Dunkles Blut - Harry Barnett ermittelt: Der erste Fall - Robert Goddard - E-Book
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Dunkles Blut - Harry Barnett ermittelt: Der erste Fall E-Book

Robert Goddard

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Beschreibung

Ein Klassiker des modernen Spannungsromans: »Dunkles Blut« von Robert Goddard, der Auftakt zur Harry Barnett-Trilogie, jetzt als eBook bei dotbooks. Den Schatten seiner Vergangenheit kann man nicht entkommen: Der Engländer Harry Barnett hütet tagsüber das Feriendomizil eines alten Freundes auf der Insel Rhodos, abends arbeitet er in einer schäbigen Kneipe. Als eines Tages eine junge Engländerin ermordet wird, ist Harry die letzte Person, die sie lebend sah – und der einzige Verdächtige. Um seine Unschuld zu beweisen, beginnt er selbst zu ermitteln und kehrt in seine Heimat zurück. Bei seinen Nachforschungen in England stößt er auf einen finsteren Komplott aus Lügen, Korruption und Mord. Doch will Harry dieser Spur wirklich folgen? Ahnt er doch, dass er die Wahrheit nicht ertragen kann … »Eine Geschichte, der wir wie unter Zwang folgen müssen!« Victoria Holt »Robert Goddard ist der absolute Meister des Spannungsromans.« Daily Mirror Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Kriminalroman »Dunkles Blut« von Robert Goddard. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 826

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Über dieses Buch:

Den Schatten seiner Vergangenheit kann man nicht entkommen: Der Engländer Harry Barnett hütet tagsüber das Feriendomizil eines alten Freundes auf der Insel Rhodos, abends arbeitet er in einer schäbigen Kneipe. Als eines Tages eine junge Engländerin ermordet wird, ist Harry die letzte Person, die sie lebend sah – und der einzige Verdächtige. Um seine Unschuld zu beweisen, beginnt er selbst zu ermitteln und kehrt in seine Heimat zurück. Bei seinen Nachforschungen in England stößt er auf einen finsteren Komplott aus Lügen, Korruption und Mord. Doch will Harry dieser Spur wirklich folgen? Ahnt er doch, dass er die Wahrheit nicht ertragen kann …

Über den Autor:

Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall.

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane:»Im Netz der Lügen«»Der Preis des Verrats«»Eine tödliche Sünde«»Ein dunkler Schatten«»Denn ewig währt die Schuld«»Das Geheimnis von Trennor Manor«»Und Friede den Toten«»Das Geheimnis der Lady Paxton«»Das Haus der dunklen Träume«

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane:»Die Sünden unserer Väter«»Die Schatten der Toten«»Jäger und Gejagte«»Die Klage der Toten«»Der Kartograf von London«

Robert Goddard veröffentlichte außerdem bei dotbooks seine drei Kriminalromane mit dem Ermittler Harry Barnett:»Dunkles Blut«»Dunkles Sonne«»Dunkle Erinnerung«

***

Aktualisierte eBook-Neuausgabe März 2020

Dieses Buch erschien bereits 1992 unter dem Titel »Mitten im Blau« bei Schweizer Verlagshaus AG, Zürich

Copyright © der englischen Originalausgabe 1990 Robert Goddard

Die englische Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel »Into The Blue« bei Bantam Press, London.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1992 Schweizer Verlagshaus, Zürich

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shuttestock/John Gomez, Turk S

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96148-892-6

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Robert Goddard

Dunkles Blut

Harry Barnett ermittelt

Aus dem Englischen von Renate Sandner

dotbooks.

Für Phil Dwerryhouse

Kapitel 1

Wenn sie jetzt zurückkäme, oder sogar erst in fünf Minuten, dann wäre es natürlich immer noch in Ordnung. Der Gedanke, daß er sie vielleicht nie mehr wiedersehen würde, könnte dann als Einbildung, als absurde, übertriebene Reaktion auf ein Übermaß an Einsamkeit und Stille abgetan werden. Und von der Vorstellung, daß sie jede Sekunde zurückkehren, ihm schon beim Herunterkommen vom Weg aus zurufen würde, ließ sich ein Teil seines Verstandes, nämlich der methodisch denkende, durch Erziehung geprägte Teil, nicht abbringen. Nur in dem chaotischen Bereich des Instinkts und Gefühls hatte sich eine andere Vermutung eingenistet, gewissermaßen nur in dem Teil seines Wesens, den er nicht zur Kenntnis nehmen wollte.

Außerdem hatte Harry ja auch allen Grund, seine Besorgtheit der Situation zuzuschreiben, in der er sich befand. Eine Dreiviertelstunde auf einem gestürzten Baumstamm auf halber Höhe eines mit Fichten bestandenen Berghanges zu sitzen, während sich die Nachmittagssonne allmählich in eine dämmrige Kühle und Stille verwandelte – eine absolute, unbewegliche, unbarmherzige Stille –, das zerrte an seinen Nerven, strapazierte seine Selbstbeherrschung. Jetzt wünschte er, er wäre mit ihr zum Gipfel hinaufgestiegen oder im Auto geblieben, um Radio zu hören. So oder so hätte er es eigentlich besser wissen müssen und nicht gerade an dieser Stelle warten sollen.

Er drückte nun schon die vierte Zigarette aus, seit er hier saß, und holte tief Atem. Im Schatten des Berges wurde es jetzt allmählich kalt, doch die Küstenebene dort unten war immer noch in warmes, goldenes Sonnenlicht getaucht. Nur hier an dem dicht mit Koniferen bestandenen Hang oder da draußen konnte das unmerkliche, aber in der klaren, eisigen Luft spürbare Dahinschwinden des Tages nicht länger ignoriert werden.

Weshalb war sie noch nicht zurückgekehrt? Verirrt konnte sie sich wohl kaum haben, nicht mit dem Reiseführer und einem Kompaß. Schließlich war sie, im Gegensatz zu Harry, schon vorher auf dem Profitis Ilias gewesen. Und wenn er ehrlich war, wollte auch er nie wieder dorthin. Vor zwei Stunden hatte er sich noch an einem Tisch auf der Terrasse einer Psarotaverna unten an der Küste in der Sonne gewärmt, sich gemächlich zum Abschluß eines köstlichen Essens die erste Zigarette dieser Packung angezündet und überlegt, wie sehr der Ober wohl einen übergewichtigen Engländer mittleren Alters darum beneiden würde, daß er so ein attraktives Mädchen gefunden hatte, das mit ihm zu Mittag aß. Jetzt hatte er sogar Mühe, sich die Szene vorzustellen, denn der Profitis Ilias besaß die Kraft, jede Erinnerung und Wahrnehmung außerhalb seines eigenen Dunstkreises in weite Ferne zu rücken. Und es war Heathers Wunsch gewesen, auf den Profitis Ilias zu fahren.

»Wir könnten von hier aus mit dem Auto in einer halben Stunde dort oben sein«, hatte sie gemeint. »Es ist ein phantastischer Ort. Verlassene, zerfallende alte Villen, die noch aus der italienischen Besatzungszeit stammen. Und eine herrliche Aussicht. Du mußt es einfach sehen.«

Harry hatte eigentlich keine derartige Verpflichtung verspürt, da er die Innenausstattung von einem Dutzend Bars, die ihm einfielen, durch die Brechung eines entsprechend gut gefüllten Glases gesehen, jedem Ausblick auf die Natur vorzog, und mochte er noch so atemberaubend sein. Dennoch hatte er keinen Einwand erhoben.

Und so waren sie die gewundene Straße durch das Dorf Salakos hinauf zum bewaldeten Berggipfel gefahren und kamen langsam, aber stetig immer höher, bis sie den übrigen Verkehr völlig hinter sich gelassen hatten und ihnen nur noch die endlosen Fichten- und Föhrenreihen auf ihrer Fahrt begegneten. Anfangs war Harry die immer größer werdende Einsamkeit nicht als etwas Unangenehmes aufgefallen. Erst als sie das Hotel, zu dem die Straße führte, erreicht hatten und es, wie erwartet, für den Winter geschlossen vorfanden, hatte sich diese Eigenart des Profitis Ilias bemerkbar gemacht.

Stille, so glaubte er fast, war die Grundstimmung dieses Berges. Stille, die nur darauf gewartet hatte, daß sie aus dem Wagen stiegen und die Türen zuschlugen, die dann mitten aus dem Wald hervorsprang und sie so einschüchterte, daß sie sich nur flüsternd miteinander unterhielten. Stille, die das leere Hotel und die Ruinen der Villen in den umliegenden Wäldern nur noch zu verstärken schienen, als seien verlassene Häuser schlimmer als überhaupt keine Häuser. Und eine Stille, auf die sogar die Natur Rücksicht nahm, denn hier bewegte kein Wind die Bäume, kein Vogel sang in den Zweigen, kein Eichhörnchen huschte die Äste entlang. Auf dem Profitis Ilias war alles ruhig, aber nichts ruhte.

