Sonst nichts?«, fragte sie. »Für Sea View oder Miss Emily Summers?« Sie hörte das Flehen in ihrer Stimme und hoffte nur, dass es Mr Turner nicht auffiel.

»Nein, Miss.« Er sah sie entschuldigend an. »Leider nicht.«

»Das macht doch nichts.« Sie zwang sich zu einem verbindlichen Lächeln und verließ das Postamt. Georgiana und der Hund folgten ihr.

Auf dem Weg durch die Stadt ans Meer kamen sie an Wallis’ Buchhandlung vorbei und Emily konnte nicht widerstehen, sie schlüpfte rasch hinein. Zu dem Laden gehörte eine Leihbibliothek mit Leseraum. Auf der Veranda vor dem Haus, unter der rot-weiß gestreiften Markise, standen Bänke. Von hier aus hatte man einen herrlichen freien Blick aufs Meer. Der Ort war ein beliebter Treffpunkt unter Gästen. Georgie blieb auch diesmal draußen, nicht ohne Emily eindringlich zu bitten, sich nicht allzu lange aufzuhalten.

Emily überhörte Georgies Gejammer und stieß voller Vorfreude die Tür auf. Ach, der Geruch von Büchern – Tinte, Papier, Leder … Leben.

Als sie eintrat, sah sie zwei Männer im Gespräch. Sie erkannte Mr Wallis selbst und Reverend Edmund Butcher, einen älteren Herrn, dessen Leidenschaft für die hiesige Küste ihn bewogen hatte, mehrere Reiseführer über diese Gegend zu schreiben. Der bekannteste war der, den Miss Stirling erwähnt hatte, als sie vorschlug, aus Sea View ein Gästehaus zu machen: The Beauties of Sidmouth Displayed. Emily hatte das Buch von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Es beschrieb nicht nur die Lage, klimatische Zuträglichkeit und malerische Kulisse der Stadt, sondern enthielt auch einen Überblick über die ortsansässigen Geschäfte, Pensionen, Hotels und Gasthöfe.

Emily sah sich die Neuheiten bei den Zeitschriften und Büchern an und schob sich dabei langsam in die Nähe der Männer. So konnte sie einen Teil ihres Gesprächs mitanhören.

Die beiden sprachen über eventuelle Nachträge und Überarbeitungen für eine Neuausgabe des beliebten Reiseführers. Emily hielt den Atem an, sie wollte hören, wann das neue Buch erscheinen sollte. Sarah würde begeistert sein, wenn Sea View darin erwähnt wurde. Nun ja, begeistert war vielleicht das falsche Wort, schließlich war Sarahs hervorstechendster Charakterzug ihre Ernsthaftigkeit.

Was konnte sie tun, damit Sea View in dem Buch genannt wurde – und zwar positiv? Wenn es ihr gelang, wurde sie vielleicht einen Monat lang vom Staubwischen und Bettenmachen befreit!

Sollte sie sich in das Gespräch einmischen? Doch wie sollte sie das anstellen, ohne ungehobelt oder schrecklich dreist zu wirken?

Da ging die Ladentür auf und Georgie erschien auf der Schwelle. Sie winkte hektisch, beinahe verzweifelt.

Emily schüttelte abwehrend den Kopf und legte den Finger an die Lippen. Doch ihre durchaus deutliche Geste wurde gänzlich ignoriert.

Ihre Schwester steckte ganz im Gegenteil den Kopf in den Laden und zischte: »Ich muss geh’n!«

Emily hob den Finger, den sie eben noch auf die Lippen gelegt hatte, zum Zeichen, dass sie einen Moment warten sollte.

»Ich kann nicht warten.« Georgie trat von einem Fuß auf den anderen. »Chips hat eben auf die Veranda gepinkelt und wenn wir nicht augenblicklich gehen, mache ich es genauso.«

Mit gesenktem Kopf und brennendem Gesicht lief Emily zur Tür. Hoffentlich hatten die Männer nichts gehört. Auf jeden Fall war jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt, den Geistlichen und den angesehenen Buchhändler davon zu überzeugen, dass sie und ihre Schwestern ein vornehmes Etablissement führten, die ideale Herberge für anspruchsvolle Gäste.

