Das Geheimnis der Lady Paxton - Robert Goddard - E-Book
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Das Geheimnis der Lady Paxton E-Book

Robert Goddard

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Beschreibung

Wenn selbst der Tod keinen Frieden schenken kann: Der düstere Krimi »Das Geheimnis der Lady Paxton« von Robert Goddard jetzt als eBook bei dotbooks. Es sind nur ein paar Worte, die Robin Timariot auf einer idyllischen Wanderung mit Lady Louise Paxton wechselt, doch sie sollen sein Leben für immer verändern – kurze Zeit später wird ihre grausam zugerichtete Leiche aufgefunden. Als die Polizei bei der Suche nach dem Täter im Dunkeln tappt, beginnt Robin, tief erschüttert von ihrem Schicksal, selbst Nachforschungen anzustellen. Doch die Geheimnisse, die er dabei aufdeckt, drohen die angesehene Familie Paxton von innen zu zerreißen. Erst als es fast zu spät ist, erkennt Robin, dass die Wahrheit manchmal nicht nur schwer zu ertragen ist – sondern auch tödlich sein kann … »Robert Goddard ist der absolute Meister des Spannungsromans!« Daily Mirror Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der abgründige Krimi »Das Geheimnis der Lady Paxton« von Robert Goddard. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 704

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Über dieses Buch:

Es sind nur ein paar Worte, die Robin Timariot auf einer idyllischen Wanderung mit Lady Louise Paxton wechselt, doch sie sollen sein Leben für immer verändern – kurze Zeit später wird ihre grausam zugerichtete Leiche aufgefunden. Als die Polizei bei der Suche nach dem Täter im Dunkeln tappt, beginnt Robin, tief erschüttert von ihrem Schicksal, selbst Nachforschungen anzustellen. Doch die Geheimnisse, die er dabei aufdeckt, drohen die angesehene Familie Paxton von innen zu zerreißen. Erst als es fast zu spät ist, erkennt Robin, dass die Wahrheit manchmal nicht nur schwer zu ertragen ist – sondern auch tödlich sein kann …

Über den Autor:

Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall.

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane:»Im Netz der Lügen«»Der Preis des Verrats«»Eine tödliche Sünde«»Ein dunkler Schatten«»Denn ewig währt die Schuld«»Das Geheimnis von Trennor Manor«»Und Friede den Toten«»Das Haus der dunklen Erinnerung«

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane:»Die Sünden unserer Väter«»Die Schatten der Toten«»Jäger und Gejagte«»Die Klage der Toten«»Der Kartograf von London«

Robert Goddard veröffentlichte außerdem bei dotbooks seine drei Kriminalromane mit dem Ermittler Harry Barnett:»Dunkles Blut«»Dunkle Sonne«»Dunkle Erinnerung«

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eBook-Neuausgabe März 2020

Copyright © der englischen Originalausgabe 1995 Robert Goddard

Die englische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Borrowed Time« bei Bantam Press, London.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1996 C. Bertelsmann

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/1000 Words

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-059-8

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Robert Goddard

Das Geheimnis der Lady Paxton

Roman

Aus dem Englischen von Werner Waldhoff und Katharina Georgi

dotbooks.

Für die Jungs

Prolog

ES BEGANN vor mehr als drei Jahren, an einem goldenen Abend im Hochsommer. Natürlich wissen Sie das. Sie kennen alle Wos und Wanns. Aber nicht das Warum. Noch nicht. Ich aber kenne es. Ich verstehe die komplette Reihenfolge von Ursache und Wirkung, die ab diesem Tag bis zum heutigen führte. Ich kann alles überblicken, wie ein Raubvogel, der über der hügeligen Landschaft kreist. Ich kann die ganze gewundene Länge der Straße sehen, der ich ab damals bis heute gefolgt bin. Es gab keine Ausfahrten, die ich hätte benutzen können, keine Kreuzungen, an denen ich die Strecke hätte verlassen können. Das Ende war immer vorgegeben. Eine Zukunft wird genau in dem Moment unausweichlich, wo sie die Gegenwart berührt.

Sie wissen das alles, oder Sie meinen zumindest, Sie wüßten es. Und jetzt sagen Sie, Sie wollen es verstehen. Also gut. Es ist klar, ich muß versuchen, es zu erklären. Nicht zu entschuldigen, nicht zu mildern, nicht zu entlasten. Bloß zu erklären. Nur die volle Wahrheit zum erstenmal sagen. Das möchte ich. Das muß ich. Dann werden Sie verstehen. Aus dem gleichen Grund wie ich. Sie sagen, Sie wollen die Wahrheit. Na schön. Sie sollen sie haben.

Kapitel 1

ES BEGANN vor mehr als drei Jahren, an einem goldenen Abend im Hochsommer. Morgens war ich in Knighton zu einer Wanderung, entlang der südlichen Hälfte von Offa's Dyke, aufgebrochen, die sechs Tage dauern sollte. Ich war schon immer der Meinung, daß ich beim Gehen am besten nachdenken kann. Und weil ich zu jener Zeit über sehr viel nachzudenken hatte, schien eine lange Wanderung genau das Richtige zu sein. Verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten standen mir zur Auswahl. Ich näherte mich dem mittleren Alter, eine Gabelung auf dem Pfad des Lebens schien unausweichlich. Nichts war so einfach und sicher gewesen, wie ich es gerne gehabt hätte. Doch es bestand die Hoffnung, daß es oben auf den Hügeln anders sein könnte. Es war Dienstag, der 17. Juli 1990. Ein Datum, an das ich mich gut erinnere und das oft protokolliert wurde. Ein Tag voll glühender Hitze und nicht enden wollendem Sonnenschein, der sich zu einer Abenddämmerung voll schläfriger Schwüle neigte. Für mich ein Tag des kräftigen Wanderns und ernsthaften Nachdenkens, mit knochenhartem Grasboden unter meinen Füßen und einem dunstigen blauen Himmel über meinem Kopf. Ich sah keine Bussarde über mir kreisen, wie ich es gehofft hatte, obwohl vielleicht irgend etwas dort oben außerhalb meiner Sicht kreiste, das sah, was ich vorhatte.

Bereits am Tag zuvor war ich mit dem Zug von Petersfield nach Knighton gefahren, glücklich, endlich weg und alleine zu sein. Mein ältester Bruder Hugh war vor fünf Wochen an einem Herzinfarkt gestorben, mit neunundvierzig Jahren. Das war natürlich ein Schock gewesen – vor allem für meine Mutter. Hugh und ich hatten uns allerdings nie besonders nahegestanden. Ich denke, zwölf Jahre Altersunterschied waren einfach ein zu großer Abstand. Das einzige Mal, daß wir uns als Brüder wirklich näherkamen, war im Sommer 1973, als wir zusammen den Pennine Way entlangwanderten. Seit seinem Tod war die Erinnerung an jene drei weit zurückliegenden Wochen in den nördlichen Bergen in meinem Gedächtnis zu einer Art Talisman verlorener Brüderlichkeit geworden. Mein Ausflug zur walisischen Grenze war teilweise ein bewußter Akt der Trauer, teilweise eine Suche nach den wenigen Vergnügungen und Möglichkeiten, die das Leben damals geboten hatte. Aber vor allem war der Ausflug dazu gedacht, Ordnung in meinen Gedanken zu schaffen und über meine Zukunft zu entscheiden. Meine Schwester Jennifer und meine beiden anderen Brüder, Simon und Adrian, arbeiteten alle im Familienunternehmen Timariot & Small, in dem Hugh Geschäftsführer gewesen war. In dieser Hinsicht – und in manch anderer auch war ich überflüssig gewesen. Ich lebte in der Überzeugung, daß meine Karriere bei der Europäischen Kommission in Brüssel mich gegen die beschränkten Sorgen und ständigen Streitigkeiten der Familie immun gemacht hatte. Und so war es auch. Außerdem bescherte mir mein Beruf absolute Sicherheit und relativen Wohlstand. Das ging nun schon zwölf Jahre so, und man konnte sich darauf verlassen, daß es auch die nächsten zwanzig Jahre so bleiben würde. Gefolgt von einer frühzeitigen Pensionierung und einer gesicherten Pension. O ja, das Leben eines Eurokraten hat seine Vorzüge.

Aber es erlegt einem auch Strafen auf. Und seit kurzem begannen sie, mich niederzudrücken. Der Berlaymont, ein x-förmiger Berg aus Glas und Beton, in dem ich seit meiner Ankunft in Brüssel in verschiedenen engen Büros arbeitete, war in meiner Vorstellung sogar noch bedrückender geworden, als er in Wirklichkeit war. Er wurde geschlossen, nachdem man in jedem Hohlraum krebserregenden Asbeststaub entdeckt hatte. Doch selbst wenn man den Staub des Berlaymont von den Füßen schüttelt, hält er sich vielleicht immer noch in den Lungen versteckt, wo er geduldig wartet – mehrere Jahrzehnte lang, wie die Experten sagen –, um dann seinen Tribut zu fordern. Nun, es gibt nichts, was ich jetzt dagegen tun könnte. Und damals gab es nichts so Greifbares wie Asbest, das mich zu ersticken drohte. Es war das Wissen über all die Kilometer an Fluren, die ich voller Pflichtgefühl entlanggehastet war, all die Meter von Notizen, die ich dienstbeflissen aufgezeichnet hatte, die Flut von bürokratischen Informationen, die mich nur am Rande betrafen – und ich würde damit fortfahren, Jahr um Jahr, bis das Himmelreich oder die Pensionierung oder die Asbeststaublunge kommen würden.

