Die Tochter des Hauslehrers - Julie Klassen - E-Book

Die Tochter des Hauslehrers E-Book

Julie Klassen

4,0

Beschreibung

Emma Smallwood ist fest entschlossen, ihrem Vater zu helfen, als dessen Privatschule schließen muss. Sie begleitet ihn zum Herrenhaus eines Barons und seiner vier Söhne, hoch oben über der Steilküste Cornwalls. Doch kurz nach ihrer Ankunft geschehen merkwürdige Dinge. Wer spielt Klavier mitten in der Nacht? Wer schleicht sich in Emmas Schlafzimnmer und hinterlässt geheimnisvolle Hinweise? Die beiden älteren Söhne des Barons haben ihre eigenen Geheimnisse. Sie kennen Emma noch aus ihrer eigenen Schulzeit. Jetzt aber fühlt sich einer von ihnen unwiderstehlich zu ihr hingezogen. Als sich die Merkwürdigkeiten häufen, muss sich Emma entscheiden, welchem Bruder sie trauen kann.

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ISBN 978-3-7751-7170-0 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5488-8 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2013SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: The Tutor's DaughterCopyright © 2012 by Julie KlassenPublished by Bethany House, a division of Baker Publishing Group,Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.Cover art used by permission of Bethany House Publishers.All rights reserved.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006,© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Übersetzung: SunSide ÜbersetzungUmschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.chTitelbild: Mike Habermann PhotographySatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

In Liebe für meine OnkelAl, Ed, Hank und JohnUnd in liebevoller Erinnerung an Onkel Bill

Junge Herren erhalten für achtzehn Guineen im Jahr, bei Unterbringung und voller Verpflegung, Unterricht in der englischen Sprache, im Schreiben und im Rechnen.Darüber hinaus findet eine gründliche Einführung in die alten Sprachen statt. Für einen geringen Aufschlag kann zusätzlich Unterricht im Zeichnen, in Geografie und im Umgang mit dem Globus erteilt werden.

Anzeige im Hampshire Chronicle, 1797

E. England möchte seinen Freunden und der allgemeinen Öffentlichkeit bekannt geben, dass er ab sofort eine begrenzte Anzahl von Schülern aufnimmt. Für vierzehn Guineen erhalten sie Unterbringung und Verpflegung sowie eine sorgfältige Unterweisung in der englischen Grammatik und in der Schreibkunst. Ebenfalls im Preis enthalten ist der Unterricht in den Fächern Mathematik und Geschichte sowie eine Einführung in die Benutzung des Globus und in das perspektivische Zeichnen.

Anzeige im Stamford Mercury, 1808

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Nachwort

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Prolog

Longstaple, Devonshire1812

Irgendetwas ist anders, dachte Emma, kaum dass sie ihr blitzsauberes, ordentliches Schlafzimmer betreten hatte. Was ist es nur …?

Sie betrachtete das sorgfältig gemachte Bett, das Nachttischchen, die Kleidertruhe … Da. Die Hand auf die Brust gepresst, trat sie einen Schritt vor.

In der hübschen Teetasse, die sie nie benutzte, sondern nur zur Dekoration aufgestellt hatte, steckte ein Sträußchen roséfarbener Rosen. Die Blumen stammten höchstwahrscheinlich aus dem Garten ihrer Tante, die neben ihnen wohnte, aber sie waren für sie gepflückt worden, von ihm, und das allein zählte.

Ihr war sofort klar, von wem die Blumen stammten: von Phillip Weston, ihrem ganz persönlichen Liebling unter den zahlreichen Schülern ihres Vaters und wahrscheinlich dem Einzigen, der wusste, dass heute ihr Geburtstag war – ihr sechzehnter Geburtstag. Phillip war so unglaublich viel netter als sein älterer Bruder Henry, der schon ein paar Jahre länger bei ihnen war.

Emma nahm die Tasse vorsichtig in die Hand, neigte den Kopf über die Blumen und atmete den süßen Duft der Rosen und des frischen Grüns ein. Mmm … Bewundernd betrachtete sie die roséfarbenen Blüten und die grünen Blätter, die das farbenfrohe Dekor der Tasse so hübsch zur Geltung brachten.

Dabei dachte sie an den Tag vor drei Jahren, an dem ihre Mutter ihr diese Tasse geschenkt hatte. Und am selben Tag hätte Henry Weston sie beinahe zerbrochen …

Emma löste das Geschenkband, schlug das Papier zurück – sorgfältig darauf bedacht, es nicht zu zerreißen – und öffnete die kleine Schachtel. Beim Anblick des Inhalts leuchtete ihr Gesicht vor Freude auf. Sie hatte recht gehabt mit ihrer Vermutung; war ihr doch kürzlich aufgefallen, dass die teure Teetasse nicht mehr auf ihrem Platz im Schrank mit dem kostbaren Porzellan stand.

»Sie hat deiner Großmutter gehört«, sagte ihre Mutter. »Sie hat sie auf ihrer Hochzeitsreise gekauft, in Italien. Kannst du dir das vorstellen?«

»Ja«, hauchte Emma und bewunderte die goldgeränderte Tasse mit der feinen Zeichnung, der Abbildung einer venezianischen Gondel unter einer Brücke. »Sie ist wunderschön. Sie hat mir schon immer unglaublich gefallen.«

Auf der blassen Wange ihrer Mutter erschien ein seltenes Grübchen. »Das weiß ich.«

Emma lächelte. »Danke, Mama.«

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Liebling.«

Emma stellte die Tasse mit der Untertasse wieder in die kleine Schachtel, um sie auf ihr Zimmer mitzunehmen. Sie war gerade im Begriff, das Wohnzimmer zu verlassen, als plötzlich mit voller Wucht eine Holzkugel gegen die Wand hinter ihr prallte und ihr beinahe die Schachtel aus der Hand geschlagen hätte.