Viola Summers konnte sich nichts Grässlicheres vorstellen als unbekannte Logiergäste, die in ihrem Zuhause herumliefen. Wie konnte man ausgerechnet von ihr verlangen, sich mit wildfremden Leuten zu befassen? Und genauso wenig verlockend fand sie es, als Putzfrau in ihrem eigenen Haus zu arbeiten.

Beim Essen hatte Emily zu ihr herübergeschaut und verkündet: »Wenn Viola nicht bei den Gästen helfen will, muss sie auf andere Art Geld verdienen. Das hast du doch gesagt, oder, Sarah?«

Ihre ältere Schwester hatte genickt. »Ja, aber was schlägst du vor?«

»Ich habe mir die Freiheit genommen, eine bezahlte Anstellung für sie zu suchen.«

»Wie bitte?« Viola schnappte mit offenem Mund nach Luft, sodass ihre Narbe spannte.

»Eine vornehme Arbeit, keine Sorge.« Emily hob einen Zeitungsausschnitt, der auf ihrem Schoß lag, hoch und las:

Hochgebildete Dame bietet sich als Vorleserin für Kranke oder sehbehinderte Personen aus dem Kreis des Adels oder der Kurgäste an. Ordnungsgemäß frankierte Zuschriften, adressiert an V. S., Postamt Sidmouth, werden wohlwollend geprüft.

Viola starrte ihre Zwillingsschwester an. »Das hast du nicht getan.«

»Doch.«

Sarah stöhnte auf. »Emily …«

»Warum denn nicht?«, wollte Emily wissen. »Viola hat ein viel zu behütetes Leben geführt. Ihr fehlt nur ein wenig Ermutigung. Und ihr Lohn wird helfen, das Mädchen zu bezahlen, das wir einstellen müssen, damit es ihren Anteil an der Arbeit übernimmt.«

Viola schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass ich nicht unter Fremde gehe.«

»Ach, komm schon. Was ist schon dabei, wenn du dich bei ein paar älteren Invaliden vorstellst, die wegen ihrer schlechten Augen nicht mehr selbst lesen können?«

»Nein.« Viola verschränkte die Arme vor der Brust. »Außerdem meldet sich sicher gar niemand.«

»Es hat sich schon jemand gemeldet. Das hier habe ich gerade im Postamt abgeholt.« Sie hob einen Brief hoch, faltete ihn auf und las:

»Liebe V. S., es gibt jemand, dem Ihre Dienste sehr helfen würden. Wie wäre es mit täglich einer Stunde, nachmittags? Wenn Ihnen das recht ist, melden Sie sich bitte diesen Donnerstag um drei Uhr bei Mr Hutton.«

Emily sah auf. »Das ist morgen.«

Viola saß schweigend da. Ihr Zorn auf Emily wurde momentan von einem anderen Gedanken verdrängt. Sie sollte … jemandem helfen? Sie, die immer Hilfe gebraucht hatte – die Arbeit verursacht und sich dafür geschämt hatte –, sollte jemandem helfen?

Sarah runzelte die Stirn. »Hutton? Das ist der Nachname des Mannes, der sich bei uns beschwert hat, weil wir ein Gästehaus eröffnen wollen. Wie lautet die Adresse?«

Emily sah nach. »Westmount, Glen Lane, Sidmouth.«

Ihr wütender Nachbar. Alle wechselten besorgte Blicke.

Violas Nervosität, die ohnehin schon groß war, wuchs ins Unermessliche.

Dennoch – einem mürrischen alten Mann vorzulesen war besser, als Böden zu schrubben und Betten zu machen.

Hoffte sie jedenfalls.

Die ersten Gäste kamen in einem Eselkarren vorgefahren, der von dem Stallburschen Puggy Smith gelenkt wurde. Mr Henshall hatte in seinem Brief angekündigt, dass er und seine Tochter, soweit das möglich war, mit der Postkutsche anreisen und für die letzte Wegstrecke ein privates Beförderungsmittel mieten wollten.