Ich würde natürlich ausgelaugt sein. Aus Mangel an Alternativen würde ich weitermachen müssen, mit den Jahren immer zynischer und desillusionierter werden. Ich würde immer mehr wie jene meiner verbrauchten Mittfünfzigerkollegen werden, die von Bungalows in Surrey träumen und von Tagen, an denen sie nur noch Golf spielen würden. Es war bereits zu spät, ihr Schicksal nicht zu teilen. Es war bereits alles für mich vorbei, wie ich manchmal in milden Brüsseler Nächten erkannte.

Aber dann starb Hugh. Und es mußte keineswegs alles vorbei sein. Es bereitet mir kein Vergnügen, das zu sagen. Ich wünschte, weiß Gott, es wäre ihm nicht passiert. Aber mein Leben hat sich vollständig verändert, seit er unter seiner Arbeitslast zusammenbrach und an einem Juniabend im Jahre 1990 kurz nach neun Uhr langsam auf den Boden seines Büros sank. Ich hätte mir nie vorstellen können, wohin mich sein Tod führen würde. Und vielleicht ist das auch gut so. Wenn ich auch nur die Hälfte davon geahnt hätte, wäre ich zurück in meine langweilige, aber sichere Existenz nach Brüssel geflohen. Das steht fest. Aber trotz allem, was geschehen ist, bin ich froh, daß ich es nicht getan habe. Ich bin froh, daß ich diesem Weg gefolgt bin.

Anfangs schien es nicht mehr zu sein als ein Blitz aus heiterem Himmel, eine unangenehme Erinnerung an meine eigene Sterblichkeit. Aber auf der Beerdigung gab es weitere Anzeichen: die allgemeine Anspannung, die nicht allein auf Trauer zurückzuführen war. Fünfzehn Jahre lang war Hugh Timariot & Small gewesen, hatte die Firma durch seine Energie und sein Engagement aufrechterhalten und ihre geschäftlichen Vorteile geschickt betrieben. Jetzt war er tot. Deshalb war die Frage nicht einfach nur, wer ihn ersetzen würde, sondern ob die Firma ohne ihn als Steuermann überleben könnte. Sogar im Krematorium beäugten sich Simon und Adrian gegenseitig angesichts des Wettbewerbs, der auf sie zukam, während Reg Chignell, Abteilungsleiter der Produktion, beide beobachtete und sich ganz offensichtlich fragte, ob einer von ihnen den Chefsessel beanspruchte.

Onkel Larry, längst in Rente, war wieder zurückgekommen, um für die Übergangszeit den Vorstand zu führen. Er und meine Mutter unterbreiteten mir am Tag nach der Beerdigung einen Vorschlag, über den ich einen Monat später, als ich in Knighton aufbrach, noch immer nachdachte. Obwohl Adrian der Jüngste von uns war, arbeitete er am längsten in der Firma. Überdies hatte er zwei Söhne und zwei Töchter, und das war mehr, als wir übrigen zusammen besaßen. Laut der kuriosen Logik meines Onkels machte ihn das zu einem geeigneten Hüter der Familientradition. Außerdem verfügte Adrian über einen größeren Stimmenanteil als Simon, Jennifer oder ich, da er einige Geschäftsanteile für seinen ältesten Sohn treuhänderisch verwaltete. Der Posten des Geschäftsführers stünde ihm zu Recht zu, erklärten sie. Mit der Unterstützung von Hughs Witwe Bella, die dessen Anteile geerbt hatte, beabsichtigten sie, Adrian den Posten anzubieten. Aber sie sahen Reibereien zwischen ihm und Simon voraus. Nun, dafür benötigte man kaum eine Glaskugel. Was man brauchte, war ein beruhigender Einfluß, jemand, der Adrian als Produktionschef nachfolgte und den klaren Verstand eines ausgebildeten Volkswirtschaftlers in die Überlegungen der Firma einbrachte. Mit einem Wort, man brauchte mich.

Ehrlich gesagt, standen ihre Chancen nicht besonders gut. Ich hatte während der Semesterferien in der Fabrik gearbeitet und ungefähr achtzehn Monate im Büro, so lange wie die Europäische Kommission für ihre Entscheidung gebraucht hatte, daß sie mich wollten. Aber all das war schon ewig her, und mein wirtschaftliches Können war nicht viel mehr als Augenwischerei. Die eigentliche Absicht meiner Mutter war, mich nach Hause zu locken und zu sehen, daß ich mich in Petersfield niederließ, am besten mit Frau und Kindern, bevor sie starb. Onkel Larry war mehr als bereit, dabei mitzuspielen. Und ich war versucht, das gleiche zu tun – aus ganz persönlichen Gründen.

Natürlich erzählte ich ihnen nicht, wie begierig ich war, Brüssel zu verlassen. Ich wollte nicht, daß sie – und vor allem nicht meine Brüder und meine Schwester – dachten, sie würden mir einen größeren Gefallen erweisen als ich ihnen. Ich bemühte mich anzudeuten, daß ich um der Familie willen eventuell meine Karriere aufgäbe – wenn die Bedingungen stimmten. Aber da lag der Hase im Pfeffer. Die Bedingungen würden niemals gut genug sein. Ob ich nun frustriert war oder nicht, als Fonctionnaire lag ich auf Rosen gebettet. Bei Timariot & Small würde mir vermutlich das Geld knapp werden. Außerdem mußte man die Zukunft der Firma berücksichtigen. Ich war mir gar nicht so sicher, daß sie eine haben würde. Eine Vergangenheit, das schon. Im Jahre 1836 hatte sich mein Urgroßvater Joseph Timariot mit John Small zusammengetan, um in einer bescheidenen Werkstatt in der Sheep Street Kricketschläger herzustellen. Seitdem hatte die Firma einmal den Standort gewechselt – die gegenwärtige Fabrik befindet sich in der Frenchman's Road – und war so etwas wie der drittgrößte Hersteller von Kricketschlägern im Land geworden. Aber das machte sie noch nicht zu General Motors. Sie beschäftigte ungefähr fünfzig Leute in einem mittelgroßen Marktstädtchen in Hampshire und benutzte veraltete Methoden, um in einem Zweig der Sportindustrie, in dem der Ferne Osten die englischen Traditionen noch nicht eingeholt hatte, ein handgefertigtes Produkt herzustellen. Die Vergangenheit, auf die sie so stolz waren, zeigte sich in verblaßten Urkunden von der Weltausstellung, in braungeränderten Dankesbriefen von Kricketspielern aus der Zeit Eduard VII., in der sägemehlgeschwängerten Luft der Werkstatt, durch die mein Vater in den Fußstapfen seines Vaters und Großvaters gelaufen war. Aber die Zukunft? Gab es in ihr wirklich einen Platz für die Bedürfnisse von Timariot & Small?

Aus meiner Sicht lief die Familie Timariot Gefahr, alles auf eine ausgesprochen schlechte und schwache Karte zu setzen. Ich glaube nicht, daß mein Vater auch nur daran dachte, daß alle seine fünf Kinder im Unternehmen arbeiten würden. Bis zu seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben hatte das nur Hugh getan. Dann trat Adrian direkt nach der Schule in die Firma ein. Onkel Larry zog sich ein paar Jahre später zurück, und Jennifer, die bis dahin als Bilanzbuchhalterin bei einer Supermarktkette gearbeitet hatte, ersetzte ihn als Leiter der Finanzen. Als mein Vater starb, wurde Hugh Präsident, sowohl nominell als auch funktionell. Er setzte Simon prompt als Marketingleiter ein und erlöste ihn damit von seinen langen und unrühmlichen Kämpfen als Vertreter von Kopiergeräten. Damit blieb ich der einzige, der nicht in der Firma war.

Gesunder Menschenverstand riet mir, es dabei zu belassen. Aber man hatte mir einen Leitungsposten angeboten. Und Adrian, nach seinem Wechsel an die Führungsspitze von Großzügigkeit überwältigt, bestätigte dies nur allzugern. Auch Simon und Jennifer, die mich vermutlich als eine Art Kontrolle über Adrians Macht ansahen, drängten mich, die Stelle anzutreten. Bevor ich nach Brüssel zurückkehrte, versprach ich, ihnen während meines vierzehntägigen Urlaubs Ende Juli meine Entscheidung mitzuteilen.

In gewissem Sinn wartete also am Ende von Offa's Dyke eher der Rubikon auf mich als der Severn. Aber als ich zeitig an jenem Dienstagmorgen in Knighton aus dem George & Dragon trat, fühlte ich mich keineswegs von Sorgen gezeichnet. Ich warf einen Blick auf den Uhrenturm, dann wendete ich mich die Broad Street hinunter in Richtung des Dyke. Mein Rucksack war gefüllt, aber seltsamerweise fühlten sich meine Schultern so leicht an, als hätte man gerade eine schwere Last von ihnen genommen. Sechs Tage lang war ich frei, nicht erreichbar, einfach weg. Sechs Tage lang gehörte ich nur mir.

Als die Sonne glühend den Himmel erklomm, wanderte ich durch das Auf und Ab der East-Radnor-Berge, schattenlose Bergkämme wechselten sich ab mit tiefen bewaldeten Tälern. Zu einem bestimmten Zeitpunkt am frühen Nachmittag hätte ich vor mir Hergest Ridge sehen können, wenn ich mir die Mühe gemacht hätte, auf meine Landkarte zu schauen und es im Dunst der Hitze ausfindig zu machen. Aber damals war dieser Kamm für mich lediglich ein Wahrzeichen unter vielen. Nur ein Name und ein Ort.

