Das Geheimnis von Trennor Manor - Robert Goddard - E-Book
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Das Geheimnis von Trennor Manor E-Book

Robert Goddard

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Beschreibung

Was lauert hinter diesen Mauern? Der abgründige Kriminalroman »Das Geheimnis von Trennor Manor« von Robert Goddard jetzt als eBook bei dotbooks. Nick Paleologus und seine Geschwister können ihr Glück kaum fassen: Ein exzentrischer Millionär macht der Familie ein ungewöhnlich hohes Kaufangebot für den Erbsitz »Trennor Manor«. Als ihr misstrauischer Vater, der das Angebot rundweg ablehnte, bei einem Treppensturz ums Leben kommt, scheint der Weg zum Verkauf frei zu sein. Doch da stößt Nick im Keller des Hauses auf ein Geheimnis, das alles in Frage stellt, was er über »Trennor Manor« und seinen Vater zu wissen glaubte. Um Antworten zu finden, muss Nick sich auf eine gefährliche Reise in die düstere Vergangenheit seiner Familie begeben … »Robert Goddard ist einer der besten Erzähler unserer Zeit!« Sunday Telegraph Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Kriminalroman »Das Geheimnis von Trennor Manor« von Robert Goddard. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 584

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Über dieses Buch:

Nick Paleologus und seine Geschwister können ihr Glück kaum fassen: Ein exzentrischer Millionär macht der Familie ein ungewöhnlich hohes Kaufangebot für den Erbsitz »Trennor Manor«. Als ihr misstrauischer Vater, der das Angebot rundweg ablehnte, bei einem Treppensturz ums Leben kommt, scheint der Weg zum Verkauf frei zu sein. Doch da stößt Nick im Keller des Hauses auf ein Geheimnis, das alles in Frage stellt, was er über »Trennor Manor« und seinen Vater zu wissen glaubte. Um Antworten zu finden, muss Nick sich auf eine gefährliche Reise in die düstere Vergangenheit seiner Familie begeben …

Über den Autor:

Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall.

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane: »Im Netz der Lügen«, »Der Preis des Verrats«, »Eine tödliche Sünde«, »Ein dunkler Schatten«, »Denn ewig währt die Schuld«, »Das Geheimnis von Trennor Manor«, »Und Friede den Toten«, »Das Geheimnis der Lady Paxton« und »Das Haus der dunklen Träume«.

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane: »Die Sünden unserer Väter«, »Die Schatten der Toten«, »Jäger und Gejagte«, »Die Klage der Toten« und »Der Kartograf von London«.

Robert Goddard veröffentlichte außerdem bei dotbooks seine drei Kriminalromane mit dem Ermittler Harry Barnett: »Dunkles Blut«, »Dunkles Sonne« und »Dunkle Erinnerung«.

***

eBook-Neuausgabe Januar 2020

Dieses Buch erschien bereits 2004 unter dem Titel »Bedenke, dass wir sterben müssen« bei Goldmann

Copyright © der englischen Originalausgabe 2003 by Robert Goddard and Vaunda Goddard

Die englische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Days Without Number« bei Bantam Press, London.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Adobe Stock/jamesdavidphoto

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-098-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

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Robert Goddard

Das Geheimnis von Trennor Manor

Roman

Aus dem Englischen von Peter Pfaffinger

dotbooks.

Im Gedenken an meinen Vater,WILLIAM JAMES GODDARD,1903-1984

Lehre uns bedenken,dass wir sterben müssen,auf dass wir klug werden.

Psalm 90,12(in der Übersetzung von Martin Luther)

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Dass er sein Kommen zugesagt hatte, bedauerte er nicht. Schon längst hatte er gelernt, die Folgen jeder seiner Entscheidungen mit einem gewissen Gleichmut hinzunehmen. Bedauern war also nicht der richtige Ausdruck. Und die Folgen zeigten sich oft erst nach langer Zeit und waren nicht immer angenehm. Und die lange Fahrt westwärts erinnerte ihn von Meile zu Meile nachdrücklicher daran. Seine Vergangenheit war Feindesland, seine Gegenwart eine friedliche Ebene. Wenn er jetzt heimfuhr, gab er nicht nur eine Zuflucht preis, sondern erklärte auch, dass er keine mehr brauchte – was natürlich, wie er sofort gesagt hätte, absolut stimmte. Aber etwas zu sagen und tatsächlich daran zu glauben, sind grundverschiedene Dinge, nicht minder gegensätzlich als Lärm und Stille. Und was er im Augenblick am lautesten durch das Mattglas und die stoßfeste Karosserie seines eleganten grauen Firmenwagens hörte, war ... Stille.

Die Fahrt nach Hause in den Westen von England war auch in geschichtlicher Hinsicht ein Widerspruch in sich. Egal, wie gut er seine Rolle als Engländer und nüchterner, effizienter leitender Angestellter spielte – sofern die genealogischen Nachforschungen seines Großvaters wirklich zutrafen, war Nicholas Paleologus etwas weit Exotischeres: ein Nachfahre des letzten Kaisers von Byzanz. Für seine quasi-legendären, östlichen Wurzeln empfand und zeigte er allerdings seit jeher eine tiefe Verachtung. Die Aufmerksamkeit, die sie auf ihn lenkten, war ihm im besten Fall unwillkommen und im schlimmsten ... Doch er legte keinen Wert darauf, bei den schlimmsten Erinnerungen zu verweilen. Seit er sich von seiner Familie zurückgezogen hatte, war er durchaus bereit, sich zu seiner griechischen Herkunft zu bekennen, zu mehr aber auch nicht.

Einen Zusammenhang mit der Kaiserdynastie stritt er jedenfalls stets ab, wenn ihn jemand von den erbärmlich wenigen, denen der Name ein Begriff war, darauf ansprach. Er hatte es satt, sich an Fachsimpeleien darüber zu beteiligen, warum er nicht Palaiologos hieß wie seine angeblichen Vorfahren, und überhaupt schien es höchst unwahrscheinlich, dass es den letzten Vertreter der Palaiologen nach England verschlagen haben sollte. Und doch musste wohl laut ihrer lückenhaften Geschichte genau das geschehen sein. Die Palaiologos-Dynastie hatte in den letzten zwei Jahrhunderten, den unrühmlichsten seiner Geschichte, über Byzanz geherrscht, bis schließlich Kaiser Konstantin XI. bei der vergeblichen Verteidigung der Mauern von Konstantinopel gegen die türkischen Belagerer 1453 fiel. Nach dieser Katastrophe wurden diejenigen Familienmitglieder, die die Unterwerfung überlebten, über das gesamte Mittelmeergebiet verstreut und mischten sich nach und nach mit Angehörigen niederer Stände. Schließlich floh Konstantins Ur-ur-ur-urgroßneffe Theodore vor einer Anklage wegen versuchten Mordes aus Italien und setzte den Fuß auf englischen Boden – den er nie wieder verlassen sollte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er als Gast der Familie Lower auf deren Landsitz in Clifton am kornischen Ufer des Flusses Tamar gegenüber der Stadt Plymouth, wo er 1636 als Mitglied der Gemeinde Landulph starb.

Es war Theodore Paleologus' Gedenktafel in der Kirche von Landulph, die Nicks Großvater, Godfrey Paleologus, dazu anregte, sich dort niederzulassen und zahllose Mußestunden, die er einer beträchtlichen Erbschaft verdankte, dem Beweis seiner kaiserlichen Herkunft zu widmen. Um in der Nähe bleiben zu können, erwarb er ein auf halbem Weg zwischen der Kirche und dem Dorf Cargreen gelegenes, verfallenes Gutshaus mit dem Namen Trennor und baute es mit der Zeit zu einem reizenden Familiensitz aus. Zwar gelang es dem gebürtigen Bürger von Plymouth nie, seine Blutsverwandtschaft mit dem schon so lange toten Theodore zu beweisen, doch ein Wunsch von ihm ging immerhin in Erfüllung: Nach seinem Tod wurde er, wenn schon nicht in der Gruft der Paleologus aus dem 7. Jahrhundert, so doch im Friedhof von Landulph beigesetzt.

Sein Sohn Michael studierte in Oxford Archäologie, wo er später unterrichtete und seine fünf Kinder, einschließlich Nick, großzog. Nach dem Tod seiner Eltern benutzte er Trennor, das er behalten hatte, als Ferienhaus, und im Alter lebte er dort. Seit seine Frau gestorben war, wohnte er hier allein. Vier seiner fünf Kinder lebten in seiner unmittelbaren Nähe, teils aus freien Stücken, teils gezwungenermaßen. Nick hatte als Einziger das Elternhaus verlassen. Und jetzt kehrte er ebenfalls zurück, wenn auch nicht für lange und, wie er vermutete, auch nicht aus edlen Motiven.

Es war Freitagnachmittag. Unterwegs hatte ihn eine nasskalte Winternacht eingeholt. Vielleicht war es ganz gut so, dachte er, als er auf einem Schild am Straßenrand las, wie viele Meilen es noch zu seinem Ziel waren, vielleicht brauchte er den Schutz der Dunkelheit, Schutz in der einen oder anderen Form. Das war schon immer so gewesen.