Wütend blickte sie auf und sah, wie einer der Schüler ihres Vaters sie frech angrinste.

»Henry Weston!« Emma presste die Schachtel gegen ihre junge Brust, wobei sie schützend die Arme davorhielt. »Pass doch gefälligst auf!«

Seine grünen Augen wanderten von ihrem Gesicht zu ihren Armen; er trat näher. »Was ist das da in der Schachtel?«

»Ein Geschenk.«

»Ach ja, stimmt ja. Du hast ja heute Geburtstag. Wie alt bist du jetzt – zehn?«

Sie hob das Kinn. »Ich bin dreizehn, wie du sehr gut weißt.«

Er streckte die Hand aus, schlug das Papier zurück und spähte in die Schachtel. Seine Augen funkelten. Doch dann kicherte er, um gleich darauf in lautes Lachen auszubrechen.

Sie starrte den selbstgefälligen Sechzehnjährigen an. »Ich weiß gar nicht, was daran so komisch sein soll.«

»Das ist das perfekte Geschenk für dich, Emma Smallwood. Eine einzelne Teetasse. Eine einzelne, einsame Teetasse. Hab ich denn nicht schon immer gesagt, dass du als alte Jungfer enden wirst?«

»Das werde ich nicht«, widersprach sie.

»So wie du den ganzen Tag rumsitzt und liest, wird dein Kopf weiterwachsen wie verrückt, während dein Körper schrumpft – und wer würde so etwas schon heiraten wollen?«

»Jemand sehr viel Besseres als du!«

Er schnaubte. »Wenn dich jemand heiratet, Emma Smallwood, dann werde ich … dann werde ich bei deinem Hochzeitsfrühstück den Schwertertanz aufführen.« Er grinste. »Nackt.«

Sie lachte verächtlich. »Und wer würde so etwas schon sehen wollen? Außerdem – wer sagt, dass ich dich zu meiner Hochzeit einlade?«

Er zwickte sie gönnerhaft ins Kinn. »Blaustrumpf.«

Sie funkelte ihn böse an. »Frechling!«

»Emma Smallwood …« Ihre Mutter erschien in der Tür, mit blitzenden Augen. »Was hast du da gesagt? Ich mache dir ein so schönes Geschenk und muss dafür solche Worte von dir hören?«

»Tut mir leid, Mama.«

»Mr Weston.« Ihre Mutter entließ Henry mit einem gnädigen Nicken. »Lassen Sie uns bitte allein.«

»Mrs Smallwood.« Er verneigte sich, drehte sich um und ging zur Treppe.

»Emma«, zischte ihre Mutter. »Eine junge Dame spricht nicht so mit einem Gentleman.«

»Er ist kein Gentleman«, sagte Emma und hoffte, dass Henry es hörte. »Jedenfalls benimmt er sich nicht wie einer.«

Ihre Mutter presste die Lippen zusammen. »Wie auch immer, es gehört sich nicht. Geh auf dein Zimmer und lies das Kapitel über gute Manieren in dem Buch, das ich dir gegeben habe.«

Emma protestierte. »Mama …!«

Ihre Mutter hob die Hand. »Kein Wort mehr. Es stimmt, ich habe gesagt, dass du zu viel liest, aber es ist mir lieber, du liest ein Buch über weibliche Tugenden als diese schrecklich gelehrten Schinken deines Vaters.«

»Ja, Mama.« Emma seufzte und ging mit ihrer Tasse in der Hand nach oben.

Die unglückliche Erinnerung verblasste. Emma blickte lächelnd auf das Sträußchen, das Henrys jüngerer Bruder Phillip für sie gepflückt hatte. Sie überlegte, was Henry Weston wohl sagen würde, wenn er sie jetzt sehen könnte und wüsste, wer ihr die Blumen gebracht hatte.

Als Henry Weston das Smallwood'sche Pensionat verlassen hatte, war Emma erleichtert gewesen, doch dass Phillip sie nun auch verließ, stimmte sie traurig. Es war kaum zu glauben, dass zwei Brüder so verschieden sein konnten.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1

Lucy war noch keine Stunde im Haus, da hatte sie bereits alles bis ins Kleinste durchorganisiert und jedem Ding seinen Platz zugewiesen.

The Naughty Girl Won, um 1800

Fünf Jahre späterApril 1817

Mit großer Sorgfalt staubte die mittlerweile einundzwanzigjährige Emma Smallwood die Reihe ihrer Lieblingsbücher ab, die sie auf ihrer Kleidertruhe platziert hatte. Das war die einzige Hausarbeit, die sie – allen Protesten Mrs Malloys zum Trotz – selbst erledigte. Liebevoll beseitigte sie auch noch das letzte Staubkörnchen, das es gewagt hatte, sich auf ihrer Lieblingstasse niederzulassen. Die Tasse mit Untertasse, ein Geschenk ihrer Mutter, war aus kostbarem Porzellan mit einem schmalen Echtgoldrand.

Emma stellte die Tasse zurück auf die in Leder gebundene Ausgabe von Sternes Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien und drehte sie, bis die Zeichnung darauf – eine hübsche Darstellung einer schlanken venezianischen Gondel – am besten zur Geltung kam.

Emma hatte noch kein einziges Mal aus dieser Tasse getrunken, doch es war ihre größte Freude, sie anzusehen und dabei an ihre Mutter zu denken, die vor zwei Jahren gestorben war. Und an einen jungen Mann, der ihr ein Rosensträußchen gepflückt und in die Tasse gestellt hatte. Dabei malte sie sich stets aus, wie es wohl wäre, wenn sie selbst eines Tages nach Italien reisen könnte.