Noch vor zwei Monaten wäre das Hotel für die Saison geöffnet gewesen, die Kinder der Gäste hätten auf dem Gelände gespielt, wären vielleicht sogar auf demselben Baumstamm herumgeklettert, auf dem Harry nun saß. Lärm, Leben, Gelächter, Geselligkeit – zu anderen Zeiten mochte ihm das auf die Nerven gehen, jetzt sehnte er sich aus tiefster Seele danach. Er war überrascht, als er plötzlich entdeckte, wie unbehaglich ihm so allein zumute war. Das heißt, wenn er wirklich allein war. Denn er mußte daran denken, daß er, als sie aus dem Wagen ausgestiegen und hinunterspaziert waren, um die Aussicht, die man vom Hotel aus hatte, zu bewundern, zu den Holzbalkonen und den rotgestrichenen Fensterläden, die dem Gebäude einen bodenständigen, alpenländischen Anstrich verliehen, hinaufgeblickt – und eine Gestalt gesehen hatte, die sich abrupt von einem der nicht verriegelten Fenster des ersten Stockwerkes zurückzog. In jenem Moment hatte er es als Täuschung des Lichts abgetan, doch jetzt trug die Erinnerung daran noch zu der übrigen Unruhe bei, die ihn überkommen hatte.

Weshalb war sie nicht zurückgekehrt? Sie hatte so zuversichtlich gewirkt, so ermutigend sicher, daß sie zurück sein würde, ehe er überhaupt dazu gekommen wäre, sie zu vermissen. Es war ein steiler Aufstieg gewesen vom Hotel hinauf zu dem holprigen, überwachsenen Pfad, der zum Gipfel führte, und Heather hatte ein scharfes Tempo angeschlagen. Außer Atem und weit von seinem gewohnten Terrain entfernt, war Harry unter diesen Umständen nur zu gerne bereit, an der Stelle, wo ein umgestürzter Baum den Weg blockierte, anzuhalten, während sie bis zum Gipfel weiterging. »Nimm die Schlüssel«, hatte sie gesagt, »falls du zum Auto zurück willst.« Dann, als sie sein Stirnrunzeln bemerkte, hatte sie noch hinzugefügt: »Keine Angst, ich werde auf dem Weg bleiben. Und ich werde nicht lange brauchen. Aber ich kann doch jetzt nicht kehrtmachen, oder?« Und mit diesen Worten war sie über den Baum geklettert, hatte noch einmal zu ihm zurückgelächelt und war dann weitergegangen.

Vor fast einer Stunde und, so schien es Harry, in einer anderen Welt hatte ihn dieses letzte Lächeln von dem bewaldeten Hang herunter gegrüßt. Seine Seelenruhe, so überlegte er jetzt, hatte nicht länger als die erste Zigarette angehalten. Seither hatten sich seine Gedanken mit den verschiedensten Dingen beschäftigt, waren aber immer wieder auf das zurückgekommen, was sich in dieser Umgebung einfach nicht ignorieren ließ – diese Stille, die so absolut war, daß das Ohr einen fast hörbaren Chor flüsternder Stimmen in den Baumen um ihn herum erfand, eine Stille, die so vollkommen war, daß seine angespannten Sinne ihm beharrlich vorgaukelten, daß ihn irgendwo, über ihm oder um ihn herum, etwas beobachtete.

Harry sah auf seine Uhr. Es war kurz vor vier, und das bedeutete, daß es nur noch etwas über eine Stunde lang hell sein würde, eine armselige, eisige, ihn bis auf die Knochen abkühlende Stunde in dieser Höhe und zu dieser Jahreszeit. Mühsam zwang er sich, eine Reihe anderer brauchbarer Möglichkeiten ins Auge zu fassen. Er könnte zum Wagen zurückkehren, für den Fall, daß Heather eine andere Route genommen hatte und dort wartete. Doch wenn sie das getan hätte, dann wäre sie sicher jetzt schon gekommen; um ihn zu holen. Er könnte bleiben, wo er war, mit der Begründung, daß sie erwarten würde, ihn hier zu finden. Aber ein Blick in die Runde sagte ihm, daß er es nicht ertragen konnte, noch länger zu bleiben. Oder er könnte dem Pfad bis zum Gipfel folgen, falls sie in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte oder einfach das Zeitgefühl verloren hatte. Das, so schloß er, war wirklich die einzige Möglichkeit, die ihm blieb.

Er hob die Beine an, drehte sich auf dem Baumstamm herum und glitt auf der anderen, höheren Seite herunter. Da war der Pfad, der trotz all der Jahre, die er nicht mehr benutzt und instand gehalten worden war, immer noch von einer Einfassung mit Kieselsteinen markiert wurde, und wand sich vor ihm den Abhang hinauf. Er fing an, bergan zu steigen, und fühlte dabei sofort jene Erleichterung, die immer dann eintritt, wenn man nach einer angespannten Zeit der Unentschlossenheit zu handeln beginnt.

Bald wurden die Bäume immer spärlicher, und der Gipfelgrat kam in Sicht. Nun kam es Harry absurd vor, daß er nicht darauf bestanden hatte, Heather die ganze Strecke zu begleiten, denn es war weder so weit noch so steil, wie er befürchtet hatte. Er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob sie ihre Trennung nicht bewußt herbeigeführt hatte, wenn er sich auch nicht vorstellen konnte, weshalb sie das getan haben sollte. Und er war sich auch dessen bewußt, daß vielleicht schon der Gedanke an sich eine Einbildung war, daß er ihren Worten und Handlungen eine Bedeutung beimaß, die sie gar nicht hatten.

Als er einen sonnenbeschienenen Fleck kurz vor dem Bergkamm erreicht hatte, hielt Harry an, um Atem zu schöpfen. Rechts vor ihm krönte eine rot-weiße, aus einem kleinen Gebäude hoch aufragende Radioantenne den Gipfel. Es sah aus wie ein Militärbeobachtungsposten, der offenbar nicht besetzt war. Er hatte keineswegs die Absicht, den Stützpunkt zu inspizieren. Neun Jahre auf Rhodos hatten ihn gelehrt, um das griechische Militär einen weiten Bogen zu machen. Aber würde Heather ebenso vorsichtig gewesen sein? Ja, bestimmt. Außerdem beschrieb der Pfad eine Kurve nach links, und sie hatte versprochen, ihn nicht zu verlassen.

Er stieg zu dem Grat hinauf und drehte sich um, um auf den Weg zurückzublicken, den er gekommen war. Als er das tat, beschwor seine exponierte Lage eine Bedrohung herauf, die auf ihre Art viel beunruhigender war als das Unbehagen, das ihm im Wald zu schaffen gemacht hatte. Plötzlich fragte er sich, ob es das war, was man von ihm erwartete, ob dies ein weiterer Schritt auf die Falle zu war, die man ihm gestellt hatte. Er tadelte sich selbst dafür, so etwas zu denken, und zwang seine Augen, der Küstenlinie weit unten zu folgen, wo sie nach Westen abbog. Diese faltige schmale Bucht, so sagte er sich, mußte Kamiros Skala sein, diese Inseln draußen im Meer, die wie Walrücken wirkten, waren sicher Alymnia und Halki. Sie waren Bezugspunkte, die bewiesen, daß es jenseits des Profitis Ilias immer noch eine Realität gab und daß er bald zu ihr zurückkehren würde. •

Doch zuerst mußte er Heather finden. Bestürzt darüber, wie sehr es ihm widerstrebte, laut ihren Namen zu rufen – etwas, was die herrschende Stille unweigerlich zu verbieten schien –, begann er dem immer noch getreulich mit Kieselsteinen eingefaßten Weg zu folgen, der sich den Grat entlang zwischen nackten Felsen und knorrigen, vom Windgeformten Zedern schlängelte. Wenn sie auf dem Pfad geblieben war, würde er sie auf alle Fälle finden. Doch wenn nicht ...

Dann sah er ihn. Verfangen in einem unteren Ast einer Zeder, hing er schlaff und verloren in der reglosen Luft. Vier gleich breite rosa und weiße Streifen.

Kirschrot und silbern, hatte sie ihn korrigiert, fiel ihm ein. Es war Heathers Schal, der lange wollene Schal, den sie getragen hatte, als sie ihn bei dem umgestürzten Baum zurückließ. Er hatte noch ganz deutlich vor Augen, wie sie ein Schalende über die Schulter warf, als sie den Berghang hinauf verschwand. Und jetzt war er hier, wo sie nicht war.

Harry zog den Schal herunter, hielt ihn mit den Händen umklammert und versuchte verzweifelt zu verstehen, was seine Entdeckung zu bedeuten hatte. Hatte sie ihn zufällig dort liegenlassen? War er ihr vom Hals geweht worden, als sie den Weg entlanglief? Wenn ja, wovor war sie davongerannt? Er blickte sich bei den verkrüppelten Zedern und den schroffen weißen Findlingen um, die wie Reißzähne auf dem mit Gras bewachsenen Kamm aufragten. Doch sie gaben kein anderes Zeichen, keinen weiteren Hinweis auf ihr Schicksal. Sie widersetzten sich ihm mit ihrer Leere.

Er schlang sich den Schal um den Hals und folgte weiter dem Pfad. Er führte einen Steilhang hinauf, fiel dann plötzlich in eine Senke ab und stieg wieder zur nächsten Anhöhe. Nach Süden zu wurde der Blick auf das in Sonnenlicht getauchte Inselinnere freigegeben. War es möglich, daß Heather die Richtung verloren hatte, fragte er sich, und die falsche Bergseite hinuntergegangen war? Während er anhielt, um sich an einen Fels zu lehnen und Atem zu schöpfen, wägte er diesen Punkt ab. Der Weg war deutlich markiert, und es war leicht, die Route einzuhalten. Sie konnte ihn nur verlassen haben, weil sie es wollte oder unbedingt mußte. Und die Berührung des Schals an seinem Kinn ließ ihn das letztere befürchten. Er hastete weiter.