Am Sonntag war der fünfzigste Geburtstag seines ältesten Bruders. Andrew hatte im Heidegebiet von Bodmin Moor eine Schaffarm, auf der er – laut ihrer Schwester Irene – dank Scheidung, Entfremdung von seinem einzigen Sohn und dem Niedergang der britischen Landwirtschaft eine von Jahr zu Jahr traurigere Gestalt abgab. Eine Geburtstagsfeier auf Trennor – ein Familientreffen – würde ihnen allen gut tun. Insbesondere natürlich Andrew

Das war eine Aufforderung, die Nick nur schlecht ignorieren konnte. Aber bei ihrem Bemühen, ihn zu ködern, hatte Irene auch zugegeben, dass noch mehr dahinter steckte. »Wir müssen über die Zukunft sprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Dad noch sehr viel länger allein auf Trennor zurechtkommt. Es hat sich eine neue Möglichkeit ergeben, und wir würden gern deine Meinung dazu hören.« Zu den Einzelheiten hatte sie sich am Telefon nicht näher äußern wollen. Nick nahm an, dass es ihr nur darum ging, seine Neugierde zu wecken und auch an sein Gewissen zu appellieren. Was ihr gelungen war, wenn auch nicht so vollständig, wie sie es vermutlich erhofft hatte. Nick hatte letztlich nur deshalb zugestimmt, weil ihm keine glaubhafte Ausrede für sein Nichterscheinen einfiel.

Der Stoßverkehr ließ gerade etwas nach, als Nick Plymouth erreichte. Er folgte der A38 quer durch die Innenstadt zur Tamar Bridge, wo Baumaßnahmen zur Fahrbahnverbreiterung nur noch ein Kriechtempo über den dunklen Fluss zuließen. Links überquerte gerade ein Zug die Eisenbahnbrücke in die Richtung, aus der Nick gekommen war. Unwillkürlich wünschte Nick, er säße jetzt in diesem Zug, und gab für einen Moment seinen gut geübten Gleichmut preis.

Doch nur für einen Moment. Dann hatte er seine Selbstbeherrschung wiedererlangt.

Am anderen Ufer angekommen, bog er zur Ortsmitte von Saltash ab und fuhr durch den ältesten Teil der Stadt einen steilen Berg wieder hinunter zum Fluss, wo Straße und Gleise über ihm aufragten. Nach einer Rechtskurve tauchten vor ihm am Flussufer die erleuchteten Fenster des Gasthofs Old Ferry Inn auf, den Irene Viner, geborene Paleologus, seit zwölf Jahren führte. Die Idee, ein Pub zu eröffnen, ging eigentlich auf ihren Mann zurück, der damals gerade seinen Arbeitsplatz bei der Reederei von Davenport verloren hatte. Und schon bald darauf hatte er angefangen, die Einnahmen zu vertrinken – ein Problem, das Irene nur mit Hilfe eines Scheidungsanwalts hatte lösen können. Sie gab bereitwillig zu, dass es nie ihr Lebenstraum gewesen war, eine Kneipe zu betreiben, hatte es aber in ihrem neuen Metier schnell zu sehr viel mehr Erfolg gebracht, als Nick ihr je zugetraut hätte.

Nick fuhr in den kleinen Hof hinter dem Pub und bugsierte den Wagen in eine schmale Lücke zwischen Irenes Opel und einer großen Tonne für Plastikflaschen. Erst als er ausstieg und sich die Lunge mit kalter, feuchter Flussluft voll sog, begriff er, dass er wirklich zu Hause angekommen war. Fast senkrecht über ihm wölbte sich der alte Bogen der Eisenbahnbrücke, der jetzt umso dunkler und ruhiger wirkte, nachdem gerade der ostwärts fahrende Zug vorbeigerauscht war. Weiter vorne erhob sich die neue Autobrücke. Die an Seilen gesicherten Sitzvorrichtungen für die Arbeiter und das vom Ufer herüberscheinende, grelle Natriumdampflicht ließen sie merkwürdig verzerrt erscheinen. Seine Schwester hatte sich schon ein eigenartiges Zuhause ausgesucht, eines, das im Schatten von verkehrstechnisch notwendigen Bauwerken stand und seinen Namen zu Ehren eines alten Transportmittels trug, das man in diesem Ort nicht mehr vorfand. Egal, aus welcher Perspektive man es betrachtete, das Old Ferry war eine Sackgasse.

So jedenfalls kam es Nick vor. Aber was war schon dabei? Er war schließlich nur für ein Wochenende hier. Ja, er war hergekommen, aber bald, sehr bald, würde er wieder abfahren.

Er nahm seine Reisetasche aus dem Kofferraum und ging hinüber zum Haupteingang an der Vorderseite des Pubs. Zögerlich spähte er hinein. Es war eines von den Gebäuden, wo der Kneipenbereich und die Lounge räumlich getrennt waren. Irene und ihre Gäste sprachen allerdings immer vom vorderen und vom hinteren Teil, die beide von einem einzigen Tresen aus bedient wurden. Die Decken waren niedrig, die Böden uneben und die Wände so dick wie in einem Verlies. Ihre ungefähr fünfhundert Jahre waren der Gaststätte durchaus anzumerken, was sie aber nicht zu einem Museum machte. Zwei Saftpressen und junge Leute aus dem Ort sorgten dafür, dass ein Neuankömmling von einer nicht allzu muffigen Atmosphäre begrüßt wurde.

Rauch hing allerdings reichlich in der Luft. Nick, ein eingefleischter Nichtraucher, musste auf dem Weg zur Theke unwillkürlich husten, womit er sich schiefe Blicke von einigen Jugendlichen einfing, die die Saftpresse umlagerten. Der Anblick eines gepflegten Fremden in elegantem Anzug schien ihnen nicht gerade zu gefallen. Dass eine gewisse Ähnlichkeit zu ihrer Wirtin bestand, entging ihnen allerdings.

Die Ähnlichkeit war sogar auffällig. Beide waren von praktisch gleicher Größe und Statur, ihr glattes dunkles Haar war mit fast gleich vielen grauen Strähnen durchwirkt. Ihre Gesichter waren eine Spur zu länglich und die Nasen zu markant, um als hübsch im konventionellen Sinn zu gelten, aber damit waren sie in jeder Menschenmenge auffällige Erscheinungen. Irene saß auf einem Barhocker und starrte mit leerem Blick in das verlassene Nebenzimmer, während sie sich über die Schulter hinweg murmelnd mit der strohblonden Bedienung unterhielt, die die Jungen mit Getränken versorgte.

»Da ist er ja!«, rief Irene, als Nick in ihr Blickfeld trat. »Hallo, Fremder.« Sie sprang von ihrem Hocker und lief ihm entgegen, um ihn zu küssen. »Gut siehst du aus.«

»Du auch.«

»Gefällt dir die Kombination?« Sie drehte sich in einer halben Pirouette, um das eng anliegende Kleid und die hochhackigen Schuhe zu präsentieren. Durch ihre dunkelrote Bluse schimmerte das Lampenlicht hindurch. »Die Freitagabendklamotten für meine Stammkunden. Wenn meine Knöchel nicht wären, würde ein Teil davon bestimmt ins Boatman überlaufen, da kannst du Gift darauf nehmen.«

»Das glaube ich dir aufs Wort.« Nick konnte es sich wirklich gut vorstellen, auch wenn Irenes Verehrer zurzeit dünn gesät zu sein schienen, ein Umstand, dem ihr allmählich ersterbendes Lächeln offenbar Rechnung trug.

»Sie werden gleich da sein.«

»Ein Glück, dass ich dem Ansturm zuvorgekommen bin.«

»So wie du aussiehst, kommst du direkt aus dem Büro.«

»Stimmt, ich habe heute Vormittag noch eine Schicht eingelegt.«

»Drink gefällig?«

»Später vielleicht. Vorher würde ich mich gern frisch machen.«

»Aber natürlich! Ich hab ganz vergessen, wie weit du gefahren bist. Geh einfach rauf. Ich hab Lauras Zimmer für dich hergerichtet. Wenn du Hunger hast, im Kühlschrank stehen Quiche und Salat.«

»Okay. Bis gleich.«

Nick öffnete die Tür mit der Aufschrift PRIVAT neben der Damentoilette. Dahinter ging es eine enge Treppe nach oben zur Wohnung. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er zu einem voll gestellten Treppenabsatz hinauf, der zum Wohn- und zum vorderen Schlafzimmer und weiter hinten zum Bad, einer Küche und einem zweiten Schlafzimmer führte. Letzteres gehörte seiner Nichte, die gegenwärtig in einem Internat lebte. Das Bett war bereits für ihn hergerichtet worden. Nick stellte seine Tasche daneben auf den Boden. Einen kurzen Moment rätselte er über die Identität des Mädchens auf dem Poster hinter der Tür, dann steuerte er auf das Badezimmer zu.

Etwa vierzig Minuten später ging Nick wieder nach unten. Inzwischen hockten ein gutes Dutzend mehr von den berüchtigten Jugendlichen an der großen Bar und tauschten Scherze und Klatsch aus. Einige erkannte er noch vage – und sie ihn. Schnell stellte sich heraus, dass Irene sie über seinen Besuch und den Grund dafür aufgeklärt hatte: eine Party auf Trennor. Er wurde freundlich empfangen und spendierte Runden wie einer, der schon immer dazugehört hatte. In den nächsten Stunden verbrachte er mehr Zeit mit Grinsen und Plaudern, als er normalerweise in einem ganzen Monat dafür erübrigte. Schließlich taten ihm die Gesichtsmuskeln weh, und der Knoten in seinem Magen schwoll vor Anspannung zu einer Kugel aus Schmerzen an. Niemand stellte ihm die Frage, die eigentlich auf der Hand lag: Warum schlief er nicht im Haus seines Vaters, das mit seinen vielen leeren Zimmern, unter anderem demjenigen, das er viele Jahre lang mit seinem Bruder Basil geteilt hatte, sondern quetschte sich stattdessen zwischen Lauras Stoffbären und CDs von irgendwelchen Girlgroups? Aber das war gut so, denn eine halbwegs befriedigende Antwort hätte er darauf ohnehin nicht geben können. Und Irene wich ihm immer noch aus. Vielleicht, überlegte er träge bei seinem dritten Glas Guinness, das er nur widerstrebend annahm, kannten die Jugendlichen den Grund bereits. Vielleicht war er der einzige Ahnungslose. Dann wiederum sagte er sich, als er durch die Zigarilloschwaden eines Gastes hindurch einen warnenden Blick seiner Schwester auffing, dass er sich womöglich täuschte.