Nach dem Morgenritual verstaute Emma ihre Putzutensilien und sah dann auf die Uhr, die sie, an einer Chatelaine befestigt, am Gürtel trug. Befriedigt ließ sie den Deckel wieder zuschnappen. Genau, wie sie gedacht hatte. Zeit, hinunterzugehen und den letzten Schüler zu verabschieden.

Unten sah sie Edward Sims bereits in der Halle stehen und nervös an seinem Koffer herumnesteln. Er trug einen Hut und einen eleganten Mantel, und wirkte wie der Inbegriff eines jungen Mannes, der auszieht, um die Welt zu erobern.

»Fertig, Mr Sims?«

Er wandte sich um. »Ja, Miss Smallwood.«

Obwohl Emma nur vier Jahre älter war als er, empfand sie fast eine Art mütterliche Zuneigung zu dem jungen Mann, mit dem sie den Großteil der letzten drei Jahre unter einem Dach gelebt hatte. Sie blickte sich in der leeren Halle um. »Hat mein Vater sich schon von Ihnen verabschiedet?«

Mr Sims schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn heute Morgen noch nicht gesehen.«

Emma zwang sich zu einem Lächeln. »Wie schade. Es wird ihm leidtun, dass er Sie verpasst hat. Ich weiß genau, dass er rechtzeitig zurück sein wollte, um Ihnen Lebewohl zu sagen.«

Ihr Vater hätte hier sein sollen. Bestimmt war er auf den Friedhof gegangen, zu ihrem Grab. Wieder einmal.

Mr Sims lächelte sie verlegen an. »Sagen Sie ihm Auf Wiedersehen von mir und dass ich ihm vielmals danke, für alles.«

»Das mache ich.«

»Aber vor allem danke ich Ihnen, Miss Smallwood. Ich habe viel von Ihnen gelernt.«

»Gern geschehen, Mr Sims. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg auf der Universität.«

Durch das Vorderfenster sah sie zu, wie der junge Mann am Schild des Smallwood-Pensionats vorbei den gepflasterten Weg hinunterging, und es überkam sie ein Gefühl der Wehmut, die sie immer verspürte, wenn ein Schüler ihr Haus verließ. Dieses Mal war es noch stärker, weil kein anderer Schüler nachfolgte, der seinen Platz einnahm.

Das Haus wirkte plötzlich viel zu still und leer. Wenn Mr Sims doch nur einen jüngeren Bruder hätte! Oder noch besser sechs jüngere Brüder.

Sie seufzte. Wahrscheinlich würde sogar der liebenswürdige Mr Sims zögern, Mr Smallwood weiterzuempfehlen angesichts der Tatsache, wie wenig ihr Vater sich tatsächlich um seine Ausbildung gekümmert hatte.

Doch wie sollten sie ohne Schüler ihre Haushälterin, die gleichzeitig als Köchin fungierte, bezahlen, ganz zu schweigen von den Rechnungen, deren Stapel täglich höher wurde?

Emma trat an den Schreibtisch im Wohnzimmer der Familie, holte das gebundene Wirtschaftsbuch heraus, das darin aufbewahrt wurde, und blätterte ihre früheren Listen durch:

In diesem Jahr zu lesende Bücher.

Im nächsten Jahr zu lesende Bücher.

Reparaturarbeiten in den Zimmern der Jungen.

Sparmaßnahmen.

Zu besuchende Orte.

Neue Texte und Lehrbücher für das nächste Trimester: keine.

Ablenkungen und Zerstreuungen, die Papas Laune bessern / erzielte Verbesserungen: keine.

Schüler pro Jahr.

Ihre Schülerlisten, die jedes Jahr kürzer geworden waren, enthielten unter anderem Anmerkungen über das Wesen des betreffenden jungen Mannes und über seine Pläne für die Zukunft.

Sie holte die Liste von vor drei Jahren hervor und fuhr mit dem Finger über die Namen, bis sie einen ganz bestimmten gefunden hatte.

Phillip Weston. Freundlich, liebenswürdig. Zweiter Sohn.Möchte wie sein Bruder nach Oxford gehen und Jura studieren.

Die kurze Beschreibung wurde ihm allerdings nicht annähernd gerecht. Phillip Weston war von den vielen Schülern, die ihr Vater im Laufe der Jahre gehabt hatte, ihr einziger Freund gewesen.

Noch während sie an ihn dachte, suchte sie nach einer anderen Liste.

Voraussichtlich weitere Schüler: Rowan und Julian Weston?

Wieder dachte Emma an den Brief, den sie vor vierzehn Tagen abgeschickt hatte. Sie wusste, dass Henry und Phillip Weston zwei jüngere Halbbrüder hatten; Phillip hatte oft genug von ihnen gesprochen. Julian und Rowan mussten inzwischen mindestens fünfzehn sein – älter als Phillip, als dieser zu ihrem Vater in die Schule gekommen war.

Doch sie waren nicht gekommen.

Sie hatte schon mehrmals mit ihrem Vater über dieses Thema gesprochen und ihm vorgeschlagen, dem Vater der Jungen doch einfach zu schreiben, aber er hatte nur herumgedruckst, geseufzt und gesagt, wenn Sir Giles ihnen seine jüngeren Söhne schicken wollte, hätte er das schon längst getan. Viel wahrscheinlicher war, dass Sir Giles und seine zweite Frau Winchester Harrow oder Eton der bescheidenen Einrichtung der Smallwoods vorgezogen hatten.

»Aber es kann doch nicht schaden, einmal nachzufragen«, hatte Emma ihn gedrängt.

Doch ihr Vater hatte nur das Gesicht verzogen und gemeint, vielleicht später.

Schließlich hatte Emma, die in den letzten zwei Jahren immer öfter als Sekretärin ihres Vaters fungiert hatte, zur Feder gegriffen und anstelle ihres Vaters selbst an Sir Giles geschrieben – und ihn gefragt, ob er vorhabe, auch seine beiden jüngeren Söhne auf ihre Schule zu schicken.