Als Harry schließlich das Tal durchquert und die nächste Erhebung hinaufgestiegen war, hatte der rational denkende Teil seines Verstandes viel von seiner früheren Kontrolle wiedererlangt. Er hatte so gut wie keine Ortskenntnis, ermahnte er sich. Selbst wenn das nicht der Fall wäre, könnte er allein kaum die Gegend absuchen. Falls Heather irgend etwas zugestoßen war, was auch immer es sein mochte, so wäre der beste Weg, ihr zu helfen, die Leute in Salakos zu alarmieren, und zwar noch vor Einbruch der Nacht. Er sah auf die Uhr. Um das zu tun, müßte er sofort zum Wagen zurückkehren. Obwohl es verfrüht schien, jetzt schon aufzugeben, war es doch klar, daß er aufbrechen mußte.

Doch nicht, so sagte ihm sein Instinkt, ohne einen letzten Versuch zu unternehmen, Heather selbst zu finden, Vor der einfachsten Methode war er bis jetzt zurückgeschreckt. Aber er wußte, daß er nicht von hier fort konnte, ohne sie anzuwenden. Er mußte so laut wie möglich ihren Namen rufen, damit sie ihn, falls sie nah genug war, hören konnte. Von der Anhöhe aus, auf der er stand, würde seine Stimme weit tragen – da gab es keine Ausrede. Entschlossen, seinem Mut keine Gelegenheit zum Sinken zu geben, kletterte er auf einen nahen Felsen, holte tief Atem und formte seine Hände vor dem Mund zu einem Trichter. Doch dann, in der Sekunde, bevor sich Heathers Name auf seinen Lippen bildete, fand der Profitis Ilias seine eigene Stimme, mit der er ihn zum Schweigen brachte.

Ein langer, schriller, anhaltender Pfeifton. Er drang aus keiner bestimmten Richtung an Harrys Ohr. Er konnte von überall her kommen, von oben, von unten, aus der Nähe, aus der Ferne. Und dann hörte er auf. Und Harrys Arme fielen langsam herunter, und er begann an allen Gliedern zu zittern und in flachen Zügen hastig zu atmen. Was hatte das zu bedeuten? Woher kam es? War es ein Signal? Eine Botschaft? Eine Warnung? Für ihn oder für jemand anderen?

Plötzlich zerbrach seine Selbstbeherrschung wie eine Klippenwand, die jahrelang vom Meer unterspült wird, bevor sie jäh in sich zusammenfällt. Er war auf Schritt und Tritt manipuliert worden. Das Gesicht am Fenster, der zurückgelassene Schal, der geisterhafte Pfiff –das alles gehörte zu der Falle, in die er gelockt worden war. Logik und Vernunft hatten keine Bedeutung mehr, seine einzige Rettung war es, Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen.

Der Pfad begann von dieser Stelle an in Zickzackkurven den steilen, mit Felsbrocken übersäten Abhang bergab zu führen. Doch Harry folgte ihm nicht. Statt dessen stürmte er geradeaus hinunter von einer Wegbiegung zur nächsten, stolperte dabei über Steine, riß streckenweise lose Erdschichten mit hinunter. Die Dornen des dichten Gestrüpps ritzten ihm die Wange. Er schürfte sich die Knöchel an einem scharfen Felsvorsprung auf. Aber das alles kümmerte ihn nicht. Jeder Vorwand war nun verschwunden. Er wollte nur noch von dem Berg hinunter, weg von dieser zermürbenden Angst, die ihn den Verstand verlieren ließ.

Als er durch ein Farndickicht brach und an einem riesigen, halbvergrabenen Felsbrocken hinunterschlitterte, fand sich Harry plötzlich auf einem breiten Erdweg wieder, in den die Räder eines schweren Fahrzeugs tiefe Furchen gegraben hatten. Er zwang sich dazu, sich zu konzentrieren, und erinnerte sich, daß sich die Straße genau jenseits der Stelle, wo sie geparkt hatten, gabelte und daß die linke Abzweigung nach Eleousa wies, während die rechte irgendwo in den Wald hinaufführte. Er befand sich wohl auf diesem unbeschilderten Weg. Wenn das der Fall war, dann mußte er ihm nur noch nach unten folgen, um das Auto zu erreichen.

Er begann den Mittelstreifen des Weges entlangzulaufen, ohne auf die stärker werdenden, ziehenden Schmerzen in seiner Brust zu achten. Als er um eine Kehre bog, sah er den weißen Umriß des Wagens und dahinter das mit roten Ziegeln gedeckte Hoteldach. Er war fast dort. Dann, beinahe auf einen Schlag, wurde er langsamer. Nach zwanzig Metern stand er plötzlich still, denn mit dem Anblick des Hotels war auch die Erinnerung an ein Gesicht gekommen, das sich plötzlich von einem der Fenster zurückgezogen hatte, und der schreckliche Gedanke, daß er vielleicht noch immer einer Route folgte, die für ihn präpariert worden war, einer Reihe von falschen Abzweigungen, die Entkommen versprachen, aber immer nur tiefer in die Falle führten.

Er stand wie angewurzelt, schnappte keuchend nach Luft und bemühte sich verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen. Als er nach seinem Hals faßte, bemerkte er, daß er den Schal verloren hatte. Er mußte heruntergefallen oder von einem der Büsche heruntergerissen worden sein, durch die er blindlings hindurchgestolpert war. Hatte Heather vielleicht, so fragte er sich, den Schal auch auf diese Weise verloren – auf der verzweifelten Flucht vor demselben ungreifbaren Entsetzen? Machte er nichts anderes, als ihre vergeblichen Schritte nachzuvollziehen? Nein, sagte ihm der rational denkende Teil seines Gehirns immer wieder. Sie war immer noch irgendwo da oben auf dem Gipfel, verirrt und hilflos, darauf vertrauend, daß er Hilfe holte. Ihretwegen mußte er einen kühlen Kopf bewahren.

Langsam, ohne nach rechts oder links zu schauen, begann er weiterzugehen und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Wagen, der immer mehr in sein Blickfeld rückte. So gelang es ihm, nicht auf die Einflüsterungen seines Verstandes über das, was ihn vielleicht alles verfolgen oder, noch schlimmer, erwarten könnte, zu achten. Er zählte jeden seiner Schritte, sagte laut die Zahlen vor sich her, um seine Phantasie zu zügeln. Er passierte die Stelle, wo der Pfad und die Straße nach Eleousa sich gabelten. Dann den Wegweiser, der den Namen angab, den er inzwischen fürchtete: ΠΡΟΦΗΤΗΣ ΗΛΙΑΣ, Profitis Ilias. Er erreichte den Wagen.

Da Harry spürte, daß Hast jetzt ebenso verhängnisvoll wie Zaudern sein könnte, holte er vorsichtig die Schlüssel aus seiner Tasche, öffnete die Tür und kletterte hinein. Zu seiner unaussprechlichen Erleichterung sprang der Motor beim ersten Anlassen der Zündung an. Das plötzlich einsetzende Geräusch – und die Aussicht, wegfahren zu können, die es vermittelte stellte sein angeschlagenes Selbstvertrauen wieder her. Er setzte den Wagen ruckartig in Gang, wendete ihn auf der Straße, setzte zurück, vollendete das Wendemanöver und gab den Berg hinunter Gas.

Mit jedem Meter, den das Auto Harry vom Profitis Ilias fortbrachte, schwand auch der Einfluß, den der Berg auf seinen Verstand ausgeübt hatte. Bald fiel es ihm leicht, das was geschehen war, mit Vernunftgründen abzutun. Sein Gehirn, seiner normalen Stimuli beraubt, hatte angefangen, ihm Streiche zu spielen – das war alles. Heather hatte sich verirrt und mußte sich auf eine Nacht unter freiem Himmel gefaßt machen. Doch mit Hilfe aus Salakos konnte er ihr das vielleicht ersparen. Selbst wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, würde sie bestimmt bis zum Morgen irgendeinen Unterschlupf finden. Zwölf unbequeme Stunden lagen vor ihr, zwölf Stunden banges Warten vor Harry. Dann würde wieder alles seinen gewohnten Gang gehen.

Erst im allerletzten Moment sah Harry die Ziege, die direkt in seinem Weg stand. Sie war gleich hinter einer Haarnadelkurve mitten auf die Straße getrottet, und es schien beinahe, als hätte sie ihm aufgelauert, so schwer war sie im tiefen Schatten der überhängenden Bäume auszumachen. Den Fuß voll auf dem Gaspedal, als er aus der Kurve herauskam, riß Harry instinktiv das Steuerrad herum, als er das Tier sah, und es gelang ihm gerade noch, knapp daran vorbeizukommen. Doch seine Erleichterung hielt nicht länger an als eine Sekunde. Als der Wagen quer über die Straße schlitterte, wurde ihm bewußt, daß er direkt auf einen steilen Abhang auf der anderen Seite zufuhr. Zum Bremsen war es zu spät, und der Straßenzaun sah zu schwach aus, als daß er ihn hätte auffangen können. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf einen der massiven Betonpfosten zuzusteuern und auf das Beste zu hoffen. Es gab einen großen, ruckartigen dumpfen Schlag, eine Dampfwolke stieg aus, der Motorhaube, und lautes Hupen ertönte, als Harry gegen das Lenkrad prallte.