Sarah stand nervös am Fenster und betete, dass alles gut gehen möge. Mama, wie gewöhnlich ans Bett gefesselt, hatte versprochen, ebenfalls zu beten.

Die beiden Personen, die gerade ausstiegen, waren nicht annähernd das, was Sarah erwartet hatte. Sie hatte sich einen etwa Achtzigjährigen vorgestellt, begleitet von seiner unverheirateten Tochter im mittleren Alter. Stattdessen half gerade ein Mann Mitte dreißig einem halbwüchsigen Mädchen beim Aussteigen. Dann griff er nach einer Art übergroßem Geigenkasten und einer dicken Reisetasche. Puggy folgte ihm mit einer zweiten Tasche und zwei Hutschachteln.

Sarah öffnete ihnen die Tür. »Mr Henshall und Miss Henshall, nehme ich an?«

»Jawohl.« Der Mann nahm den Hut ab. Er hatte dunkelblondes Haar. Seine Koteletten und die Stoppeln auf seinem Kinn waren heller, seine Augenbrauen sogar noch etwas heller.

»Willkommen. Ich bin Sarah Summers. Wie war Ihre Reise?«

»Lang und beschwerlich«, antwortete das Mädchen, bevor ihr Vater etwas sagen konnte.

»Das kann ich mir vorstellen.« Sarah ließ die beiden eintreten. »Sie müssen müde und durstig sein. Möchten Sie eine Tasse Tee?«

»Wir möchten einfach nur auf unsere Zimmer, bitte«, antwortete der Mann.

Das Mädchen sah ihn stirnrunzelnd an. »Ich hätte aber gern Tee.«

Sarah blickte von der missgelaunten jungen Dame zu ihrem erschöpften Vater. Das rothaarige Mädchen würde eines Tages, wenn sie aus ihren Pickeln und ihrer schlechten Laune herausgewachsen war, eine echte Schönheit werden. Der Mann sah auch sehr gut aus. Er war durchschnittlich groß, schlank, mit breiten Schultern. Die Gesichtszüge waren sympathisch, doch die tiefe vertikale Falte zwischen seinen Brauen und seine müden grünen Augen sprachen von Sorgen, vielleicht sogar von Kummer. War er vielleicht krank und wegen der vielgepriesenen Heilwirkung des Ortes nach Sidmouth gekommen?

Sie sagte in fröhlichem Ton: »Dann zeige ich Ihnen jetzt Ihre Zimmer und bringe Ihnen den Tee nach oben. Wäre das in Ordnung?«

»Ja, vielen Dank.« Er warf seiner Tochter einen auffordernden Blick zu. Sie bedankte sich ebenfalls, wenn auch widerwillig.

Wieder zu Sarah gewandt, fragte er: »Wäre es vielleicht möglich, ein Zimmer auf diesem Stockwerk zu bekommen? Vielleicht … mit Blick in den Garten?«

Sie sah überrascht auf. Warum fragte er nach einem solchen Zimmer? Hatte Emily es in ihrem Inserat erwähnt? Das war unwahrscheinlich, denn hier unten lag nur das Zimmer ihrer Mutter.

»Ich … leider nicht.«

»Oh. Nun ja, in Ordnung.«

Sie meinte, einen schottischen Akzent zu hören.

Sarah verbarg ihre Unsicherheit und erklärte: »Frühstück gibt es von neun bis halb elf.«

Er nickte und schien zum Frühstückszimmer hinüberzusehen, noch bevor sie es ihm gezeigt hatte.

Sie fuhr fort: »Dinner ist um sechs. Wir bieten offiziell kein Mittagessen an, doch nachmittags reichen wir Tee und Sandwiches, falls Sie Hunger haben. In der Stadt gibt es aber ein paar Häuser, in denen sie Mahlzeiten einnehmen können.« Sarah nahm die neuen Schlüssel und führte ihre Gäste die Treppe hinauf zu ihren Zimmern, die nebeneinanderlagen. Dabei deutete sie im Vorbeigehen auf eine geschlossene Tür. »Wir haben ein Wasserklosett. Gleich hier.«

»Das ist neu«, bemerkte er.