Sie konnte noch immer kaum glauben, dass sie das wirklich getan hatte. Was war nur in sie gefahren? Doch im Grunde wusste sie es ja. Sie hatte kürzlich einen Bericht über die wagemutigen Reisen der russischen Prinzessin Catherine Dashkow gelesen. Die Lektüre hatte sie zu einer ihrer seltenen Heldentaten – oder Torheiten, wie immer man ihren Brief bezeichnen mochte – inspiriert. Letztlich jedoch hatte ihr Schreiben nichts bewirkt. Der Mut, den sie aufgebracht hatte, war vergeblich gewesen; sie hatte keine Antwort erhalten. Sie hoffte nur, dass Sir Giles, falls ihre Nachfrage ihn verärgert hatte, nicht etwa seinem Sohn Phillip davon erzählte, der, wie sie vermutete, noch auf die Universität ging.

Emma blätterte eine Seite in ihrem Buch um, tauchte die Feder ins Tintenfass und begann eine neue Liste.

Maßnahmen zur Beschaffung weiterer Schüler.

Es klopfte am Türrahmen. Emma blickte auf. Da stand ihre Tante Jane; sie war wie gewöhnlich durch die Seitentür hereingekommen.

»Ist Mr Sims schon fort?«, fragte Jane lächelnd. Sie lächelte eigentlich fast immer, wobei ihre leicht schräg stehenden Eckzähne sichtbar wurden.

»Ja. Du hast ihn ganz knapp verpasst.« Emma stellte ihren Federhalter zurück.

Ihre Tante legte ihren Hut auf den Tisch und strich sich glättend übers Haar. Dabei fielen Emma ein paar silberne Strähnen inmitten des dichten Brauns auf, die offenbar dem rücksichtslosen Auszupfen entgangen waren.

Jane, die jüngere Schwester ihres Vaters – sie war sechs Jahre jünger als ihr Bruder – hatte nie geheiratet. Sie lebte im Haus neben ihnen, ihrem Elternhaus, und führte eine Schwestereinrichtung des Smallwood-Pensionats für Jungen – ein Mädchenpensionat.

Jane zog ihre Handschuhe aus. »Darf ich fragen, wo dein Vater ist?«

Emma schüttelte den Kopf. »Er ist seit dem Frühstück verschwunden.«

Tante Jane verzog bedauernd den Mund und schüttelte ebenfalls den Kopf.

Mrs Malloy, die langjährige Haushälterin und Köchin der Smallwoods, brachte das Teetablett herein. Sie schien nicht im Geringsten überrascht, Jane Smallwood zu sehen, im Gegenteil, es standen bereits drei Tassen auf dem Tablett.

»Du leistest mir doch hoffentlich Gesellschaft?«, fragte Emma höflich, wohl wissend, dass ihre Tante genau das vorgehabt hatte.

»Danke, gern, meine Liebe.«

Als hätte ihn der warme Dampf, der aus der Teekanne aufstieg, oder der Duft von Mrs Malloys Keksen herbeigelockt, ging plötzlich die Tür auf und Emmas Vater schlurfte herein, den Kopf gesenkt, die schmalen Lippen nach unten gezogen. Er wirkte sehr viel älter als seine achtundvierzig Jahre.

Mrs Malloy ging zu ihm, um ihm Hut und Schal abzunehmen, und schimpfte: »Mr Smallwood … Ihre Schuhe sehen ja fürchterlich aus! Und dann auch noch nasse Hosen! Sind Sie nach Hause geschwommen?«

»Verzeihen Sie mir, Mrs Malloy«, entgegnete er trocken. Seine blauen Augen blitzten ironisch auf. »Ich bin nicht in die Pfütze getreten, um Sie zu ärgern.« Er putzte seine Schuhe ab und sah zu seiner Tochter und seiner Schwester hinüber. »Komme ich noch rechtzeitig zum Tee?«

»Ja«, antwortete Emma. »Aber du hast Mr Sims verpasst.«

Ihr Vater blinzelte, überrascht und verärgert. »Ist er schon fort? Du meine Güte! Ich wollte mich eigentlich von ihm verabschieden. Ich hoffe, du hast ihm gesagt, wie dankbar ich für ihn bin, und ihm in meinem Namen alles Gute gewünscht?«

»Natürlich.«

Ihr Vater setzte sich und rieb sich die Hände. »Kalt heute. Und feucht.«

»Du hättest nicht so lange draußen bleiben dürfen, John«, sagte Jane. »Du holst dir noch den Tod.«

»Schön wär's«, murmelte er.

Tante und Nichte wechselten einen besorgten Blick.

Emma schenkte ihnen Tee in die Alltagstassen ein. Während des gemeinsamen Mahls aus heißem Tee, Brot, Käse und Keksen sprachen sie wenig. Ihr Vater nahm sich von allem, wie sie bemerkte, auch wenn sein Appetit nicht mehr so groß war wie früher.

Emma aß ein wenig Brot und Käse; die Kekse versagte sie sich, obwohl es ihre Lieblingskekse waren. Naschereien gestattete Emma sich nur an Weihnachten und an ihrem Geburtstag.

Sie nippte am Tee und setzte ihre Tasse wieder ab. »Papa«, begann sie, »ich habe eine Liste angelegt.«

»Noch eine? Was denn diesmal?«

Sie spürte ein kurzes Aufflackern von Ärger angesichts seines herablassenden Tons, antwortete jedoch ruhig: »Eine Liste dessen, was wir unternehmen könnten, um neue Schüler zu gewinnen.«

»Ach so.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als sei das Thema völlig belanglos.

