Das Fossil - Hal Clement - E-Book

Das Fossil E-Book

Hal Clement

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Beschreibung

Auf den Spuren einer legendären Zivilisation

Der Planet Habranah ist eine Eiswelt, die sich nur sehr langsam dreht. Die der Sonne abgewandte Seite ist so kalt, dass Kohlendioxid ausfriert und Ammoniak so hart wie Stein wird. Auf der Seite, die der Sonne zugewandt ist, kann der Eisozean, der große Teile des Planeten bedeckt, zumindest teilweise auftauen. Hier befinden sich die meisten Forschungsstationen, denn Habranah ist alles andere als uninteressant: Kilometer unter der Eiskruste wurden Fossilien entdeckt, die möglicherweise die Überreste einer längst untergegangenen Spezies sind, die vor Urzeiten einmal über die gesamte Galaxis verbreitet war. Von dieser Spezies abzustammen würde beachtliches Prestige mit sich bringen. Deswegen wird die Ankunft eines menschlichen Forscherteams auf Habranah gar nicht gerne gesehen …

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Seitenzahl: 496

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HAL CLEMENT

DAS FOSSIL

Roman

Das Buch

Der Planet Habranah ist eine Eiswelt, die sich nur sehr langsam dreht. Die der Sonne abgewandte Seite ist so kalt, dass Kohlendioxid ausfriert und Ammoniak so hart wie Stein wird. Auf der Seite, die der Sonne zugewandt ist, kann der Eisozean, der große Teile des Planeten bedeckt, zumindest teilweise auftauen. Hier befinden sich die meisten Forschungsstationen, denn Habranah ist alles andere als uninteressant: Kilometer unter der Eiskruste wurden Fossilien entdeckt, die möglicherweise die Überreste einer längst untergegangenen Spezies sind, die vor Urzeiten einmal über die gesamte Galaxis verbreitet war. Von dieser Spezies abzustammen würde beachtliches Prestige mit sich bringen. Deswegen wird die Ankunft eines menschlichen Forscherteams auf Habranah gar nicht gerne gesehen …

Der Autor

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Titel der Originalausgabe

FOSSIL

Aus dem Amerikanischen von Ruggero Leò

Überarbeitete Neuausgabe

© 1993 by Harry C. Stubbs and Tomorrow, Inc.

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Inhalt

1. Wo Wind den Springer mehr quält als Gewicht

2. Und Luft zum Schwimmen, nicht zum Flug gedacht

3. Die späte Vorkehr größres Glück verspricht

4. Droht Kältetod in sonnenheller Nacht

5. Wo Berg und Wog' vergeh'n mit gleicher Hast

6. Verwirrt die schärfste Spur den hellsten Geist

7. Im Wegverlauf die Abkürzung verblasst

8. Ein Hinweis oft nur wenig Dienst erweist

9. Wo klare Luft nicht klarste Sicht bedingt

10. Penible Such' nur Fingerzeig verheißt

11. Bei Licht beseh'n, es dir ins Auge springt

12. Und fremdes Wort dich auf dein Ziel verweist

13. Die frische Vermutung, von Willkür gespeist

14. Bleibt oft Theorie, wenn man sie nicht beweist

1

Wo Wind den Springer mehr quält als Gewicht

Der schneebedeckte Hang war lang und steil, und die Scheinwerfer, die ihr Mann aufgestellt hatte, erhellten die Piste so sehr, dass sie sich deutlich von den verstreuten Lichtern Pitvilles und dem viel dunkleren Hintergrund abhob: den Bergen des Festen Ozeans. Janice Cedar wusste, dass sie sich eigentlich hätte fürchten müssen. Theoretisch hätten solche Höhen jedem Furcht einflößen sollen, außer natürlich einem Crotoniten; doch in der Praxis, nach einem Standardjahr unter der Schwerkraft Habranhas, konnte sie sich problemlos über einen einhundert Meter hohen Eisgrat beugen, ohne sich dabei unwohl zu fühlen. Die Schwerkraft war einfach nicht stark genug, als dass diese Höhe ihr etwas ausgemacht hätte. Für ihren Ehemann und die wenigen anderen Erthumoi auf dem kleinen Planeten galt das gleiche.

Die Schwerkraftverhältnisse nahmen einem den Spaß am Skifahren. Selbst mit Tauchflüssigkeit gefüllte Flexpanzeranzüge erhöhten lediglich die Massenträgheit, sodass der starke Wind keine ganz so große Herausforderung mehr darstellte – obwohl diese Anzüge schwer genug waren, um die meisten Freizeitaktivitäten entweder weniger vergnüglich oder praktisch unmöglich zu machen.

Janice stieß sich ab und beschleunigte – wenn man die Bewegung tatsächlich als ›Beschleunigen‹ bezeichnen konnte –, und während sie die Rampe hinabschoss, erhöhte sich ihr Herzschlag nicht im Mindesten. Das bisschen Nervenkitzel, das man auf dieser Welt beim Skispringen verspüren konnte, würde erst später einsetzen.

Ihr Mann Hugh und ihr gemeinsamer Vorgesetzter, Ged Barrar, standen am oberen Ende des Hanges, sahen ihr zu und warteten darauf, dass auch sie an die Reihe kämen. Bevor Janice sich abstieß, hatte sie sich kurz gewünscht, sie könne wie die Naxianer Emotionen lesen. Barrar, der stellvertretende Verwaltungschef ihres Konzerns, war ein Samianer und vermutlich kaum objektiver als ein durchschnittlicher Erthumoi. Es war Janice ein Rätsel, wie jemand, der ihrer Ansicht nach keinen richtigen Körper besaß, sich für einen Erthumoi-Sport interessieren konnte. Zwar hatte Barrar sein Interesse für den Sport glaubhaft versichert, die Begründung des Samianers jedoch hatte Janice keineswegs überzeugt. Barrar räumte ein, dass die Cedars vermutlich genau wüssten, was sie taten, wenn sie auf schmalen Brettern durch die Gegend glitten, um ›Spaß‹ dabei zu haben; die zuträgliche Wirkung, die diese Emotion auf die Arbeitsmoral der Leute ausübe, sei nicht von der Hand zu weisen, er hingegen könne aber nicht wirklich nachempfinden, was ›Spaß‹ genau sei. Barrar bestand darauf, dass diese Form der menschlichen Freizeitbeschäftigung im Detail untersucht werden müsse, da Hugh schließlich derjenige sei, der für Sicherheitsfragen zuständig war. Hugh vermutete, jemand in der Verwaltungsabteilung bezweifele ernsthaft, dass Erthumoi (oder zumindest der spezielle Erthuma namens Hugh Rock Cedar) wirklich begriffen, was das Wort Risiko bedeutete. Immerhin, dachte er, hat man in höchsten Kreisen gewisse Vorbehalte gehabt und sich gefragt, ob es klug sei, mich als Sicherheitschef einzustellen.

Anfangs hatte Hugh sich kaum Sorgen gemacht: Wie seine Frau fürchtete er auch sich aufgrund der geringen Schwerkraft kaum davor abzustürzen und hielt das Skispringen auf dieser Welt für ungefährlich. Er nahm an, dass die Samianer sogar noch weniger Bedenken hatten, da auf einem Großteil ihrer Planeten hohe Schwerkraft herrschte und der Körper eines Samianers natürlich weniger anfällig für Verletzungen war. Auf Habranha hielten sich nicht viele Fremdweltler auf. Größtenteils waren es Forscher, Repräsentanten der Diplomatengilde, oder heutzutage auch immer mehr individuelle Vertreter aller Sechs Spezies, die sich für die Hypothese interessierten, die intelligenten Habra seien womöglich die Nachfahren der Siebten Spezies – jener Spezies, die man bislang nur aufgrund archäologischer Funde kannte. Kolonisten befanden sich nicht unter den Samianern, denn für Kolonisten war auf Habranha kein Platz.

Als Hugh den Samianer zum ersten Mal im Skianzug gesehen hatte, waren ihm noch weitere Zweifel gekommen. Anstelle des sechsgliedrigen empfindlichen Gehgestells, das Barrar normalerweise benutzte, war der samianische Verwaltungsangestellte in einem Laufgerüst erschienen, das entfernt an ein kopfloses Menschenskelett erinnerte; es bestand aus einem schwarzen Material, das (wie Hugh zumindest hoffte) höchst widerstandsfähig und elastisch war. Im Brustkorb des Gerüsts saß ein rötlichbrauner, augen- und gesichtsloser Klumpen aus ledrig wirkendem Fleisch: der Samianer selbst. Die feinen Drähte, die ihn mit den verschiedenen Effektoren und Sensoren des ›Körpers‹ verbanden, waren aus zwei Metern Abstand kaum zu erkennen. An den Füßen der Gerüstbeine waren gewöhnliche Skier befestigt, die man extra angepasst hatte.

Sogar Janice, die ansonsten ein eher sorgloses Wesen besaß, hatte auf dem Weg zur Sprungzone taktvoll angemerkt, sich gleichzeitig mit einem neuen mechanischen Körper und einer völlig neuen Art der Fortbewegung vertraut zu machen, sei wohl für beides nicht ganz repräsentativ, doch Barrar hatte ihr versichert, das sei kein Problem. Mit neuen Körpern müsse er sich jeden Tag auseinander setzen. Und in der Tat hatte er es ohne erkennbare Schwierigkeiten geschafft, mit den Skiern von der Unterkunftszone über die verschneiten und oft eisglatten Straßen Pitvilles zu fahren, und es war ihm sogar mühelos gelungen, im Grätenschritt die Steigung zur Spitze der Sprungschanze emporzusteigen. Er stand auch noch völlig entspannt auf den Beinen, als Janice sich zum Sprung abgestoßen hatte. Als sie nun den tiefsten Punkt der Rampe erreichte, musste sie sich völlig auf ihre Technik konzentrieren und den Samianer vergessen. Ihr Ehemann würde sich um seinen Vorgesetzten kümmern müssen, falls dieser Hilfe benötigte.