Die heißesten eineinhalb Stunden des Tages verbrachte ich in einem Wirtshaus, das auf meiner Route lag. Danach setzte ich meinen Weg nach Kington fort, der nächsten Stadt auf dem Dyke. Als ich die östliche Flanke von Bradnor Hill umrundete, zeigte sich der Ort unter mir: eine dichtgedrängte Ansammlung von Häusern mit schiefergrauen Dächern, im Sonnenschein dösend, vor der Kulisse der Black Mountains, die sich jenseits davon erhoben. Es war eine verschlafene Vision des ländlichen England, mit einem malerischen Anflug des wilden Wales.

Mein Ziel für diese Nacht war Gladestry, ein Dorf ungefähr drei Meilen westlich von Kington, wo ich im Royal Oak Inn ein Zimmer bestellt hatte. Laut meinem Reiseführer war der Weg am Hergest Ridge entlang besonders schön. Deshalb beschloß ich, ihn erst in der abendlichen Kühle zu gehen. Den späten Nachmittag verbrachte ich in Kington und schlenderte ziellos zwischen den Geschäften umher, bis die Pubs öffneten und ich meinen Durst löschen konnte. An einem Ecktisch im Swan Inn lauschte ich vergnügt dem örtlichen Klatsch, während ich versuchte, über einige Dinge nachzudenken, was ich mir für meine Woche in den Hügeln vorgenommen hatte. Da ich für diese Art der Beschäftigung ja noch fünf weitere Tage zur Verfügung hatte, gab ich es schließlich auf und schrieb statt dessen meiner Mutter eine Postkarte. Es handelte sich um eine schmutzigbraune Ansicht der Markthalle von Kington, wie sie ungefähr im Jahre 196o ausgesehen haben mochte, und es war die einzige Darstellung der Stadt, die ich in all den Postkartenständern der Zeitungshändler gefunden hatte. Ich warf sie auf meinem Rückweg zur Wanderroute in einen Briefkasten.

Der Aufstieg zum Hergest Ridge war eine schmale asphaltierte Straße namens Ridgebourne Road, und nachdem ich ein paar Häuser hinter mir gelassen hatte, verschlechterte sie sich zu einem steinigen Pfad. Ich begann kurz nach sieben Uhr mit dem Aufstieg. Es ging gleichmäßig steil bergauf. An den Böschungen zu beiden Seiten sammelten sich Mücken zwischen den Farnen, und das Sonnenlicht schimmerte warm durch das Blattwerk. Es war ein vollkommener Sommerabend.

Ein Tor mit fünf Stangen trennte das Ende des Pfades von der offenen Heidelandschaft des Höhenzuges. Rechts davon stand ein Auto unter den Bäumen geparkt. Es war ein frisch gewaschener, glänzender weißer Mercedes-Zweisitzer mit dem amtlichen Kennzeichen G. Im Vorübergehen warf ich ihm einen beifälligen, ja neidischen Blick zu und dachte an die erbärmliche kleine Dose auf Rädern, mit der ich mich in Brüssel fortbewegte. Manche Leute hatten einfach alles Glück dieser Erde.

Ich trat durch das Tor hinaus auf den Höhenzug: eine dem Norden zugewandte Fläche mit Gras und Stechginster von der Größe eines Walrückens, die sich öffnete, als ich Höhe gewann. Überall blökten Schafe, die gelegentlich davonliefen, wenn ich mich ihnen zu plötzlich näherte. Ich begegnete zwei müde wirkenden Wanderern, die auf dem Weg nach Kington waren und mir beim Anblick meines Rucksacks kameradschaftlich zunickten. Im übrigen wurde meine Aufmerksamkeit vom Ausblick auf Berge und Wälder in Anspruch genommen, die im schwächer werdenden Sonnenlicht glühten. So wie die Vormittage Erwartungen in sich tragen, so sind die Abende vermutlich von Natur aus friedlich. Auf jeden Fall fühlte ich davon etwas in mir aufsteigen, als ich meinen Blick über die Schönheit meines Vaterlandes schweifen ließ. Mir wurde klar, daß es wie die Rückkehr ins Gefängnis sein würde, ginge ich später wieder nach Berlaymont.

Ungefähr auf der Hälfte des Höhenzuges blieb ich stehen, um einfach ein paar Minuten lang die grüne Welt zu betrachten, die vor mir ausgebreitet lag. Ich seufzte und schüttelte den Kopf und sagte laut: »Traumhaft.«

Und eine Stimme hinter mir sagte: »Ja, nicht wahr?«

Ich fuhr zusammen und schaute mich um. Ein paar Yards entfernt saß eine Frau auf einem flachen Stein am Fuße eines zerfallenen Steinhügels. Sie lächelte, obwohl ihre dunkle Sonnenbrille es mir unmöglich machte zu erkennen, ob ihr Lächeln sich auf mich oder die Landschaft bezog. Ihr blondes, schulterlanges Haar leuchtete golden im Sonnenlicht, obwohl es vielleicht auch ein paar silberne Strähnen enthielt. Sie trug eine weiße Bluse und eine beige taillierte Hose, und über mokassinähnlichen Schuhen waren schmale Knöchel zu sehen. Ihr Lächeln war verführerisch, fast mädchenhaft. Aber ich mußte unvermittelt daran denken, daß sie zu den Menschen gehörte, die zwar nicht mehr jung waren, denen dies aber eher zum Vorteil gereichte: Menschen, die früher vermutlich hübsch gewesen waren, aber jetzt wunderschön.

»Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, fuhr sie mit sanfter, leicht heiserer Stimme fort.

»Nein; nein. Es ... macht nichts. Ich war nur ...«

»In Gedanken verloren?«

»Nun ...« Ich lächelte auch. »Ja, so könnte man sagen.«

»Dies ist ein idealer Platz dafür. Ich verstehe es gut.«

Seltsamerweise hatte ich genau dieses Gefühl. Ich spürte, daß sie mich vollkommen verstand, ohne daß ich ihr irgend etwas hätte erklären müssen. Sie nahm ihre Sonnenbrille ab und sah an mir vorbei. »Hier oben ist alles so ... so überaus klar. Finden Sie nicht?«

»Sie ... kommen öfter hierher?« fragte ich und ärgerte mich über die dumme Frage.

»Nicht so oft; wie ich gerne würde. Aber das läßt sich vielleicht bald ändern. Wie steht es mit Ihnen?«

»Es ist das erste Mal. Ich lebe ... weit entfernt von hier.« Während ich an Brüssel dachte, fügte ich hinzu: »Aber auch das läßt sich vielleicht bald ändern.«

»Wirklich?«

Ich zuckte die Schultern. »Wir werden sehen.«

»Sie gehen den Offa's Dyke?«

»Einen Teil davon.«

Ich trat zu dem Steinhügel hinüber, setzte meinen Rucksack ab und ließ mich auf einem Felsbrocken neben ihr nieder. Sie sah zu mir herüber, und ihr Lächeln verwandelte sich in ein sehr freundliches, aber prüfendes Stirnrunzeln. Aus der Nähe bestätigte sich mein erster Eindruck. Sie war älter als ich, vielleicht Mitte Vierzig, aber jünger im Geist. Sie hatte etwas Anmutiges und zugleich Kokettes an sich, etwas auf elegante Art Unberechenbares. Sie hatte ein Gesicht, das man auch in einem überfüllten Raum bemerkte, eine Stimme; die zu hören man alles tun würde, sie hatte die geheimnisvolle Ausstrahlung, nach der man sich sehnte.

Ich warf einen Blick auf ihre linke Hand, die auf ihrem Knie lag. Sie trug keinen Ring. Aber es gab einen blassen Streifen am Ringfinger, wo noch vor kurzem einer gewesen sein mußte. Ein Flackern ihrer blaugrauen Augen deutete an, daß sie wußte, was mir aufgefallen war. Aber sie zog ihre Hand nicht zurück. Ich hustete, um meine Verlegenheit zu verbergen, und sagte: »Ihnen gehört der Mercedes auf dem Weg?«

»Ja.« Sie lachte. »Beschämend, nicht? Ich meine, daß es so offensichtlich ist.«

»Es war der einzige Wagen dort. Ich –«

»Können wir wirklich etwas ändern, was meinen Sie?« Sie sprach plötzlich mit eindringlicher Stimme. Die Hand auf ihrem Knie spannte sich. »Kann irgend jemand von uns jemals aufhören, das zu sein, was er ist, und etwas anderes werden?«

»Ja«, sagte ich, überrascht von ihrer Heftigkeit. »Ganz sicher. Wenn wir es wollen.«

»Sie denken, es ist so einfach?«

»Ich denke, daß es einfach ist, ja. Aber nicht leicht. Ich glaube, die eigentliche Schwierigkeit ist ...« Ich zögerte. Wir sprachen über das Leben des anderen, ohne zu wissen, woraus das Leben des anderen bestand. Das ergab keinen Sinn. Und trotzdem erschien es so.