Es ging auf Mitternacht zu, als der letzte Gast in die Dunkelheit hinausgeschoben und die Bedienung heimgeschickt wurde. Irene zündete ihre erste Zigarette des Abends an, schenkte Nick und sich selbst einen doppelten Glenmorangies ein und setzte sich zu ihm an einen Tisch vor dem Gasofen, in dem die elektrisch erzeugte Attrappe eines Holzfeuers hochzüngelte. Das kunstvoll flackernde Licht spiegelte sich hübsch in einem an der Wand angebrachten Kupferblech und in den zu beiden Seiten daneben aufgehängten Pferdegeschirren wider.

»Die Burschen hier scheinen ja alle schwer in Ordnung zu sein«, bemerkte Nick.

»Sie sind also nicht allzu hart mit dir umgesprungen?« Irene lächelte ihn über ihr Glas hinweg verständnisvoll an.

»Nein, wirklich nicht. Sie waren ...«

»Ich meine wegen dem, was du hinter dir hast. Du magst doch keine großen Gruppen. Vor allem dann nicht, wenn du mittendrin steckst.«

»Ich komme schon zurecht.«

»Wirklich? Ich mache mir ständig Sorgen um dich, da du doch allein bist und ...«

»Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«

»Es hat mal einen gegeben.«

»Aber jetzt nicht mehr.«

Anscheinend verstand Irene den Wink. Sie wechselte das Thema. »Schön, dass du es zu uns geschafft hast.«

»Meinst du, dass Andrew sich auch freut?«

»Klar. Allerdings ...«

»... wird er es nicht unbedingt zeigen.«

»Du kennst ihn ja. Und im Vergleich zu heute war das früher gar nichts, das kann ich dir sagen.«

»Ist das überraschende Auftauchen seines kleinen Bruders dann wirklich eine so gute Idee?«

»Wir sind eine Familie, Nick. Sich mal zu treffen kann keine schlechte Idee sein. Außerdem ...«

»... hast du mich nicht nur wegen des Geburtstagskinds hierher gebeten.«

»Nein.« Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »Es geht natürlich auch um Dad.«

»Weiß er denn, dass ich am Sonntag aufkreuze?«

»Nein. Wir haben uns gedacht, dass wir ihn überraschen.«

»Anna und ich.«

»Was ist mit Basil?«

»Er weiß Bescheid.«

Was, wie Nick annahm, mehr oder weniger unvermeidbar war, weil Basil schon seit einiger Zeit bei seiner Schwester Anna lebte. »So ein Glückspilz.«

Irene seufzte. »Na gut. Zeit, um reinen Tisch zu machen. Du hast Dad seit über einem Jahr nicht gesehen. In letzter Zeit hat er deutlich nachgelassen. Er ist ... na ja, einfach irgendwie tatterig geworden. Ich habe ihn als richtig großen Mann in Erinnerung, aber jetzt scheint er zu schrumpfen.«

»Er ist immerhin vierundachtzig.«

»Und man sieht es ihm an. Wenn Mum noch leben würde, wäre es vielleicht anders. Aber so sehe ich keine Möglichkeit, dass er noch länger auf Trennor bleiben und allein in dem großen Haus wohnen kann.«

»Und Pru?« Aber kaum hatte er den Namen der langjährigen Haushaltshilfe seiner Eltern ausgesprochen, wurde Nick klar, dass sie kaum jünger als vierundachtzig sein konnte. »Passt sie denn nicht auf ihn auf?«

»Doch, so weit es ihr grauer Star erlaubt. Aber eine wirkliche Hilfe ist sie nicht mehr. Wir müssen uns den Tatsachen stellen.«

»Du meinst, Dad muss sich ihnen stellen.«

»In Tavistock gibt es ein Haus, von dem Anna sich vorstellen könnte, dass es genau das Richtige für ihn wäre. Gorton Lodge.«

Wie Nick das sah, konnte Anna als Pflegedienstleiterin in einem Altenheim in Plymouth solche Dinge wohl am besten beurteilen. Trotzdem wirkte das Ganze auf ihn irgendwie überstürzt. Ein bei ihm völlig ungewohntes Gefühl von Mitleid für seinen Vater ließ ihn zusammenzucken.

»Morgen Abend kann sie dir mehr darüber sagen. Da sollst du zum Dinner zu ihr rüberkommen. Aber das Gorton Lodge ist schön, glaub's mir. Das Beste, was man hier in der Gegend für sein Geld bekommen kann.«

»Da ist noch was, das ich ...« Nick verstummte. Das Wort Geld hatte ihn auf einen neuen Gedanken gebracht. Wer würde die Gebühren für das Gorton Lodge bezahlen? Das Erbe seines Großvaters hatte nicht bis zur nächsten Generation gereicht. Und sein Vater hatte sie stets wissen lassen, dass beim Gehalt eines Akademikers – und erst recht bei dem eines Akademikers mit fünf Kindern – wenig für die Altersvorsorge übrig blieb. Auch ließ sich bei keinem dieser fünf Kinder behaupten, dass es sich eine goldene Nase verdiente. Die einzige Geldquelle war also das Haus selbst – ihr Erbe. Aber warum waren Nicks Geschwister plötzlich so scharf darauf, es gegen eine komfortable Versorgung ihres Vaters einzutauschen? Lobenswert war das in gewisser Hinsicht durchaus, aber zugleich absolut untypisch. »Das Haus müsste verkauft werden, Irene.«

»Natürlich.«

»Und wenn Dad noch zehn Jahre länger lebt oder sogar nur fünf ...«

»... fällt das überhaupt nicht ins Gewicht.«

»Nicht ins Gewicht? Das ergibt doch keinen Sinn. Was ist Trennor denn schon wert? Dreihunderttausend? Allerhöchstens dreihundertfünfzig.«

»Auf dem offiziellen Markt, da hast du vielleicht Recht.«

»Und was für einen Markt gibt es noch?«

»Den inoffiziellen. Jemand hat Dad eine halbe Million geboten.«

Nick starrte seine Schwester erstaunt an. »Eine halbe Million?«

»Richtig. Fünfhunderttausend Pfund. Bar auf den Tisch.«

»Aber ... Dad hat es doch gar nicht zum Verkauf angeboten.«

»Darum die Prämie.«

»Was für eine Prämie!«

»Gegenwärtig ist sie auf einem Interimskonto deponiert, wovon sich Baskcomb überzeugen konnte.«

Baskcomb war – wie schon vor ihm sein Vater und davor sein Großvater – der Anwalt der Familie. Der mögliche Käufer meinte es offenbar ernst. »Und wer ist dieser Jemand?«

»Der Name ist Tantris. Ich weiß rein gar nichts über ihn. Klingt ausländisch. Aber bei uns ist das ja auch nicht anders. Keiner von uns hat ihn je gesehen. Er arbeitet über Mittelsleute.«

»Warum will er das Haus unbedingt kaufen?«

»Ist das so wichtig?«

»Vielleicht. Was sagt Dad dazu?«

»Er sagt: ›Mit mir nicht.‹«

»Das war's dann wohl.«

»Nicht, wenn wir ihn überreden. Als einheitliche Front auftreten.«

»Darum bin ich also hier.«

»Nicht nur.« Irene sah ihm vorwurfsvoll in die Augen, ah enttäusche sie die Unterstellung, dass es sonst keine Gründe für seinen Besuch geben könnte. »Ich habe mir gedacht, dass du ein Recht hast, es zu erfahren. Schließlich würdest du, wie alle anderen, davon profitieren. Es sei denn natürlich, wir werfen das Geld Tantris vor die Füße.«

»Wenn jemand das tun würde, dann Dad. Der Gewinn ist sowieso äußerst fraglich. Im Gorton Lodge würde es dann eben nur eine Weile länger dauern, bis das Geld aufgebraucht wäre. Soweit ich das beurteilen ...«

»Die Kosten wird Mr. Tantris tragen.«

Zum zweiten Mal an diesem Abend starrte Nick seine Schwester entgeistert an. »Was?«

»Mr. Tantris wird zahlen. Irgendsoein Treuhandfonds. Rechtlich absolut wasserdicht, sagt Baskcomb.«

»Warum sollte der Mann dazu bereit sein?«

»Um das Geschäft zu besiegeln.«

»Aber ...«

»Und natürlich, um unsere Einwände zu entkräften. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein Köder ist. Über seine Motive habe ich nicht die geringsten Illusionen.«

»Aber was hat er für Motive? Warum will er Trennor so dringend haben?«

Irene zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, ist das wirklich so wichtig?«

Ihr ständiges Ausweichen machte Nick stutzig. Er beugte sich über die Tischplatte. »Du weißt Bescheid, Irene.«

Sie verbrachte mehrere Sekunden damit, ihre Zigarette auszudrücken, dann sagte sie: »Ja. Wir alle wissen Bescheid.«

»Außer mir.«

»Stimmt.«

»Und?« Er bemühte sich erst gar nicht, seine Verärgerung darüber zu verbergen, dass er nachfragen musste.