Die Schanze bestand aus gepresstem Schnee – zum Teil war er natürlichen Ursprungs, zum Teil war aber auch das pulverisierte Eis eingesetzt worden, das man aus den beiden Gruben schachtete, den so genannten Pits, die Pitville seinen Namen gaben. Die Gruben waren nur etwa einhundertfünfzig Kilometer von der Sonnenseite des Planeten entfernt, und deshalb war die Temperatur dort für gewöhnlich hoch genug, dass ein kräftiger Erthuma mit bloßen Händen Schneebälle aus Wassereispulver formen konnte – obwohl auch bei den Gruben das Wetter so wechselhaft war wie auf dem übrigen Habranha. Daher war die Sprungschanze recht hart und sogar einigermaßen glatt – obgleich sich ihre Oberfläche immer wieder veränderte: Die natürlichen Niederschläge, die die Schanze zu bedecken strebten, konkurrierten beharrlich mit den gleichermaßen wechselhaften Winden, die sich bemühten, sie wieder freizulegen.

Beide Seiten der Schanze wurden durch einheimische Pflanzen gestützt, die man sorgsam ausgewählt hatte: Sie mussten tiefreichende Wurzeln besitzen und durften keinesfalls explosiv sein. Auf Habranha gab es zwei Arten von Lebensformen: Die eine war den Erthumoi in biochemischer Hinsicht ähnlich genug, ebenfalls ATP als ›Batterie‹ zu nutzen; die andere war weiter verbreitet und verwendete Azid-Ionen als Energiespeicher, sodass ein Großteil der Vegetation und ein Teil der Fauna entweder explosiv war oder unter gefährlicher elektrischer Spannung standen – oder beides zugleich. Die geflügelten Einheimischen, die Habra, zählten zu ersterer Kategorie, deshalb setzte sich unter den Forschern der Sechs Spezies die Theorie immer weiter durch, sie hätten sich nicht auf dem Planeten entwickelt.

Am tiefsten Punkt der Schanze, wo die Skispringer auf der gekrümmten Piste wieder empor schnellten, war die Oberfläche am schwersten einzuschätzen – oder mit bloßem Auge zu untersuchen. Hugh hatte diesen Schanzenabschnitt bestmöglich ausleuchten lassen, doch kein Scheinwerfer der Welt verriet dem menschlichen Auge, wie fest die Oberflächenschicht an dieser Stelle sein mochte. Und das war genau der Punkt, an dem der Sport interessant wurde …

Janice stürzte nicht. Inzwischen fuhr sie so schnell, dass ihr Flexpanzeranzug ernsthaft Schaden genommen hätte, wenn sie mit etwas Festem zusammenprallt wäre, ob es nun explosiv war oder nicht. Sie war in die Hocke gegangen, um dem Wind möglichst wenig Widerstand zu bieten.

Als sie die Krümmung der Schanze erreicht hatte und wieder bergauf schoss, spürte sie für einen kurzen Moment ihr normales Eigengewicht, wie sie es von der Erde gewohnt war. Dann sauste sie durch die Luft, jenseits des ersten beleuchteten Gebietes, und unter ihr gähnte ein fünfzig Meter tiefer Abgrund. Sie flog mehr oder minder auf einen zweiten, höheren Hügel zu, der noch etwa zweihundert Meter entfernt war. Auch die Landezone war gut ausgeleuchtet. Im Augenblick muss ich für Hugh nahezu unsichtbar sein, dachte sie. Sie fragte sich, ob (oder wie gut) der Samianer sie in diesem Augenblick wohl sehen konnte.

Janice konzentrierte sich auf ihre Skistöcke, die eher breiten Rudern glichen. Anders als auf den Erthumoi-Planeten mit ›normaler‹ Schwerkraft fiel es einem Skispringer unter Habranhas schwacher Gravitation deutlich schwerer, eine aufrechte Körperhaltung zu bewahren – sowohl am Boden als auch in der Luft. Und bei dieser Art ›Skispringen‹ waren kräftige Handgelenke ebenso wichtig wie gute Fußgelenke. Janice gelang eine technisch armselige, aber noch nicht katastrophale Landung auf ihrem rechten Ski, den sie stets in Flugrichtung hatte halten können, dann setzte sie mit dem linken auf und bremste einige Sekunden lang ab, indem sie beide Skistöcke vor dem Körper kreuzte und so den Luftwiderstand erhöhte. Als sie sich sicher war, genug Bodenhaftung zu besitzen, bremste sie in typischer Skifahrermanier ab und kam zum Stillstand.

»Alles klar. Wer ist jetzt an der Reihe?«

Sie artikulierte die Frage nicht mithilfe ihrer Stimmbänder: Ihr Flexpanzeranzug und ihre Körperöffnungen waren mit Tauchflüssigkeit gefüllt, denn ihr Job verlangte oft von ihr, dass sie bis auf den Grund der Gruben hinabtauchte. Stimmbänder, die sich für den Einsatz in einer Gasatmosphäre entwickelt haben, funktionieren nicht in Flüssigkeiten, und Janices Flexpanzeranzug war mit einem Code-Transmitter ausgestattet, dessen Ausgangssignale technisch zwar auf weitaus höherem Niveau lagen als die ursprünglichen Kurz-Lang-Kombinationen der Erthumoi-Telegrafen, aber dennoch viel langsamer und schwerfälliger waren als gewöhnliche Sprechlaute. Trotzdem war der Transmitter laut genug, dass man ihn einige hundert Meter weit zu hören vermochte, wenn der Wind nicht allzu stark blies.

»Ich starte jetzt. Machen Sie sich bereit, meine Einzelteile aufzusammeln!« Diesmal handelte es sich um Sprechlaute; sie drangen aus Barrars Gerüstlautsprecher und wurden von Janices Translator übersetzt; das Gerät jedoch, das die Sprechlaute erzeugte, war ebenso künstlicher Natur wie Janices Code-Transmitter. Der Samianer besaß ebenso wenig eine Stimme wie Arme, Beine oder Augen. Bislang gab es den Biologen noch Rätsel auf, wie sich die Samianer zu einer intelligenten Spezies hatten entwickeln können, und das lieferte den Mystikern, die die Evolutionstheorie immer noch ablehnten, genügend ›Argumente‹, sich in diesem Punkt gegen die Wissenschaft zu behaupten.

Hugh und Janice beobachteten gespannt, wie das Kunststoffskelett zum oberen Ende der Rampe stelzte und dort für einen Moment verharrte. Vermutlich wog der Samianer ein letztes Mal alle Probleme ab, die sich ihm womöglich in den Weg stellen mochten. Beide Erthumoi fragten sich, ob seine Denkstrukturen ihrer eigenen ähnlich genug war, als dass er vielleicht Ähnliches vor dem Sprung empfand wie sie. Dann stieß Barrar sich ab und raste die Schanze hinab.

Der mechanische Körper beschleunigte deutlich höher als zuvor Janice. Das Gerüst verursachte in der dichten Luft sicherlich mehr Turbulenzen, bot aber zugleich deutlich weniger Luftwiderstand als Janices Flexpanzeranzug. Eigentlich hätte es dem Samianer klar sein müssen, dass er die ruderähnlichen Skistöcke dazu nutzen sollte, seine Flugbahn in den wirbelnden Luftströmen zu korrigieren; doch dummerweise verarbeitet das Nervensystem eines Lebewesens Gedankengänge stets deutlich langsamer als Reflexe. Janice und ihr Ehemann besaßen die nötigen Reflexe – genauer gesagt hatten sie sich diese Reflexe auf der Erde angeeignet, wo eine etwa fünfmal höhere Schwerkraft herrschte als auf Habranha. Ged Barrar aber besaß solche Reflexe nicht.

Die Schanze war fünf Meter breit, was vergleichsweise viel war, selbst für eine Gegend mit zumeist recht starkem Wind. Als Barrar etwa fünfzig Meter hinabgerast war, hatten ihn seine übertriebenen Kurskorrekturen fast bis an den Schanzenrand gebracht – zunächst an die eine, dann an die andere Seite. Janice, die am Ende der Landestrecke stand, konnte ihm nicht behilflich sein. Hugh war versucht, dem schlingernden Samianer nachzusetzen, obgleich es offensichtlich unmöglich war, ihn einzuholen und davor zu bewahren, mitsamt seinem Kunststoffgerüst in die Büsche zu krachen. Glücklicherweise war ein Eingreifen auch nicht nötig.

»Entspannen Sie sich, Hugh«, drang es aus Hughs Anzuglautsprecher. Das Übersetzungssystem verzerrte die Stimme bis zur Unkenntlichkeit, allerdings wählte der Translator einen Tonfall, der Hugh verriet, dass es sich bei dem Sprecher um einen männlichen Habra handeln musste. Drei libellenähnliche Gestalten stießen zugleich aus der Luft. Jede von ihnen besaß drei Flügelpaare, die, gemessen an Erthumoi-Maßstäben, unglaublich kurz wirkten. Sie stürzten in die beleuchtete Zone über der Schanze hinab und jagten auf den Skifahrer zu. Die drei Habra flogen fast genau nebeneinander, mit einem Abstand von jeweils etwa fünfundzwanzig bis dreißig Metern.

Der erste verfehlte den Samianer. Zwar besaß der Habra gute Reflexe und bewältigte die chaotischen Luftturbulenzen seiner Heimatwelt spielend, doch machten ihm Barrars unzulängliche Steuermanöver einen Strich durch die Rechnung.

»Ged! Fahren Sie einfach geradeaus! Die Habra werden Sie auflesen!«, tippte Hugh in seine Transmittertastatur, ehe ihm bewusst wurde, wie dumm sein Ratschlag war. Wenn der Samianer imstande gewesen wäre, geradeaus zu fahren, wäre er gar nicht erst in solche Schwierigkeiten geraten. Zu dumm, dass Janice die Nachricht mitgehört hatte – aber sie würde ihn nicht darauf ansprechen, es sei denn, er forderte es heraus.