Wieder sah sie ihn überrascht an.

Er fügte rasch hinzu: »Neumodisch, meine ich.«

»J-ja. Draußen ist noch ein Abort, falls Ihnen das lieber ist. Außerdem gibt es ein Badezimmer.« Sie deutete auf die Tür hinter ihren beiden Zimmertüren. »Wenn Sie es vorziehen, in Ihren eigenen Zimmern zu baden, können wir Ihnen eine Sitzbadewanne heraufbringen. Bitte informieren Sie uns aber ein paar Stunden früher, damit wir das Wasser erhitzen können.« Sie schloss die Tür auf, ging quer durchs Zimmer und öffnete die Verbindungstür zu dem zweiten Raum.

»Beide Zimmer haben einen schönen Meerblick. Sie dürfen gern die Fenster öffnen, falls Sie wegen der gesunden Seeluft nach Sidmouth gekommen sind.«

Die Tochter verschwand in ihrem Zimmer und schloss geräuschvoll die Tür. Der Mann zuckte zusammen. »Entschuldigung.«

»Ist schon gut.«

»Sie haben wohl keine Töchter?«

»Nein. Aber ich habe eine Schwester, die nicht viel älter ist.«

»Ah. Dann können Sie mich ja vielleicht etwas verstehen.«

Sie nickte. In dem kleinen Raum, so dicht neben ihm, fiel ihr auf, wie gut er roch, frisch und ein wenig würzig, was erstaunlich war, nachdem er viele Tage auf der Straße verbracht hatte.

Er deutete auf den Instrumentenkoffer. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich hin und wieder ein bisschen spiele?«

Neugierig fragte sie: »Welches Instrument?«

»Eine schottische Gitarre.«

»Aber nein, ich habe überhaupt nichts dagegen. Fühlen Sie sich wie zu Hause.«

Plötzlich schienen seine Augen aufzuleuchten, doch er sagte nichts mehr.

Sie ging zur Tür. »Ich komme gleich und bringe Ihnen Tee.«

»Bringen Sie Effie Tee, wenn Sie wollen. Ich brauche nur Ruhe und ein wenig Ungestörtheit.«

Die Ablehnung tat weh, dabei hätte sie ihr doch gar nichts auszumachen brauchen.

»Natürlich. Entschuldigen Sie.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer. Dabei schalt sie sich für ihre Torheit. Die Menschen kamen nicht in ein Gasthaus, um Freundschaft mit seinen Besitzern zu schließen, sie kamen, weil sie eine saubere und bequeme Unterkunft brauchten.

Sie würde noch in ihre neue Rolle hineinwachsen, tröstete Sarah sich selbst. Schließlich war dies für sie die einzige Tätigkeit, die der einer Hausherrin nahekam. Mehr war nun einmal in diesem Leben für sie nicht vorgesehen.

Sie hatte gedacht, eines Tages einen Mann und einen eigenen Hausstand zu haben, doch dann war ihr geliebter Peter gestorben. Jetzt war sie entschlossen, unverheiratet zu bleiben und für ihre Familie da zu sein.

Doch während sie nach unten ging, sah sie vor ihrem inneren Auge ein Paar leuchtender meergrüner Augen.

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Kapitel 3

Mrs Wellard (zuletzt wohnhaft in Manor House, Streatham), teilt hiermit Freunden, Angehörigen des Adels wie auch Kurgästen mit, dass sie ihr Amt als Vorleserin für Kranke wieder aufgenommen hat.

Brighton Herald, um 1890

Wenigstens ist es nicht weit und es ist höchst unwahrscheinlich, dass ich auf dem Weg jemandem begegne.

Mit einem schnellen Blick in den Spiegel glättete Viola ihr rotbraunes Haar und setzte eine Haube auf. Sie musste sich fertig machen.

Sie war mit einer gekerbten oder gespaltenen Lippe, einer so genannten Hasenscharte, auf die Welt gekommen. Schon die Bezeichnung war ihr verhasst.