»Es ist ... ungewöhnlich.«

»Jede Wette.«

»Sogar überraschend.«

»Dann überrasch mich.«

»Eigentlich ...« Sie lächelte ihn begütigend an. »Ich möchte das jemandem überlassen, der dazu besser in der Lage ist als ich.«

»Ach ja. Und wer könnte das sein?«

»Mr. Tantris' Assistentin, Ms. Hartley, möchte dich kennen lernen und dir die Angelegenheit erklären. Es würde sie freuen, das zu übernehmen, und mir ist es ehrlich gesagt auch lieber. Sie wird in der Lage sein, alle deine Fragen zu beantworten.«

»Es würde sie freuen? Weiß sie etwa über mich Bescheid?«

»Sie weiß von dir. Ich habe ihr klar gemacht, dass deine Meinung mit berücksichtigt werden muss. Und es ist ihr sehr wichtig, dass das geschieht.«

»Wie rücksichtsvoll von ihr.«

»Sarkasmus.« Irenes Lächeln wurde breiter. »Das ist ein gutes Zeichen.«

»Wofür?«

»Dass du dich wieder der menschlichen Gesellschaft anschließt.« Sie sah ihn mit der Zärtlichkeit einer älteren Schwester an, die er weder erwidern noch zurückweisen konnte. »Da gehörst du schließlich hin.«

»Für wann hast du mein Treffen mit dieser Ms. Hartley arrangiert?« Er klammerte sich an die Formalitäten.

»Für morgen Mittag.«

»Hier?«

»Nein. St. Neot. In der Dorfkirche.«

»St. Neot?«

»Das liegt auf halbem Weg zwischen Liskeard und Bodmin.«

»Ich weiß, wo das ist, verdammt noch mal. Was ich nicht weiß, ist, warum ich den ganzen Weg dorthin fahren soll, nur um diese Frau zu treffen.«

»Stimmt. Aber du wirst es erfahren, sobald du dort bist.«

»Was soll das schon wieder heißen?«

»Es heißt, dass Ms. Hartley dir alles erklären wird.« Irene leerte ihr Glas. »Und darum kann ich jetzt ins Bett gehen. Gute Nacht.«

Kapitel 2

Irene etwas entlocken zu wollen, wenn sie fest entschlossen war, es für sich zu behalten, war vergeudete Energie, wie Nick nur allzu gut aus früherer, ja, lebenslanger Erfahrung wusste. Insofern bedeutete es ihm beim Aufwachen am nächsten Morgen eine gewisse Genugtuung, dass er es gar nicht erst versucht hatte. Wenigstens diesen Fehler hatte er vermieden. Einen anderen hatte er dagegen begangen, und für den musste er jetzt büßen. Er hatte mehr, viel mehr getrunken, als er gewöhnt war. Insbesondere den zweiten Glenmorangie, den er noch runtergekippt hatte, nachdem Irene ins Bett gegangen war, bereute er bei jeder Kopfbewegung.

Sein gewohnheitsmäßiger Samstagmorgenlauf war darum mehr eine Qual als eine Wohltat. Aber immerhin meinte es das Wetter gut mit ihm– es war ein grauer, windstiller, frostiger Tag. Er trabte in südlicher Richtung vorbei an der Saltash School und zurück auf dem Fußweg neben den Bahngleisen. Danach ruhte er sich am Flussufer aus und sah zu, wie Schwäne, Möwen und ein Schwarm Gänse mit eleganten Bewegungen vor der Skyline von Plymouth entlangflogen. Die Kopfschmerzen waren nicht besser geworden, eher schlimmer. Aber wenigstens hatte er einigermaßen dafür gebüßt, dass er sie sich selbst zugefügt hatte.

Der Geruch von Speck wehte ihm entgegen, als er sich dem Old Ferry Inn näherte, und zu seiner eigenen Überraschung fand er ihn ausgesprochen verlockend. Scharf angebratener Speck und Rührei stellten sich schnell als Irenes Patentrezept gegen Kater heraus. Und, was noch erstaunlicher war, es half tatsächlich. Nachdem er seine Cholesterin- und Koffeinwerte auf Vordermann gebracht und ausgiebig gebadet hatte, fühlte er sich viel eher als der halbwegs gesunde und mehr oder weniger klar denkende Zeitgenosse, der er eigentlich war.

Um elf Uhr war er unterwegs – eine Stunde von einer mehr als überfälligen Erklärung entfernt.

Nick konnte sich nicht erinnern, St. Neot je besucht zu haben. Es war eines von mehreren Dörfern am südlichen Rand des Bodmin Moor. Es konnte gut sein, dass er hier als Kind oder Heranwachsender bei Familienausflügen herumgewandert war. Hatte es dort vielleicht eine Eisdiele gegeben? Er vermochte es nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Auch stiegen keine Erinnerungen in ihm auf, als er das bewaldete Loveny-Tal hinter sich ließ und nach einer weit geschwungenen Kurve in den Ort hineinfuhr. Jedenfalls bot das Dorf am Fuß der sanften Hügel des Heidelandes mit seinen Häuschen, aus deren Kaminen sich der Rauch träge dem Himmel entgegenkringelte, einen wirklich malerischen Anblick.

Die Kirche stand auf der höchsten Erhebung, eine gedrungene, doch durchaus elegante Hinterlassenschaft aus verwittertem Granit ihrer seit Jahrhunderten toten Erbauer. Nick hielt vor der Friedhofsmauer, wo sich die Kirchenbesucher den Parkplatz mit den Gästen des kaum weniger ehrwürdigen London Inn teilten. Das Pub schien offen zu sein, auch wenn von Gästen so früh am Tag noch nichts zu sehen war. Laut der Kirchturmuhr war es zehn vor zwölf. Er war zu früh dran.

Aber nicht nur er. Neben seinem Wagen stand ein roter Peugeot, und als er ausstieg, tat es ihm die Fahrerin des anderen Wagens gleich.

Es war eine kleine, schlanke Frau in Jeans, Pullover und Lammlederjacke. Ihr blasses, ernstes Gesicht wurde umrahmt von dunklem lockigem Haar. Durch eine Brille mit Goldrahmen musterten ihn wache haselnussbraune Augen. »Mr. Paleologus?«, fragte sie mit einem kaum hörbaren nordenglischen Akzent.

»Ja. Ms. Heartley?«

»Genau.« Sie begrüßten sich. Elspeth Hartley hatte einen erstaunlich festen Händedruck. Alles in allem entsprach sie nicht Nicks Vorstellung von einer persönlichen Assistentin – wenn sie das denn war – eines Millionärs, sofern Tantris denn einer war. »Schön, dass Sie es geschafft haben.«

»Meine Schwester hat mir diesbezüglich keine große Wahl gelassen.«

Sie zog die Augenbrauen leicht hoch. »Wie viel wissen Sie?«

»Ich weiß, dass Ihr Boss Trennor kaufen will. Buchstäblich um jeden Preis. Und ich glaube, dass Sie mir sagen wollen, warum.«

»Eigentlich ist er gar nicht mein Boss. Eher so etwas wie ein Mäzen.«

»Dann sind Sie nicht seine Assistentin?«

»Ich bin Kunsthistorikerin. Mr. Tantris unterstützt meine Forschungen an der Universität von Bristol. Aber in einer Hinsicht haben Sie Recht. Ich bin anscheinend tatsächlich in die Rolle seiner Assistentin geschlüpft. So ungefähr jedenfalls. Die richtige Assistentin ist zu sehr mit der Hochfinanz beschäftigt, um sich hierher zu bemühen.«

»Von wo?«

»London. New York. Zürich.« Sie lächelte, womit sie Nick auf der Stelle davon überzeugte, dass das zu den Dingen gehörte, die sie so oft wie nur möglich tun sollte. »Das wechselt ständig.«

»Und Mr. Tantris? Wo hält er sich auf?«

»Monaco. Zumindest wurde mir das so gesagt. Persönlich habe ich ihn nie gesehen. Ich bin ihm nur dankbar, dass er meine Arbeit finanziert. Und die hat mich in einige unerwartete Richtungen geführt. Ich hätte mir, zum Beispiel, nie träumen lassen, im Rahmen meiner Forschungen je Nachkommen der Kaiser von Byzanz über den Weg zu laufen.«

»Unser Stammbaum dürfte einer gründlichen Überprüfung nicht lange standhalten.«

»Da hat Ihr Vater aber etwas ganz anderes gesagt – kurz bevor er mir die Tür gewiesen hat.«

»Na ja, es ist schließlich seine Tür.«

»Ich weiß. Aber es ist ja nicht so, als ob Mr. Tantris Trennor abreißen und auf dem Grundstück ein zwölfstöckiges Bürohaus bauen wollte.«

»Nein?«

»Na gut.« Sie lächelte erneut. »Dann fange ich wohl besser am Anfang an, was meinen Sie?«

»Klingt gut.«

»Kommen Sie mit in die Kirche. Dann verstehen Sie es.«

Nick folgte ihr bereitwillig durch das Friedhofstor zum Südportal, in dessen Nähe zwischen Grabsteinen mehrere verwitterte keltische Kreuze standen.

»Antike Sicherheitsvorkehrungen gegen den Teufel«, kommentierte Elspeth Hartley, als sie merkte, wohin sein Blick gewandert war. »Ein gutes Stück älter als diese Kirche, die im fünfzehnten Jahrhundert ein pränormannisches Bauwerk ersetzt hat. Gehen wir weiter.«

Sie erklomm die Stufen zum Portal, hob den Riegel an und führte Nick ins Innere der Kirche.