Der nächste Einheimische hatte ein oder zwei Sekunden mehr Zeit, sich auf den merkwürdigen Kurs des Samianers einzustellen. Präzise befestigte er vier Paar Greifhaken an den oberen Gerüststangen von Ged Barrars Pseudokörper. Das Gerüst war leicht, viel leichter als ein gepanzerter Erthuma, und scheinbar mühelos hob der Habra es von der Sprungpiste, wich nach rechts aus und umflog geschickt das untere Ende der Schanze. Sekunden später setzte er seine Traglast neben Janice ab, stieg wieder grazil empor, wendete und landete dann mit seinen geflügelten Gefährten vor Barrar und Janice.

»Ich komme zu euch«, tippte Hugh in die Tastatur. »Ich kann nicht genau sagen, wo ich landen werde. Ihr solltet euch bereithalten, mich gleich aufzulesen.«

»Wissen wir, Boss«, tönte die übersetzte Antwort aus Hughs Anzuglautsprecher. »Wir haben Sie oft genug springen sehen. Kommen Sie runter. Wir sind bereit.«

Hugh sprang. Dank einer Mischung aus Glück und Kunstfertigkeit schaffte er es, einen relativ geraden Kurs zu halten, sowohl auf der Schanze als auch in der Luft. Mit beiden Skiern zugleich kam er auf, etwa fünfzig Meter seitlich versetzt und knapp siebzig Meter von der Gruppe entfernt. Er glitt auf sie zu und spritzte Schnee auf, als er neben ihnen bremste und zum Stillstand kam.

»Entschuldigung. Ich wollte niemanden unter Schnee begraben. Vielen Dank für die Hilfe, äh …«, er stockte kurz, als er flüchtig die Körpermale der drei Habra verglich, »… Ted. Sind Sie zufällig vorbeigekommen oder waren Sie im Dienst?« An Barrar gewandt, fügte er erklärend hinzu: »Ted ist einer meiner Sicherheitsleute.«

»Dienst«, erwiderte der Habra. »Wenn jemand die Sprungschanze benutzt, schicken wir immer einen Flieger her – entweder einen Crotoniten oder einen von uns. Heute aber schien es durchaus ratsam, ein paar zusätzliche Leute einzusetzen.«

»Nicht gerade eine sonderlich taktvolle Bemerkung, falls Sie auf mich anspielen sollten«, unterbrach Barrar ihn.

»Die Crotoniten erzählen uns fortwährend traurige Geschichten darüber, was alles passieren kann, wenn Krabbler versuchen, Fliegern nachzueifern. Wir wissen zwar, dass die Crotoniten Geschichten gern ausschmücken, vor allem, wenn es auf Kosten der Nichtflieger geht, aber wir wissen auch, wie lange es dauert, bis man wirklich gute Flugreflexe entwickelt – oder sollte man auf dieser Welt eher ›Orbitreflexe‹ sagen? Na ja, es braucht jedenfalls seine Zeit, bis man es anständig gelernt hat.«

Der Samianer verlagerte in dem Gerüst sein Gewicht, und Hugh bedeutete ihm mit einer beschwichtigenden Geste, zu schweigen; er wusste, wenn ein Habra so etwas sagte, war es nicht herabsetzend gemeint. »Wir haben bislang keinen Vertreter Ihres Volkes auf der Schanze gesehen, Barrar«, fuhr der Habra fort. »Daher dachten wir, dass wir mehr für Sicherheit als für Takt zuständig seien.«

»Das stimmt auch«, tippte Hugh in seinen Code-Transmitter. »Nochmals danke.«

»Ja, das stimmt tatsächlich.« Barrar begriff rasch; seine Arbeit verlangte ihm täglich viel Taktgefühl ab. »Mir war nicht bewusst, welche Auswirkungen meine Lenkversuche auf die Luft und meine Flugbahn haben würden. Ich hätte mich besser auf die Reafferenz vorbereiten sollen. Ihre Hilfe war absolut angebracht, Ted. Ich muss jetzt wieder zurück und den Sprung sofort noch einmal versuchen. Ich habe aus den Fehlern von eben bestimmt schon irgend etwas gelernt. Halten Ihre Leute sich wieder bereit?«

»Natürlich. Solange Sie üben wollen.«

»Ich habe nur noch für einen, höchstens zwei Versuche Zeit, dann muss ich wieder an die Arbeit. Ich glaube, die Cedars haben mehr Zeit, aber sie benötigen Ihre Leute wohl nicht so dringend wie ich.«

»Wir passen hier auf, solange jemand die Schanze benutzt«, erklärte der Einheimische. »Selbst bei einem harmlos aussehenden Sturz kann ein Flexpanzeranzug beschädigt werden, und die Temperatur ist hier sehr niedrig, auch wenn wir ein gutes Stück von den Gruben entfernt sind.«

»Sie scheinen ja keinen Schutz vor der Kälte zu benötigen«, tippte Hugh ein. »Die Temperatur ist gut dreißig Kelvin niedriger als in Pwanpwan. Weit unter dem Gefrierpunkt von Wasser. Ich habe immer angenommen, Sie würden sich bei zweihundertsiebzig oder -achtzig Kelvin wohl fühlen.«

»Das stimmt auch ungefähr«, pflichtete Ted ihm bei. Der Samianer war bereits wieder auf dem Weg zum Startpunkt auf der Sprungschanze, doch keiner der Einheimischen machte bislang Anstalten, ihm zu folgen. »Es ist nicht leicht zu sehen, aber wir sind gegen die Kälte geschützt. Aber unser … wie sagen die Naxianer doch gleich … unser ›Muskel‹ braucht keinen Schutz. Da selbst wir bei dieser Beleuchtung nicht viel erkennen können, müssen Sie schon genau hinsehen, um unseren Kälteschutz zu erkennen.«

Auf diese implizierte Einladung hin näherten sich die Erthumoi dem Habra, der ihnen am nächsten stand. Wie die beiden anderen trug auch er den für männliche Habra typischen Körpermaleschmuck. Selbst bei besseren Sichtverhältnissen wären die Muster auf der Haut höchstens aus einer Entfernung von wenigen Metern aufgefallen. Ein extrem dünner, durchsichtiger Film überspannte den Körper des Einheimischen. Der Schutzfilm ruhte auf kleinen schwammähnlichen Gebilden, die wenige Millimeter hoch waren und in geringen Abständen zueinander auf den Körperplatten saßen: Sie verhinderten, dass der Film die Körperoberfläche des Habra berührte. Die Farben der schwammgleichen Gebilde war nur zu erahnen, denn Fafnir (so nannten die Erthumoi den kleinen Begleiter von Habranhas Sonne) erhellte die Planetenoberfläche nur dürftig mit seinem Licht. Unter den gegebenen Sichtverhältnissen schienen die Gebilde jedenfalls von dunkelgrauer Farbe zu sein. Die Körperplatten wirkten geringfügig heller, doch beide Erthumoi wussten, dass letztere eigentlich ungleichmäßige Muster in rötlichen Farbtönen aufwiesen.

Die drei gedrungenen Flügelpaare der Habra schienen nicht von dem Schutzfilm überzogen zu sein; alle Einheimischen hatten ihre Flügel, die jeden Erthumoi eher an Flossen erinnerten, derzeit dicht an den Körper angelegt.

Hugh und Janice gelangten zu dem Schluss, der Film müsse schlicht der Isolierung dienen. Selbst auf Habranha bräuchte ein fliegendes Wesen, das ungefähr dieselbe Masse wie ein Mensch besaß, einen regen Metabolismus und sollte imstande sein, die eigene Körperwärme größtenteils selbst zu erzeugen. Weder Janice noch Hugh konnten ein künstliches Heizgerät am Körper des Einheimischen erkennen. Andererseits konnten sie auch nicht ausschließen, dass er eines mit sich führte, denn im trüben Licht Fafnirs war ein solches Gerät leicht zu übersehen.

»Ich komme!« Barrars Stimme unterbrach ihre Untersuchung. Ohne ein Wort der Entschuldigung stiegen die Habra augenblicklich in die Luft. Der Samianer wartete – entweder aus Vernunft oder aus Taktgefühl –, bis er die drei Einheimischen durch die beleuchtete Zone kurz unterhalb des Startpunkts fliegen sah, erst dann stieß er sich ein weiteres Mal ab. Auf der Schanze benötigte er diesmal keine Hilfe. Hugh fand sogar, dass der Samianer den Schanzentisch in überraschend gerader Linie erreichte. Offenbar kam ihm die Erfahrung des ersten Sprungs bereits zugute.

Die dritte Dimension indes war ein ganz anderes Thema. Hinterher versuchte niemand zu beurteilen, inwieweit Barrars Verrenkungen in der Luft auf den unvorhersagbaren Wind Habranhas oder auf unzulängliche Flugkorrekturmaßnahmen zurückzuführen waren. Selbst wenn ein Skispringer ganz genau weiß, was Reafferenz ist, und selbst wenn er mit physikalischen Gesetze wie beispielsweise dem der Erhaltung des Drehimpulses vertraut ist: Die Lage zu durchdenken kostet Zeit. Fliegen und Springen erfordern Reflexe. Barrar flog bereits kopfüber durch die Luft, ehe er den höchsten Punkt seiner Flugbahn erreicht hatte. Verzweifelt wedelte er mit den Skistöcken und traf damit einen Flügel des ersten Habra, der sich im Rettungsanflug befand. Sogleich entglitt der Stock der künstlichen Hand des Samianers.

Barrar flog nun außerhalb der beleuchteten Zone durch die Luft, und keiner der Erthumoi vermochte zu erkennen, was sich dort oben tatsächlich abspielte. Hätten sie etwas sehen können, so hätten sie gewiss aufgekeucht oder einen anderen ängstlichen Laut von sich gegeben. Doch wie die Dinge lagen, blieb ihnen nichts anders übrig, als das Geschehen voller Sorge und vor allem stumm zu beobachten: Die Reflexe, die sie normalerweise hätten laut aufschreien lassen, pumpten nun Tauchflüssigkeit in ihre Luftröhren – ein unangenehmes Gefühl. Soweit sie sagen konnten, wirbelte Barrar ähnlich stumm durch die Luft. Welche panischen Reflexe ihn auch immer in diese Situation gebracht haben mochten: Seine künstliche Stimme war definitiv nicht daran beteiligt. Unsere Translatoren müssten eigentlich vor lauter Befehlen und Signalen der Einheimischen knistern und rauschen, dachte Hugh kurz, doch selbst alle Funkfrequenzen schienen verstummt zu sein. Die Flieger konzentrierten sich voll und ganz aufs Fliegen, nicht auf Kommunikation.