Ihre Tante kam ihr zu Hilfe. »Und was hast du dir ausgedacht?«

Emma sah sie dankbar an. »Eine neue Anzeige in der Zeitung. Vielleicht weitere Anzeigen in anderen Zeitungen; das wäre allerdings teuer. Ein größeres Schild draußen vor dem Haus könnte vielleicht auch helfen, unser altes sieht schon ein wenig schäbig aus, fürchte ich. Außerdem bemerkt man es kaum, wenn man nicht gerade Ausschau danach hält.«

Tante Jane nickte. »Ja, ein gut sichtbares, gepflegtes Schild ist meiner Ansicht nach sehr wichtig.«

»Unser Schild erfüllt absolut seinen Zweck«, murmelte John Smallwood in seine Teetasse. »Schließlich ziehen Eltern nicht durch die Straßen auf der Suche nach einem Lehrer für ihr Kind.«

Emma dachte kurz nach, dann sagte sie: »Da hast du völlig recht, Papa. Wir müssen nicht die Aufmerksamkeit von Passanten wecken, sondern die der wohlhabenden Familien im größeren Umkreis.«

Seine Augen trübten sich, sein Mund wurde schlaff. »Ich habe einfach nicht die Kraft dazu, Emma. Ich bin kein junger Mann mehr.«

»Komm schon, John«, sagte seine Schwester. »Du hast noch viele gute Jahre vor dir.«

Er seufzte. »Was für eine deprimierende Aussicht.«

Jane entgegnete mit einem Blick auf ihre Nichte: »Du musst auch an Emma denken, John, nicht nur an dich.«

Er zuckte die Achseln, offenbar war er nicht überzeugt. »Emma ist durchaus in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Genau wie du.«

Emma und ihre Tante wechselten abermals einen Blick.

Wenn Emma nicht bald etwas einfiel, wie sie ihrem Vater helfen konnte, würden sie in echte Bedrängnis geraten, finanzieller und anderer Art, ja vielleicht verloren sie sogar ihr Haus und die Schule – und damit die einzige Möglichkeit für ihren Vater und sie selbst, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Die folgenden beiden Tage durchforstete Emma ihr Gedächtnis und die Zeitungen nach den Namen von Familien mit Söhnen, die, soweit sie wusste, noch auf keine andere Schule gingen. Sie saß gerade am Schreibtisch, als Mrs Malloy mit der Tagespost eintrat. »Hier bitte, meine Liebe.«

Emma, die ganz steif geworden war vom Stillsitzen und sich dringend ein bisschen recken und strecken musste, stand auf und blätterte geistesabwesend den Stapel durch, wie immer die Angst vor Rechnungen oder Absagen im Nacken. Bei einem an ihren Vater adressierten Brief hielt sie inne. Der Absender lautete: Ebbington Manor, Ebford, Cornwall.

Ebbington Manor war das Anwesen von Sir Giles Weston und seiner Familie. Emma lief ein kleiner Schauer über den Rücken – Aufregung, gemischt mit Angst. Sie hatte die Hoffnung auf eine Antwort schon beinahe aufgegeben.

Da ihr Vater ihr die Korrespondenz überlassen hatte – insbesondere, seit fast nur noch deprimierende Rechnungen eintrafen, empfand sie nur sehr schwache Gewissensbisse, als sie das Siegel brach und den Brief entfaltete.

Mit einem letzten kurzen Aufflackern schlechten Gewissens blickte sie noch einmal zur Tür, dann las sie die Zeilen, die wie eilig hingeworfen wirkten:

Mein lieber Mr Smallwood,

vielen Dank für Ihren Brief und Ihr freundliches Interesse an meinen jüngeren Söhnen. Sie haben recht mit Ihrer Vermutung, dass sie das Alter erreicht – ja sogar überschritten – haben, in dem meine beiden älteren Söhne uns verließen, um ein paar Jahre bei Ihnen in Longstaple zu verbringen. Lady Weston ist jedoch der Ansicht, dass unsere jüngeren Söhne zu empfindsam sind, um längere Zeit von ihrer Mutter getrennt zu werden. Ich persönlich glaube zwar, dass diese Erfahrung für sie ebenso gut wäre wie für Henry und Phillip und zweifellos ihren Charakter stärken würde, doch ich fühle mich in dieser Angelegenheit genötigt, die Wünsche meiner Frau zu respektieren.

Ich nehme nicht an, dass Sie bereit wären, nach Ebbington Manor zu kommen und die Jungen hier zu unterrichten für ein Gehalt, sagen wir, doppelt so hoch wie Ihre Pensionskosten? Für uns wäre es das Beste, wenn Sie ein Jahr bei uns verbringen und die Jungen auf die Universität vorbereiten könnten. Ich weiß natürlich, dass das viel verlangt ist, insbesondere wenn man bedenkt, dass Sie Ihre Frau verloren haben, was zu hören mir sehr leidtat. Falls Ihnen jedoch ein Wechsel Ihrer Lebensumstände entgegenkommt, lassen Sie es mich bitte wissen. Wir würden uns sehr freuen. Ihre Tochter ist uns selbstverständlich ebenfalls willkommen.

Herzlichst IhrSir Giles Weston, Baronet

Du meine Güte, was für eine Vorstellung! Ihr Vater sollte sein anerkanntes Institut aufgeben, um Hauslehrer für zwei Schüler zu werden. Das wäre wahrlich ein großer Gefallen! Viele junge Herren, die frisch von der Universität kamen und kein Privatvermögen hatten, verdingten sich als Hauslehrer bei reichen Familien. Aber anzunehmen, dass Mr John Smallwood sein Haus und sein Pensionat verließ, um das Gleiche zu tun … Emma war beinahe beleidigt an ihres Vaters Stelle. Hatte es sich vielleicht schon herumgesprochen, dass die Smallwoods in einer Notlage waren? Sie schnaubte und warf den Brief zu den anderen auf den Schreibtisch.