Nick blieb stehen und sah sich um. Das Hauptschiff und die Seitengänge waren ausgewogen proportioniert, aber was ihm als Erstes auffiel, waren die ebenso zart wie intensiv leuchtenden Buntglasfenster, die das graue Tageslicht, das er soeben hinter sich gelassen hatte, irgendwie zu beleben schienen.

»Ich sehe schon, dass Sie es bemerkt haben«, sagte Elspeth.

»Hübsche Fenster.«

»Mehr als hübsch, denke ich. Erhaben. Historische Kostbarkeiten. Solche Glasarbeiten in Gemeindekirchen aus der Zeit vor der Reformation sind absolute Raritäten. Das hier wird hinsichtlich Qualität und Vollständigkeit nur noch von der Kirche in Fairford, Gloucestershire, übertroffen.«

»Warum so selten?«

»Daran ist vor allem die Bilderstürmerei in der Zeit des Bürgerkriegs schuld. Wo immer Oliver Cromwells Truppen durchmarschierten, begleitete sie das Klirren von Glas.«

»Warum hat dann diese Kirche überlebt? War sie vielleicht zu abgelegen?«

»Wohl kaum. In Cornwall sind genauso viele Kirchenfenster und Statuen zerschlagen worden wie im übrigen Land. Wenn die Puritaner etwas waren, dann gründlich. Nein, nein, St. Neot hat dank inständigen Bittens und sorgfältiger Planung überlebt. Aber ich greife voraus. Schauen Sie sich doch als Erstes das Glas an. Ich meine, schauen Sie richtig hin.«

Sie führte Nick den südlichen Gang hinunter zum Lettner, einer halbhohen Wand, die von einer Tür durchbrochen wurde und den Chor- vom Gemeinderaum trennte, und trat durch diese Pforte in den Chor. Dieser war in blaues, rotes und goldenes Licht gebadet, das durch zwei Eckfenster hereinflutete.

»Das Schöpfungs- und das Noahfenster; sie stammen aus den Neunzigerjahren des fünfzehnten Jahrhunderts und sind im Wesentlichen erhalten. Exquisit. Ich denke, Sie werden mir darin zustimmen.«

»Absolut.« Nick war kein Experte, aber er konnte beurteilen, wann etwas ein vorzüglich gefertigtes Kunstwerk war. Darüber hinaus erkannte er auf den bunt bemalten Scheiben die Schöpfungsgeschichte: hier Gott, wie er mit einem Zirkel die Welt plante, dort die heimtückische grüne Schlange, die sich um den Baum der Erkenntnis wand. Die letzte Scheibe schließlich, die eindeutig dazu diente, den Übergang zum nächsten Bild herzustellen, zeigte Gott, wie er Noah befahl, die Arche zu bauen. Und als Nick den Kopf wandte, stand die Arche bereits unter einem goldenen Bogen mitten in einem Meer aus Licht.

»Es sieht so aus, als hätten sie die Absicht gehabt, Fenster für Fenster die ganze Geschichte des Alten Testaments zu erzählen. Dann ist ihnen aber vermutlich das Geld ausgegangen, denn wenn wir den Gang weiter hinuntergehen, stoßen wir nur noch auf örtliche Würdenträger und ihre Hausheiligen. Man kann das auch Mäzenatentum nennen. Nur dass es sich um Mäzenatentum für Kunstwerke höchsten Ranges handelt.«

Die fünf Fenster zwischen Noah und dem Südportal stellten tatsächlich Heilige mit Glorienschein und fromme Familien dar, die kniend beteten. Nick schritt den Gang langsam entlang, Elspeth an seiner Seite.

»Und nach den örtlichen Würdenträgern kamen die einfachen Gemeindemitglieder. Die Fenster im nördlichen Schiff wurden durch Spenden bestimmter Gruppen finanziert: Ehefrauen, junge Frauen, junge Männer. Das Fenster der jungen Männer, das das Leben des Heiligen Neot darstellt, ist besonders gelungen.«

Nick bewunderte diese bescheideneren, aber nicht minder herrlichen Kompositionen. Langsam ging er das Schiff hinunter, bis er wieder den Lettner erreichte. Dort blieb er stehen und ließ das Ostfenster auf sich wirken. »Das Letzte Abendmahl?«, murmelte er.

»Richtig.«

»Aber ... irgendwie unterscheidet es sich von den anderen.«

»Sie werden langsam richtig gut.« Elspeth lächelte. »Das ist ein Fenster aus den Zwanzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts. Damals wurde hier viel gereinigt und restauriert. Die Maßwerke, das sind Ornamente in den Spitzbögen, die die Fenster stabilisieren, wurden teilweise entfernt oder ersetzt, dazu wurden mehrere neue Fenster eingebaut. So was bedeutet einigen Aufwand.«

»Das glaube ich gern.«

»Aber wie dem auch sei, merkwürdig ist, dass hier etwas fehlt.«

»Wirklich?«

»Es handelt sich doch um eine Kirche. Diese Fenster sind darum nicht nur objets d'art. Es sind Lehren auf Glas. Die Schöpfung. Der Sündenfall. Die Sintflut. Da würde man doch nach allgemeinem Verständnis zumindest die Erwähnung des Jüngsten Gerichts erwarten.«

»Gibt es denn keinen Hinweis darauf?«

»Nicht in diesem Gebäude. Aber das können Sie mir getrost glauben: Ein Fenster mit dem Motiv des Jüngsten Gerichts war de rigueur.«

»Warum fehlt es dann?«

»Ach, es gab mal eines. Das wissen wir von dem damaligen Kirchenvorsteher. Apropos, der gegenwärtige Gemeindedirektor hat mir seinen Schlüssel für den Turm geliehen. Hier entlang.«

Sie ging weiter zum Turm und sperrte die Tür auf. Nick folgte ihr bis in die Glockenstube. Dort waren die Seile auf beiden Seiten säuberlich an den Wänden befestigt, was einen freien Blick durch das Westfenster ins Innere der Kirche erlaubte. Zu seiner Enttäuschung sah Nick nichts als beleuchtete Heilige. Der Jüngste Tag schien – zumindest auf Glas – noch nicht angebrochen zu sein.

»Wir glauben, dass das die Stelle ist, wo das Jüngste-Gericht-Fenster ursprünglich hing. Na ja, ich glaube es. Die Bilderstürmerei fand hier in zwei Wellen statt: Die erste kam in der Mitte der Vierzigerjahre des siebzehnten Jahrhunderts und die zweite ein halbes Jahrzehnt später. In der zweiten geriet St. Neot in höchste Bedrängnis, vor allem im Frühling 1651. In der ganzen Umgebung zogen Horden von Vandalen durch die Kirchen, nur die hier ließen sie aus.«

»Warum wurde St. Neot verschont?«

»Das lag an den Kirchenvorstehern. Der Pfarrer war damals bereits aus dem Amt vertrieben worden. In ihrer Not wandten sich die Kirchenvorsteher an die Familie Rous, die wenige Meilen nördlich von Landulph auf Halton Barton am Ufer des Tamar lebte. Ein Mitglied der Familie, Anthony Rous, war Colonel bei den parlamentarischen Truppen und Regierungskommissar für die Grafschaft, aber es gab anscheinend auch andere, die weiterhin auf der Seite der traditionellen Kirche standen und nichts mit dem Puritanismus am Hut hatten. Verwandte von ihnen, die Nicholls, hatten übrigens diese Fenster gespendet. Kurz, man ließ seine Verbindungen spielen. Die Fenster wurden übertüncht, damit niemand daran Anstoß nehmen konnte, aber das bedeutet auch, dass sie für die Nachwelt erhalten geblieben sind.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Ms. Hartley? Sie haben soeben Landulph erwähnt.«

»Stimmt. Wie weit weg ist das von hier? Zwanzig Meilen? 1646 war das hin und zurück ein weiter, aber durchaus zu bewältigender Tagesritt.«

»1646? Ich dachte, Sie ...«

»Ein Brief eines der damaligen Kirchenvorsteher, Richard Bawden, ist kürzlich aufgetaucht. Darin bezieht sich Bawden auf Ereignisse, die vor der Krise im Jahr 1651 stattgefunden hatten. ›Unser schönstes Fenster‹, schreibt er, ›ist vor sechs Jahren gerettet worden. Wir konnten es nicht ungeschützt hängen lassen, solange Cornwall in den Händen der Parlamentarier war. Es wurde versiegelt der Obhut unseres wackeren Freundes, Mister Mandrell, anheim gegeben und ist, das versichere ich Ihnen, dort immer noch wohl behütet.‹ Dieser Brief wurde 1662 geschrieben, zwei Jahre nach der Restauration. ›Immer noch wohl behütet.‹ Interessant, finden Sie nicht auch?«