Ein zweiter Habra raste nur knapp an dem Einheimischen vorbei, dessen Flügel Barrar den Skistock aus der Hand geschlagen hatte. Fest packte er das Skelettbein des Samianers – der noch immer kopfüber durch die Luft flog –, dann schien die Gefahr vorüber zu sein, da der Flieger das Skelettgerüst mühelos tragen konnte. Bei der Konstruktion des Beinglieds hatten der verantwortliche Konstrukteur jedoch dummerweise nicht allzu viel Voraussicht bewiesen, denn es hielt der Zugkraft nicht stand, die der Rest des Gerüsts darauf ausübte – selbst nicht unter Habranhas geringer Schwerkraft. Das Beinglied brach an einer Stelle, die Erthumoi als das Kniegelenk betrachtet hätten, und wieder stürzte Barrar, diesmal noch unkontrollierter als zuvor. Ted flog weiter und hielt nur noch den linken Sprungski und den Gerüstfuß samt zugehörigem Schienbein. Die Translatoren der Erthumoi summten und knisterten, doch es drangen keine verständlichen Worte aus ihren Lautsprechern; offenbar sprachen die drei Habra wild durcheinander. Das Sprachgewirr hielt aber nur wenige Sekunden an, dann trat Stille ein, und nur noch das unaufhörliche, vielstimmige Pfeifen des Windes war zu vernehmen.

Ted neigte sich in der Luft weit zur Seite und ließ Bein und Ski fallen, während einer seiner Gefährten einen weiteren Rettungsanflug auf den stürzenden Samianer unternahm. Diesmal gestaltete sich der Rettungsversuch deutlich leichter. Barrar hatte endlich damit aufgehört, selbst etwas zur eigenen Rettung beitragen zu wollen, wodurch die aerodynamischen Probleme insgesamt entsprechend geschmälert wurden. In fast senkrechtem Sturzflug packte der Einheimische die Schultern des Skelettgerüsts, sauste wirbelnd ein kleines Stück weiter und brachte schließlich sich und seine Last ohne erkennbare Schwierigkeiten in eine stabile Flugbahn, woraufhin das verbliebene Gerüstbein samt Ski wieder normal herabhing. Eine halbe Minute später setzte Ted den Samianer neben den Erthumoi ab. Zaghaft erkundigte er sich bei Barrar, ob er wohl mit ernsthaften Verletzungen hätte rechnen müssen, wenn die Einheimischen ihn einfach kopfüber hätten am Boden aufprallen lassen.

Der Gedanke schien den Samianer zu amüsieren.

»Das Laufgerüst hätte vermutlich keinen Schaden genommen. Und ich hätte mich ganz bestimmt nicht verletzt, da diese Maschine gar keinen Kopf besitzt.«

»Aber Ihr eigener Körper sitzt recht weit oben in dieser Konstruktion. Wenn das Gerüst beim Aufprall zusammengebrochen wäre, wären Sie dann nicht verletzt worden – oder vielleicht sogar getötet?«

»Theoretisch ist dieser Rahmen stabil genug, mich zu schützen. Ich habe ihn zu diesem Zweck entwickelt. Allerdings habe ich auch diese Beine entworfen … schwer abzuschätzen, was alles hätte passieren können. Ich danke Ihnen sehr dafür, dass ich es nicht auf – wie lautet doch gleich diese zynische Erthumoi-Redewendung? – ›auf die harte Tour‹ herausfinden musste. Ich schätze, zumindest meine Würde hätte ein wenig unter dem Vorfall gelitten. Die leidet ohnehin ein wenig darunter, glaube ich, aber solange keine Crotoniten in der Nähe sind, kann ich das verkraften.«

Die Habra schienen recht überrascht zu sein.

»Warum sollte es schlimmer sein, wenn Ihnen ein paar Crotoniten zugesehen hätten? Ich habe einige Crotoniten kennen gelernt, die sehr empfindlich auf Spott reagieren, selbst wenn ein Artgenosse sie verspottet. Ganz besonders aber, wenn der Spott aus dem Mund von jemandem kommt, den sie ›Krabbler‹ oder ›Schnecke‹ nennen. Ich verstehe aber noch nicht ganz, warum es schlimmer sein sollte, von einem Crotoniten ausgelacht zu werden als von irgendjemand anderem.«

»Ich gebe zu, dass ich in diesem Punkt nicht sonderlich rational denke. Ich bin nicht stellvertretender Verwaltungschef, weil ich mir das ausgesucht hätte oder weil es mir gefiele. Vielleicht bin ich ja aus diesem Grunde zu befangen. Ich gebe den Beruf auf, sobald ich etwas geschrieben habe, das mir wissenschaftliche Anerkennung garantiert. Doch solange ich dieses Ziel nicht erreicht habe, habe ich unentwegt ein ungutes Gefühl, wenn ich etwas Dummes getan habe. Crotoniten sind sehr gut darin, auf Dummheiten hinzuweisen, die wir Krabbler machen.«

»Was ist denn schlecht an Verwaltungsarbeit?«, erkundigte sich Hugh. »Das ist zwar nicht mein eigentliches Fachgebiet, aber momentan bin auch ich gewissermaßen in diesem Berufszweig tätig – ich muss Pläne aufstellen und Leute einteilen, um die Sicherheit des Personals zu maximieren und um notfalls Sachschäden rasch beheben zu können.«

»Aber für Sie ist das sozusagen nur eine Nebenbeschäftigung. In Wirklichkeit sind Sie ein Entdecker und Beobachter – ein Forscher. Ich hingegen bin kein Forscher, weil ich sehr spät in diesen Berufszweig eingestiegen bin und folglich zu wenig darüber gelernt habe. Aber auf jeden Fall kann ich Analysen vornehmen und theoretische Arbeit verrichten. Es ist doch trivial, jemandem zu sagen, was und wann er etwas zu tun hat. Administratoren sind …«, aus dem Lautsprecher des Translators drang der charakteristische Ton für ›unbekanntes Wort‹ und ließ Hugh und seine Frau im Unklaren darüber, was Barrar wirklich von Verwaltungsarbeit hielt – wenngleich der Kontext gewisse Schlussfolgerungen zuließ.

»Eine gute Verwaltung ist für jeden von uns wichtig – und für alles, was wir tun«, tippte Hugh entschlossen, aber nicht entrüstet in seine Armbandtastatur. »Niemand in Pitville, nicht einmal die Habra, befinden sich in einer normalen Umgebung. Jeder, der sich ins Freie begibt, muss eine Art Schutzkleidung tragen, ob er nun arbeitet oder …«

»Stimmt. Aber Spreadsheet-Denkerin und ich sind immer sehr verwirrt, wenn wir über Motivation nachdenken müssen statt über Kompetenz, selbst wenn es ausschließlich um Angehörige Ihrer und meiner Spezies geht. Scheinbar dürfen wir nicht primär berücksichtigen, was die Leute am besten können, sondern was sie am liebsten tun wollen. Weder Spreadsheet-Denkerin noch ich verstehen das. Eine nette wissenschaftliche Arbeit über das Phänomen der Motivation wäre eine Erleichterung für uns … oder zumindest für mich.«

»In Ihrer Abteilung arbeiten Naxianer.«

»Zu wissen, dass jemand mit einem bestimmten Sachverhalt zufrieden oder unzufrieden ist, verrät uns noch lange nicht, warum dieser Jemand so empfindet. Ich weiß, Sie setzen Naxianer zur Sicherheitsüberwachung ein. Aber wenn ein Naxianer Ihnen über Funk einen Vorfall meldet, müssen Sie immer noch nach Einzelheiten der Sachlage fragen. Wenn dem nicht so wäre, würden sie vermutlich ausschließlich Naxianer einsetzen.«

»Wenn ich genug davon bekäme – und keine Flieger bräuchte. Aber in gewisser Weise haben Sie Recht. Worin besteht Ihr Hauptproblem? Oder wollen Sie das lieber für sich behalten?«

»Ich komme schlecht mit verschiedenen Persönlichkeiten zugleich zurecht. Spreadsheet-Denkerin hat sich ihren Namen redlich verdient und kommt mit derartig komplexen Angelegenheiten besser zurecht als ich. Anders als sie bin ich eher ein Gelehrter – sogar ein Wissenschaftler – und das ›von ganzem Herzen‹ … ich hoffe, ich verwende diese Erthumoi-Redewendung im richtigen Kontext. Es ist so angenehm, sich immer schön mit einer Variablen nach der anderen beschäftigen zu können. Und Ihnen gegenüber, mein Freund, gebe ich zu, dass ich deshalb heute diesen Skisport ausprobiert habe – aber verraten Sie das bitte nicht den Crotoniten. Ich muss eingestehen, dass ich geschummelt habe. Dieses Laufgerüst hier ist mit einer automatischen Steuerung ausgestattet; unsere Nervenimpulse und Reaktionen sind viel zu langsam für einen derartigen Sport, selbst unter Habranhas niedriger Schwerkraft. Nach meinem ersten Fehlversuch habe ich die automatische Steuerung so umprogrammiert, dass ich die Sprungpiste fehlerfrei hinter mich bringen konnte. Aber wären Sie, Ted, und Ihre Freunde nicht hier gewesen, hätte ich mir eine Entschuldigung einfallen lassen müssen, um mich vor dem zweiten Sprung zu drücken.«

»Was wäre denn gewesen, wenn Sie es bis zum Absprungpunkt geschafft hätten und Ted und seine Leute nicht hier gewesen wären?«, fragte Janice.