Da stand sie nun, immer noch ganz empört. Doch nachdem der erste Ärger verflogen war, las sie den Brief noch einmal durch. Eigentlich schrieb Sir Giles sehr höflich; der Ton, in dem er sein Anliegen vortrug, klang schon fast entschuldigend. Letztlich ging es ihm einfach darum, seinen Söhnen eine gute Ausbildung zu ermöglichen, ohne dabei seine launische, verwöhnte Frau vor den Kopf zu stoßen.

Die erste Lady Weston, Phillips und Henrys Mutter, war gestorben, als die beiden Jungen noch sehr klein waren. Von Phillip wusste Emma, dass seine Stiefmutter, die zweite Lady Weston, etwas schwierig war und dass ihre eigenen Kinder ihr sehr viel wichtiger waren als ihre Stiefsöhne. Emma erinnerte sich, dass Phillip ihr sehr leidgetan hatte, als er sein angespanntes Verhältnis zu dieser Frau beschrieb.

Emma erinnerte sich nicht, dass Henry je über seine Stiefmutter gesprochen hätte, aber sie und Henry waren auch keine Freunde gewesen und hatten ohnehin nie über persönliche Dinge geredet.

Emma dachte an Ebbington Manor, einen Ort, den sie nie gesehen, sich aber oft in Gedanken ausgemalt hatte, hoch über den Klippen an der windumtosten Küste von Cornwall. Natürlich wäre es schön, Phillip Weston wiederzusehen. Doch dann fiel ihr ein, dass er ja in Oxford war, wahrscheinlich in seinem dritten Jahr am Balliol-College, und bestimmt nicht zu Hause saß und auf ihren Besuch wartete.

Sollte sie ihrem Vater den Brief zeigen? Wahrscheinlich würde er Sir Giles' Vorschlag nicht einmal in Erwägung ziehen, pflegte er doch jeden Tag viele Stunden am Grab seiner verstorbenen Frau zu sitzen. Und wenn doch – was sollte sie dann tun? Ihm einen Koffer packen und ihn für ein Jahr nach Cornwall schicken, während sie mit Tante Jane hierblieb?

Einerseits gefiel ihr dieser Gedanke sogar. Wie oft hatte ihre Tante ihr schon vorgeschlagen, ihr beim Unterrichten zu helfen und eines Tages das Mädchenpensionat sogar gemeinsam mit ihr zu führen – vorausgesetzt, sie war irgendwann bereit, ihren Vater sich selbst zu überlassen?

Doch ihr Vater brauchte sie. Emma half ihm nun schon seit Jahren. Mit der langen Krankheit ihrer Mutter hatte es begonnen und seit deren Tod, nachdem Emmas Vater in eine tiefe Depression abgeglitten war, blieb die Arbeit fast ausschließlich an ihr hängen. Im Moment würde er wohl gar nicht allein zurechtkommen. Doch auf Ebbington Manor wäre er einzig und allein für die Erziehung der Jungen zuständig und nicht mehr für die Verwaltung eines Pensionats, und er brauchte sich nicht mehr mit Tagesschülern, Mahnungen für Schulgebühren und Terminen mit dem Tanzlehrer, dem Zeichenlehrer und dem Französischlehrer abzuplagen. Ja, es würde ihm bestimmt guttun, wenn sein Aufgabenfeld etwas eingeschränkt wurde. Doch ganz sicher konnte Emma sich nicht sein, und der Gedanke, ihn ganz allein, auf sich gestellt, fortzuschicken, war kaum zu ertragen. Was, wenn er versagte? Wenn er sich blamierte und die Demütigung erleben musste, entlassen zu werden? In seinem gegenwärtigen Zustand war er einer solchen Erfahrung keinesfalls gewachsen.

Du regst dich völlig unnötig auf, Emma, schalt sie sich. Er wird sowieso nicht gehen.

Doch als sie die Sache nach dem Essen ansprach, reagierte ihr Vater ganz anders als erwartet. Sein Blick wurde plötzlich lebendig, seine Haltung straffte sich und er sah sie mit einer Begeisterung an, die sie seit Jahren nicht bei ihm wahrgenommen hatte.

»Hat Sir Giles uns wirklich eingeladen, zu ihnen zu kommen und dort zu leben?«, fragte er.

»Ja, aber …«

»Eine interessante Vorstellung …« Seine Augen schienen förmlich zu leuchten, während er nachdenklich zur Decke hochblickte.

»Vater, ich schwöre dir, ich habe mit keinem Wort auf ein solches Arrangement angespielt. Ich habe nur gefragt, ob er in Erwägung zieht, seine beiden jüngeren Söhne zu uns zu schicken.«

Ihr Vater nickte, schien jedoch nicht im Geringsten verärgert, weder über die Einladung noch über die Tatsache, dass sie den Brief geschrieben hatte.

Er bat darum, den Brief sehen zu dürfen, und sie ging ihn holen.

Er las ihn, nahm seine Brille ab und sagte: »Ehrlich gesagt, meine Liebe, sehne ich mich nach einer Veränderung. Hier in diesem Haus zu sein, Tag um Tag, Nacht um Nacht, an dem Ort, an dem meine Frau so lange gelitten hat … umgeben von Dingen, die voller Erinnerungen sind, aber nicht nur an die glücklichen Jahre, was ja schön wäre, sondern an die letzten Jahre, die schmerzlichen – was glaubst du, warum ich so oft weggehe?«

»Ich … ich dachte, du besuchst ihr Grab auf dem Friedhof«, sagte Emma leise.