»Warum wurde es nicht zurückgebracht und wieder eingesetzt?«

»Gute Frage. Auf die ich eine Antwort habe, glaube ich. Die Rous-Spur hat mich darauf gebracht, in der Gegend um Halton Barton Forschungen über Mandrell anzustellen. Die Lowers aus dem nahe gelegenen Clifton waren Anhänger des Königtums und eindeutig Mitglieder der High Church. Ihre Freundschaft mit Ihrem Urahn lässt auf tiefste Abneigung gegenüber dem Puritanismus schließen. Wie Sie vermutlich wissen, ist ein Sohn von Theodore Paleologus bei Naseby im Kampf für den König gefallen. Nun hat sich ein Nachbar der Lowers als ein gewisser Thomas Mandrell herausgestellt, der mit einer Rous verheiratet war. Ich denke, dass das Fenster in seinem Haus verborgen wurde. Aber er ist 1657 gestorben, und sein Anwesen wurde Sir Gregory Norton, dem von den Parlamentariern eingesetzten Eigentümer des Guts Landulph, überschrieben. Auch nach der Restauration lebte ein Mitglied der Familie Norton weiterhin auf Mandrells Anwesen. Bawden schreibt, das Fenster sei versiegelt worden. Meiner Ansicht nach will er damit sagen, dass es irgendwie eingemauert wurde. Wenn der neue Bewohner im Grunde seines Herzens Anhänger der Parlamentarier geblieben war, dann war es wohl das Klügste, ihn nicht darauf aufmerksam zu machen, dass zwischen seinen vier Wänden ein Schatz der Königstreuen ruhte.«

»Und wo waren diese vier Wände?«

»Können Sie es sich nicht denken?«

Mit einem verlegenen Grinsen stellte sich Nick dem Offensichtlichen. »Trennor?«

Sie nickte. »Erraten.«

Sie verließen die Kirche und gingen hinüber ins Pub, wo Elspeth zu Nicks Erstaunen Bier und Sandwiches bestellte. Weil er dank Irenes reichhaltigem Frühstück kein Mittagessen brauchte, begnügte er sich mit Mineralwasser. Sie setzten sich an einen Tisch vor dem Kaminfeuer, und ihr Gespräch kehrte zu dem lange verschollenen und vielleicht bald wieder gefundenen Jüngste-Gericht-Fenster von St. Neot zurück.

»Ist das wirklich dein Ernst, dass es bei dem Ganzen nur um ein historisches Buntglasfenster geht?«

»Richtig, Nick.« Zwischen Kirche und Pub hatten sie sich auf das Du geeinigt. »Es ist Mr. Tantris' glühende Leidenschaft, habe ich mir sagen lassen.«

»Ist er schon mal hier unten gewesen?«

»Anscheinend. Aber er ist so was wie ein Einsiedler. Es dürfte ein diskreter und kurzer Besuch gewesen sein.«

»Und er will Trennor auf die vage Möglichkeit hin kaufen, dass sich dort hinter einer Wand oder unter den Bodendielen ein Fenster findet?«

»Das ist eigentlich recht wahrscheinlich. Bawdens Brief lässt kaum einen Zweifel zu.«

»Außer dass Trennor ziemlich groß ist und die Leute, die wussten, wo das Fenster verborgen wurde, seit über dreihundert Jahren unter der Erde liegen.«

»Genau. Darum braucht er unbedingt freie Hand. Womöglich müssen wir mehrere Wände einreißen. Vergiss nicht, dass das Fenster unter Umständen zerlegt wurde, ehe man es nach Landulph brachte. Das bedeutet dreißig oder noch mehr einzelne Glasscheiben. Die musste man für den Transport einwickeln, in eine Holzkiste legen und diese dann versiegeln ... Mir ist gesagt worden, dass dein Großvater das ursprüngliche Gebäude erweitert hat. Das heißt, wir sprechen über Mauern irgendwo im Inneren. Mir sind sie alle massiv genug vorgekommen, um sich für so was zu eignen. Soweit ich das beurteilen konnte, denn es wurde ja nicht gerade eine persönliche Führung für mich veranstaltet.«

»Dad war ein bisschen kurz angebunden, hm?«

»Das war wohl sein gutes Recht, wenn man bedenkt, was ich mit seinem Zuhause vorhabe.«

»Freut mich, dass du dafür Verständnis hast.«

»Das ist auch der Grund, warum Mr. Tantris sich so großzügig zeigen will.«

»Kann er sich das denn leisten?«

»Ja. Ein reicher Mann, der seinen Launen nachgibt. Das kannst du ihm verübeln, wenn du willst. Aber denk daran, dass Bowden von ihrem herrlichsten Fenster gesprochen hat. Also noch schöner als die Schöpfungs- oder die Noah-Geschichte, Und ich denke, du wirst mir darin zustimmen, dass die bereits außerordentlich schön sind. Kann gut sein, dass es sogar das älteste Fenster der Kirche überhaupt ist, weil der Turm ja älter als alles andere ist. Dieses Fenster könnte bis zu hundert Jahre vor den übrigen Teilen gefertigt worden sein. Wenn nicht sogar noch früher, falls es zur Vorgängerkirche gehörte. Das wäre ein sensationeller Fund – sowohl in historischer als auch in künstlerischer Hinsicht.«

»Ein schöner Karrieresprung, könnte ich mir vorstellen.«

»Unbedingt. Ich leugne es nicht. Für mich ist das eine Riesenchance. Aber auch für dich und deine Familie ist es nicht schlecht.«

»Wegen des Geldes?«

»Äh ... ja.« Sie grinste. »Wir alle brauchen doch was, oder? Mehr oder weniger. Und nach allem, was deine Schwester mir erzählt hat, sieht es nicht so aus, als würdet ihr Trennor nach dem Tod deines Vaters unbedingt behalten wollen.«

»Wahrscheinlich nicht, nein.«

»Dann ist es doch sinnvoll, Mr. Tantris' Angebot anzunehmen.«

»Vielleicht, ja. Aber mein Vater verweigert offenbar seine Zustimmung. Und er ist derjenige, auf den es ankommt.«

»Bitte tu dein Bestes, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen, Nick.« Elspeths Miene wirkte auf einmal so, als könne er nicht nur sich, sondern auch ihr einen großen Gefallen tun. »Vorausgesetzt natürlich, du findest, dass er es sich anders überlegen sollte. Tust du das?«

»Ja.« Mit einem bedächtigen Nicken schloss er sich Elspeths Auffassung an. Wozu ihn ihre Argumentation und mindestens zu gleichen Teilen ihre Begeisterung für das Projekt bewogen hatten. Wie sie sagte: Es schien wirklich kein vernünftiger Grund dagegen zu sprechen, die Sache durchzuziehen.

Elspeth erklärte Nick, dass sie noch eine Woche in Cornwall bleiben und ihre Recherchen überprüfen wollte. Irene hatte ihre Handynummer, und Elspeth hoffte, noch vor ihrer Rückkehr nach Bristol eine gute Nachricht zu bekommen. Unter guter Nachricht verstand sie natürlich, dass Nicks Vater durch die handfesten Argumente seiner Kinder zur Aufgabe seines Widerstands überredet wurde.

Für jemanden, der mit Michael Paleologus' Charakter nicht vertraut war, schien das zweifellos das wahrscheinlichste Ergebnis. Nick sah das freilich weniger optimistisch. Sein Vater war dickköpfig, und Aufgeschlossenheit gegenüber vernünftigen Gründen war noch nie seine Stärke gewesen, vor allem dann nicht, wenn eines seiner Kinder ihm diese unterbreitete. Bei dem aktuellen Problem würden sie allerdings als einheitliche Front auftreten, was ungewöhnlich, wenn auch nicht völlig neu war. Und nicht einmal ihr alter Herr konnte leugnen, dass er alt war. Und allein. Und knapp bei Kasse. Und zudem gebrechlich, laut Irene.

Aber gerade bei diesem Punkt konnten sie Gift darauf nehmen, dass er alles abstreiten würde. Er würde behaupten, sie hielten nur deshalb seine Übersiedlung in ein Altersheim für notwendig, weil sie sich davon Vorteile versprächen. Und hätten sie ihn erst einmal ins Gorton Lodge abgeschoben, würde er sie nichts kosten. Im Gegenteil, Tantris' Geld würde auf der Bank liegen und ihnen bis zu dem Tag, an dem sie erbten, Zinsen bescheren. Ja, Nick konnte sich gut vorstellen, dass er ihnen genau das entgegenhalten würde.

Von der Kirche fuhr Nick zunächst ins Moor hinaus. Er stellte seinen Wagen an der Südspitze des Colliford-Stausees ab und marschierte los, immer geradeaus am Ostufer entlang, und ließ sich die Situation noch einmal durch den Kopf gehen. Die Stille war fast hörbar.

Die Reaktion seines Vaters auf Tantris' Angebot gab ihm Rätsel auf. Normalerweise hätte er auf die sofortige Suche nach dem Fenster gedrängt. Schließlich war er Archäologe, dessen Credo es war, dass die Vergangenheit ausgegraben werden konnte, ja, musste. Und wie Elspeth gesagt hatte, war das eine aufregende Sache. Die Art von Dingen, die Michael Paleologus' Berufsleben ausmachten. Wenn er einwilligte, setzte man ihn womöglich als Berater ein, und am Ende sprang vielleicht ein Buch dabei heraus. Oder ein Dokumentarfilm. Sah er das denn nicht? Verkannte er das Potenzial?

Anders konnte es gar nicht sein. Gebrechlich oder nicht, dumm war sein Vater auf keinen Fall. Hätte er selbst diese Idee gehabt, hätte er sich von niemandem bremsen lassen. Seine Halsstarrigkeit beruhte schlicht auf Neid. Er hatte eine Massage seines Ego nötig, so wie sein Bankkonto eine Finanzspritze. Irene versuchte, ihn zu drängen, doch er ließ sich nicht gern unter Druck setzen. Und Nick ebenso wenig.

Irene hatte ihn herbestellt, um ihn nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Und nichts anderes tat er jetzt. Er würde sich bei der ganzen Angelegenheit viel wohler fühlen, wenn er wenigstens ein paar Takte der Musik umschreiben konnte.

Während er auf den Stausee hinausschaute, kam ihm plötzlich eine Idee, wie sich das bewerkstelligen ließe. Lächelnd trat er den Rückweg zum Wagen an.