»Darüber möchte ich lieber nicht nachdenken.«

»Dann wissen Sie hoffentlich ab jetzt, dass man sowohl bei der Entwicklung technischer Geräte als auch bei in Verwaltungsfragen viele Faktoren zugleich berücksichtigen muss«, tippte Hugh in seine Tastatur. Er war sich bewusst, dass die Bemerkung alles andere als taktvoll war, doch war er Sicherheitschef, und sein Gewissen verbot ihm schlicht, das Thema einfach unter den Tisch fallen zu lassen.

»Das weiß ich jetzt in der Tat.«

Die Erthumoi lächelten einander durch die durchsichtigen Helmglocken ihrer Anzüge an.

»Ich hoffe, die wissenschaftliche Realität schockiert Sie nicht allzu sehr, wenn Sie eines Tages die Chance bekommen, sich als Forscher zu beweisen«, tippte Janice erleichtert in ihre Transmittertastatur; hätte sie mündlich mit ihm geredet, so hätte sie taktvoll an sich halten müssen, um den amüsierten Tonfall aus ihrer Stimme zu verbannen.

»Ich brauche mich nur auf ein Problem zu konzentrieren, das noch bewiesen werden muss; zum Beispiel die Frage, ob die Habra sich wirklich auf diesem Planeten hier entwickelt haben. Nur auf diese eine Problemstellung! Ich hoffe, die Frage berührt Sie nicht allzu persönlich, Ted? Es wäre mir unangenehm, wenn ich Sie mit einer solchen Untersuchung verstimmen würde. Ich habe Leute kennen gelernt, die Herkunftsfragen im Allgemeinen für bereits gelöste Probleme halten und es aus irgendeinem Grunde missbilligen, wenn jemand alternative Lösungen vorschlägt.«

»Ich glaube, Sie übersehen den Hauptzweck der Wissenschaft«, unterbrach Hugh ihn.

»Aber versucht die Wissenschaft denn nicht, Beweise für bestimmte Sachverhalte zu finden?«, erkundigte sich Ted. Janice überlegte, ob Ted absichtlich der indirekten Frage Barrars auswich. Ihr Ehemann hingegen schien das Ablenkungsmanöver des Einheimischen nicht zu bemerken, und falls es dem Samianer aufgefallen war, so sprach er es zumindest nicht an.

»Im Idealfall nicht, obgleich wir es selten mit idealen Sachverhalten zu tun bekommen«, antwortete Barrar zur großen Überraschung der Erthumoi. »Wenn man eine spezielle Theorie bevorzugt, etwas, das man unbedingt belegen möchte, dann neigt man dazu, nahezu ausschließlich jene Daten zu bemerken und im Gedächtnis zu speichern, die diese Theorie untermauern. Ich habe schon mit Angehörigen aus allen Sechs Spezies zusammengearbeitet und kann sagen: Das trifft auf uns alle zu. Falls das auf Ihre Spezies nicht zutreffen sollte, Ted, dann könnte Ihr Volk die objektivsten Wissenschaftler der gesamten Galaxis hervorbringen!«

Nicht einmal die Erthumoi waren aufgeschlossen oder freundlich genug, um der Bemerkung des Samianers hinzuzufügen: Falls Sie das nicht ohnehin schon sind.

»Welche Theorie bevorzugen Sie denn?«, fragte einer der Habra.

»Ich habe Glück. Momentan möchte ich nur, dass unser Grubenprojekt ein nettes, präzises, unzweideutiges Ergebnis erzielt, damit meine Verwaltungsarbeit hier als erfolgreich betrachtet wird.«

Hugh fragte sich flüchtig, ob Barrar auf lange Sicht nicht glücklicher wäre, wenn er sich seine Illusionen und Hoffnungen bewahrte, indem er weiterhin im Verwaltungswesen arbeitete.

Der Samianer fuhr fort: »Aber selbst die Auswertung der Grubenproben birgt Risiken. Wenn die gewonnenen Daten keine eindeutige Antwort zulassen, ertappe ich mich vielleicht sogar dabei, dass ich einige Ergebnisse besonders hervorhebe, damit sie eindeutiger wirken, als es eigentlich der Fall ist. Deshalb versuche ich mich ständig über alle ähnlichen Untersuchungen auf dem Laufenden zu halten, die man hier auf Habranha durchführt.«

»Ich wusste gar nicht, dass hier noch andere Untersuchungen im Gange sind«, bemerkte Hugh.

»Oh doch. Ich werde sie für Sie zusammenfassen, wenn wir beide je die nötige Zeit dazu finden, uns damit zu beschäftigen.

Ach, entschuldigen Sie bitte. Ich sollte Ihnen keinen Vortrag halten. Sie haben gefragt, ich habe geantwortet. Spreadsheet-Denkerin, unser Mitarbeiterstab und ich müssen uns mit dem aktuellen Problem befassen. Ich muss wieder zurück an die Arbeit. Ich … nun …«

»Einer von uns wird Sie zur Stadt herübertragen«, bot Ted eilig an. »Ich nehme an, Sie haben noch andere Körper in Ihrer Unterkunft?«

»Ja, natürlich. Diesen hier habe ich lediglich behelfsmäßig zusammengebaut, damit ich diese Erthumoi-Sportart ausprobieren kann – aus dienstlichen und, äh, anderen Gründen. Ich fürchte, ich habe noch nicht alles Wissenswerte über den Sport gelernt. Ich repariere das Gerüst und versuche es noch einmal. Bis zur Stadt kann ich auch mit den drei verbliebenen Gliedern laufen, aber wenn einer von Ihnen so freundlich wäre, mir das abgerissene Bein ins Quartier zu bringen? Ich möchte es untersuchen und herausfinden, warum es sich als mangelhaft erwiesen hat. Fahren Sie ruhig noch ein wenig Ski, Hugh und Janice, und schauen Sie mal, ob Sie nicht ein Spiel erfinden können, das sogar für die Habra eine Herausforderung darstellt. Mit Skispringen kann man sich jedenfalls eindeutig hervorragend ablenken, wenn man die Alltagssorgen für eine Weile vergessen will, finde ich. Sie sollten nicht die ganze Zeit arbeiten, Ted, nur um Erthumoi-Skelette zu beschützen – oder solch künstliche Skelette wie das meine hier. Wie wär's, wenn Sie stattdessen mal Cephallonischen Netzball ausprobieren würden – in der flüssigen Luft in den Gruben?«

Barrar humpelte langsam davon, und die Erthumoi und Habra blickten ihm schweigend nach. Angesichts von Barrars Bewegungen glaubte Hugh zu verstehen, warum sich in der Galaxis kaum dreibeinige Lebewesen entwickelt hatten.

Als der Samianer beinahe außer Sichtweite war, ergriff einer der Einheimischen das Wort.

»In dieser Richtung stehen ein paar sehr üble Pflanzen. Ich pass' wohl besser auf ihn auf.«

»In Ordnung, Walt«, stimmte Hugh zu. »Barrar mag sich ja über seine Arbeit beklagen, aber unsere Jobs sind ebenfalls kein Zuckerschlecken. Jan, wir haben noch Zeit für ein paar Sprünge. Ted und Jimbo, bleibt ihr beide hier, oder reicht einer?«

»Beide. Einer muss möglicherweise zusätzliche Hilfe herbeiholen, während der andere damit beschäftigt ist, einen Flexpanzeranzug zu flicken. Obwohl ich es nicht für wahrscheinlich halte, dass es zu einem solch schlimmen Unfall kommt. Sie springen beide ziemlich gut …«

»Jetzt ist es wahrscheinlicher als zuvor. Ich wusste nicht – wir wussten nicht, dass Sie beide hier auf die Springer aufpassen. Jetzt neigen wir viel eher dazu, unvorsichtig zu werden und unser Glück herauszufordern.«

»Hätten wir Ihnen liebe nicht sagen sollen? Oder wäre es Ihnen lieber, wenn wir Sie von Anfang an darüber informiert hätten? Wir dachten, Sie lehnen unsere Hilfe dann vielleicht ab. Die Crotoniten meinten jedenfalls, dass Sie das tun würden.«

»Technisch gesehen, hätten Sie mich informieren müssen, weil ich Ihr Vorgesetzter bin. Aber ich begrüße es, dass Sie von ganz allein solches Verantwortungsbewusstsein beweisen. Sieht so aus, als werfe das ohnehin kein allzu gutes Licht auf meine verwaltungstechnischen Fähigkeiten. Die einzige, die möglicherweise verärgert sein könnte, ist Spreadsheet-Denkerin. Sie mag es wahrscheinlich ganz und gar nicht, wenn man sie über etwas nicht informiert – ganz gleich in welchem Abschnitt unserer Operation. Können wir unser Gespräch später fortsetzen? Ich bekomme schon einen Krampf in der Hand von der ganzen Tipperei. Komm, Jan. Du zuerst.«

Ein vorüberziehendes Sturm verzögerte die Sprünge noch einige Minuten. Während sie darauf warteten, dass der Himmel sich wieder klärte, unterhielten sie sich noch ein wenig mit den Habra, wobei diesmal größtenteils Janice das Schreiben übernahm. Keiner von ihnen hatte Lust, über Barrars Probleme zu sprechen. Hauptsächlich drehte sich das Gespräch um die Suche nach geeigneteren Pflanzen, mit denen sich der teilweise künstlich angelegte Hügel stabilisieren ließe, auf dem man die Sprungschanze errichtet hatte. Keiner der anwesenden Einheimischen war Botaniker, aber Hugh und Janice hatten bislang noch keinen Habra kennen gelernt, der phantasielos oder ungebildet gewesen wäre. Dieser Eindruck konnte natürlich durchaus auf beobachtende Selektion zurückzuführen sein, vor allem, wenn man in Betracht zog, welcher Arbeit die Erthumoi auf dem kleinen Planeten nachgingen: Sämtliche Habra in ihrer Sicherheitsabteilung hatten sie persönlich ausgewählt. Alles in allem hatten Hugh und Janice jedoch zu viele Erfahrungen gesammelt, um anzunehmen, alle Vertreter einer Spezies glichen einander so sehr, dass sie berechenbar wären.