Ihre Mutter hatte oft versucht, sie zu trösten; sie meinte, die Narbe – die von den Nasenlöchern bis halb zum Mund herunter verlief – und die verkürzte Oberlippe seien doch kaum wahrnehmbar. Doch Mütter waren nicht objektiv, das wusste sie. Sie sahen ihre Kinder mit den Augen der liebenden Mutter. Wenn Viola in den Spiegel sah, erblickte sie nur Mängel. Für sie war die Narbe der bleibende Beweis ihrer angeborenen Deformation und die missgestaltete Lippe fand sie scheußlich.

Als sie noch jünger war, hatten die Leute sie entweder angestarrt oder rasch den Blick abgewandt. Aus diesem Grund hatte sie, wenn sie das Haus verließ, stets einen Schleierhut oder eine Haube getragen.

Einmal hatte einer der Dorfjungen seine Lippen zu einer Grimasse verzogen und ihre damals noch lispelnde Sprechweise nachgeahmt. Daraufhin hatte Emily ihn mit überraschender Kraft gestoßen, sodass er zu Boden stürzte. Ein anderes Mal hatte eine Frau, deren Bauch von der Schwangerschaft gerundet war, bei ihrem Anblick aufgeschrien und war weggelaufen.

Viele Menschen hingen noch immer dem alten Aberglauben an, dass ein Kind mit einer »Hasenscharte« zur Welt kam, wenn die Mutter während der Schwangerschaft eine Person mit dieser Deformation gesehen hatte. Oder wahlweise, wenn ihr ein wilder Hase über den Weg lief, der dem ungeborenen Kind seine Hasenscharte hinterließ. Wieder andere glaubten, dass die Erkrankung auf eine Syphilis-Infektion zurückzuführen sei. Und manche hielten sie sogar für einen Fluch.

Viola hatte ihre Eltern einmal gefragt, woher ihre Entstellung rühre. Daraufhin hatte ihre Mutter zugegeben, dass sie während ihrer Schwangerschaft ein Mädchen mit Hasenscharte gesehen und es voller Mitleid und Faszination zugleich wie gebannt angestarrt hatte – mit dem leisen Schauder einer beunruhigenden Vorahnung.

»Dann ist es also deine Schuld, dass ich so bin!«, hatte Viola damals gewütet.

Das war, wie sie sehr wohl wusste, grausam von ihr gewesen, doch sie hatte einfach irgendjemandem die Schuld geben müssen. Warum, warum nur war sie so geboren worden? War es Mamas Schuld oder die Schuld von Gott oder ihre eigene?

Mit einem letzten Blick in den Spiegel zog Viola den Schleier vor ihr Gesicht und wandte sich zum Gehen.

An der Haustür legte Sarah ihr liebevoll die Hand auf die Schulter. »Georgie begleitet dich. Wenn der alte Griesgram dich grob behandelt oder irgendwie bedroht, verlässt du augenblicklich sein Haus, verstanden? Wir finden auch etwas anderes für dich.«

Viola nickte und trat hinaus. Ihre Handflächen in den Handschuhen waren nass.

Von Sea View aus hatte man einen herrlichen Blick aufs Meer. Hinter ihrem Haus, halb verborgen hinter Bäumen, lag der Wohnsitz ihres Nachbarn und noch etwas weiter landeinwärts war Woolbrook Cottage, das Haus von General Baynes, zu sehen.

Sie und Georgina gingen die kurze Strecke die schmale Glen Lane hinauf und bogen dann in die alleeartige Auffahrt ein. Vor dem niedrigen schmiedeeisernen Tor blieben sie stehen. Viola drückte versuchsweise dagegen und es öffnete sich mit einem metallischen Quietschen. Mit klopfendem Herzen ging sie weiter bis vor die Tür von Westmount.

Was tat sie da gerade?

Georgiana hielt sich mit dem kleinen Streuner, der ihr überallhin folgte, hinter ihr. »Ist das das richtige Haus?«

Viola nickte steif. Sie musste sich zwingen zu klopfen. Wahrscheinlich machte sie gerade einen Riesenfehler. Sie sollten sich lieber umdrehen und weglaufen, bevor jemand an die Tür kam.