Er zuckte die Achseln. »Ich gehe manchmal dorthin, um nachzusehen, ob das Grab auch richtig gepflegt wird. Dann reiße ich ein bisschen Unkraut aus oder setze neue Blumen. Aber ich gehe nicht hin, um sie zu besuchen. Sie ist nicht dort, Emma. Sie ist an einem sehr viel besseren Ort als auf dem Friedhof von Longstaple.«

Tränen standen ihm in den Augen. Emma kämpfte selbst mit den Tränen. Doch im Moment machte sie sich zu große Sorgen um die Zukunft, um die Vergangenheit betrauern zu können.

»Aber … Ebford ist … so weit weg«, stammelte sie. »Hoch oben im Norden von Cornwall.«

»Das ist doch gar nicht so sehr weit. Und es wäre ja nur für ein Jahr.« Er lehnte sich zurück und dachte nach. »Ich erinnere mich, wie Phillip Ebbington Manor beschrieben hat. Ein weitläufiges altes Haus, hoch auf den Klippen über dem Meer. Wunderschöne Fußwege an der Küste entlang …«

»Aber du wärst nicht dort, um die Küste entlangzuwandern«, rief ihm Emma in Erinnerung. »Du wärst dort, um zu unterrichten.«

»Ja, ich weiß. Aber wir hätten bestimmt genügend Zeit zum Spazierengehen.« Jetzt zögerte er zum ersten Mal. »Andererseits – du wirst mich vielleicht nicht begleiten wollen, meine Liebe. Du bist schließlich kein kleines Mädchen mehr.«

Emma stand auf und trat ans Fenster. In ihrem Kopf überstürzten sich die Gedanken. Konnte sie das wirklich tun – einfach fortgehen, alles, was sie kannte, zurücklassen und ein Jahr in Cornwall leben? Sie spürte, wie sie die Beherrschung verlor und von Panik ergriffen wurde. »Ich … ich muss darüber nachdenken.«

»Natürlich, meine Liebe. Das kommt alles ein bisschen plötzlich. Ein richtiger Schock, wenngleich ein angenehmer, zumindest für mich. Aber überlege dir gut, was für dich das Beste ist. Ich überlasse die Entscheidung dir.«

Was für eine Verantwortung! Sollte sie, durfte sie die Einladung annehmen und unter einem Dach mit Henry und Phillip Weston leben? Zumindest während der Ferien würde Phillip anwesend sein. Wo sein älterer Bruder sich zurzeit aufhielt, wusste sie nicht.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie Henry Weston, seine kantigen Gesichtszüge, umrahmt von dunklen Locken. Seine unheimlichen grünen Augen, die sich drohend verengten, wenn er ihr befahl, sich aus seinem Zimmer zu scheren, oder wenn er ihr irgendeinen gemeinen Streich spielte.

Sie schauderte.

Unten hantierte jemand mit dem Kaminbesteck; Emma zuckte zusammen. Sei nicht albern, dachte sie und schüttelte das irrationale Gefühl ab.

Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie würde zu ihrer vernünftigen Tante gehen und die Sache mit ihr besprechen. Mit ihrer Tante Jane, die sie bestimmt nur ungern gehen lassen würde. Mit Tante Jane, die so gern davon sprach, dass sie und Emma eines Tages gemeinsam unterrichten würden. Mit ihrer reservierten Tante Jane, die ihr ganzes Leben lang die Aufmerksamkeiten der Männer abgewiesen hatte. Ja, Tante Jane würde ihr bei der Entscheidung helfen.

Und so saß Emma an diesem Abend in dem gemütlichen Wohnzimmer ihrer Tante, reichte ihr den Brief und wartete, während Jane las. Dabei wanderte ihr Blick von der schlichten, angeschlagenen Teetasse in ihrer Hand zu dem edlen, weiß-roséfarbenen Service – Tassen, Untertassen, Kuchenteller – im Eckschrank. Wie oft hatte sie dieses Geschirr schon bewundert! Einmal hatte sie Tante Jane gefragt, warum sie es nie benutzte, sondern schon jahrelang immer nur die alten, nicht zusammenpassenden Tassen und Untertassen gebrauchte.

»Es ist zu schade für den Alltag«, hatte sie gesagt. »Ich schone es.«

»Wofür schonst du es denn?«, hatte die kleine Emma gefragt. »Hebst du es auf für deine Hochzeit?«

»Meine Hochzeit? Du liebe Güte, nein!« Jane hatte abgewinkt und Emma in die Nase gekniffen. »Vielleicht für deine.« Doch plötzlich hatte ihr Blick abwesend gewirkt. »Ich … ich weiß nicht. Eines Tages werde ich es benutzen. Aber nicht heute.«

Auf einmal, beim Anblick des Geschirrs im Schrank hinter der Glasscheibe, zog sich Emmas Herz schmerzlich zusammen. Gegen ihren Willen war sie plötzlich traurig. Sie dachte an ihre eigene, ganz besondere Teetasse, die sie von ihrer Mutter bekommen hatte. Emma staubte sie sorgsam ab und bewunderte sie, würde aber nie auf den Gedanken kommen, sie zu benutzen – sie hatte wahrlich nicht das Recht, ihrer Tante Jane Vorhaltungen zu machen.

Sie wandte den Blick wieder dem hageren Gesicht ihrer Tante zu, mit der markanten Nase und dem eigensinnigen Kinn. Jane hatte große grüne Augen, genau wie Emma. Emma liebte das Gesicht ihrer Tante, hatte es immer geliebt. Mit jedem Jahr, das verstrich, hatten sich die Linien um ihre Augen und auf ihrer Stirn vertieft. Doch es war, fand Emma, noch immer ein schönes Gesicht, auch wenn das vielleicht nicht jeder so sah.

Jane hatte den Brief fast fertig gelesen und runzelte die Brauen. Dann sagte sie: »Er erwähnt seine Söhne, Henry und Phillip … ich erinnere mich an die beiden.«

Ja, ihre Tante war den Jungen oft begegnet – wenn sie zum Tee herüberkam oder wenn sie zusammen in die Kirche gingen und danach gemeinsam zu Mittag aßen, was oft der Fall gewesen war.