Etwa eine Minute lang war er zu betäubt, um sich zu bewegen. Dann stieß er die Tür auf und stolperte hinaus. Die Ziege war geflohen – er konnte ihre Glocke hören, die wild bimmelte, als sie in den Wald hineinlief –, aber es war offensichtlich, daß der Wagen nicht mehr fahrtüchtig war. Die Vorderseite war eingedrückt, und das äußere Rad war völlig verbogen. Harry beugte sich über das Dach und fluchte leise. Sein Kopf schmerzte, und die Rippen taten ihm weh. Er hätte jetzt einen kräftigen Schluck gebrauchen können, aber es würde wohl noch eine Zeit dauern, bis er einen bekam. Diese letzte Fehleinschätzung der Situation hatte seine – und auch Heathers – mißliche Lage nur verschlechtert.

Obgleich Harry erschöpft und von Selbstmitleid erfüllt war, wußte er, daß er es sich nicht leisten konnte, dieser Stimmung nachzugeben. Nach einem letzten vorwurfsvollen Tritt gegen das verbogene Rad des Autos drehte er sich um und begann den beschwerlichen Fußmarsch die Straße hinunter.

Kapitel 2

Inspektor Miltiades blickte von der Türöffnung aus einige Zeit unverwandt auf Harry. Dann ging er langsam zum Tisch hinüber und setzte sich ihm gegenüber. Harry hatte sechs Stunden auf seine Rückkehr gewartet, sechs Stunden, die ihm wie ebenso viele Tage erschienen waren. Und doch widerstrebte es ihm zu fragen, was der Inspektor gefunden hatte, da ihn die allmählich aufkommende Überzeugung, daß die Wahrheit schlimmer sein mußte als seine schlimmsten Befürchtungen, davor abschreckte.

Den ganzen Tag lang war er in diesem kahlen und sparsam möblierten Raum der Polizeidirektion von Rhodos festgehalten worden, mit nichts als der Uhr an der Wand, dem ausdruckslosen Gesicht des Polizisten, der die Tür bewachte, und seinen eigenen, unaufhörlichen Gedanken, die nach Hinweisen darauf suchten, was der Profitis Ilias der Suchmannschaft offenbart haben mochte. Schon mehr als vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit er Heather zum letzten Mal gesehen hatte, und nun, wie das schwindende Licht hinter den halb geschlossenen Fensterläden anzeigte, schickte sich die Nacht wieder an, ihren Schleier über Heathers Verbleiben zu legen. Ja, es sei denn, Miltiades wußte bereits, wo sie sich aufhielt. Aber Miltiades' Gesichtsausdruck verriet nichts. Dieser, ein dünner, asketisch wirkender Mann mit sorgfältig gebügelter Uniform und glattgekämmtem schwarzem Haar, nahm vorsichtig die Brille ab, massierte die Druckstellen auf der Nase, setzte die Brille wieder auf und hatte dabei die ganze Zeit seinen ernsten, unbeweglichen Blick auf Harry gerichtet.

Harrys Lippen öffneten sich, um zum Sprechen anzusetzen, doch ein Hochziehen der Augenbrauen seines Gegenübers hielt ihn sogleich davon ab. Er bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen, und sagte dann: »Was haben Sie mir zu sagen, Inspektor?«

Miltiades antwortete nicht. Statt dessen zog er ein kleines Tonbandgerät aus der Aktenmappe neben sich, stellte es zwischen sich und Harry auf den Tisch und schaltete es ein.

»Ich glaube, ich habe ein Recht darauf, etwas zu erfahren.«

Miltiades stützte sich auf seine Ellbogen und beugte sich nach vorne. Als er sprach, war es auf griechisch, und seine Bemerkungen waren für den Apparat bestimmt. »To Savato dodeka Noembriou chilia enniakosia ogdonta okto, exi ora ke misi.« Dann sah er Harry geradewegs an und fragte: »Was erwarten Sie, zu hören, Mr. Barnett?«

»Ob Sie Miss Mallender gefunden haben, natürlich. Ob es ihr gut geht.« Harry konnte den immer ungeduldiger werdenden Ton in seiner Stimme hören, doch er konnte ihn nicht unterdrücken. Was fiel dem Mann ein, seine Qual so zu verlängern? »Sie hatten den ganzen Tag, um den Profitis Ilias abzusuchen. Was haben Sie gefunden?«

»Wir werden bei dieser Unterredung einmal davon ausgehen, daß wir nichts gefunden haben.«

»Was, zum Teufel, bedeutet das?«

»Das bedeutet, daß Sie meine Fragen beantworten werden, bevor ich auf ihre antworte.«

Das war es also. Der Verdacht, der den ganzen Tag immer mehr Macht über ihn gewonnen hatte, wurde schließlich bestätigt: Sie glaubten ihm nicht. Deshalb war es ihm nicht gestattet worden, auf dem Schauplatz des Geschehens zu bleiben, als die Suche begann. Und deshalb erzählte ihm Miltiades nichts, da er hoffte, daß eine länger anhaltende Ungewißheit Harry dazu bringen würde, sich selbst zu verraten. Was dachten sie wohl? fragte er sich. Daß er Heather ermordet hatte? Daß er sie dort oben auf dem Berg vergraben hatte? Weshalb sollten sie so etwas denken – es sei denn, sie hatten etwas gefunden, das sie auf diesen Gedanken gebracht hatte. Ihre Leiche etwa? Guter Gott, es war zu schrecklich, daran zu denken.

»Sie leben seit März 1979 auf Rhodos, Mr. Barnett?«

»Was?«

»Sie leben seit neun Jahren hier, glaube ich.«

Harry konnte sich angesichts all der Befürchtungen, die ihn jetzt befielen, nicht konzentrieren. Er konnte nur an Miltiades' Mitgefühl appellieren. »Um Gottes willen, Inspektor, sagen Sie mir nur eines: Ist sie tot?«

Miltiades' Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Wir werden für diese Unterredung einmal davon ausgehen, daß wir es nicht wissen.«

»Sie gefühlloser ...« Harry schloß die Augen und zwang sich, das Bild, das sich gerade in seinem Kopf geformt hatte, abzuwehren: Heathers weißer, nackter Körper, der auf einer Leichenbahre lag ... Als er die Augen öffnete, war Miltiades' prüfender Blick noch immer auf ihn gerichtet.

»Entaksi. Wir werden am Anfang beginnen. Sie leben hier seit März 1979 als Verwalter eines Hauses in Lindos – der Villa ton Navarkhon –, das einem ihrer Landsleute gehört. Ist das richtig?«

Das Bild war verschwunden. An seine Stelle war dieser leere, sterile Raum getreten, wo er gerade verhört werden sollte. Er dachte an die Psarotaverna, wo sie zu Mittag gegessen hatten, dachte daran, wie warm es an ihrem Tisch unter dem Gummibaum gewesen war, wie sanft die Sonnenstrahlen ihr Haar berührt hatten. Er fühlte Tränen in seinen Augen aufsteigen, schluckte schwer und sagte: »Das ist richtig.«

»Ihr vollständiger Name ist Harold Mosley Barnett.«

»Ja.«

»Mosley ist ein ungewöhnlicher Vorname, nicht wahr?«

War es das, was dieser Bursche unter am Anfang beginnen verstand? »Oswald Mosley war ein englischer Politiker in der Zeit zwischen den Kriegen, Inspektor. Mein Vater schätzte seine Ansichten.«

»Welche waren das?«

»Er war ein Faschist. Enas fasistis.«

Miltiades nickte. »Schlimm für Sie.«

»Es macht mir nichts aus.« Es war seltsam, ausgerechnet von einem griechischen Polizisten an seinen Vater erinnert zu werden. Er hatte seit Jahren nicht an ihn gedacht, an diese verschwommene Gestalt aus seiner Vergangenheit, die er nur von Fotos und den unsentimentalen Erinnerungen seiner Mutter kannte. »Wie haben ...«

»Sie wurden am 22. Mai 1935 geboren.«

»Ja. Aber.,.«

»In Swindon in Wiltshire.«

»Woher wissen Sie das alles?«

»Es steht in ihrem Reisepaß.«

»Meinem Reisepaß?«

»Ich habe ihn hier.«

Einen Augenblick lang verschlug es Harry die Sprache. Sie waren in Lindos gewesen und hatten seine Sachen durchsucht. Und während der ganzen Zeit hatte er hier gesessen und geglaubt, daß sie den Profitis Ilias Zentimeter für Zentimeter abkämmen würden.

»Ich hatte eigentlich nach Miss Mallenders Paß gesucht«, fuhr Miltiades fort. »Wissen Sie, wo er ist?«

»In ihrer Handtasche, nehme ich an. Doch Sie hatten kein Recht ...«

»Wir haben den Besitzer des Hauses angerufen, Mr. Barnett. Als wir ihm die Umstände erklärten, gab er bereitwillig seine Zustimmung.«

So. Sie hatten also mit Dysart gesprochen. Und was hatten sie ihm erzählt? Gott allein wußte es. »Weshalb sind Sie so neugierig auf Heathers Reisepaß?«

Zum ersten Mal lächelte Miltiades: »Jetzt heißt es ›Heather‹, nicht ›Miss Mallender‹. Hatte sie etwas dagegen, von ihnen mit ihrem Vornamen angesprochen zu werden?«

»Seien Sie nicht so verdammt ... Warum sollte sie?«

»Weil sie in Mr. Dysarts Haus als sein Gast wohnte – und Sie dort als sein Angestellter waren.«

»Ich bin nicht sein Angestellter.«

»Was denn dann?«

Ja, was denn? Der Unterschied war fein, wie Harry zugeben mußte. »Ich kümmere mich um das Haus und habe dafür freie Unterkunft.«

»Sein Verwalter also?«

»In gewisser Weise.«

»In welcher Weise, würde ich gern wissen, Mr. Barnett. Sie hätten uns früher sagen sollen, was für eine bedeutende Persönlichkeit Mr. Dysart ist. Ein Abgeordneter. Ein Minister der britischen Regierung.«