Die Tür öffnete sich.

Zu spät.

»Ja? Was kann ich für Sie tun?« Auf der Schwelle stand ein Mann mit silbernen Haaren. Er hatte das Auftreten eines Gentlemans und wirkte nicht im Geringsten abweisend.

»Ich … ich bin wegen der Anzeige hier«, stotterte Viola. »Wenn es nicht passt, dann …«

»Natürlich passt es. Sie sind absolut pünktlich. Ich habe Sie erwartet.«

Wenn ein Dienstbote geöffnet hätte, hätte sie sich ja vielleicht noch herausreden können, aber da es der Briefschreiber selbst war …

»Bitte … treten Sie doch ein.« Er öffnete die Tür etwas weiter, dann sah er Georgiana an. »Möchte Ihre Begleiterin ebenfalls hereinkommen?«

Viola antwortete mit dünner Stimme: »Das ist meine Schwester.«

»Kann ich draußen warten, Vi?«, fragte Georgie. »Es ist so ein schöner Tag und Chips möchte spielen.«

Viola sah den älteren Mann an. War es gefährlich, alleine zu ihm ins Haus zu gehen? Eher nicht, er wirkte wie ein Gentleman.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, sagte der Mann: »Die Fenster sind offen. Ihre Schwester kann sich die ganze Zeit in Rufweite aufhalten.«

Viola nickte. »Gut.«

Er bedeutete ihr einzutreten. Mit seiner schlanken, aufrechten Gestalt und den hellen Augen wirkte er nicht im Geringsten wie ein Invalide.

Da sie ihren Schleier nicht hochgeschlagen hatte, war sie einen Moment lang fast blind, als sie aus dem Sonnenschein in das relativ dämmerige Vestibül trat.

Ihr Auftraggeber ging rüstigen Schrittes vor ihr den Flur entlang.

Sie folgte ihm in ein Zimmer. Ihre Augen mussten sich erst an das neue Licht gewöhnen, doch dann sah sie, dass es ziemlich spartanisch eingerichtet war. Durch eine offene Tür blickte man in ein etwas formelleres Wohnzimmer, in dem ein Pianoforte stand.

»Bitte, setzen Sie sich doch.« Er deutete auf das Sofa.

Sie setzte sich und er selbst nahm auf einem Armlehnstuhl ihr gegenüber Platz.

Die Augen auf ihren Schleier gerichtet, öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, schien es sich dann jedoch anders zu überlegen.

Sie sagte: »Verzeihen Sie, Sir, aber in dem Inserat ging es darum, einer sehbehinderten Person vorzulesen. Diese Voraussetzung, die Sehbehinderung, scheint mir auf Sie nicht zuzutreffen.«

»Vielen Dank. Sie haben recht. Ich brauche Sie nicht, damit Sie mir vorlesen. Aber mein Sohn, Major Hutton, wurde in Indien verwundet und erholt sich momentan von seinen Verletzungen an Kopf und Augen, die ihm das Lesen sehr erschweren.«

»Oh.« Plötzlich war ihr Mund wie ausgetrocknet, ihr Mut schwand zusehends. Als Emily ihnen das mit der Anzeige gestanden hatte, hatte Viola an eine ältere Frau gedacht oder vielleicht einen milden Großvater mit schwindendem Augenlicht. Aber ganz sicher nicht an einen verwundeten Offizier.

Mr Hutton, der ihr Zögern bemerkte, sagte: »Er ist nicht … nun ja, sein Anblick ist nicht schrecklich, falls Sie das beunruhigt. Er hat Brandnarben auf seiner Seite des Gesicht, aber nicht allzu schlimm. Und ein Auge ist noch bandagiert.«

»Ich … das ist es nicht.«

»Er ist ein wenig launisch, muss ich leider sagen. Und seine Wortwahl ist manchmal etwas unangemessen.«

»Hat er Schmerzen?«

»Jedenfalls gibt er es nicht zu. Ich glaube aber, dass er sich in Gegenwart einer Lady zusammennehmen und Sie nicht so rücksichtslos beschimpfen und beleidigen wird, wie er das bei uns macht.«

»Bei Ihnen?«, fragte Viola, die außer ihm niemand im Haus gesehen hatte.