»Was ist die eigentliche Schwierigkeit?«

»Zu wissen, was wir wollen.«

»Sie meinen, eine Entscheidung zu treffen?«

»Wenn Sie so wollen:«

»Aber wenn wir erst einmal eine Entscheidung getroffen haben?«

»Dann ... ist es immer noch nicht leicht. Aber wenigstens ist es möglich.«

»Sie glauben das wirklich?«

Sie schaute mich konzentriert an, als ob das, was ich gesagt hatte, als ob die genaue Wahl meiner Worte einen wirklichen Unterschied machen könnte. Einen flüchtigen Augenblick lang war ich überzeugt, daß sie mich darum bat, für sie eine Entscheidung zu treffen. Und zwar über etwas, was ich weder wissen konnte noch wissen wollte. Die Freiheit, eine Zukunft zu wählen, spielte eine größere Rolle als unsere unterschiedlichen Vergangenheiten. Jene Freiheit bestand darin, was sie mich wortlos zu behaupten drängte. Also tat ich es. – mir zuliebe ebenso wie ihr zuliebe. »Ich glaube daran«, sagte ich mit sanftem Nachdruck.

Zufrieden nickte sie und sah kurz auf ihre Armbanduhr. »Bis wohin wollen Sie heute abend kommen?«

»Gladestry.«

»Dann sollte ich Sie wohl besser ziehen lassen.«

»Ich habe es nicht eilig. Aber vielleicht wollen Sie ...«

Sie lächelte leicht. »Ich habe es auch nicht eilig. Aber dennoch muß ich jetzt gehen.« Sie stand auf und beugte sich dabei leicht nach vorn. Ich konnte einen flüchtigen Blick auf ihren Spitzen-BH zwischen den Knöpfen ihrer Bluse werfen. Dann stand ich ebenfalls auf. Dabei bemerkte ich erst, wieviel kleiner sie war, als ich angenommen hatte, wieviel schmaler und verletzlicher, als ihre Augen und ihre Stimme angedeutet hatten. »Ja, ich muß wirklich los«, murmelte sie, während sie den Horizont absuchte. Mit einem breiten Lächeln wandte sie sich mir zu. »Kann ich Sie nach Gladestry mitnehmen? Oder wäre das Betrug? Ich weiß, wie peinlich genau ihr Wanderer es nehmt.«

Ich war versucht, ihr zu widersprechen und zu sagen, nein, im Gegenteil, es wäre wunderbar, wenn sie mich nach Gladestry mitnehmen und vielleicht mit mir in einem Pub etwas trinken würden. Aber irgendwie spürte ich, daß sie das nicht wollte. Der wirkliche Wert eines Fremden beruht darauf, daß er nie etwas anderes werden wird. »Vielen Dank, ich werde laufen.«

»Also dann, auf Wiedersehen«, sagte sie. »Und viel Glück.« Ich grinste und dachte, sie würde sich über meine Wanderfähigkeiten lustig machen. »Sie meinen, das hätte ich nötig, um nach Chepstow zu kommen?«

»Es tut mir leid.« Sie errötete leicht und schüttelte den Kopf. »So habe ich es nicht gemeint.«

»Machen Sie sich nichts draus. Wahrscheinlich haben Sie recht. Auch Ihnen viel Glück.«

»Vielen Dank.«

Plötzlich schüttelte ich ihr die Hand. Eine flüchtige Berührung von Handflächen und Fingern. Danach dasselbe leuchtende Lächeln, mit dem sie mich begrüßt hatte, ehe sie sich umdrehte und über den breiten grasbewachsenen Weg in Richtung Kington davonging. Ungefähr eine Minute lang schaute ich ihr hinterher, dann, in der Befürchtung, sie könnte sich umdrehen und bemerken, wie ich ihr trübselig nachstarrte, drehte auch ich mich um, schulterte meinen Rucksack und machte mich auf den Weg. Dabei warf ich einen Blick auf meine Uhr und stellte fest, daß es gerade kurz nach dreiviertel acht war. In diesem Augenblick wäre sie noch in Sichtweite gewesen. Die Zukunft wäre noch zu retten gewesen. Aber als ich nahe dem höchsten Punkt des Höhenzuges wieder stehenblieb, um zurückzuschauen, war sie verschwunden. Und die Zukunft lag im ungewissen.

Bei Einbruch der Dunkelheit erreichte ich Gladestry. Eine Ansammlung von Steinhäuschen neben einem ausgetrockneten Bach mit Kirche, Schule, Postamt und Pub. Ich hielt mich lange genug in der Gaststube des Royal Oak auf, um ein herzhaftes Abendessen zu mir zu nehmen. Dann ging ich hinauf zu meinem Bett mit Federkernmatratze und schlief den tiefen Schlaf eines Langstreckenwanderers. Früh am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg nach Hay-on-Wye.

Dieser Tag und die vier folgenden fügten sich zu einem Muster von pünktlichem Aufbruch, mittäglichem Nickerchen, um der Hitze auszuweichen, und abendlichem Eintreffen in gemütlichen Gasthäusern. Die Landschaft veränderte sich von der öden Erhabenheit der Black Mountains hin zu den beruhigenden Schönheiten des Wye Valley. Ich dachte kaum an etwas anderes als an Meilenzahlen und Kartenverweise. Aber im Unterbewußtsein, wie ich am Ende meiner Wanderung feststellte, verhärtete sich mein Geist gegen eine Rückkehr zu dem Leben, das ich in Brüssel geführt hatte. Natürlich würde ich zurückkehren müssen, und wenn auch nur, um zu kündigen, aber ich könnte niemals im eigentlichen Sinne zurückkehren. Irgendwo auf dem Weg war hinter mir eine Brücke unwiderruflich abgebrochen worden. Wenn ich hätte angeben müssen, wo das geschehen war, dann hätte ich mich für Hergest Ridge entschieden. Die Frau, die ich an jenem ersten Abend getroffen hatte, war nicht aus meiner Erinnerung gewichen. Im Gegenteil, meine Begegnung mit ihr schien an Bedeutung zu gewinnen, je weiter ich mich entfernte. Nicht so sehr wegen der Worte, die wir gewechselt hatten, sondern wegen des Verdachtes, daß ich irgendwie, indem ich sie so einfach gehen ließ, eine Gelegenheit –sexuell, psychologisch – verpaßt hatte. Ich wußte weder ihren Namen, noch wo sie lebte. Ich wußte überhaupt nichts über sie. Und nun würde ich auch niemals etwas erfahren. Es war eine melancholische Betrachtung, die durch die Einsamkeit verstärkt wurde. Trotzdem stählte sie meine Entschlossenheit. Was auch immer geschehen würde, ich würde niemals zu dem Leben zurückkehren, das ich hinter mir gelassen hatte.

Während jener sechs Tage auf Offa's Dyke war ich buchstäblich abgeschnitten von der Außenwelt. Ich las keine Zeitungen, schaute nicht Fernsehen, hörte nicht Radio. Meine Unterhaltung blieb beschränkt auf einen geringfügigen Austausch mit Gastwirten, Ladeninhabern und Wanderkameraden. Ich nehme an, es war ein wenig so, als ob man sich für eine Woche in ein Kloster zurückgezogen hätte: eine. Quelle der Erfrischung, die der atemberaubenden Landschaft entsprach. Keine Verbindung mehr zu haben, erschien mir immer mehr als ein zutiefst angenehmer Zustand, der natürlich einmal zu Ende sein mußte, wenngleich ich es nicht wollte. Jede Reise hat ein Ziel. Und meines war die reale Welt.

Am Sonntag, dem 22. Juli, stand ich bei Sonnenuntergang auf Sedbury Cliffs, am äußersten Ende des Dyke, blickte über die Mündung des Severn auf die Autobahnhängebrücke, wo dichter Verkehr herrschte, der zurück nach London floß. Ich erinnere mich, daß ich damals dachte, wie sinnlos ihre Eile war. Aus der Perspektive eines Menschen, der sechs Tage gewandert war, erschien mir ihr ameisenhaftes Treiben ausgesprochen nutzlos. Im Augenblick fühlte ich mich ihnen allen überlegen, losgelöst von ihren belanglosen Anstrengungen und auf eine Art und Weise erleuchtet, die über ihre Vorstellungskraft weit hinausreichte. Die Ironie war, daß die meisten von ihnen es wahrscheinlich bereits wußten. Zumindest einmal gewußt hatten, was ich noch nicht herausgefunden hatte, aber sehr bald schon herausfinden würde.

Ich verbrachte die Nacht im Hotel George in Chepstow und brach am folgenden Morgen spät auf, nachdem ich ausgeschlafen und mir ein geruhsames Frühstück gegönnt hatte. Die Eisenbahnstrecke zurück nach Petersfield war ein zeitverschlingender Umweg, obwohl ich nicht behaupten kann, daß es mir viel ausmachte, im sonnengewärmten Wagen zu dösen, während ich mit verschiedenen Zügen durch South Wales und Wessex ratterte. Nachdem ich meinen Entschluß gefaßt hatte, hatte ich es nicht mehr eilig.

Als sich mein Vater aus dem Geschäftsleben von Timariot & Small zurückzog, verkauften er und meine Mutter das Haus in Petersfield, wo ich geboren worden war, und erwarben einen Bungalow in dem nahe gelegenen Dorf Steep. Dorthin fuhr ich an jenem Tag: zu einem Bauwerk aus Ziegeln und Backsteinen aus den dreißiger Jahren, das auf ansteigendem Boden in der Nähe des Fußes von Stoner Hill stand und dank Unmengen von Glyzinien, Polstern aus Flechten und einem wilden Blumengarten leicht mit einem alten Landhaus verwechselt werden konnte. Sein Name – Greenhayes – war alt und gehörte zu einem abgerissenen Wohnsitz, dessen Steine in einem Steingarten überlebt hatten. Steeps berühmter verstorbener Dichter Edward Thomas soll Greenhayes in einem seiner Prosastücke erwähnt haben, aber da ich mir nie die Mühe gemacht habe, es ausfindig zu machen, weiß ich nicht, was er aus dem Original gemacht hat. Für seinen Nachfolger machte Greenhayes an jenem späten Sommernachmittag, als ich aus dem Taxi stieg, den allerbesten Eindruck. Aber ich vergaß niemals die Nebel, die im Winter von den Hügelkämmen herunterzogen und die, wie ich behaupte, das Leben meines Vaters verkürzten. Das Willkommen von Greenhayes war für mich immer zweischneidig.