Die Erthumoi und Habra begutachteten die Hänge und kamen überein, dass sich Pflanzen mit längeren und kräftigeren Wurzeln besser zur Hangbepflanzung eigneten, wenn man denn solche Pflanzen finden könne. Selbst hier auf der dunklen Seite des Planeten waren die Winde zwar örtlich völlig unberechenbar, wehten aber für gewöhnlich in Oberflächennähe, und die Luftströme verliefen meist in Richtung der sonnenzugewandten Hemisphäre. Die Schneehügel wiesen ein ähnliches Wanderverhalten auf wie Sanddünen, und entsprechend folgten sie langsam der allgemein vorherrschenden Windrichtung. Mitunter war die Temperatur so niedrig, dass sich selbst trotz beträchtlichen Drucks keine Eiskristalle bildeten. Wenn sich jedoch Eiskristalle bildeten, verwandelten die Dünen sich vorübergehend in Eisberge. Auf Habranha konnte man eine glatte Eisfläche nur äußerst schwer vor Verwehungen schützen, und das war einer der Gründe, warum Skifahren auf dem Festem Ozean Habranhas weitaus praktikabler war als Schlittschuhlaufen. Wasser ist von Natur aus eine höchst eigentümliche Substanz. Janice und ihr Ehemann hatten das immer mehr oder minder gewusst, doch erst auf Habranha war ihnen vollends klar geworden, wie eigentümlich Wasser wirklich ist.

Die Habra erwähnten, man könne viele Pflanzen ihrer Welt sowohl am Aussehen als auch am Geruch erkennen. Die Erthumoi hätten sich gerne davon überzeugt, doch waren ihre Flexpanzeranzüge mit Tauchflüssigkeit gefüllt. Seit langem wussten sie, dass sie sich der örtlichen Atmosphäre durchaus für kurze Zeit aussetzen konnten, ohne gesundheitliche Schäden fürchten zu müssen. Insgesamt war der Atmosphärendruck auf der Planetenoberfläche viermal höher als auf der Erde, und die chemische Zusammensetzung der Luft war relativ ungefährlich für Erthumoi. Der Partialdruck des Sauerstoffs betrug nur etwa ein Drittel Bar, und Ammoniak sowie Zyanwasserstoff traten praktisch nur in den wärmeren Regionen Habranhas auf, bei denen die Wasserlöslichkeit der Gase geringer war. Und die Erthumoi lebten schon jetzt unter den Druckverhältnissen des Planeten, denn zum einen waren die Flexpanzeranzüge recht bequem, zum anderen würden sie, wenn das Grubenprojekt erst weiter fortgeschritten war, ohnehin in Tiefen abtauchen müssen, in denen der Druck so hoch war, dass sie auf die Anzüge gar nicht würden verzichten können. Um diesem Umstand von Anfang an Rechnung zu tragen, hatten sie sich von Anfang an für den Gebrauch von Tauchflüssigkeit entschieden.

Als der Sturm vorübergezogen war und die beiden Erthumoi jeder noch einen Schanzensprung absolviert hatten, tippte Janice: »Wir sollten jetzt wieder reingehen, Ted. Waren Sie nur unseretwegen im Dienst oder haben Sie noch Andere auf der Schanze erwartet?«

»Es kommen fast ausschließlich Erthumoi hierher. Einer von uns genügt, um hier nach potenziellen Springern Ausschau zu halten. Jetzt ist Jimbo an der Reihe, hier Wache zu halten, und er wird uns rufen, wenn wir gebraucht werden. Walt und ich werden inzwischen ein wenig über den Gruben kreisen.«

»Aber da können Sie doch gar nichts ausrichten. Ihre Anzüge schützen Sie doch nicht vor der Temperatur von flüssiger Luft, oder?«

»Nein, aber wir können die Grabungsarbeiten ein wenig im Auge behalten – entschuldigen Sie diese Formulierung, ich beziehe mich natürlich auf unsere Sinnesorgane, mit denen wir elektrische Felder wahrnehmen. Ich halte mich gern darüber auf dem Laufenden, ob man etwas gefunden hat.«

»Hat dieser Flügel Sie beunruhigt, den man vor drei Tagen gefunden hat?«, tippte Janice in die Tastatur ihres Code-Transmitters. »Wir wissen nicht, wie Sie sich Ihnen Toten gegenüber verhalten, und haben uns nicht getraut, Sie danach zu fragen. Das ist bei vielen Völkern ein heikles Thema.«

»Wenn man den ehemaligen Besitzer des Flügels identifizieren kann, würden wir gern schrittweise nachforschen, was es mit dem Fund auf sich hat. Wie tief lag er begraben? Konnte man das Alter des Flügels bestimmen? Die meisten von uns verwirrt die Frage, auf welche Weise der Flügel vom Körper abgetrennt wurde. Was wir beim Gedanken empfinden, einen Flügel zu verlieren, ist … ist schwer in Worte zu fassen, und alle Begriffe, die mir dazu einfallen, sind negativer Natur.«

»Könnte ein sehr heftiger Sturm den Flügel abgerissen haben?«, fragte Hugh.

»Ich habe noch nie einen Sturm erlebt, der so etwas zustande bringen könnte, und ich kann mir auch keinen vorstellen. Aber das heißt wohl noch lange nicht, dass es unmöglich ist. Ich muss zugeben, dass ich nicht gerne darüber nachdenke, auch wenn ich schon so manchen Sturm erlebt habe. Was weiß man über das Alter des Flügels?«

»Er lag 481 Meter unter der Oberfläche. Leider hat uns das Eis an dieser Stelle nicht den Gefallen getan, eindeutig abgrenzbare Schichten zu bilden, daher mussten wir andere Datierungsmethoden anwenden. Die Grenze für Kohlenstoff-14-Datierung liegt auf diesem Planeten bei 160 000 Standardjahren. Das ist eine größere Zeitspanne als auf den meisten anderen Welten, und das liegt an zwei Dingen: Zum einen besitzt Habranha kein nennenswertes Magnetfeld, und zum anderen gibt es auf Fafnir häufig Protuberanzen; deswegen hat Ihr Planet einen überdurchschnittlich hohen C-14-Anteil. Nach allem, was ich sagen kann, ist der Flügel jedoch älter als 160 000 Standardjahre.«

»Umgerechnet in unsere Jahre sind das …«

Beide Erthumoi betrieben ein wenig Kopfrechnen. Hugh tippte das Ergebnis als Erster in seine Tastatur. »Ein wenig mehr als zweieinhalb Millionen Jahre.«

»Dann brauchen wir uns keine Gedanken darum zu machen, ob wir seine Angehörigen verständigen müssen«, sagte der Habra, ohne dass man ihm ansehen konnte, ob er diese Bemerkung als Witz verstand oder ernst meinte. »Allerdings hätte ich bei solch einem hohen Alter vermutet, dass das Fossil in viel tiefere Eisschichten gewandert sei.«

»Das habe ich auch geglaubt«, pflichtete Janice ihm bei, »aber vergessen Sie nicht, dass sich auch das Eis ständig bewegt, vielleicht in ebenso komplizierten Bewegungsmustern wie Ihre Atmosphäre und Ihr Ozean. Selbst bei der hiesigen Schwerkraft entspricht eine Wassertiefe von fünfhundert Kilometern etwa zehntausend Atmosphären. Für die meisten Wasser-Eis-Phasenübergänge ist das reichlich, selbst wenn man die radioaktive Erwärmung aus dem Planeteninneren nicht berücksichtigt – die den ganzen Prozess ja noch zusätzlich verkompliziert. Auch feste Substanzen verändern sich, allerdings weitaus langsamer als flüssige. Und im Augenblick würde ich nicht gerade darauf wetten, dass hier vor 160 000 Jahren alles fest war. Allerdings würde ich darüber gern mehr erfahren. Auf diese Weise wird man die Fossilien, die wir noch im Eis finden werden, wohl kaum präziser datieren können. Was wir bräuchten, sind nette, präzise, unzweideutige Aussagen über die Gletscherbewegungen – und die werden wir leider wohl kaum bekommen.«

»Es muss Spaß machen, in den Gruben abzutauchen und alles selbst zu erforschen«, merkte Ted nachdenklich an. »Ich frage mich, wann wir es endlich schaffen, einen unserer gewöhnlichen Taucheranzüge zu modifizieren. Der Druck ist natürlich kein Problem. Wir verwenden ja ebenfalls Tauchflüssigkeit. Aber die Temperatur … Unsere Forscher versuchen beständig, mehr über Ihre Isolationsmaterialien zu erfahren. Sie und die anderen Fremdspezies, die hier auf Habranha arbeiten, haben unseren Chemikern Informationen über die Isolationsmaterialien gegeben, die sie benutzen. Das sollte eigentlich genügen. Soweit ich es beurteilen kann, müsst ihr Erthumoi euch sogar weitaus dringender vor der Kälte schützen als wir.«

»Das ist kein Problem für uns«, tippte Janice ein. »Aber Sie müssen Ihren Kälteschutz so umgestalten, dass auch Ihre Flügel vor der Kälte geschützt sind. Ich hoffe, Sie entwickeln schon bald ein geeignetes Modell. Es wäre gut, wenn Sie mit uns in den Gruben tauchen könnten. Ihre elektrosensorischen Sinnesorgane würden sich dort unten bestimmt als sehr hilfreich erweisen. Wenn wir nach Mikrofossilien suchen, indem wir Laserstrahlen von einer Grube zur nächsten abstrahlen, funktioniert das zwar ganz gut, aber ihr Habra entdeckt die Funde womöglich sehr viel schneller als wir.«

»Aber Sie entdecken ja nicht nur Mikrofossilien, sondern auch große Funde. Die Flügel, über die ich mich erkundigt habe, waren ja nicht die einzigen Überreste.«