»Ein Juniorminister.«

»Wie kommt es, daß eine solche Persönlichkeit ihr Ferienhaus auf Rhodos Ihrer Obhut anvertraut?«

»Weshalb sollte er das nicht?«

Anstelle einer Antwort musterte Miltiades Harry mit kaum verhohlener Verachtung. »Wie haben Sie Mr. Dysart kennengelernt?«

»Er hat als Student früher einmal für mich gearbeitet. Das ist schon lange her. Aber was hat das mit ...«

»Mit Miss Mallender zu tun? Ich hoffte, Sie würden mir das erzählen, Mr. Barnett. Ihr Bruder kommt heute abend von England hierhergeflogen. Er und seine Eltern waren erstaunt, als sie erfuhren, daß Sie und Miss Mallender ... befreundet sind. Ich glaube, Sie haben für Miss Mallenders Vater gearbeitet, ehe Sie nach Rhodos kamen.«

»Ja, das stimmt.«

»Und Sie wurden aufgrund einer finanziellen Unregelmäßigkeit entlassen.«

»Einer angeblichen finanziellen Unregelmäßigkeit.«

»Der springende Punkt, Mr. Barnett, ist, daß Sie nicht der Begleiter sind, den Miss Mallenders Vater für seine Tochter ausgewählt hätte. Sie tragen ihm vielleicht immer noch etwas nach. Sie wollen ihm vielleicht etwas antun – oder jemandem, der ihm nahesteht.«

»Es ist mir völlig schnuppe, was ...« Seine Stimme versagte ihm. Das war wirklich schlimmer, als er sich vorgestellt hatte. Alles, was er wissen wollte, war, ob sie Heather gefunden hatten. Wenn das der Fall war, dann mußte sie tot sein, denn sie hätte es niemals zugelassen, daß dieser Unsinn in ihrem Namen verbrochen würde. Doch wenn nicht ...

»Sie sind dreiundfünfzig Jahre alt, Mr. Barnett. Waren Sie jemals verheiratet?«

»Nein.«

»Haben Sie Kinder?«

»Nein.«

»Ein alleinstehender Mann also.«

»So könnte man sagen.«

»Was tun Sie, um Ihre ... sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen?«

Harry spürte, wie ihm der Unterkiefer herunterfiel. Mußten sie mit ihren Verdächtigungen zu dieser letzten und schmutzigsten Maßnahme greifen? Er hatte Heather gemocht. Er hatte sie sogar sehr gemocht. Doch seltsamerweise hatte diese Zuneigung keine sinnliche Begierde getrübt. An einem anderen Ort, mit einer anderen Frau hätte das leicht der Fall sein können. Aber nicht bei Heather. »Ich trinke zuviel, Inspektor. Was machen Sie?«

»Ich habe die Aussage, die Sie gestern abend in Salakos machten, sehr sorgfältig gelesen, Mr. Barnett. Erinnern Sie sich noch, was Sie gesagt haben?«

»Natürlich.«

»Ich werde Ihr Gedächtnis auffrischen.« Er griff zu der Aktenmappe hinunter und zog ein Bündel Papiere heraus. »Ihre Beschreibung von Miss Mallender: ›Zirka einen Meter achtundsechzig groß. Siebenundzwanzig Jahre alt. Schulterlanges flachsblondes Haar.‹ Flachsblond ist ein interessantes Wort, Mr. Barnett. Ich beschäftige mich intensiv mit Wörtern. Ich bin stolz auf meine Kenntnis der englischen Sprache.«

»Mit Recht.«

»Doch flachsblond kannte ich nicht. Es ist ein sehr spezielles Wort. Es läßt darauf schließen, daß die Person, die sie eben beschrieben haben, einen tiefen Eindruck auf Sie machte.«

»Es ist einfach nur eine Farbe.«

»Aber die Farbe wovon? Die Farbe des Verlangens vielleicht? Sie sagten nicht, ob Miss Mallender eine gute Figur hatte.«

Harry fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Sag' nichts, sagte er sich. Laß dich von diesem Mann nicht provozieren. Er glaubt, er sei sehr schlau. Beweise ihm, daß er es nicht ist.

»Ist sie dick? Ist sie dünn?«

»Weder noch.«

»Perfekt proportioniert also. Eine wahrhaftige Aphrodite.«

»Gehen Sie zum Teufel.«

Miltiades lächelte. »Lassen Sie mich auf Ihre Aussage zurückkommen. Sie beschrieben die Kleidung, die sie trug. ›Ein Schal in Rosa und Weiß.‹ Den Sie natürlich später fanden. Und darauf wieder verloren. ›Schwarze Cordjacke. Roter Pullover. Marineblaue Wollhandschuhe. Faltenrock im Schottenkaro, knielang. Schwarze Laufschuhe. Schwarze Strümpfe.‹ Haben Sie das gesagt?«

»Ja.«

»Strümpfe, nicht Strumpfhosen.«

»Ja. Strümpfe, nicht Strumpfhosen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Was?«

»Was von beiden sie anhatte?«

»Ich weiß es nicht.«

»Warum geben Sie dann Strümpfe an? Wollen Sie jetzt behaupten, daß Sie es nicht mit Sicherheit sagen können?«

»Natürlich kann ich das nicht. Es war nur ein Wort.«

»Noch ein ganz besonderes Wort, Mr. Barnett.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß Sie vielleicht in der Lage sind, zu wissen, ob sie Strümpfe oder Strumpfhosen anhatte.«

Die Wut nagte an Harrys Vorsatz. Was hatten sie gefunden? Hatten sie etwas oder hatten sie nichts gefunden? Was immer es war, Miltiades machte keine Anstalten, es ihm zu sagen.

»Wir fanden den Wagen, an der Stelle, die Sie uns beschrieben hatten. In ihrer Aussage gaben Sie an, daß er leer war.«

Eine Falltür schien sich unter Harrys Füßen aufzutun. Der Wagen. Sicher meinte Miltiades nicht ... Er hatte nicht im Kofferraum nachgesehen. Er hätte es tun sollen, aber er hatte nicht daran gedacht. »Wollen Sie damit sagen, er war nicht leer?«

»Nicht ganz. Da war etwas im Handschuhfach.«

Die Erleichterung mußte auf Harrys Gesicht zu lesen gewesen sein. »Was war es?«

»Zwei unbeschriebene Postkarten. Ich habe sie hier.« Er legte eine davon auf den Tisch. »Erkennen Sie sie?«

Es war eine Fotografie der Aphrodite von Rhodos, die berühmte Statue der Göttin, wie sie ihr Haar in der Sonne trocknet, nachdem sie aus dem Meer gestiegen ist. »Ja, Inspektor, natürlich erkenne ich sie. Um alles in der Welt, auf Rhodos werden bestimmt Hunderte von diesen Postkarten verkauft:«

»Sie haben diese Karte aber nicht gekauft?«

»Nein, Heather muß sie wohl gekauft haben.«

»Und diese hier?« Er legte die zweite Karte neben die erste. Es war ebenfalls die Fotografie einer Statue – des Satyrgottes Silenus, halb Ziegenbock, halb Mensch, der auf dieser Darstellung einen riesigen erigierten Phallus zur Schau trug.

Harry sagte nichts. Es gab nichts zu sagen. Natürlich hatte er diese beiden Abbildungen bereits vorher gesehen, auf den Postkartenständern überall auf der Insel. Und er konnte sich vorstellen, weshalb Heather sie gekauft hatte. Die eine als ein Objekt der Schönheit, das sie typischerweise bewundert hätte. Die andere im Hinblick auf einen Streich, den sie ihm zweifellos später spielen wollte. »Wer ist Silenus?« hatte sie ihn gefragt, als sie seine Verbindung zur Taverna Silenou entdeckte. »Es ist besser, wenn du das nicht weißt«, hatte er sie anstatt einer Antwort gefoppt. Doch nun war er der Gefoppte.

Er sah auf und bemerkte in Miltiades' Augen, daß er bereit war, sich seinen eigenen Reim darauf zu machen. Es bestand kein Zweifel mehr darüber, was der Inspektor dachte. Eine wunderschöne, junge, in weichen weißen Marmor geschnittene Frau; ein ausschweifender, alter, in harte grüne Bronze gegossener Mann – die Parallelen waren zu auffällig, um zu widerstehen.

»Heather muß beide gekauft haben«, sagte Harry schließlich. »Um sie Freunden in England zu schicken, nehme ich an. Ich wußte nicht, daß sie da waren.«

Miltiades atmete tief durch. »Hätte es Miss Mallender amüsant gefunden, eine derartige Karte« – er deutete auf die obszöne Darstellung des Silenus – »›Freunden in England‹ zu schicken?«

Harry zögerte. Wie aufrichtig oder unaufrichtig er mit diesem listigen und geduldigen Mann sein sollte, war ein Rätsel, das er nicht lösen konnte. »Nein«, meinte er und entschied sich für Aufrichtigkeit. »Das hätte sie nicht amüsant gefunden. Sie wird sie aus einem anderen Grund gekauft haben.«

»Aus welchem Grund?«

»Während der Saison bediene ich in einer Taverna in Lindos und spüle das Geschirr. In der Taverna Silenou.«

Miltiades nickte. »Ich weiß, Mr. Barnett. Der Besitzer ist Konstantin Dimitratos. Wir haben mit ihm gesprochen. Er war überaus ... mitteilsam.«

»Sie haben mit Kostas gesprochen?«

»Gewiß.«

»Weshalb? Er kennt Heather kaum.«

»Aber er kennt Sie, Mr. Barnett. Im Augenblick ist das für mich von größerem Nutzen. Was er mir erzählt hat, war überaus interessant.«

»Was hat er Ihnen erzählt?« Harry wußte, daß Kostas ihn nicht absichtlich angeschwärzt haben würde, aber die instinktive Reaktion des armen Kerls auf uniformierte Autorität konnte dennoch Schaden angerichtet haben.