Meine Mutter hingegen liebte das Haus ohne Vorbehalt. Sie hatte es randvoll gefüllt mit einem Durcheinander von Mobiliar und Nippes aus dem Haus der Familie und war während der Jahre ihrer Witwenschaft sogar noch zu einer besesseneren Gärtnerin geworden als vorher. Außerdem hatte sie sich eine kläffende kleine Terrierkreuzung zugelegt, die wegen ihrer starken Ähnlichkeit mit einem Topfkratzer Brillo genannt wurde und eine Türklingel überflüssig machte. Wie üblich setzte er sie von meiner Ankunft in Kenntnis, ehe ich auch nur den Riegel des vorderen Tores anheben konnte.

»Wer ist das, Brillo?« rief sie aus dem Garten, wo ich sie nicht sehen konnte, als er den Geruch fremder Erde an meinen Stiefeln anknurrte. Dann kam sie um die Ecke des Hauses. Sie trug ihre Gartenkluft, das ausgeblichene Kleid und die kaputten Schuhe, und war barhäuptig trotz meines Geschenkes, das ich ihr vor zwei Geburtstagen gemacht hatte: einem breitrandigen Strohhut, den sie sich angeblich gewünscht hatte. Seit damals lag er unbenutzt in einer Tragetüte aus dem Supermarkt oben auf ihrem Kleiderschrank, und ich hatte aufgehört zu fragen, warum sie ihn niemals trug. »Oh, es ist Robin. Wie schön, daß du zurück bist, mein Lieber«, sagte sie und trat auf mich zu, um mich mit einem Duft von Holunderblüten zu umarmen. »War es eine schöne Wanderung?«

»Herrlich, danke.« Und so wurden achtzig Meilen vom Offa's Dyke schnell abgehandelt, als wäre es nichts weiter als ein Spaziergang die Straße hinunter gewesen.

»Du kommst gerade rechtzeitig zum Tee.«

»Das dachte ich mir schon.«

»Und du brauchst ihn auch, wenn ich dich so anschaue.« Während sie zurücktrat, um mich zu mustern, runzelte sie die Stirn und sagte: »Du wirst zu dünn, mein Lieber. Wirklich.« Dabei war sie es und nicht ich, die mit den Jahren immer dünner wurde. Aber jedes ihrer Kinder, das weniger als zehn Kilo Übergewicht hatte, war in ihren Augen magersüchtig. »Wir müssen ihn ein bißchen herausfüttern, nicht wahr, Brillo?« Daraufhin bellte Brillo, was sie für Zustimmung hielt, aber ich wußte, daß es lediglich eine automatische Reaktion auf alles war, was mit Futter zusammenhing.

Ich folgte ihr ins Haus und hörte kaum zu, als sie die Probleme beschrieb, die sie infolge der Hitze mit ihren Stangenbohnen hatte. Ich überlegte, wann sie – wenn ich nichts sagte – fragen würde, welche Entscheidung ich bezüglich der Firma getroffen hatte. Wenn sie mir die dritte Tasse Tee und ein zweites Stück Kuchen angeboten hatte – oder früher?

Ich stellte meinen Rucksack an den Fuß der Treppe, zog meine Stiefel aus und schlenderte ins Wohnzimmer. Auf dem Kaminsims, zwischen gerahmten Fotos von zwei von Adrians Kindern, stand meine Postkarte aus Kington. Aber von den anderen beiden, die ich geschickt hatte – eine von Hay-on-Wye, eine von Monmouth –, war nichts zu sehen.

»Bis jetzt nur eine Karte, Mutter?« rief ich in die Küche, wo Geschirr klirrte und das Wasser bereits im Kessel kochte.

»Was ist, mein Lieber?«

»Es sind zwei weitere Karten unterwegs.«

»Karten?« Sie eilte geschäftig mit einer Tischdecke herein und stellte sich neben mich. »Da ist sie doch, schau. Genau gegenüber.« Sie nickte in Richtung des verschwommenen Bildes der Markthalle von Kington.

»Ja, aber –«

»Das erinnert mich an etwas. Gestern war Simon zum Mittagessen da. Er starrte die Karte an. Sagte, was für ein Zufall das wäre.«

»Zufall?«

»Sagte, ich müßte dich fragen, ob du irgend etwas gesehen hättest. Polizei. Filmleute. Journalisten. Es muß im Ort nur so gewimmelt haben davon.«

»Wie bitte?«

»Kington. Von wo du die Karte geschickt hast.« Sie nahm sie und warf einen Blick auf den Poststempel. »Der achtzehnte. Wann war das?«

»Mittwoch. Aber es war Dienstag, als ich –«

»Mittwoch! Genau. Da kam es in den Nachrichten.«

»Was denn?«

»Die zwei Leute, die ermordet worden sind. Du mußt davon gehört haben. Sie haben jemanden festgenommen. Hast du denn heute noch keine Zeitung gelesen?«

»Nein. Und auch nicht –«

Der Wasserkessel begann zu pfeifen. »Dort ist sie, neben meinem Stuhl.« Während sie vage auf die zerknitterten Seiten des Daily Telegraph zeigte, eilte sie aus dem Zimmer. Verblüfft griff ich nach der Zeitung und blätterte mich bis zur Titelseite durch. Eine einspaltige Überschrift am unteren Ende erregte meine Aufmerksamkeit.

KINGTON-MORDE: MANN FESTGENOMMEN. Die Polizei, die den brutalen Doppelmord von letzter Woche in Kington untersucht, bestätigte gestern, daß ein Mann sie bei ihren Nachforschungen unterstützt. Sie ließ nicht erkennen, ob Anklagen zu erwarten sind, aber die erschütterte Bevölkerung des ruhigen Marktstädtchens an der walisischen Grenze hofft, daß dies zur Verhaftung desjenigen führen wird, der verantwortlich ist für die Morde im Haus von Mr. Bantock in Kington am Abend des 17. Juli. Bei den Toten handelt es sich um den international berühmten Künstler Oscar Bantock, der erdrosselt wurde, und um eine Frau, die bisher als Louise Paxton identifiziert wurde, Ehefrau des königlichen Arztes und Gesellschaftsdoktors Sir Keith Paxton. Sie wurde vergewaltigt und erwürgt. Ein Mann, dessen Name bisher noch nicht bekanntgegeben wurde, ist gestern nachmittag in London verhaftet und zum Verhör ins Polizeihauptquartier nach Worcester gebracht worden. Ein Sprecher von West Mercia C.I.D. sagte, es wäre unwahrscheinlich, daß –

Am Abend des 7. Juli hatte ich Kington um sieben Uhr verlassen und war am Hergest Ridge entlang nach Gladestry gelaufen. Und auf dem Weg traf ich ... Es gab keinen Grund, warum irgendeine Verbindung bestehen sollte. Eigentlich gab es jede Menge Gründe, warum keine bestehen sollte. Aber meine Hände zitterten immer noch, als ich die Zeitung vom Vortag aus dem Zeitungsständer zog. Es war die vom Sonntag, und deshalb war es wahrscheinlich, daß sie über den Fall berichtet hatten. Ich kniete mich auf den Fußboden und begann die Seiten umzublättern. Dann hielt ich inne. Da war ihr Gesicht, und es schaute aus dem schwarzweißen Foto heraus, so wie sie einmal an mir vorbei auf den vom Sonnenuntergang vergoldeten Horizont geschaut hatte. Und die Bildunterschrift lautete: Vergewaltigungs- und Mordopfer Louise Paxton. Ich hatte sie an jenem Abend von mir weggehen lassen – in den Tod.

Kapitel 2

MEINE MUTTER hatte nicht die Angewohnheit, Zeitungen wegzuwerfen; sie hatte zu viele Verwendungszwecke dafür. Als ich in dem Stapel herumwühlte, den sie in der Spülküche aufbewahrte, fand ich eine mehr oder weniger vollständige Ausgabe der vergangenen Woche. Auf jeden Fall vollständig genug, um mir so viel mitzuteilen, wie jeder andere über die Kington-Morde erfahren hatte.

»Ich wußte nicht, daß du so daran interessiert sein würdest, mein Lieber«, sagte sie, als ich die Zeitungen auf dem Küchentisch ausbreitete und versuchte, mir ein klares Bild davon zu verschaffen, was passiert war. »Jeden Tag werden irgendwelche Leute ermordet. Warum kommst du nicht ins Wohnzimmer und trinkst Tee mit mir?«

»Geh schon voraus, Mutter. Ich brauche nicht lange.« Ich war noch nicht bereit, meine Verbindung zu diesem Fall preiszugeben. Mir drängte sich der Gedanke auf, es wäre leichter, wenn ich ein Freund oder Verwandter von Louise Paxton wäre. Dann hätte ich eine echte, tiefe Erschütterung empfunden, an der ich mich festhalten könnte. Stattdessen packte mich so etwas wie chaotisches Entsetzen. Sie war eine Fremde für mich. Nicht mehr und nicht weniger, genauso wie für die beiden Bergsteiger, die ich auf meinem Weg hinauf zum Hügelkamm überholt hatte. Sie hatten sie wahrscheinlich nicht einmal bemerkt. Aber ich hatte sie bemerkt. Oder vielmehr sie hatte mich bemerkt. Logischerweise sollte es keine Rolle spielen. Sie hätte in derselben Nacht bei einem Autounfall sterben können, und ich hätte es niemals erfahren. Aber das war nicht geschehen. Und jetzt wußte ich, was tatsächlich mit ihr geschehen war. Ich würde es niemals vergessen können.