»Nun ja, es gibt da noch seinen Pfleger oder Offiziersburschen, je nachdem wie man es sehen will, und ein paar leidgeprüfte, sehr geduldige Dienstboten. Und dann erwarten wir diese Tage noch meinen jüngeren Sohn – seinen Bruder.«

»Ich verstehe.«

»Ich dachte an eine Stunde am Tag, für den Anfang. Ausgenommen die Sonntage, natürlich.« Er nannte ein Stundenhonorar. »Wären Sie damit einverstanden?«

Es war mehr, als sie erwartet hatte. Sie konnten davon ein Hausmädchen bezahlen und noch etwas beiseitelegen.

»Ja. Das ist sehr großzügig.«

»Gut, gut. Sie werden es sich verdienen müssen, würde ich sagen. Also wollen wir es nicht länger aufschieben. Ich bringe Sie zu ihm.«

Er stand auf und ging voran zu einem Zimmer am Ende des Flurs. Vor der Tür blieb er stehen, drehte sich zu ihr um und flüsterte: »Ich sollte Sie vielleicht warnen. Wahrscheinlich ist er anfangs alles andere als begeistert, aber er wird sich fangen.«

Etwas erschrocken sah sie ihn durch das Netzgewebe ihres Schleiers an. »Er weiß nicht, dass ich komme?«

Mr Hutton schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihr Inserat für ihn beantwortet. Manchmal lehnen die, die Hilfe brauchen, es zunächst ab, darum zu bitten. Sie kennen das vielleicht.«

»Aber wenn er …«

Ihr Protest erstarb, als Mr Hutton zweimal klopfte und dann die Tür öffnete.

Das Zimmer war nur schwach erhellt, die Läden beinahe geschlossen, lediglich durch ein halb geöffnetes Fenster drang ein wenig Sonnenlicht und frische Luft herein. Neben der Tür stand ein völlig überladener Arbeitstisch. Auf der anderen Seite des Zimmers lag eine Gestalt auf einem Tagesbett, das dem ihrer Mutter glich, nur die Bettvorhänge waren etwas weniger plüschig. Der Mann trug einen Morgenmantel oder Hausrock. Wie Mr Hutton gesagt hatte, war eines seiner Augen unter einer weißen Bandage verborgen. Das Haar darüber war dunkel, doch die Einzelheiten seines Gesichts waren in dem trüben Licht schwer zu erkennen.

»Was ist?«, grollte der liegende Mann.

»Guten Tag, Jack. Hier ist jemand für dich, also benimm dich.«

»Wer es auch ist, schick ihn weg.«

Mr Hutton warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. »Zu spät. Hier ist sie.«

»Ich habe dir doch gesagt: keine Besucher.«

»Miss Summers ist kein Besuch, sie ist hier, um dir vorzulesen.«

»Ich bin kein Kind.«

»Nein, aber hier liegen Stapel von Zeitungen, unter Staub begraben, und Unmengen unbeantworteter Briefe.«

»Das meiste ist doch nur dummes Zeug.«

Sein Vater trat ans Fenster. »Soll ich die Läden öffnen, damit sie besser sehen kann …?«

»Lass sie zu.«

»Wie du willst. Ich gehe dann jetzt.« Damit zog sich Mr Hutton zurück, leicht geduckt, als erwarte er, dass ihm etwas hinterhergeworfen würde.

Als er fort war, sah Viola den Patienten an. Der hob ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit, doch als er in ihre Richtung blickte, stellte er es wieder ab.