»Nein. Das Eis ist voller Pflanzenwurzeln. Mitunter können wir erkennen, dass sie das Eis ein Dutzend Meter und mehr durchdringen. Allem Anschein nach schlägt eine Pflanze zunächst Wurzeln und wächst dann jahrelang, vermutlich jahrhundertelang, unaufhörlich, bis ein drastischer Umwelteinfluss sie abtötet. Vielleicht wird sie von einer wandernden Eisdüne begraben, oder es passiert etwas Ähnlichem. Solange sie lebt, beeinflusst sie die direkte Umgebung, hält den Schnee an Ort und Stelle, vermeidet also, dass der Wind ihn abträgt – exakte Stratigraphie können Sie vergessen!«

»Ich weiß nicht, was dieses Wort bedeutet«, gestand Ted ein, »aber es gibt hier zumindest einige Pflanzen, die ihre Wurzeln sozusagen abwerfen und sich vom Wind forttragen lassen, wenn Eisdünen sie zu bedecken drohen. Ich kann Ihnen diese Pflanzenarten allerdings nicht aus dem Stehgreif aufzählen.«

»Dann müssen wir eben jemanden fragen, der das kann«, erwiderte Janice. »Auf irgendeine Weise schaffe ich es schon, eine ordentliche Datierungsskala für diese Welt aufzustellen. Aber jetzt bin ich müde, Hugh. Komm, wir fahren nach Hause.«

Sie stießen sich mit den Skistöcken ab. Allerdings fuhren sie nicht zu ihrer Unterkunft: Ein gedämpftes Hornsignal übertönte das Donnern des aufziehenden Schneesturms und wies die Gruppe an, sich eine windgeschützte Stelle zu suchen.

2

Und Luft zum Schwimmen, nicht zum Flug gedacht

Es ist ein Unterschied, ob jemand schnelle Reflexe besitzt oder leicht zu erschrecken ist. Rekchellet behauptete hinterher beharrlich, er habe tadellos reagiert, als der Schrei durch die Überwachungshalle gellte. Sogleich habe er sich mit ausgebreiteten Flügeln von seiner Beobachtungsstange gestürzt, denn selbst wenn lediglich eine Bodenschnecke in Gefahr schwebte, sei es besser, sofort aus der Luft zu Hilfe eilen zu können. Das behauptete er jedenfalls, nachdrücklich und unumstößlich.

S'Nash saß zusammengerollt vor den Lautsprechern. Es/er wusste, dass der Schrei aus einer der Gruben gekommen sein musste, und zuckte kaum zusammen, als es/er ihn hörte. Es/er fuhr eine fransige Hand aus und schaltete von einer Überwachungskamera zur nächsten, um mehr Fakten über den Vorfall zu erhalten. Eigentlich hätte es/er verwirrter sein müssen als der Crotonit, da eindeutig ein Naxianer den Schrei ausgestoßen hatte; überdies hatte S'Nash eines nur allzu deutlich herausgehört: Der betreffende Naxianer empfand echten Schrecken, echte Überraschung und echten Schmerz.

Doch die Stimme hatte keinem persönlichen Bekannten S'Nashs gehört, deshalb bereitete es ihm keine Mühe, die Ruhe zu bewahren – und sogar taktvoll zu bleiben: S'Nash wartete so lange, bis der Crotonit eindeutig wieder auf seiner Sitzstange saß und die aufbrandenden Emotionen, die es/er von ihm empfing, wieder unter Kontrolle hatte. Erst dann hob der schlangenähnliche Sicherheitsbedienstete den Blick und sagte:

»Rek, siehst du vielleicht auf einem deiner Bildschirme, woher der Schrei kam? Auf meinen kann ich keinen Naxianer erkennen, der in Schwierigkeiten wäre.« Es/er hörte die kurze, höfliche Aufforderung, die der Translator immer dann von sich gab, wenn er eine Nachricht übersetzt hatte, aber der Empfänger mehrere Sekunden später noch immer nicht antwortete.

»Bist du sicher, dass es ein Naxianer war?«, fragte der geflügelte Wächter schließlich. »Ich sehe vierzehn Naxianer auf verschiedenen Bildschirmen. Sie halten sich in unterschiedlichen Teilen der Gruben auf. Ich kann nicht erkennen, was sie gerade machen, abgesehen von einem, der gerade ein neues Fenster poliert. Aber keiner von ihnen scheint in Schwierigkeiten zu stecken. Keiner sieht verletzt oder hilflos aus. Warum haben wir noch immer keine neuen Informationen?«

S'Nash zwang sich dazu, die Frage nicht als persönliche Kritik aufzufassen, auch wenn Rekchellet Recht daran tat, es/ihn zu rügen: S'Nash hätte eigentlich sofort nach dem Schrei in der Grube anrufen und sich erkundigen sollen, was geschehen sei. Zwar begegneten die Crotoniten jedem nichtgeflügelten Wesen stets mit reflexiver Hochnäsigkeit, doch konnte man das diesmal wohl durchaus entschuldigen – obwohl S'Nash nur hoffen konnte, dass der Crotonit seine (deutlich lesbaren) kritischen Gefühle in Wirklichkeit vielleicht doch gegen den unbekannten Naxianer in Not richtete: Denn schließlich hatte dieser zwar lauthals geschrien, aber mit keiner Silbe den Grund dafür verlauten lassen. S'Nash beschloss, routinemäßig vorzugehen.

»Was ist denn los?«, zischte es/er in das Mikrofon, das an sämtliche Sprachwandler der Grube angeschlossen war. Vorerst wäre es ratsam, keine Nicht-Naxianer im Grubengebiet zu beunruhigen. Möglicherweise hatten sie nämlich den Schrei gar nicht gehört, was ganz davon abhing, welche Schaltkreise den angsterfüllten Laut in die Überwachungshalle übertragen hatten. Falls die nicht-naxianischen Arbeiter ihn aber doch gehört haben sollten, hatten sie bestimmt nicht erkannt, welche Emotionen mit dem Schrei verbunden gewesen waren. Daher übertrug es/er seine Frage direkt in das flüssige Gemisch aus Stickstoff und Sauerstoff, das die Wassereiswände der Gruben davon abhielt, sich unbemerkt um die Forscher und die Ausrüstung zu schließen.

Die Antwort, die S'Nash erhielt, war ebenso wortlos, emotionserfüllt und nichtssagend wie zuvor. Diesmal drang allerdings kein Schrei, sondern eine Reihe tickender und zischender Flüsterlaute aus dem Lautsprecher. Noch immer war eindeutig zu erkennen, dass ein Naxianer die Laute ausstieß; offenbar stimmte etwas nicht mit dem Sprechorgan des Hilfesuchenden.

»Wir können Sie nicht verstehen«, antwortete S'Nash geduldig. »Wenn Sie sich in einer Zone mit Überwachungskamera aufhalten, nehmen Sie bitte eine senkrechte Lage ein.« Rekchellets Translator empfing S'Nashs Nachricht klar und deutlich, und gebannt beobachtete der Crotonit die Überwachungsschirme.

»Da!«, zischte er. »Schirm sieben! Es versucht noch immer, diese Kiste zu tragen, aber es hat sich gedreht und hängt mit dem Schwanz nach unten. Was stimmt denn nicht? Auf mich macht es einen normalen Eindruck.«

»Auf mich auch«, antwortete S'Nash knapp. »Aber es kann nicht sprechen. Ermittel seine genaue Position! Ich überprüfe die Tiefe. Wir finden heraus, wer am nächsten bei ihm arbeitet und schicken ihn zur Hilfe.«

Noch während der Naxianer sprach, drückte es/er den Alarmknopf. Die zunächst offensichtlichste Folge des Knopfdrucks war, dass sogleich ein schneidender Heulton erklang. Überall in Pitville war er zu hören und schwoll immer wieder an und ab – eine Abfolge langer und kurzer Heulsignale. Eigentlich bedurften sie keiner Übersetzung. Jedermann hätte sofort wissen müssen: Grubenarbeiter in Schwierigkeiten, weitere Details unbekannt. Hugh Cedar, der Erthumoi-Sicherheitschef, hörte den Heulton am Skihang, zwei Kilometer entfernt, und trotz der Eindeutigkeit des Signals hätte er keine allzu große Summe darauf verwettet, dass mehr als die Hälfte seines Mitarbeiterstabs den Alarmton exakt zu deuten verstanden.

Der Knopf, den der Naxianer gedrückt hatte, löste jedoch auch noch eine Reihe anderer Dinge aus: Die Pumpen, die die Grube kontinuierlich mit flüssiger Luft speisten, schalteten sich augenblicklich ab. Flutlichter blitzten auf und leuchteten jeden Kubikmeter der beiden einhundert Quadratmeter großen und fünfhundert Meter tiefen Löcher in Habranhas eiskalter Nachthemisphäre aus. Jeder der einhundertfünfundsiebzig Mitarbeiter überprüfte sofort, wo sich der ihm oder ihr zugewiesene Partner befand und ob mit ihm alles in Ordnung war. Jeder vollzog die Überprüfungsroutine … nur nicht der Naxianer, der nun versuchte, seinen schlangenartigen Körper in einer aufrechten Position zu halten, wie S'Nash es ihm aufgetragen hatte. Ein Neutrinotransmitter leitete das Notfallsignal zur Diplomatengilde in die Stadt Pwanpwan weiter, die sich knapp dreitausend Kilometer entfernt auf Habranhas Ringkontinent befand.

Auf der untersten Sohle der Grube unterbrachen die Roboter ihre Grabungsarbeiten und schalteten auf Rettungsmodus um – mit voll aktivierter Entscheidungskapazität; dann erstatteten sie Hugh Cedar Bericht – mit akustischen Codesignalen, die die Sirenenfrequenzen überlagerten und die meisten Translatorgeräte nicht beeinträchtigten.