Die Morde waren in einem Haus namens Whistler's Cot verübt worden. Es stand am anderen Ende der Butterbur Lane, einer Abzweigung der Hergest Road, die an der südlichen Seite von Hergest Ridge aus Kington hinausführte. Der Vergleich mit meiner amtlichen topographischen Karte, die ich mir beim Fremdenverkehrsamt in Kington besorgt hatte, versetzte mich in die Lage, die Stelle genau zu lokalisieren. Sie war kaum eine Meile von dem Punkt entfernt, wo ich Louise Paxton getroffen hatte, obwohl sie, um mit dem Auto dorthin zu gelangen, zuerst zurück nach Kington hinein hätte fahren müssen und dann wieder hinaus. Die Butterbur Lane war eng und kurvig und wand sich steil an der südöstlichen Seite von Hergest Ridge empor, bevor sie sich im Wald und auf dem Weideland von Haywood Common verlief. Das letzte Wohnhaus des Sträßchens war Whistler's Cot.

Sein Besitzer war ein berühmter Künstler namens Oscar Kentigern Bantock, von dem ich noch niemals gehört hatte, der laut Polizei sechzig Jahre alt war und achtundfünfzig laut seinem Nachrufschreiber im Daily Telegraph. Bantock hatte das Anwesen vor ungefähr zehn Jahren gekauft und ein Atelier an die Rückseite des Hauses gebaut, was ansonsten wie ein kleines Reihenhaus auf dem Land aussah. Außerdem hatte er eine Garage für seinen notorisch lärmenden Triumph-Sportwagen hinzugefügt. Trotz seiner Londoner Herkunft war Bantock beliebt bei seinen Nachbarn und den Stammgästen verschiedener Pubs in Kington. Sie wußten wenig über seinen angeschlagenen Ruf als Held des englischen Expressionismus. Der Nachrufschreiber bezog sich auf eine kurze Zeit in den Sechzigern, in der Bantocks Werk in Mode war. Danach war seine Karriere enttäuschend verlaufen. Aber einige wenige Aufträge und Ausstellungen und die Erbschaft einer Tante hatten ihn durchgebracht, ehe er gewaltsam getötet wurde und seine Bilder plötzlich zu Sammelobjekten aufstiegen.

Ungefähr um halb elf am Morgen des 18. Juli, einem Mittwoch, hatte Derek Jones, ein örtlicher Postbote, seinen Lieferwagen vor Whistler's Cot angehalten. Normalerweise fuhr er in die Parkbucht vor Bantocks Garage, aber die war besetzt mit einem Wagen, den er nicht kannte: ein weißer Mercedes-Zweisitzer. Jones stieg aus, in der Hand ein paar Briefe, und ging zur Rückseite des Hauses. Er hatte die Angewohnheit, am Ende seiner Tour einen Becher Tee von dem alten Knaben zu schnorren, und normalerweise fand er ihn in seinem Atelier. Er klopfte sachte ans Fenster und betrat die Küche, wo sie immer über Rennsport debattierten – eine gemeinsame Leidenschaft. Aber sobald er das Atelierfenster erreicht hatte, wurde Janes klar, daß irgend etwas nicht stimmte.

Der Raum war verwüstet, Bilder und Staffeleien waren umgestoßen, Farben und Pinsel lagen auf dem Fußboden verstreut. Und er konnte die untere Hälfte von Bantocks Körper sehen, der unter einer Bank hervorragte. Jones stürzte durch die Küche hinein. Die Tür war wie üblich geschlossen, aber nicht verschlossen. Sobald er Bantocks Gesicht sah, wußte er, daß er tot war. Er war erwürgt worden. Später entdeckte die Polizei, daß er mit einem kurzen Stück Draht, wie man ihn zum Bilderaufhängen benutzt und der noch immer um seinen Hals lag, erdrosselt worden war. Jones wollte das Telefon in der Küche benutzen, aber es funktionierte nicht. Das Kabel war herausgerissen worden. Dann rannte er hinunter zum nächsten Haus, benachrichtigte von dort aus die Polizei und wartete, bis sie eintraf. Zuerst kam nur ein einzelner Polizist, George Allen vom Revier in Kington. Er befragte Jones, betrat dann Whistler's Cot, vergewisserte sich, daß Bantock tot war, und durchsuchte das übrige Haus, bevor er Hilfe herbeirief. Oben, in einem der beiden Schlafzimmer, fand Allen das zweite Opfer: eine Frau mittleren Alters, nackt, mit dem Gesicht nach unten auf einem Bett und in der gleichen Art und Weise erdrosselt wie Bantock. Bei der anschließenden Untersuchung stellte sich heraus, daß sie vergewaltigt worden war. Es war Louise Paxton. Den Untersuchungen zufolge mußte die Tat zwischen neun und zehn Uhr in der vergangenen Nacht verübt worden sein, mit anderen Worten nicht mehr als zwei Stunden nach unserem Treffen auf Hergest Ridge.

Jetzt wurde die gesamte Mordkommission in Gang gesetzt unter Leitung von Oberinspektor Walter Gough von der West-Mercia-Kripo. Whistler's Cot wurde versiegelt. Tatortbeamte machten sich an die Arbeit und durchkämmten Haus und Garten auf der Suche nach Beweisen. Ein Pathologe vom Innenministerium, Dr. Brian Robinson von der Universität Birmingham, traf mit dem Hubschrauber ein, um die Leichen zu untersuchen. Die anderen Bewohner der Butterbur Lane wurden befragt. Eine Pressekonferenz wurde für den Nachmittag anberaumt. Und fieberhafte Anstrengungen wurden unternommen, um sich mit Freunden oder Angehörigen der toten Frau in Verbindung zu setzen.

Der Inhalt einer Handtasche, die im Haus gefunden wurde, und Computerauskünfte über die Anmeldung des weißen Mercedes legten nahe, daß es sich um Louise Paxton aus Holland Park in London handelte. Aber ihre nächsten Angehörigen erwiesen sich als schwer erreichbar, und erst am Freitagmorgen wurde ihr Name in der Zeitung genannt. Es sickerte durch, daß ihr Ehemann, Sir Keith Paxton, im Ausland war, und was ihre beiden Kinder betraf, so befand sich eine Tochter, Sarah, auf Urlaub in Schottland, während die andere, Rowena, sich auf dem Landsitz der Familie in Gloucestershire aufhielt. Rowena hatte die Leiche ihrer Mutter Mittwoch nacht identifiziert, aber Schwierigkeiten, sich mit Sir Keith und der anderen Tochter in Verbindung zu setzen, verzögerten die Veröffentlichung des Namens.

Die Feststellung der Identität von Louise Paxton vergrößerte das Medieninteresse an dem Fall und brachte ihn auf die Titelseite. Sir Keith war ein Gynäkologe, der im Laufe seines Lebens mehrere königliche Geburten vorgenommen hatte, als Belohnung in den Ritterstand erhoben worden war und jetzt in Räumlichkeiten mit Messingtafel in der Harley Street den unfruchtbaren Reichen beratend zur Seite stand. In seinem Namen wurde die Erklärung abgegeben, daß seine Frau eine Kennerin expressionistischer Kunst war. Sie besaß mehrere Bilder von Bantock, hatte versucht, Bantock zu überreden, ihr ein weiteres zu verkaufen, und war am 7. Juli nach Kington gefahren, nachdem sie eine Nachricht des Künstlers erhalten hatte, daß er jetzt bereit wäre, ihr Angebot für das Werk mit dem unheilverkündenden Titel Schwarze Witwe zu akzeptieren. In Kington kursierte verletzender Klatsch, der um den Zeitpunkt des Todes und Bantocks Ruf als Liebhaber kreiste, aber die Polizei war ebenso wie die Familie Paxton daran interessiert, ihn zu unterdrücken. Sie wiesen darauf hin, daß es einen gewissen Fehlerspielraum in Dr. Robinsons Einschätzung des Todeszeitpunktes gab. Der Pathologe war außerdem der Meinung, daß Bantock bis zu einer Stunde vor Lady Paxton gestorben sein könnte. Oberinspektor Gough stellte die Theorie auf, daß sie aus dem Grund, den ihr Ehemann genannt hatte, vorbeigekommen war und Bantocks Mörder überrascht hatte, von ihm gezwungen worden war, sich auszuziehen, dann vergewaltigt und schließlich erdrosselt wurde. Diese Umstände waren schrecklich genug, sogar für einen erfahrenen Beamten wie ihn, als daß man dem Schmerz der Familie böswilligen Tratsch hinzufügen mußte.

Völlig richtig. Aber ich hatte ihren ringlosen Finger gesehen. Ich hatte den Tonfall ihrer Stimme gehört. Woran auch immer sie auf Hergest Ridge gedacht hatte, es war bestimmt nicht der Kauf eines Ölgemäldes gewesen. Nicht, daß ihre Beweggründe irgendeine Rolle gespielt hätten, natürlich. Nur die Beweggründe ihres Mörders waren jetzt wichtig.