Jetzt sah sie Emma mit ihren schönen Augen an. »Ich glaube, den einen von den beiden hast du sehr gern gehabt.«

Emma spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Phillip und ich waren Freunde – das ist alles. Aber das ist Jahre her.«

Tante Jane schürzte die Lippen. »Was hat dein Vater gesagt?«

»Komischerweise schien ihm die Idee zu gefallen. Allerdings hat er die Entscheidung mir überlassen und ich habe absolut keine Lust, meine Sachen zu packen und von hier fortzugehen. Außerdem, was soll aus unserem Haus werden? Und aus unseren vielen Büchern?«

»Es wäre sicher nicht schwer, einen Mieter zu finden«, sagte Jane. »Und in eurer Abwesenheit kann ich ja auf das Haus achtgeben.«

Emma sah sie ungläubig an. Diese Reaktion hatte sie nicht erwartet. »Aber ich will doch gar nicht gehen.« Ihre Stimme war lauter geworden, ganz im Gegensatz zu ihrem sonst so gelassenen Tonfall.

Jane sagte: »Ich weiß, dass du viel über Cornwall gelesen hast. Und jetzt hast du die Gelegenheit, es dir selbst anzuschauen.«

»Du willst also, dass wir gehen?«

»Emma …« Janes Stirn legte sich erneut in Falten, ihre Augen sahen sie eindringlich an. »Es geht nicht darum, was ich will.«

»Aber …« Emma verzog das Gesicht. »Du hast es nie für nötig gehalten, von hier fortzugehen, hast dich nie auf ein unüberlegtes Abenteuer eingelassen und riskiert, einem Gentleman über den Weg zu laufen.«

Janes Blick schien sich in weite Ferne zu richten. »Vielleicht hätte ich das tun sollen.«

Emma war sprachlos. Sie überlegte, ob ihre Tante vielleicht an Mr Farley dachte, einen Bewunderer, den sie abgewiesen hatte, weil sie lieber Lehrerin hatte werden wollen. Emma war Mr Farley nie begegnet, aber ihre Tante hatte ihn ihr beschrieben und ihr den Brief zu lesen gegeben, den er ihr geschickt hatte.

Jane Smallwood legte Emma die Hand auf den Arm. »Du darfst mich nicht missverstehen, Emma. Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Der Unterricht macht mir viel Freude. Trotzdem denke ich manchmal darüber nach, was ich verpasst habe. Wie mein Leben hätte sein können, wenn ich mich einmal in ein kleines Abenteuer gestürzt hätte.«

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2

Edward Ferrars erhielt Privatunterricht im Haus von Pastor Mr Pratt in Longstaple in der Nähe von Plymouth …

Deirdre Le Faye, Jane Austen: The World of Her Novels

Emma schrieb an Sir Giles und nahm die Einladung, seine beiden jüngeren Söhne ein Jahr lang zu dem angebotenen Gehalt auf Ebbington Manor zu unterrichten, an.

Die Aussicht auf ihr neues Leben machte sie noch immer nervös, vor allem der Gedanke daran, wie Phillip und Henry Weston wohl reagierten, wenn sie erfuhren, dass sie, Emma, bei ihnen wohnen würde. Sie hoffte inständig, dass keiner von beiden sie für aufdringlich halten oder ein anderes Motiv dahinter vermuten könnte, als sie es tatsächlich hatte: Es war eine Gelegenheit für ihren Vater, seine Depressionen zu überwinden.

Zumindest hoffte sie, dass ihm der Wechsel guttun würde, ja, sie betete darum. Genau genommen allerdings betete Emma in letzter Zeit kaum noch. Sie war überzeugt, dass Gott aufgehört hatte, ihre Gebete zu erhören, deshalb hatte sie auch aufgehört, um etwas zu bitten. Sie hatte gelernt, vor allem seit dem Tod ihrer Mutter, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Wenn etwas zu tun war, musste sie es selbst tun. Hatte ihre jüngste Tat – die Anfrage an Sir Giles – das nicht erneut schlagend bewiesen?

Aus diesem Grund würde sie – so sehr sie innerlich davor zurückscheute – einfach, um ihre Finanzen in Ordnung zu bringen und vielleicht ihrem Vater neuen Lebensmut zu schenken, ihr ruhiges, geordnetes Leben aufgeben und zusammen mit ihrem Vater nach Cornwall gehen, um dort zwei Schüler zu unterrichten. Im Haus von Phillip und Henry Weston.

Schon beim bloßen Gedanken daran bekam Emma feuchte Hände.

Wie Tante Jane vorausgesagt hatte, war es nicht schwer gewesen, Mieter für das Haus zu finden. Jane war eingefallen, dass der Pfarrer nach einer nahe gelegenen Unterkunft für seine verheiratete Schwester suchte, deren Mann auf See war. Sie hätte zwar bei ihm wohnen können, doch das kleine Pfarrhaus hatte nur ein einziges Gästezimmer und die Schwester des Pfarrers hatte viele Kinder.

Emmas Vater sprach mit Pastor Mr Lewis und man wurde sich schnell einig, schneller sogar, als Emma es sich wünschte. Sie kannte den Pfarrer, das schon, aber nicht seine Schwester und deren Kinder. Was, wenn sie nicht auf die Möbel und die anderen Dinge achtgaben, die sie und ihr Vater zurücklassen mussten? Doch dann besann sie sich. In Wirklichkeit sorgte sie sich nicht um die Möbel, sondern einzig und allein um die Teetasse ihrer Mutter und um ihre Bücher. Sie überlegte, wie viele Bücher sie wohl mitnehmen konnte.

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