»Sehr clever von ihm, das Ganze zu einer Zeit zu arrangieren, in der Armaan nicht da ist.«

»Armaan? Ist das Ihr Kammerdiener? Oder – Moment, Ihr Vater hat einen Offiziersburschen erwähnt.«

Er schüttelte den Kopf, stöhnte bei dieser Bewegung jedoch leise auf. »Armaan ist mein Freund. Wir haben zusammen in Indien gedient. Er hat mir das Leben gerettet. Hat mich aus einem brennenden Gebäude herausgeholt.«

»Oh. Verzeihen Sie.«

»So wie Sie denken viele. Mein Vater ist da keine Ausnahme. Wie auch immer, wenn Armaan Ihnen die Tür geöffnet hätte, hätte er Sie sofort gezwungen, den Rückzug anzutreten. Wie war noch mal Ihr Name?«

Sie zuckte bei der unvermittelten Frage zusammen. »M-Miss Summers.« Sie bemühte sich entschlossen darum, ruhiger zu werden und einen gelassenen Ton beizubehalten.

»Summers …« Er runzelte die Stirn. »Das ist doch der Name dieser verdammten Leute, die unser Nachbarhaus in eine ordinäre Pension verwandelt haben.«

Sie schob das Kinn vor. »Wir bevorzugen die Bezeichnung Gästehaus.«

Er schnaubte. »Wissen Sie, ich habe dieses Haus gerade wegen seiner abgeschiedenen Lage gekauft. Der Makler hat mir versichert, dass die Gegend sehr ruhig sei und dass es hier nur Privathäuser gäbe, die zudem nur saisonal bewohnt seien.«

»Die Dinge haben sich geändert.«

»Was für Dinge?«

»Unser Vater ist gestorben. Wir … äh, wir müssen uns einschränken.«

»Auf meine Kosten.«

»Ich glaube kaum …«

»Wie ist Ihr Vorname?«

Sie warf den Kopf zurück. »Viola. Aber …«

»Nein, das war nicht der Name.« Seine Brauen … jedenfalls, was sie davon sehen konnte, waren gerunzelt.

Sie sagte: »Sie haben mit meiner Schwester Sarah korrespondiert.«

»Genau.«

Von draußen drangen plötzlich Hundegebell und Rufe herein. Major Hutton sah wütend zum Fenster. »Was zum Teufel ist das für ein Lärm?«

»Meine Schwester Georgiana. Sie wartet draußen auf mich, zusammen mit einem Streuner, der ihr überallhin nachläuft.«

»Noch eine Schwester? Gute Güte, wie viele sind Sie denn?«

»Wir sind vier.«

»Und Ihre Mutter …?«

»Sie lebt ebenfalls bei uns, ist aber selbst nicht ganz gesund.«

»Sie sollten wohl lieber zu Hause bleiben und ihr vorlesen.«

Viola schüttelte den Kopf. »Wir müssen alle mithelfen, entweder im Haus oder indem wir Geld verdienen.«

»Und Sie haben sich für das hier entschieden?«

»Nun – ja, Emily hat mir das eingebrockt. Sie hat die Anzeige aufgegeben.«

»Die vierte Schwester?«

»Ja.«

»Ich verstehe. Plötzlich bin ich dankbar, dass ich keine Schwestern habe.«

Sie lächelte schwach und spürte, wie sein einäugiger Blick auf ihrem verschleierten Profil ruhte.

Er fragte: »Warum tragen Sie einen Schleier?«

Sie schluckte. »Warum halten Sie Ihre Läden geschlossen?«

»Ha. Gut pariert. Der Wundarzt hat mir während der Erholungszeit empfohlen, das Zimmer abzudunkeln. Er hat erst kürzlich ein Stück Metall aus meinem Auge entfernt.«

Bei dem bloßen Wort Wundarzt stieg eine Welle der Übelkeit in Viola auf.

Er hatte es bemerkt und sagte: »Wenn Sie zimperlich sind, gehen Sie besser gleich.«

Statt einer Antwort ging sie zu dem mit Zeitungen und ungeöffneten Briefen überhäuften Schreibtisch. »Soll ich mit den Zeitungen anfangen oder mit Ihrer Korrespondenz?«

Als er nicht antwortete, sah sie sich um. Sein freies Auge starrte sie an.

»Sie sind eine Fremde für mich. Warum sollte ich Sie persönliche, potenziell vertrauliche Briefe lesen lassen?«

Sie zuckte die Achseln. »Das weiß ich auch nicht.«

»Haben Sie wenigstens ein Empfehlungsschreiben?«