Und die Polizei schien nicht mehr weiterzuwissen. Am Haus gab es keine Anzeichen gewaltsamen Eindringens. Aber Jones und mehrere Nachbarn bestätigten, daß Bantock die Türen oft unverschlossen und die Fenster geöffnet ließ, wenn er fortging. Und nicht nur einer der Nachbarn war der Meinung, er hätte seinen Triumph am frühen Nachmittag des 7. Juli die Straße hinunterfahren und dann irgendwann zwischen sieben und acht Uhr an jenem Abend wieder zurückkommen hören. Er könnte leicht von einem Gelegenheitseinbrecher überfallen und erdrosselt worden sein. Und bevor der Mörder den Rückzug antreten konnte, war Lady Paxton eingetroffen. Der Zeitplan – wie ich besser als die meisten wußte – ergab einen Sinn.

Aber etwas anderes nicht. Welcher Einbrecher vergewaltigte und mordete? Warum war er nicht einfach über die Felder gelaufen, als er Bantocks Wagen gehört hatte? Und hatte er tatsächlich irgend etwas gestohlen? Die Polizei hielt sich in diesem Punkt sehr zurück und deutete an, daß es schwer festzustellen sei, weil Bantock allein und in ziemlichem Durcheinander lebte. Jedoch gaben sie zu, daß Lady Paxtons Kreditkarten und ihr Scheckbuch in ihrer Handtasche gefunden worden waren, zusammen mit mehr als hundert Pfund Bargeld. Das schien mir ein seltsames Versehen für einen Einbrecher zu sein.

Dann gab es noch die Frage, wie er gekommen und wieder gegangen war. Voraussichtlich zu Fuß, da niemand zur fraglichen Zeit ein Auto gehört hatte. Die Polizei glaubte, ein Auto in so einer engen Straße wäre zu riskant gewesen. Was sie nicht ausschlossen, war, daß er früher an jenem Tag vorbeigekommen war, um das Gelände auszuspionieren; vielleicht hatte er Whistler's Cot da als leichtes Ziel ausgemacht. Mehrere Bewohner der Butterbur Lane erwähnten fremde Autos, die sie gesehen hatten, aber es waren unterschiedliche Farben und Fabrikate zu unterschiedlichen Zeiten. Außerdem kamen und gingen sowieso ständig Leute, die ihre Hunde spazierenführten, und andere, die in Richtung Gemeindewiese liefen. Solche Beobachtungen bedeuteten gar nichts.

Und die Polizei schien absolut nichts in der Hand zu haben, womit sie weitermachen konnte. Außer der knappen Bekanntgabe einer Verhaftung in London. Bis dahin hatte sie gesagt, daß der Täter wahrscheinlich ein Einheimischer war. Nun, vielleicht war er nach der Tat nach London geflohen. Vielleicht war es seine Flucht, die Aufmerksamkeit erregt hatte. Ich hatte keine Möglichkeit, das herauszufinden.

Aber, Verhaftung oder nicht, ich konnte ihre Bitte um Informationen nicht ignorieren. Sie hatten mit bemerkenswert geringem Erfolg versucht, die letzten Unternehmungen der Toten zurückzuverfolgen. Jemand dachte, er hätte Bantock in Ludlow, zwanzig Meilen nordöstlich von Kington, am Nachmittag des 7. Juli gegen vier Uhr gesehen. Jemand anderes glaubte, er hätte ungefähr zur selben Zeit ein gewagtes Überholmanöver auf der Hereford Road zur Abergavenny Road veranstaltet, zwanzig Meilen südlich von Kington. Sie hatten vielleicht beide unrecht, aber sie konnten auf keinen Fall beide recht haben. Was Lady Paxton betraf, so hatte sie mit ihrer Tochter Rowena zu Hause in Coltswold zu Mittag gegessen und war gegen drei Uhr nachmittags nach Kington aufgebrochen. Sie hatte die Absicht, die Schwarze Witwe, wenn sie sie kaufte, einer alten Schulfreundin in Shropshire zu zeigen, die den gleichen Geschmack hatte wie sie. In diesem Fall wurde sie vor dem nächsten Tag nicht zurückerwartet. Die Tochter hatte angenommen, daß sie genau das getan hatte, so wie ihre Freundin angenommen hatte, daß sie nach Hause zurückgekehrt war.

Also waren die Aufenthaltsorte beider Verstorbenen zumindest ab Mitte des Nachmittags unklar. Zumindest für die Polizei. Aber ich wußte es besser. Ich wußte genau, wo eine von ihnen zwei Stunden vor ihrem geschätzten Todeszeitpunkt gewesen war. Je klarer mir diese Tatsache wurde, desto wichtiger, aber auch beunruhigender wurde, was ich wußte. Zuerst war ich aufgeregt, berauscht von der Einzigartigkeit der Information, die ich besaß. Dann begann ich mir Sorgen zu machen. Würde man mir glauben? Würde ich, Gott bewahre, verdächtigt werden? Irgendwo in meinem Hinterkopf haftete ein altes Sprichwort, daß die letzte Person, von der man weiß, daß sie ein Mordopfer lebend gesehen hat, die erste Person ist, die von der Polizei verdächtigt wird. Dann verscheuchte ich diese Idee als paranoiden Unsinn. Sie hatten ihren Mörder bereits. Und ich hatte ein Alibi. Der Wirt des Royal Oak in Gladestry würde mich nicht vergessen haben. Oder doch? Nun, auf jeden Fall war klar, daß er sich über meine Ankunftszeit ziemlich unbestimmt äußern würde, was nicht überzeugend wäre. Und nach allem, was ich wußte, könnte der Mann, den sie in London verhaftet hatten, inzwischen als unschuldig gelten. Aber dann wiederum, es würde Fingerabdrücke geben, oder nicht? Mehr als Fingerabdrücke, wenn es um Vergewaltigung ging. DNA-Analysen von Sperma und Blut bedeuteten, daß sie heutzutage eigentlich nicht den falschen Mann kriegen konnten. Oder doch?

Ich ging hinaus in den Garten und schaute hinauf zu den dichtbewaldeten Hügeln über Greenhayes, Sonne und Schatten enthüllten das Auf und Ab von Gipfel und Kamm zwischen den Bäumen, den Knochen von weißer Kreide zwischen dem Fleisch grüner Blätter. Ich erinnerte mich an Hergest Ridge und daran, wie die Welt in goldener Aussicht zu unseren Füßen ausgebreitet lag. Zwei Fremde. Ein flüchtiger Augenblick. Es bedeutete überhaupt nichts. Sie hatten ihren Mann. Warum die Angelegenheit komplizierter machen? Warum meine Person ins Spiel bringen? Weil es niemand anderen gab, natürlich. Niemand anderen, der wußte, wo sie gewesen war und was sie an jenem Abend gesagt hatte.

Ach ja. Was sie gesagt hatte. Wollte ich das wirklich preisgeben? Jedes Wort? Jeden Hinweis auf eine doppelte Bedeutung? Wollte ich ihr Vertrauen brechen? Sie vertraute mir als Fremdem. Vielleicht war es genau das, was ich auch bleiben sollte. Nein, nein. Das war ein besonderes Plädoyer. Das war der falsche logische Teil von mir, an dem ich mich festhalten wollte. Der andere Teil verweilte beim Schrecken ihres Todes. Entkleidet. Vergewaltigt. Erdrosselt. Was, ganz nüchtern betrachtet, konnte eigentlich noch schlimmer sein? Ich schüttelte den Kopf, erschüttert von meiner Unfähigkeit – meinem Widerwillen –, es mir vorzustellen. Und erschüttert auch von einer Erinnerung an einen kurzen Moment quälender Begierde. Meine. Mit ihr als deren Objekt. Es konnte nicht damit verglichen werden, was er ihr angetan hatte. Natürlich nicht. Aber so hatte es begonnen. Für ihn genauso wie für mich. Ein langer Weg, eine Welt, auseinander. Ja. Aber miteinander verbunden, so wie zwei entfernte Punkte auf einem Schaubild. Verbunden, wie schwach auch immer, durch irgendeinen winzigen Faden von Sympathie.

Langsam ging ich zurück ins Haus und schaute hinunter auf den Stapel von Zeitungen, ausgebreitet auf dem Küchentisch. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, die Erkennungsmelodie einer australischen Seifenoper verklang rasch. Meine Mutter würde sich fragen, was ich eigentlich machte. Und ihre Neu gier, erst einmal geweckt, war nicht zu stillen. Nur eine energische Demonstration von Normalität konnte sie wahrscheinlich in Schach halten. Also ging ich mit einem aufgesetzten Grinsen zu ihr ins Zimmer.

»Wo bist du bloß gewesen, Robin?« fragte sie, als sie sich bei Brillos warnendem Jaulen nach mir umschaute.