Hugh und seine Frau brachen von dem mit pulverisiertem Eis bedeckten Hügel auf, der inmitten von Pitvilles Bauten stand und als Sprungschanze diente, und gemeinsam schlitterten sie zur Grube. Als das Alarmsignal erstmals ertönt war, hatten sie einander angeblickt, genickt und waren direkt in östlicher Richtung losgefahren; keinen Gedanken vergeudeten sie daran, sich zuvor auch nur kurz abzusprechen oder mit den Habra zu beraten, mit denen sie sich bislang unterhalten hatten. Auf dem Weg zu den Gruben tippte Hugh eine Frage in seinen Code-Transmitter, die an die Wachleute in der Überwachungshalle gerichtet war.

»Was ist los?« Seine Wortwahl, genauer gesagt: seine Codewahl war typisch für ihn, und die Wächter wussten sofort, mit wem sie sprachen.

Rekchellet und sein Wachkollege hatten inzwischen die Position des hilfsbedürftigen Naxianers ermittelt, und der Crotonit antwortete über die öffentlichen Lautsprecher, die jeder im Grubenbereich hören konnte.

»Grube Eins, x einundzwanzig, y einunddreißig, z drei-neunzig-fünf, langsam abnehmend. Naxianer offenbar in Schwierigkeiten, keine klar verständliche Com-Verbindung, keine weiteren Details bekannt.«

S'Nash, der wohl hoffte, mit einem Einwurf seine crotonitischen Kollegen nicht zu verärgern, fügte noch eine weitere Information hinzu: »Hilfebedürftiger hält gemäß Anweisung senkrechte Körperhaltung bei. Sie sollten ihn leicht identifizieren können.« S'Nash rechnete damit, ein ungehaltenes Zischen zu hören, doch offenbar sah der Crotonit ein, dass er die Information ›keine weiteren Details bekannt‹ ein wenig voreilig weitergegeben hatte, und ließ die Angelegenheit auf sich beruhen.

Hugh bestätigte den Empfang der Nachricht, und das Ehepaar schlitterte zu Grube Eins, koppelte die Skier ab und sprang über den Grubenrand, ohne ihre Geschwindigkeit zu vermindern. Die Flüssigkeit in der Grube besaß nur eine minimal geringere Dichte als Wasser. Wären Hugh und Janice also auf einem Planeten mit höherer Schwerkraft im gleichen Tempo eingetaucht, wäre der Aufprall deutlich heftiger ausgefallen. Bei der Flüssigkeit handelte es sich um ein genau bemessenes Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch, das den Druck, den die Eiswände ringsum ausübten, in jeder gegebenen Tiefe ausglich. Keiner der beiden Erthumoi schenkte dem Aufprallschock sonderlich Beachtung. Allerdings trübten im ersten Moment lauter störende Gasblasen ihre Sicht – Gas, das sie entweder mit ihren Flexpanzeranzügen in die Flüssigkeit getragen hatten oder das sich bildete, als die Wärme ihrer Anzüge die umgebende Flüssigkeit verdampfte. Aber die Blasen stiegen rasch auf oder kondensierten fast augenblicklich wieder, und das Ehepaar konnte sich in dem nun hell erleuchteten Grubenbecken umsehen. Sie fuhren Flossen und Schwimmhäute aus ihren Anzügen aus, tauchten schnell ab und näherten sich den Koordinaten, die der crotonitische Wächter ihnen genannt hatte.

Als die Erthumoi den betreffenden Punkt schließlich erreichten, waren bereits zwei Naxianer vor Ort eingetroffen. Dank ihrer schlangenähnlichen Körper konnten sie weitaus schneller schwimmen als Menschen, und zudem hatten sie sich bereits auf dem Grubengelände befunden und somit keine weite Strecke zurücklegen müssen. Der Hilfebedürftige war leicht zu identifizieren, und man erkannte auch gleich, wie das Problem geartet war.

Die beiden naxianischen Helfer und das Unfallopfer machten sich an derselben Stelle seines Panzeranzugs zu schaffen: etwa einen halben Meter unterhalb seines Kopfes. Selbst er konnte die betreffende Stelle mit den recht plumpen Greifern erreichen, mit denen jeder naxianische Panzeranzug versehen war, allerdings schien niemand die Fontäne aus Luftblasen stillen zu können, die aus dem Riss im Anzug schoss. Die Blasen stiegen wenige Zentimeter auf, und dort, wo sie sich auflösten, erwärmten sie die Grubenflüssigkeit für einen kurzen Moment so sehr, dass sie in deutlich sichtbaren Schlieren aufstieg, ehe auch die Schlieren sich wieder auflösten. Offenbar war die Kälteisolierung des naxianischen Panzeranzugs beschädigt worden. Die Werkzeugkiste, die der Naxianer getragen hatte, war seinem Griff entglitten und sank nun langsam dem Grubengrund entgegen. Die mehr als zwei Meter großen Schlangenwesen besaßen einen so geringen Auftrieb, dass sie sogar noch langsamer der Oberfläche entgegenstiegen, als die Kiste sank, während sich die Erthumoi ihnen näherten.

»Wie können wir helfen?«, fragte Janice.

»Haben Sie vielleicht Isolierungsflickzeug dabei?«, fragte einer der helfenden Naxianer.

»Nein.« Es hätte zu lange gedauert, ihm mit Code-Signalen zu erklären, dass Erthumoi grundsätzlich mehr Masse besaßen als Naxianer und somit wahrscheinlich die Oberfläche erreichen und die Grube verlassen könnten, ehe sie sich durch einen solchen Anzugschaden lebensgefährliche Erfrierungen zuzogen. Im Augenblick zählte jedoch allein, das kein Flickzeug zur Verfügung stand; Entschuldigungen waren irrelevant, selbst von Hugh Cedars Seite, der immerhin das Kommando in Sicherheitsfragen hatte.

»Kannst du diesen Grubenbereich mit Energie versorgen?« Janice hatte die Frage gestellt, formuliert in Code-Signalen, und für einen Moment verstand er nicht, warum sie sie ihm stellte. Dann begriff er, dass er die Frage auch gar nicht verstehen konnte – denn Janice sprach gar nicht mit ihm. Der Roboter hatte die Gruppe erreicht. Hugh fragte nicht nach, woher die Maschine wusste, dass Janice ihm die Frage gestellt hatte; es gehörte zum Höflichkeitsprotokoll, dass Erthumoi einen Roboter nicht wie ein vernunftbegabtes Wesen behandelten, solange ein Angehöriger der anderen Fünf Spezies zugegen war. Und selbst wenn ein Erthumoi diese Anstandsregel vergaß, dachten für gewöhnlich die betreffenden Roboter selbst daran. Dieser hier allerdings antwortete ihr ohne zu zögern.

»Nein. Ich arbeite bei Umgebungstemperatur und bin nur mit den nötigsten Heizaggregaten ausgestattet, um meine beweglichen Teile erwärmen zu können.«

»Wir können es/sie nicht schnell genug zur Oberfläche bringen«, warf einer der Naxianer ein, »und ihr Erthumoi seid sogar noch langsamere Schwimmer als wir. Wachzentrale, kann uns ein Rettungsfahrzeug innerhalb von, sagen wir, vierzig Sekunden erreichen?«

»Ausgeschlossen.« Sowohl S'Nashs Summen als auch Rekchellets pfeifende Stimme waren dumpf im Hintergrund zu hören und untermalten das übersetzte Wort aus dem Translatorlautsprecher zusätzlich.

»Dann müssen Sie ihm/ihr den Panzeranzug ausziehen, und zwar so schnell wie möglich. Wenn es uns gelingt, H'Feer so rasch einzufrieren, dass sich in seinem/ihrem Gewebe keine Eiskristalle bilden, können wir es/sie mit einer angemessenen medizinischen Behandlung retten. Hören Sie mich, H'Feer? Stimmen Sie dem zu? Sind Sie bereit, das Risiko und die Unannehmlichkeit auf sich zu nehmen?«

H'Feer antwortete so wortlos wie zuvor, aber selbst die Erthumoi interpretierten die Geräusche korrekt als Winseln und glaubten, die Qual in seinen/ihren Worten deutlich herauszuhören. Die Cedars blickten einander an. Flüchtig fragte Hugh sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn der eigene Körper vom Bauch an abwärts eingefroren würde.

Die naxianischen Helfer empfingen die Gefühle ihres/ihrer Artgenossen/in natürlich noch weitaus deutlicher als die Erthumoi und vermochten sie überdies korrekt zu deuten, auch wenn es/sie sich augenblicklich nicht verbal äußern konnte. Doch dieses eine Mal verstanden sogar die Erthumoi die emotionale Botschaft des/der Leidenden richtig. Das schlangenartige Wesen griff mit den plumpen Greifern am Panzeranzug nach den Verschlussklammern, öffnete sie jedoch nicht.

»Da liegt das Problem!«, sagte einer der Helfer. »Es/sie wäre schon längst von allein aus dem Anzug gestiegen, aber der Verschluss ist irgendwie eingefroren oder verklemmt. Erthumoi, Ihre Greifarme sind stärker als unsere. Packen Sie die Verschlussklammern auf beiden Seiten des Helms und ziehen Sie sie auseinander. Dann müsste der Anzug sich eigentlich der Länge nach öffnen.«

Hugh packte eine der hervorstehenden Klammern, Janice ergriff die andere. Dann umklammerte Janice mit ihren Beinen den schlangenähnlichen Körper des hilflosen Wesens, stützte ihre Füße auf die Brust ihres Mannes und zog mit aller Kraft.

Der Anzug hielt der Zugkraft stand. Hugh war schon im Begriff, seiner Frau ebenfalls die Füße auf die Brust zu setzen, als der Roboter ihn und Janice energisch beiseite stieß; mit einem seiner eingebauten Eisschneider schnitt er den Helm des Schlangenwesens präzise an, packte beide Verschlussklammern und riss den Panzeranzug in einer einzigen fließenden Bewegung entzwei. Kurz trübte eine riesige Blasenwolke die Sicht der Helfer, als die Luft aus dem Anzug entwich und die Grubenflüssigkeit an der warmen Haut des befreiten Schlangenwesens verdampfte. Dann klärte sich die Sicht wieder, das brodelnde Zischen erstarb, und eine wirbelnde Masse von leicht erwärmter Flüssigkeit stieg der Oberfläche entgegen.