Quer über die Heide waren es nur zwei Meilen zur Carwether Farm, einer sich hinter eine Granitmauer duckenden Ansammlung grauer Gebäude mit Schieferdach, die südlich des Dorfes Temple im hintersten Bedalder Valley lag. Nick hätte selbst dann gezögert, dorthin zu fahren, wenn Irene nicht vorgehabt hätte, ihn dem ältesten Bruder als Geburtstagsüberraschung zu präsentieren. Nicks Verhältnis zu Andrew war schon immer gespannt gewesen. Von der Persönlichkeit her waren sie einander ähnlicher, als sie bereit waren sich einzugestehen, auch wenn das bei jedem einen ganz eigenen Ausdruck fand. Andrew hing an seiner Scholle mitsamt den Steinen und dem dummen Vieh, wohingegen Nick eher ein Kopfmensch war, der in Problemen etwas sah, dessen man sich durch Denken, nicht durch mühselige Arbeit entledigte. Gemeinsam war ihnen eine gewisse Unbeholfenheit im zwischenmenschlichen Bereich, und obwohl sie Brüder waren, konnte man kaum von einer engen Bindung sprechen.

Über all die bestehenden Schwierigkeiten hinaus tauschte Nick mit seinem Besuch auf Carwether den Vorteil des Überraschungsmoments gegen einen weit größeren Nachteil ein: Sie würden sich dort treffen, wo Andrew sich zu Hause fühlen und er, Nick, sich wie ein Störenfried vorkommen würde.

Der Hund bemerkte ihn als Erster. Als er im Schritttempo auf dem mit Schlaglöchern übersäten Feldweg durch das offene Tor holperte, tauchte das Tier mit angelegten Ohren hinter einer Scheune auf und begann wütend zu kläffen. Nick hielt an, und während er den Motor abstellte, blickte er hoffnungsvoll zum Hauptgebäude hinüber. Er wäre erleichtert gewesen, hätte Andrew sich jetzt genähert und das Tier zurückgepfiffen, bevor Nick ausstieg und am eigenen Leib erfuhr, ob bellende Hunde vielleicht doch beißen. Er drückte versuchsweise auf die Hupe, was den Hund nur noch mehr zu reizen schien, etwas, woran Nick absolut nicht gelegen war.

Dann hörte er zu seiner großen Erleichterung Andrews Stimme. »Ruhig, Skip.« Skip war sofort still. Nicks Blick schweifte vom Haus zu einem Wellblechschuppen hinüber, von wo der Ruf gekommen war. Dort stand Andrew hinter einem Landrover, in einem mit Öl und Lehm verschmutzten Overall. Langsam kam er um das rostige Heck herum und wischte sich im Gehen die Hände an einem Lumpen ab.

Sein Haar war seit ihrer letzten Begegnung um einiges grauer, sein Gesicht hagerer geworden. Und er, der einmal die Figur eines Modellathleten gehabt hatte, verriet erste Anzeichen eines gebeugten Rückens. Andrew Paleologus feierte morgen seinen fünfzigsten Geburtstag, doch man hätte ihn für Jahre älter halten können. Das Ergrauen machte bei seinem Haar nicht Halt, sondern ging vermutlich viel tiefer. Er sah aus wie ein Mann, der lange für etwas gekämpft hatte, von dem er jetzt wusste, dass er es nie erreichen würde.

Nick stieg aus. Skip knurrte, blieb aber stehen. Die zwei Brüder musterten einander ernst aus der Entfernung. Es sah schon ganz danach aus, als würde keiner etwas sagen, als Andrew das Schweigen brach. »Hallo, Nick.«

»Hallo, Andrew.«

»Was dich zu mir führt, weiß ich ja bereits.«

»Ich habe mir gedacht, dass mein Besuch dich vielleicht überrascht.«

»Wohl kaum.«

»Irene hat mich zu deinem Geburtstag eingeladen.«

»Freut mich, dass ich ihr eine Ausrede verschaffen konnte.«

»Das ist doch nicht der einzige Grund.«

»Aber der wichtigste, würde ich sagen.« Andrew trat näher. »Willst du einen Tee?«

»Kaffee wäre nett.«

»Hab keinen.«

»Dann eben Tee. Auch gut.«

»Komm rein. Du wirst mich nehmen müssen, wie ich bin.«

Er war so, wie Nick erwartet, aber nicht unbedingt erhofft hatte. Carwether war ein solide gebautes, mittelgroßes Farmhaus mit Platz für eine ganze Familie. Was ihm zu einer anheimelnden Atmosphäre fehlte, waren ein prasselndes Feuer und herumtollende Kinder. Stattdessen war es kalt und still wie in einem Mausoleum, und nur das Echo ihrer Schritte war in den karg möblierten Räumen zu hören. Die zwei Brüder gingen in die Küche, wo ein Herd eine Ahnung von Wärme verbreitete. Während Andrew das Teewasser aufsetzte, warf Nick einen Blick auf den neben der Tür aufgehängten Kalender einer Lebensmittelhandlung. An keinem einzigen Tag war etwas eingetragen worden.

»Als Irene mir gesagt hat, dass sie für mich ein Geburtstagsessen auf Trennor kochen will, war mir klar, dass das bloß ein Vorwand für einen Familienrat ist«, sagte Andrew und füllte die Teekanne. »Und da lag es dann auf der Hand, dass du dabei bist. So was ohne dich zu veranstalten, das hätte sie nie gekonnt. Die Frage war bloß, ob du tatsächlich kommst.«

»Tja, jetzt bin ich da.« Nick setzte sich an den Tisch. Vor ihm aufgeschlagen lag die Western Morning News. Nick faltete sie zusammen und entdeckte darunter eine ausgebreitete Generalstabskarte von Bodmin Moor. Jemand – vermutlich Andrew – hatte scheinbar aufs Geratewohl verschiedene Stellen mit hellroten Kreuzchen markiert. Ein gutes halbes Dutzend dieser Kreuze war rund um Blisland am westlichen Rand der Hügel konzentriert, der Rest war wesentlich weiter gestreut. »Sag bloß, du heckst was aus.«

Andrew fuhr herum. »Was soll das heißen?«, knurrte er.

»Diese Kreuzchen.« Nick lächelte ihn beschwichtigend an. »Auf der Karte.«

»Ach, die.« Andrew zog die Nase hoch. Dann nahm er zwei Tassen aus dem Küchenschrank und knallte sie neben der Zeitung auf den Tisch. »Stimmt. Das kann man wohl sagen, dass ich was vorhabe. Das sind die Ergebnisse von Beobachtungen innerhalb eines ganzen Jahres.«

»Was für Beobachtungen?«

»Große Katzen.«

»Willst du etwa in so was einsteigen?«

»Sie treiben sich dort rum. Wenn du gesehen hättest, was sie einem meiner Lämmer angetan haben, hättest du keine Zweifel.«

»Ich dachte, das wären nichts als ... Bauernlegenden.« Dieselbe Skepsis hätte Nick eigentlich von seinem Bruder erwartet, der sonst immer ein Rationalist in Reinkultur war.

»Ich habe gesehen, was ich gesehen habe.«

»Du hast eine gesehen?«

»Mehr als eine. Oder dieselbe zweimal. Erst neulich. Und zwar hier.« Er deutete auf eines der Kreuzchen in unmittelbarer Nähe von Carwether. »Eine Art Panter. Groß, muskelbepackt, pechschwarz – auf der anderen Seite eines Ackers. Es war in der Abenddämmerung. Das sind Geschöpfe der Dunkelheit. Sie jagen bei Nacht.«

»In der Dämmerung kann man sich auch mal täuschen – optisch.«

»Du musst mir ja nicht glauben, Nick.« Andrew bedachte seinen Bruder mit einem verächtlichen Lächeln. »Darauf kommt es wirklich nicht an. Ich werde es schon noch beweisen. Die werden alle Augen machen.«

»Wie willst du das anstellen?«

»Infrarotaufnahmen. Bei Dunkelheit gehe ich neuerdings immer mit einer Videokamera mit Nightscope raus, mit der man die Bilder nachträglich verstärken kann. Früher oder später nehme ich eines von diesen Ungeheuern auf.«

»Aber noch hast du nichts.«

»Nein, noch nicht.« Andrew schenkte den Tee ein, dann setzte er sich ans andere Ende des Tischs. »Egal, du bist ja nicht gekommen, um mit mir über große Katzen zu reden. Eher über dicke Fische. Und da haben wir anscheinend ein Prachtexemplar an der Angel.«

»Du meinst Tantris?«

»Dann weißt du Bescheid?«

»Ich komme gerade von der St.-Neot-Kirche. Dort habe ich mich mit Elspeth Hartley getroffen, und sie hat mich aufgeklärt.«

»Beeindruckende Frau, was?«

»Offenbar nicht, wenn es nach Dad geht.«

»Er wird seinen Standpunkt aufgeben müssen.«

»Ich hätte gedacht, er wäre sofort Feuer und Flamme für dieses Projekt. Das ist doch genau sein Spezialgebiet. Verborgener Schatz. Historisches Rätsel. Für jemanden, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, unsere Vergangenheit auszugraben, doch bestimmt unwiderstehlich.«

»Das solltest du ihm sagen, Nick. Vielleicht beschämt es ihn, und er willigt doch noch ein.«

»Vielleicht mache ich das auch.«

»Lass dich von mir nicht stören. Ich will sowieso keinen Aufstand wegen meines Geburtstags. Und wenn du ein bisschen Tamtam um was anderes machst, wäre das ganz praktisch für mich.«

»Du bist also dafür, Andrew, richtig? Ich meine, Irene hat mir das schon gesagt, aber ...«

»Nachfragen schadet nichts. Klar bin ich dafür.« Andrew lehnte sich zurück und starrte durch das Fenster auf den Hof hinaus. »Was könnte mich daran stören? Die Farm wirft von Jahr zu Jahr weniger ab. Was für einen Sinn hat es noch, sich damit abzuplagen, wenn niemand da ist, dem ich sie mal übergeben könnte?«

»Tom will sie nicht?« So viel Nick wusste, zeigte Andrews Sohn nicht einmal einen Funken Interesse an der Landwirtschaft, doch er fühlte sich verpflichtet zu fragen.