»Tut mir leid, ich war ...«, eine Redewendung schoß mir durch den Sinn, »... in Gedanken.«

»Hast du denn nicht über alles Nötige auf deiner Wanderung nachgedacht? Ich hatte gehofft, du hättest jetzt einen Entschluß gefaßt.«

»Mach dir keine Sorgen. Das habe ich.«

»Also wirst du in die Firma eintreten?«

»In die Firma?« Mein Stirnrunzeln mußte sie verblüfft haben. Im Augenblick erschien mir Timariot & Small, mit oder ohne meine Person, ein viel zu belangloses Thema, um darüber zu reden. »Nun ...« Ich zögerte, während ich mich damit quälte, mich zu erinnern, was ich beschlossen hatte. »Ja.«

»Oh, wie wundervoll.« Sie sprang auf und küßte mich. »Dein Vater hätte sich so darüber gefreut.«

»Wirklich?«

»Ich muß Larry anrufen. Er wird entzückt sein.« Sie eilte hinaus in den Flur und ließ mich abwesend in die Luft starrend zurück. Eigentlich sollte ich derjenige sein, der das Telefon benutzte. Aber um die Polizei anzurufen, nicht Onkel Larry. Ich lächelte reuevoll. Es würde schneller gehen, zur Polizeiwache nach Petersfield zu fahren, als darauf zu warten, daß meine Mutter auflegte. Trotzdem, wenigstens hatte sie mir –

Die Stimme des Nachrichtensprechers drang durch meine Gedanken. »Die Polizei von West Mercia hat jetzt den Mann angeklagt, den sie seit gestern wegen der Morde an Louise Paxton und Oscar Bantock in Kington in Herefordshire festhält. Shaun Andrew Naylor, ein 28jähriger Elektriker aus Bermondsey, Süd-London, wird außerdem wegen Vergewaltigung von Lady Paxton angeklagt. Er wird morgen vormittag dem Friedensrichter von Worcester vorgeführt. Das war unser Gerichtsreporter aus den Midlands, David Murray.«

Und da war David Murray, eine nachlässig gekleidete Person vor der Polizeiwache in Worcester, und artikulierte zum Schluß eines offensichtlich schlechten Tages überdeutlich die üblichen Plattheiten. Ich hörte kaum, was er sagte. Ein Name, ein Alter, ein Beruf und eine ungefähre Adresse. Das war alles, was wir erfuhren. Und alles, was wir erfahren würden, bis zur Verhandlung. Es sei denn, wir bemühten uns um eine Entschuldigung, natürlich. So wie ich es tat. Sie hatten ihn angeklagt. Sowohl wegen Vergewaltigung als auch wegen Mordes. Sie mußten all die nötigen Beweise haben. Sie brauchten mein unbedeutendes kleines Puzzlestück nicht. Ich würde lediglich ihre Zeit verschwenden, wenn ich ihnen davon erzählte. Oder etwa nicht?

Letztlich schien es vernünftig zu sein, das Problem zu überschlafen. Auf jeden Fall war es einfacher, als es meiner Mutter zu erklären. Aber der Schlaf spielte nicht mit. Mein erster müßiger Tag nach sechs Tagen auf den Beinen ließ mich bis weit nach Mitternacht wach und gedankenvoll bleiben. Ich lag im Bett und lauschte dem Ruf der Eulen und dem Bellen der Füchse, dem gedämpften Flattern der Fledermäuse und dem entfernten Huschen anderer Dinge, die ich nicht benennen konnte.

Schließlich erkannte ich, daß es nur eine richtige Möglichkeit gab. Es war eine Lösung, die mir auf elegante Weise ein Kreuzverhör durch meine Mutter ersparte, während sie ebenso elegant mein Gewissen beruhigte. Ich verließ das Bett so leise wie möglich, ging auf Zehenspitzen hinunter in den Flur, trug das Telefon ins Wohnzimmer, schloß die Tür über dem Telefonkabel und wählte die Nummer, die in der Zeitung für den Bereitschaftsdienst der Kripo von West Mercia angegeben war. Aber die einzige Antwort war eine Nachricht auf Band, die ich mit meiner eigenen erwiderte.

»Mein Name ist Robin Timariot. Ich bin gerade von einer Wandertour nach Offa's Dyke zurückgekommen und habe erst jetzt von den Morden in Kington gehört. Ich glaube, daß ich vermutlich Lady Paxton am frühen Abend des 17. Juli in der Nähe von Kington getroffen habe. Wenn ich irgendwie von Nutzen sein kann, dann rufen Sie mich bitte unter Petersfield 733984 an.«

Mit einem Gefühl der Erleichterung legte ich den Hörer auf. Jetzt waren sie am Zug. Vielleicht würden sie gar nicht zurückrufen. Vielleicht würden sie nicht einmal meine Nachricht abhören. Dann könnte ich zumindest sagen, ich hätte meine Pflicht getan. Wenn sie es vorzogen, ihre zu vernachlässigen, konnte man mir nicht die Schuld geben. Das redete ich mir jedenfalls ein, als ich nach oben ins Bett schlich.

Onkel Larrys Reaktion auf meine Entscheidung, die Stellung als Chef der Produktion bei Timariot & Small anzunehmen, war, am folgenden Morgen ein informelles Treffen des Vorstandes einzuberufen. Nur die Geschäftsführer waren eingeladen, was sowohl Bella als auch meine Mutter ausschloß. Zwar hatte Bella Hughs zwanzig Prozent der Aktienanteile geerbt, aber bis jetzt gab es keinerlei Anzeichen dafür, daß sie irgendeinen Einfluß ausüben wollte. Sie hatte meiner Einstellung jene Art verächtlichen Segen gegeben, den Leichtgläubigere als ich als emotionslose Zustimmung einer trauernden Witwe empfunden hätten. Aber ich wußte, daß eine Spur Verachtung dahintersteckte.

Das Treffen war für elf Uhr angesetzt. Entschlossen, so zu beginnen, wie ich weitermachen wollte, war ich um halb zehn in der Fabrik und schmeichelte mich bei den Angestellten und Sekretärinnen ein. Dann machte ich mit Reg Chignell einen Gang durch die Werkstätten, atmete die leimgetränkte Luft ein, schüttelte den Herstellern die Hand und lauschte ihren Worten des vorsichtigen Willkommens. Ethel Langton, der Schlägergriffe wickelte, seit Grace ein Junge gewesen war, erinnerte mich an ein paar Unannehmlichkeiten, in die ich als Hilfsarbeiter während meiner Studentenzeit geraten war. Und Barry Noakes, der menschenfeindliche Lagerverwalter, erklärte mir, warum die Kricketschlägerindustrie unweigerlich vor die Hunde gehen würde, bevor er das Rentenalter erreicht hätte. Ich bemühte mich, all das nicht übelzunehmen, und fand dies überraschenderweise sehr leicht. Nach zwölf Jahren im sogenannten Zentrum Europas war ich darauf erpicht, mich in eine Welt zu stürzen, wo Menschen, Gewinne und Produkte in einer offensichtlichen und handfesten Verbindung miteinander standen. Ob ländlich oder nicht, Timariot & Small war plötzlich genau das, was ich wollte. Oft genug hatte ich auf Abendgesellschaften in Brüssel, wenn zu vorgerückter Stunde die Stimmung nostalgisch wurde, darüber gesprochen, wie sehr ich die Kultur, die Sprache und die Landschaft meiner Heimat vermißte. Es war eine schlichte und unverdeckte Rührseligkeit, die von vielen in der Auslandsgemeinde geteilt wurde. Aber als ich in dem Hof zwischen baufälligen Hallen und zusammengeflickten Nissenhütten stand, die mein neues und keineswegs glänzendes Reich umfaßten, wurde mir klar, was ich tatsächlich all die Zeit vermißt hatte. Einfach einen Ort, wohin ich gehörte. Und das war er, in guten wie in schlechten Tagen.

Das Bürogebäude war eine moderne Konstruktion aus Backsteinen und Glas ohne besondere Merkmale. Aber der Sitzungssaal bewahrte dank gedämpftem Licht, holzgetäfelten Wänden, goldgerahmten Fotografien des Personals, die in Abständen von zwanzig Jahren aufgenommen worden waren, und einem Porträt von Joseph Timariot mit Koteletten und Zylinder eine beruhigende Atmosphäre von Tradition.

Ich traf ein paar Minuten zu spät ein, da ich mich in der sandigen Halle von einem der weitschweifigen Monologe Dick Turners hatte aufhalten lassen. Onkel Larry hatte bereits den Platz des Vorsitzenden eingenommen. Er hatte sich einverstanden erklärt, diese Aufgabe wahrzunehmen, bis ich – oder wer auch immer von ihnen ausgewählt worden wäre, wenn ich die Stellung abgelehnt hätte – meinen Posten eingenommen hatte. Als ich seinen Adlerblick und sein Lächeln einfing, wobei sich seine Grübchen zeigten, wünschte ich für einen Augenblick, er könnte Vorsitzender bleiben. Er wurde langsam ein wenig zitterig, das war richtig, aber es gab viele Dinge, die schlimmer waren als Altersschwäche. Sein Verstand war noch immer messerscharf. Und mit ihm im Vorsitz hätten wir zumindest vorgeben können, loyale Geschwister zu sein.

Mein Bruder Adrian, designierter Vorstandsvorsitzender, saß zu Onkel Larrys rechter Seite. Jedesmal, wenn ich ihn sah, wirkte er noch gepflegter und schlanker, ein Tribut an die Verdienste von Vaterschaft, Fitneß und alkoholfreiem Bier. Nach den nicht sehr vielversprechenden Anfängen hatte er sich zu der perfekten Imitation eines flott gekleideten Geschäftsmannes gewandelt. Ich konnte nicht umhin, zu bewundern, was aus dem mürrischen Kind geworden war, mit dem ich aufgewachsen war. Er war genau das geworden, was er gewollt hatte. Das Haupt des Familienunternehmens. Und, durch seinen letzten Schachzug, mein Chef. Was, wenn ich länger darüber hätte nachdenken wollen, ein beunruhigendes Licht auf seinen Eifer warf, mich anzuwerben.