»Vieles. Zum Beispiel habe ich erfahren, daß Sie letzten Sommer ein Problem mit einem von seinen Gästen hatten. Einem dänischen Mädchen ... etwa in Miss Malfenders Alter. War sie hübsch?«

Harry konnte fast hören, wie Kostas die Geschichte heraussprudelte. Er würde alles gesagt haben, nur um Miltiades zu besänftigen. Für Harry jedoch bestand keinerlei Hoffnung, daß ihm das ebenfalls gelang. »Ein Mißverständnis, Inspektor, das war alles.«

»Natürlich. Hatte sie flachsblondes Haar?«

»Nein. Und sie war auch keine ›wahre Aphrodite‹.«

Miltiades sah ihn einige Augenblicke lang schweigend an. Dann fragte er: »Haben Sie Miss Mallender je vor ihrer Ankunft in Rhodos am siebzehnten Oktober getroffen?«

»Nein. Das heißt ... ich glaube nicht.« Aber er hatte sie vorher getroffen. Die Situation kam ihm wieder in den Sinn, während er sprach. Zwei Mädchen, gerade aus der Schule, immer noch in ihren Uniformen, die auf dem Vorhof von Mallender Marine aus dem Wagen ihrer Mutter kletterten, um ihrem Vater einen Besuch abzustatten. Ihrem Vater. Seinem Chef. Trübes Wetter. Die Jahreszeit? Daran könnte er sich nicht mehr erinnern. Vielleicht Herbst. Vielleicht genau diese ewig düstere Jahreszeit. Portland Harbour als öder, langweiliger, neutraler Hintergrund. Und zwei Mädchen, eines ein bißchen hochnäsig, etwas von sich eingenommen, das sich schon auf seine Rolle als Frau vorbereitete, während das andere mit auf die Knöchel heruntergerutschten Socken und einem Zahnlückenlächeln bestimmt Heather gewesen sein mußte, flüchtig und unbewußt von einem gelangweilten, leicht verkaterten, um die vierzehn Jahre jüngeren Harold Mosley Barnett wahrgenommen.

»Sie glauben nicht? So viel Ungewißheit. Das reicht nicht, Mr. Barnett. Das reicht wirklich nicht.«

»Ich habe sie vielleicht getroffen, als sie noch ein Kind war. Ich habe schließlich für ihren Vater gearbeitet.«

»Natürlich. Das darf ich nicht vergessen. Aber als sie nach Lindos kam, war sie eine Fremde für Sie?«

»Ja.«

»Hatte Mr. Dysart Sie von ihrer Ankunft im voraus verständigt?«

»Nein.«

»War das ungewöhnlich?«

»Nein. Ich bin völlig unabhängig in der Wohnung im Pförtnerhaus. Ich brauche es nicht zu wissen, ob er kommt – oder einer seiner Freunde.«

»Sie kam aus welchem Grund – um Ferien zu machen?«

»Ja.«

»Sonst nichts?«

»Zur Erholung, würde man wohl sagen.«

»Erholung wovon? War sie krank gewesen?«

»Sie hat mir erzählt, daß sie unter einer Depression gelitten hatte. Ihre Schwester kam im letzten Jahr unter tragischen Umständen ums Leben. Ihr Psychiater hat ihr geraten ...«

»Ah! Sie hatte einen Psychiater?«

»Ich glaube.«

»Man könnte daher annehmen, daß ihre Depression nicht ... harmlos war?«

»Ich habe das nie behauptet.«

»Nein. Das haben Sie nicht. So kam also Miss Mallender nach Rhodos, um sich zu erholen, auf Einladung von Mr. Dysart. Und Sie machten ihre Bekanntschaft?«

»Ja.«

»Schlossen Freundschaft mit ihr?«

»Ich würde das gerne glauben.«

»Sie blieben in der Pförtnerwohnung. Sie wohnte in der Villa.«

»Ja.«

»Und Sie boten ihr an, ihr die Insel zu zeigen?«

»Nein. Das war ihre Idee. Sie mietete bald nach ihrer Ankunft einen Wagen und verbrachte einige Tage damit, die Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Am Mittwoch mietete sie den Wagen wieder, für eine Abschiedstour über die Insel. Sie wollte nächste Woche nach Hause fahren. Sie hatte mich zu dem Ausflug eingeladen.«

»Und Sie dachten, die Gelegenheit ist zu gut, um sie zu verpassen. Sie dachten, daß Sie sie da draußen im Auto, weg von den beobachtenden Augen in Lindos, ganz für sich haben würden.«

In gewisser Weise hatte er genau das gedacht, aber in einer Weise, die sich Miltiades eindeutig nicht vorstellen wollte oder konnte. »Ich nahm ihre Einladung an. Das war alles.«

»Sehr gut. Miss Mallender mietete den Wagen hier in der Stadt Rhodos am Mittwochnachmittag, nach den Unterlagen der Autovermietung. Waren Sie mit dabei, als sie das tat?«

»Nein. Ich wußte zu dem Zeitpunkt nicht einmal, was sie vorhatte. Zum ersten Mal erfuhr ich davon, als sie an jenem Abend in die Villa zurückkehrte. Da fragte sie mich, ob ich mitkommen wollte.«

»Und wann begann die ›Abschiedstour‹?«

»Am nächsten Tag.«

»Wohin fuhren Sie?«•

»Nach Katavia und Monolithos.«

»Und gestern?«

»Wir besuchten am Vormittag das antike Kamiros. Nach dem Mittagessen ...«

»Fuhren Sie zum Profitis Ilias.«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Heather war schon vorher dort gewesen, hatte aber nicht die Zeit gehabt, auf den Gipfel zu steigen. Das wollte sie noch nachholen.«

»Kein anderer Grund?«

»Sie sagte, die Atmosphäre gefalle ihr.«

»Hat es Ihnen gefallen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Das Hotel war geschlossen, die Villen waren alle fest verriegelt. Nirgendwo war eine Menschenseele. Und die Stille war ... beunruhigend.«

»Aber Miss Mallender empfand das nicht so?«

»Nein.«

»Nicht einmal, als Sie dachten, Sie hätten jemanden im Hotel gesehen?«

»Ich habe es ihr gegenüber nicht erwähnt.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht sicher sein konnte, daß da wirklich jemand war.«

»In diesem Fall wird es Sie vielleicht interessieren, daß wir keinerlei Anzeichen dafür gefunden haben, daß irgend jemand auf dem Grundstück gewesen ist.«

»Vielleicht habe ich mir das dann nur eingebildet.«

»Vielleicht.« Miltiades schwieg, fuhr dann fort: »Sie beide begannen zum Gipfel aufzusteigen, dann hielten sie an, und Miss Mallender ging alleine weiter. Weshalb?«

»Ich war müde, Heather nicht.«

»Und das war das Letzte, was Sie von ihr gesehen haben?«

»Ja.«

»Sie saßen nur auf einem Baumstamm und warteten – fast eine Stunde lang –, ehe Sie sich um ihre Sicherheit Sorgen machten?«

»Das stimmt.«

Plötzlich schlug Miltiades mit der flachen rechten Hand heftig auf die Tischplatte. Der Knall ließ Harry aufspringen; sogar der Polizist an der Tür sah erschreckt auf. »Sie lügen, Mr. Barnett«, sagte Miltiades mit scharfer erhobener Stimme. »Sie lügen mit jedem Wort.«

Einen Augenblick lang war Harry zu schockiert, um darauf zu antworten. Sein betäubtes Gehirn gebot ihm, sich an dem Gedanken festzuhalten, daß dieser abrupte Tempowechsel nur ein üblicher Vernehmungstrick war, eine Demonstration von Aggression, die dazu bestimmt war, ihn nach dem zahmen Frage-und-Antwort-Spiel zu verwirren.

»Sie machten bei Miss Mallender sexuelle Annäherungsversuche, denen sie sich widersetzte. Dann versuchten Sie, sie zu vergewaltigen. Aber irgend etwas ging schief, und Sie erwürgten sie schließlich mit ihrem eigenen Schal.«

»Nein.«

»Dann inszenierten Sie den Autounfall, um eine Ausrede dafür zu haben, daß sie nicht vor Einbruch der Nacht Alarm schlugen.«

»Nein.«

»Sie brachten sie um und ließen ihren halbnackten Körper auf dem Berg zurück, damit wir ihn dort finden sollten.«

Da war es wieder. Das Bild, das sein Verstand nicht in Schach halten konnte. Heathers geschundener und zerschlagener lebloser Körper, blicklose, ins Leere starrende Augen, ein stummer Mund, der heruntersank ... Sie hatten sie gefunden. Es blieb keine Hoffnung mehr. Sie war tot, und sie hatten sie gefunden.