»Keine Ahnung, ob der überhaupt was will. Hab seit Weihnachten nichts mehr von ihm gehört. Und das war auch nur eine Karte mit seinem Namen drauf. Kein Gruß, nichts.«

»Ist er noch in Edinburgh?«

»Der Briefmarke nach zu urteilen – ja. Letzten Sommer ist er mit dem Studium fertig geworden. Ich war nicht mal zur Abschlussfeier eingeladen. Aber Kate ist bestimmt hingegangen. Und dieser Arsch von Mawson.« Seine Bemerkungen über seine Exfrau und ihren zweiten Mann ließen nicht darauf schließen, dass seine Feindseligkeit mit der Zeit nachgelassen hatte. Aber Andrew äußerte sich nicht näher dazu. Wahrscheinlich fraß er seine Verbitterung schon zu lange in sich hinein. »Hör zu, Nick. Wie ich das sehe, können wir das, was Tantris gegenwärtig auf den Tisch gelegt hat, noch mal um die Hälfte steigern, wenn wir nur hart genug pokern. Er wird uns jeden Preis zahlen, den wir verlangen. Da wäre es doch verrückt, auf so ein Geschäft zu verzichten. Selbstverständlich sind wir alle dafür. Irene will doch genauso wenig den Rest ihres Lebens hinter einer Theke stehen, wie Anna Bettschüsseln ausleeren will. Und ich brauche das Geld weiß Gott. Basil auch. Und du hast anscheinend auch nicht vor, auf deinen Anteil zu verzichten. Dad muss einfach klar gemacht werden, wie viel wir dadurch gewinnen können.«

»Und was kann er dadurch gewinnen?«

»Die Gewissheit, dass er sich nicht mehr um uns zu sorgen braucht.« Andrew grinste. »Würdest du nicht auch sagen, dass das ausreicht?«

Als Nick ging, vereinbarten sie, dass keiner etwas von Nicks Besuch sagen würde, wenn sie sich morgen auf Trennor wiedersahen. Tatsächlich wünschte Nick sich insgeheim, er wäre nicht nach Carwether gefahren. Die Leere – das Fehlen von Kate, von Tom, von jeder Hoffnung – war stärker zu spüren gewesen als Andrews Gegenwart. Bauer zu sein war für ihn seit seiner Kindheit Berufung. Das und nichts anderes hatte er werden wollen. Aber jetzt war es vorbei mit seiner Berufung. Vielleicht hatte ihn Tantris' Angebot gezwungen, sich die traurige Wahrheit einzugestehen. Und wenn das stimmte, war nicht auszudenken, was durch eine Zurückweisung der Offerte alles ausgelöst werden konnte.

Nick fuhr auf der A30 ostwärts durch Bodmin Moor nach Callington und bog dann nach Süden in Richtung Saltash ab. Diese Strecke wählte er trotz – oder vielleicht gerade wegen – des Umwegs, den er gerne machen würde. Und tatsächlich konnte er der Verlockung nicht widerstehen.

Bei Painter's Cross bog er in das wohl vertraute Sträßchen ab und fuhr zwischen den hohen Hecken und den von alten Steinmauern eingefassten Feldern zum Tamar, der sich breit und träge der Meeresbucht entgegenwälzte. Nicht weit davon entfernt, auf der anderen Seite dieser stillen Weiden, verbrachte sein Vater die ihm noch verbliebenen Tage. Aber Nick würde ihn nicht besuchen. Jedenfalls nicht, wenn er es vermeiden konnte. Er fuhr nicht nach Hause – falls Trennor das wirklich war, er besuchte lediglich seine Wurzeln.

Als Ortschaft existierte Landulph praktisch gar nicht. Die Kirchengemeinde hatte ihren Mittelpunkt im eine Meile entfernten Cargreen. Nahe der Kirche von Landulph standen am Ende der Nebenstraße, der Nick gefolgt war, ein paar Häuschen. Zwei Farmen befanden sich in Sichtweite. Mehr gab es nicht. Eine halbe Meile weiter lag hinter einem Wäldchen verborgen das Haus Trennor. Von der Kirche schlängelte sich ein Feldweg zum Hochwasserbett des Tamar. Unterwegs streifte der Fluss die alte Pfarrei und einen früheren Sumpf, der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in eine Wiese verwandelt worden war und nun von einem Deich vor Überflutungen geschützt wurde.

Nick war mit der Gegend in einem Maße vertraut, wie man es nur nach ausgedehnten Erkundungsstreifzügen in der Kindheit sein kann. Jedes Feld, jede Farm, jeder Schritt auf dem Uferpfad nach Cargreen und darüber hinaus war ihm noch immer vertraut. Er brauchte dem Weg nicht zu folgen oder auf dem Deich zu stehen, um den Blick über den Warleigh Wood zum anmutigen Bogen der Eisenbahnbrücke über den Tavy schweifen zu lassen. Das alles sah er auch so klar und deutlich vor seinem geistigen Auge.

Die Kirche stammte aus derselben Zeit wie St. Neot, nur war sie vom Baustil her schlichter und weniger ehrgeizig angelegt. Von Buntglasfenstern war nichts bekannt. Abgesehen von einigen kunstvoll geschnitzten Bänken und der für Historiker reizvollen Gedenktafel für Theodore Paleologus wies sie nicht viel Erwähnenswertes auf. Nick fand das Portal wie erwartet verschlossen. So musste er auf eine Besichtigung der Gedenktafel verzichten. Aber ihr Wortlaut hatte sich ohnehin unvergesslich in sein Gedächtnis gegraben: HIER RUHEN DIE GEBEINE VON THEODORE PALEOLOGUS AUS DEM WELSCHEN PESARO, NACHFAHRE DES GESCHLECHTS DER LETZTEN CHRISTLICHEN KAISER VON GRIECHENLAND ... Darüber war der doppelköpfige byzantinische Adler in Messing graviert, das Symbol für die unerreichbare Einheit des westlichen und des östlichen Christentums.

Doch in Landulph prangte der doppelköpfige Adler nicht nur auf Messing. Nick durchquerte den Friedhof bis zu dem Bereich für die Gräber aus dem zwanzigsten Jahrhundert, wo seine Großeltern beerdigt waren. GODFREY ARTHUR PALEOLOGUS, VERSTORBEN AM 4. MÄRZ 1968 IM ALTER VON 81 JAHREN. AN SEINER SEITE RUHT SEINE TREU LIEBENDE GATTIN HILDA, VERSTORBEN AM 26. SEPTEMBER 1979 IM ALTER VON 89 JAHREN. IM TODE VEREINT, VON DEN LEBENDEN VERMISST. Auch hier war der doppelköpfige Adler von Byzanz über der Inschrift in den Stein graviert.

Nicks Mutter war ihrem Wunsch gemäß eingeäschert worden. Er nahm an, dass seinem Vater eine Erdbestattung lieber wäre und bald ein weiterer Paleologus in diesem stillen von Eiben gesäumten Gräberfeld seine letzte Ruhestätte finden würde. Aber danach wäre damit Schluss. Ob sie Tantris' Geld nahmen oder nicht, er und seine Geschwister würden von hier verschwinden. Vielleicht nicht weit weg, aber weit genug. Der Adler war geblieben, sie waren davongeflogen.

Kapitel 3

Irene freute sich natürlich darüber, dass es Elspeth Hartley gelungen war, Nick für Tantris' Vorhaben zu gewinnen. In ihren Augen war damit eine Allianz besiegelt, der ihr Vater doch gewiss nicht würde widerstehen können. Richtig überschwänglich wurde sie, als Nick meinte, dass ihr alter Herr langfristig gar nicht anders könne, als einzuwilligen, wollte er nicht seine Integrität als Forscher verlieren, die ihm schon fast heilig war. So gesehen hatten sie ein unschlagbares Argument auf ihrer Seite.

Ob es ein Argument war, mit dem sie am nächsten Tag auf Trennor gewinnen konnten, war eine andere Frage. Das hing ganz davon ab, wie geschickt sie es vorbrachten. Hervorzuheben, dass ihr Vater nicht mehr in der Lage sei, allein zurechtzukommen, schien Nick eine denkbar ungeschickte Taktik. Doch gerade das war der Ansatz, den Irene bevorzugte, und sie war nicht gewillt, ihn aufzugeben. Es machte ihr seit jeher die größte Freude, ihren Liebsten und Nächsten zu sagen, was gut für sie war, selbst dann noch, wenn sie wusste, dass sie nicht auf sie hören würden. Nick war klar, dass der Tag nicht ohne Spannungen ablaufen würde.

Auf dem Weg zum Abendessen mit Anna und Basil überlegte er, welchen Standpunkt sie in dieser Angelegenheit einnahmen. Laut Irene waren sie auf ihrer Seite. Aber er würde erst dann zuversichtlich sein, wenn er es von ihnen selbst hörte.