»Sagen Sie mir die Wahrheit, Harry.« Miltiades' Stimme hatte jetzt einen anderen Ton angeschlagen – einen sanften, beharrlichen, auffordernden Ton. Erleichtere dein Gewissen, drängte sie ihn, teile die Last mit mir. »Sie hatten nicht die Absicht, sie zu töten, ich weiß. Es war genauso Miss Mallenders Schuld wie Ihre. Stimmt das nicht? War es nicht so?«

»Wo haben Sie sie gefunden?«

»Dort, wo Sie sie zurückgelassen haben, Harry. Wo sonst? Nehmen Sie eine Zigarette, und erzählen Sie mir alles in Ruhe.«

Miltiades hielt ihm eine offene Packung hin, und Harry langte automatisch zu, um eine zu nehmen. Erst als er die Marke sah – Karelia Sertika, die Marke, die er selbst auf dem Profitis Ilias geraucht hatte –, zögerte er. Miltiades' Lächeln war zu breit, seine Sympathie zu übertrieben. Harry sah hinunter auf das Tonbandgerät. Es lief nicht mehr. In einem Augenblick, als seine Aufmerksamkeit abgelenkt gewesen war, war der Apparat abgestellt worden. Aber warum? Es konnte nur einen Grund dafür geben – Miltiades wollte nicht, daß die Lüge, die er gerade aufgetischt hatte, auf Tonband festgehalten wurde. Sie hatten Heather nicht gefunden. Sie hatten überhaupt nichts gefunden außer vier Zigarettenstummeln neben einem umgestürzten Baum. »Ich habe Ihnen bereits alles erzählt, was ich weiß«, sagte Harry langsam. »Und mehr weiß ich nicht.«

Miltiades lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte. Dann streckte er seine Hand aus und schaltete das Tonbandgerät wieder ein. Er sagte nichts, aber sein Gesicht drückte es deutlich genug aus: Das Täuschungsmanöver war zu Ende.

»Wissen Sie, wo Heather ist, Inspektor?«

»Nein, Mr. Barnett, ich weiß es nicht. Unsere Suchaktion auf dem Profitis Ilias brachte viele Spuren Ihrer Anwesenheit zutage – jedoch keine einzige von Miss Mallender. Nicht einmal den Schal, auf den Sie zufällig gestoßen sein wollen.«

Harry wußte nicht, ob er froh oder traurig sein sollte. Froh darüber, daß sie vielleicht noch am Leben war, oder traurig, daß sie sie nicht gefunden hatten. »Was geschieht als nächstes?« fragte er schließlich, da er sich zumindest dessen gewiß war, daß immer etwas als nächstes geschehen würde.

»Die Suche wird morgen bei Tagesanbruch wiederaufgenommen. Dieses Mal werden Sie daran teilnehmen.«

»Gut.«

»Bis dahin werden Sie hier festgehalten.«

»Unter welcher Anklage?«

»Keiner. Aber wenn Sie darauf bestehen, kann eine erfunden werden. Gefährliches Fahren etwa. Vielleicht ziehen Sie es jedoch vor, daß es so aussieht, als arbeiteten sie mit uns zusammen, in welchem Fall ...«

»...ich hierbleiben werde – freiwillig.«

»Ich war mir sicher, daß Sie das tun würden.« Miltiades beugte sich nach vorn und schaltete das Tonbandgerät aus. Er schenkte Harry einen letzten verächtlichen Blick, dann fragte er: »Möchten Sie irgend jemanden anrufen?«

»Nein.«

»Einen Rechtsanwalt vielleicht?«

»Ich habe keinen.«

»Sehr gut.« Miltiades erhob sich von seinem Stuhl. »Die Vernehmung ist zu Ende, Mr. Barnett.«

Doch es gab kein Ende. Kein Ende während der folgenden langen, schlaflosen Nacht für die Gedanken, mit denen er sich vergeblich das Gehirn zermarterte. Kein Ende bei all seinen Mutmaßungen, was ihre fortdauernde Abwesenheit bedeutete, für seine Angst. Warum war sie nicht zurückgekommen? Er war jetzt einer Antwort nicht näher als zu dem Zeitpunkt, als er sich daran gemacht hatte, den Abhang hinaufzusteigen, um nach ihr zu sehen.

Mit seinem kargen Frühstück brachten sie ihm am Morgen eine Zeitung, und er fand auf der Titelseite die Überschrift, die er befürchtet hatte. Η ΕΞΑΦΑΝΙΣΗ ΤΟΥ ΧΕΔΕΡ ΜΑΛΛΕΝΤΕΡ: Das Verschwinden von Heather Mallender. Η ΑΣΤΥΝΟΜΙΑ ΔΙΕΡΩΤΑΤΑΙ: Die Polizei steht vor einem Rätsel. Er las nicht weiter. Er brauchte nicht weiterzulesen. Denn er wußte mehr als jeder andere. Und selbst er wußte nichts.

Kapitel 3

Harry sah den mit Furchen durchzogenen Pfad hinunter und runzelte die Stirn. Alle seine Sinne sagten ihm, was nur die Geographie als falsch hinstellte: Das war nicht der Profitis Ilias. Zumindest nicht der Profitis Ilias, den er kannte und fürchtete, den ruhigen, schweigsamen, bewaldeten Berggipfel, der ihm Angst eingejagt und ihn gefangengenommen hatte. Menschliche Stimmen und das Kläffen von Bluthunden erfüllten den Wald mit Geräuschen, ein Hubschrauber dröhnte über ihnen, und. atmosphärische Störungen knisterten aus einem Radio in seiner Nähe. Wofür er zwei Tage zuvor gebetet hatte – Geräusche, Bewegung, Menschen –, hatte er jetzt, jedoch unter Umständen, und dafür hatte er seither gebetet, die er vermeiden wollte.

Rekruten waren abkommandiert worden, um bei der Suche zu helfen. Harry konnte ihre gebückten, in Tarnanzüge gekleideten Gestalten sehen, die sich langsam durch die Bäume bewegten, die den Weg säumten, und dabei mit den anderen Schritt hielten, als sie das Unterholz durchkämmten, und eher, so kam es ihm vor, wie Treiber bei einer Gänsejagd aussahen. Er erwartete nicht, daß sie irgend etwas finden würden. Heathers Schal war schon vor mehr als einer Stunde entdeckt worden – ein junger Polizist war zu Miltiades heraufgelaufen gekommen und hatte dabei aufgeregt gerufen »To mantili! To mantili!« –, doch es war ein falscher Hoffnungsschimmer gewesen. In Harry wuchs die Überzeugung immer stärker, daß kein anderer Beweis von Heathers Anwesenheit auf dem Berg zu finden sein würde. Die Polizisten hatte jeden Schritt, von dem man wußte, daß sie ihn getan hatte, nachvollzogen, sie hatten jeden Weg verfolgt, der sie vielleicht vom Gipfel weggeführt haben könnte, sie hatten die Wälder Zentimeter für Zentimeter durchkämmt. Und sie hatten nichts gefunden. Sicher, der Wald war riesengroß, das Suchgebiet nicht scharf abgegrenzt: Sie hätten eine Woche lang weitersuchen und noch immer nicht sagen können, daß ihre Aufgabe vollkommen erfüllt gewesen wäre. Aber in Harrys Gedanken war sie es bereits. Er hatte nicht erwartet, daß Miltiades es verstehen, geschweige denn glauben würde. Was das betraf, war er schließlich selbst nicht erpicht darauf, es zu glauben. Und doch konnte diese Schlußfolgerung nicht länger von der Hand gewiesen werden. Nicht nur Heather, sondern auch jedes Zeichen und jede Begleiterscheinung jenes Tages waren mit dem Auftauchen der Menschen und Hunde verschwunden. Ihr Eifer und ihre Energie hatten sowohl die Geheimnisse als auch die Stille des Profitis Ilias vertrieben. Und damit auch sein Rätsel versiegelt.

»Wir werden jetzt zum Hotel zurückkehren«, sagte Miltiades und berührte dabei Harry am Arm. »Hier können wir nichts mehr erreichen.«

Harry antwortete nicht. Sie schlugen denselben Weg ein, den er auf seiner Flucht achtundvierzig Stunden zuvor Hals über Kopf hinuntergerannt war.

»Der Schal wird natürlich einer gerichtlichen Untersuchung unterzogen. Er kann uns vielleicht etwas sagen.« Doch Miltiades' Stimme klang nicht so, als sei er von seinen Worten überzeugt. Er hatte erwartet, mehr zu finden, das war klar, und nun, da das nicht der Fall war, wußte er nicht, was er denken sollte. Er hatte zwar Harry des Mordes verdächtigt, aber er hatte nicht geglaubt, daß dieser fähig sein würde, das Verbrechen zu verheimlichen.

»Heather könnte inzwischen sonstwo sein«, meinte Harry. »Sie könnte überhaupt ganz von der Insel verschwunden sein.« Doch auch er glaubte nicht, was er da sagte.

»So seltsam es auch scheinen mag«, entgegnete Miltiades, »ich habe daran gedacht.« Er warf Harry einen sarkastischen Blick zu. »Wenn Miss Mallender das Land verlassen hätte, hätte sie ihren Paß vorzeigen müssen, und somit würde eine Eintragung über ihre Reise existieren. Es gibt keine einzige. Die Flughafen- und die Hafenbehörden sind jedoch alarmiert worden, so daß es, falls sie immer noch versuchen sollte, die Insel zu verlassen, nicht unbemerkt vor sich gehen würde. Ich kann jedoch nicht sagen, daß ich es für mehr als nur eine entfernte Möglichkeit halte. Wissen Sie irgendeinen Grund, Mr. Barnett, weshalb ich es ernster nehmen sollte?«

»Nein.«

»Gibt es da vielleicht noch etwas, das Sie mir nicht sagen?«

»Was meinen Sie mit noch etwas?«

»Nur, daß Sie mir etwas über den Tod von Miss Mallenders Schwester hätten erzählen können, anstatt daß ich es von Ihrem Konsulat erfahren mußte.«

»Ich habe Ihnen davon erzählt.«

»Sie haben es vorgezogen, nicht zu erwähnen, daß sie für Ihren Hausbesitzer, Mr. Dysart, arbeitete – und daß sie von einer Terroristenbombe getötet wurde, die für ihn bestimmt gewesen war.«

Na und? Miltiades hatte keine Zeit vergeudet, um noch einem zufälligen Zusammentreffen auf die Spur zu kommen. Aber Zufall, das wußte Harry, war alles, was dahintersteckte. Nicht einmal er hatte gewußt, daß Clare Mallender Dysarts persönliche Assistentin gewesen war, bis die englischen Zeitungen plötzlich voll davon waren, wie ein mißglückter IRA-Anschlag auf Dysarts Leben sie an seiner Stelle als Opfer gefordert hatte. Wie dem auch sei, es hatte hiermit nichts zu tun. Das war vor siebzehn Monaten und am anderen Ende Europas passiert. »Weshalb hätte ich das erwähnen sollen?« fuhr Harry ihn an. »Es hat keine Bedeutung ...«

»Lassen Sie das mich beurteilen, Mr. Barnett. Es wirft zumindest ein Licht auf Miss Mallenders psychischen Zustand.«

»Sie war Gott sei Dank schon lange darüber hinweg.«

»War sie das? Sie sagten, daß sie hierherkam, um sich zu erholen.«

»Das stimmt auch, aber ...«

»Und es ist sogar noch rätselhafter. Mr. Dysart hat offenbar enge Beziehungen zur Familie Mallender, und doch hat er Sie darum gebeten, für sein Ferienhaus hier auf Rhodos als Verwalter zu fungieren.«

»Ja und?«

»Warum wählt er für diese Aufgabe einen Mann, den sein Freund erst vor kurzem wegen Bestechlichkeit entlassen hatte?«

Auf der Suche nachneuen Anhaltspunkten mußten, so schien es, alte Wunden wieder geöffnet werden. »Weil ich schon länger mit ihm befreundet bin als Charlie Mallender. Und weil er nicht glaubte, daß ich Bestechungsgelder angenommen hatte.« War das der wahre Grund? fragte sich Harry, oder hatte Dysart so etwas wie Schuldbewußtsein empfunden, weil er ihn überhaupt an Mallender Marine empfohlen hatte? Inzwischen, nahm er an, war das alles kaum mehr von Belang.

»Es wird interessant sein, zu hören, ob Miss Mallenders Bruder mit Ihrer Interpretation einverstanden ist.«

Seit dem Verhör hatte Harry vergessen, daß Roy Mallender bereits auf dem Wege nach Rhodos war. Doch wie konnte er nur? Er wollte diesem Mann unter keinen Umständen jemals mehr begegnen, schon gar nicht unter denen, die sie beide jetzt zusammenzuführen schienen. Es war äußerst fragwürdig, ob zehn Jahre seinen abscheulichen Charakter gebessert haben würden; einmal ein Schwein, so Harrys Erfahrung, immer ein Schwein. »Wann soll er ankommen?«

»Er ist bereits angekommen, Mr. Barnett. Er ist da und wartet auf uns beim Hotel.«

Miltiades hatte es natürlich so geplant. Er war über Roy Mallenders Eintreffen informiert worden, hatte aber beschlossen, daß Harry keine Vorwarnung erhalten, keine Chance haben sollte, sich auf diese Begegnung vorzubereiten. Dort war er schon zu sehen, sein alter Rivale, wie er mit einem Polizisten und einem anderen Mann neben einem Auto genau unter dem Wegweiser zum Profitis Ilias stand. Als sie näherkamen, musterte ihn Harry. Er hatte zugenommen seit ihrer letzten Begegnung und sah älter aus, als er nach Harrys Schätzung sein mußte. Er war natürlich immer noch widerlich, wenn nicht sogar noch widerlicher, und doch war er nicht mehr ganz der Mann, gegen den Harry einst vergebliche Racheschwüre ausgestoßen hatte, der Mann, der ihn für einen Narren gehalten und ihm bewiesen hatte, daß er genau das auch war.

»O yos tou afentikou«, murmelte Miltiades.

»Wie bitte?«

»Der Sohn des Chefs, Mr. Barnett. Das ist es doch, was wir vor uns sehen? Eine wenig anziehende Sorte Mensch. Ich glaube, Sie werden mir zustimmen.«

Harry stimmte ihm zwar zu, aber er enthielt sich eines Kommentars. In gewisser Hinsicht war er es Heather schuldig, so versöhnlich wie nur möglich zu sein. Er und Roy waren schließlich beide nur ihretwegen da: Was bedeutete schon ein alter Streit und frühere Schmach im Vergleich zu ihrer Sicherheit?

Als sie näherkamen, hörte Roy auf, zu dem Mann an seiner Seite zu sprechen, und drehte sich um, um auf sie zuzugehen. Seine Augen verengten sich, als er zu Harry hinsah, und seine Unterlippe schob sich als bekanntes Zeichen aufsteigender Wut nach vorn. Dieses eine Mal, dachte Harry, konnte er ihm das kaum verübeln; er machte sich auf den Ausbruch gefaßt, der bestimmt folgen würde. Doch er folgte nicht. Statt dessen trat Miltiades zwischen sie und gab Roy die Hand; er lächelte, stellte sich vor und sprach ihm höflich sein Mitgefühl aus. Roy würdigte ihn nicht einmal eines Blickes; seine Augen blieben starr auf Harry geheftet.

»Was haben Sie gefunden?« fragte er schroff. Seine Stimme klang so barsch und ungeduldig wie eh und je.

»Bis jetzt«, erwiderte Miltiades, »ist nur der Schal Ihrer Schwester ...«

»Steht dieser Mann unter Arrest?«

»Mr. Barnett unterstützt uns bei unseren Nachforschungen. Hat Ihnen Mr. Osborne die näheren Umstände nicht erläutert?«

Der Mann, der neben Roy stand – ein Bursche mit rotblondem Haar und schlaffen Gesichtszügen, den Harry für einen Vertreter des britischen Konsulats hielt –, signalisierte mit seinen Augen, daß es, gelinde gesagt, schwierig gewesen sei, seinem Begleiter irgend etwas zu erklären.

»Das brauchte er gar nicht«, bellte Roy. »Sie kennen diesen Mann nicht so gut wie ich, Inspektor. Wenn meiner Schwester irgend etwas zugestoßen ist ...«

»Wir wissen bis jetzt noch nicht, ob es so ist, Mr. Mallender, ich untersuche ein Verschwinden, nichts weiter.«

»Nichts weiter? Wie können Sie so etwas sagen, wenn es doch ganz offensichtlich ist, daß er das Blaue vom Himmel herunterlügt?«

»Ich lüge nicht«, warf Harry ein. »Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich wünschte, ich wüßte es, aber ich weiß es nicht. Es tut mir leid, aber so ist es.«

Roy trat einen Schritt auf ihn zu. »Versuchen Sie jetzt, es uns heimzuzahlen, Barnett? Läuft es darauf hinaus? Ist das Ihre Rache dafür, daß man Sie vor zehn Jahren mit der Hand in der Ladenkasse erwischt hat?«

»Natürlich nicht. Seien Sie vernünftig, Mann. Ich mag Heather, um Himmels willen. Ich wollte nicht, daß das passiert.«

»Sie wollten nicht, daß es entdeckt wird, meinen Sie – damals wie heute. Es tut Ihnen leid? Sie wissen nicht einmal, was das heißt. Aber Sie werden es noch lernen. Glauben Sie mir, das werden Sie.«

Irgend etwas stimmte bei der ganzen Sache nicht, das spürte Harry, irgend etwas klang unecht. Nicht nur, daß Roys Anschuldigungen grundlos waren – das war ja zu erwarten. Sie waren irgendwie zu abrupt, zu pauschal, selbst für einen so aufbrausenden Menschen wie ihn.

»Daß Sie aufgeregt sind, ist verständlich,« sagte Miltiades, und seine Stimme nahm einen beruhigenden Tonfall an. »Aber mit Verbitterung erreicht man gar nichts. Wir werden alles daran setzen, Ihre Schwester zu finden, Mr. Mallender. Ich würde daher vorschlagen, daß Sie nach Rhodos zurückkehren und dort die weitere Entwicklung abwarten.«

»Das wäre wahrscheinlich das beste«, fügte Osborne hinzu.

Roy funkelte sie beide der Reihe nach an. Er schien widersprechen zu wollen. Dann verlor der Gedanke seinen Reiz. »In Ordnung. Ich nehme an, es bleibt mir nichts anderes übrig. Aber ich möchte, daß man mich regelmäßig auf dem Laufenden hält.«

»Das wird man«, meinte Miltiades.

Roy knurrte. »Das möchte ich Ihnen auch geraten haben.« Er wandte sich an Osborne. »Kommen Sie. Ich habe genug gesehen.« Darauf stieg er mit einem letzten finsteren Blick auf Harry in den Wagen und schlug die Tür zu. Unter Kopfschütteln ging Osborne, offensichtlich voller Selbstmitleid, auf die andere Seite zum Fahrersitz. Miltiades murmelte etwas auf Griechisch, dann sprang der Motor an, und sie fuhren los.

»Was sagten Sie, Inspektor?« fragte Harry, als der Wagen langsam aus ihrer Sicht verschwand.