Das Haus der dunklen Erinnerung - Robert Goddard - E-Book
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Das Haus der dunklen Erinnerung E-Book

Robert Goddard

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Beschreibung

Ein Schicksal, dem sich keiner entziehen kann: Der düstere Krimi »Das Haus der dunklen Erinnerung« von Robert Goddard jetzt als eBook bei dotbooks. Nach dem tragischen Tod seiner Frau will Tony Sheridan in der Abgeschiedenheit des Landlebens seinen Schmerz verarbeiten. Doch kurz nach Ankunft im Haus seiner Schwägerin wird er von ebenso qualvollen wie erschreckend realistischen Alpträumen geplagt. Von einer exzentrischen Nachbarin erfährt Tony außerdem die Geschichte der vorherigen Bewohner des Hauses, die alle ein düsteres Schicksal ereilt haben soll. Aber der pragmatische Tony glaubt nicht an Schauergeschichten und beginnt selbst Nachforschungen über die Vergangenheit anzustellen: Das Geheimnis, das er dabei aufdeckt, lässt Tony an allem zweifeln, was er über sich und sein Leben zu wissen glaubte … »Robert Goddard ist einer der besten Erzähler unserer Zeit!« Sunday Telegraph Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Krimi »Das Haus der dunklen Erinnerung« von Robert Goddard. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 529

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Über dieses Buch:

Nach dem tragischen Tod seiner Frau will Tony Sheridan in der Abgeschiedenheit des Landlebens seinen Schmerz verarbeiten. Doch kurz nach Ankunft im Haus seiner Schwägerin wird er von ebenso qualvollen wie erschreckend realistischen Alpträumen geplagt. Von einer exzentrischen Nachbarin erfährt Tony außerdem die Geschichte der vorherigen Bewohner des Hauses, die alle ein düsteres Schicksal ereilt haben soll. Aber der pragmatische Tony glaubt nicht an Schauergeschichten und beginnt selbst Nachforschungen über die Vergangenheit anzustellen: Das Geheimnis, das er dabei aufdeckt, lässt Tony an allem zweifeln, was er über sich und sein Leben zu wissen glaubte …

Über den Autor:

Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall.

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane:»Im Netz der Lügen«»Der Preis des Verrats«»Eine tödliche Sünde«»Ein dunkler Schatten«»Denn ewig währt die Schuld«»Das Geheimnis von Trennor Manor«»Und Friede den Toten«»Das Geheimnis der Lady Paxton«

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane:»Die Sünden unserer Väter«»Die Schatten der Toten«»Jäger und Gejagte«»Die Klage der Toten«»Der Kartograf von London«

Robert Goddard veröffentlichte außerdem bei dotbooks seine drei Kriminalromane mit dem Ermittler Harry Barnett:»Dunkles Blut«»Dunkle Sonne«»Dunkle Erinnerung«

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe März 2020

Dieses Buch erschien bereits 2001 unter dem Titel »Das Haus der dunklen Träume« bei Goldmann

Copyright © der englischen Originalausgabe 1999 Robert and Vaunda Goddard

Die englische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Set in Stone« bei Bantam Press, London.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2001 Goldmann

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Patryk Kosender

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-058-1

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Robert Goddard

Das Haus der dunklen Erinnerung

Roman

Aus dem Englischen von Eva L. Wahser

dotbooks.

Prolog

Vielleicht weißt du längst, was ich dir jetzt erzählen werde. Vielleicht ist der Tod, entgegen unserer Vermutung, gar nicht jene fest versiegelte Tür, die für immer ins Schloss fällt. Ich habe in den vergangenen Monaten genug gesehen, um daran zu zweifeln. Sollte es anders sein, dann hast du mich vielleicht schon die ganze Zeit über beobachtet und dir überlegt, wann ich mich umdrehen, dich ansehen und sprechen würde.

Marina, ich kann dich nicht sehen, kann dich nicht hören, aber das ist gar nicht wichtig. Und doch wäre es so wichtig, mehr als alles andere. Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben. Nie hätte ich gedacht, dass ich für einen anderen Menschen so viel empfinden würde wie für dich. Ja, ich habe es nicht einmal gewollt. Denn Abhängigkeit ist gefährlich. Und wer von den Toten abhängig ist, ist auf dem besten Weg, verrückt zu werden. Und doch liebe ich dich noch immer. So einfach ist das und so trostlos. Ich muss nicht deinem Schatten hinterherjagen. Er ist hier an meiner Seite, jeden Augenblick. Ich kann ihn fast spüren, aber eben doch nicht ganz. Immer werde ich dich um Haaresbreite verfehlen. Ich kann dich nicht berühren – nie wieder.

Aber sprechen kann ich mit dir. Und vielleicht kannst du mich sogar hören. Wie gerne würde ich dir trotz allem eine andere Geschichte erzählen. Wie gerne würde ich dir erzählen, dass dein Tod lediglich das einmalige Aufflammen eines sinnlosen Missgeschicks war. Wie gerne würde ich die Ereignisse auslöschen, die er ausgelöst hat, und dich wieder lebendig und zufrieden bei mir haben, um dich zu lieben und geliebt zu werden. Aber beim Wünschen wird es bleiben. Daran wird sich nichts ändern. Es gibt nur eine einzige Geschichte, die ich dir erzählen kann. Hier ist sie:

Kapitel 1

Ich wollte nie aus London weg, das weißt du. Das einfachere unverbildetere Landleben war dein Traum, nicht meiner. Immer hattest du davon gesprochen, und damit du glücklich bliebst, hatte ich dieser Idee nichts entgegengesetzt, während ich insgeheim zur Gegenwehr eine ordentliche Portion praktischer Einwände aufhäufte. Dann zogen Matt und Lucy nach Leicestershire um, und jeder Wochenendbesuch bei ihnen lieferte dir ein weiteres Gran Entschlossenheit, deinen Traum in Realität zu verwandeln. Plötzlich besaß Lucy etwas, wonach du dich vermutlich mehr sehntest als sie. Und ihr beide habt schon immer miteinander gewetteifert, du und deine Schwester.

Der einzige Unterschied bestand darin, dass Matt zur damaligen Zeit bereits mit Pizza Prego Erfolg hatte. Er konnte es sich leisten, den Gutsherrn zu mimen. So frei und ungebunden waren wir nicht. Mein Berufsweg hatte nichts mit dem Prototyp eines Heimarbeiters in der hintersten Provinz zu tun, egal, worauf es hinauslief. Und deine Mandantenliste bestand ausschließlich aus Londoner Firmen. Aber ein vierzigster Geburtstag löst bei Menschen seltsame Dinge aus. Ich ließ mich von dir überzeugen, dass mir die Großstadt genauso den Hals zuschnürte wie dir und du als Provinzanwältin zur Überbrückung genug verdienen könntest, bis ich ortsansässigen Arbeitgebern mein Konzept eines professionell betreuten Personalservices verkaufen würde. Anschließend hast du dich mit Feuereifer auf die Suche nach einer passenden Gelegenheit gemacht, und noch ehe ich mich auch nur spielerisch der ganzen Tragweite unseres Unterfangens genähert hatte, warst du auch schon fündig geworden.

Es entsprach in jeder Hinsicht deinen Wünschen: eine gemütliche kleine Kanzlei über einer Apotheke, mitten in einem jener für Devon typischen Marktflecken. Echte Menschen mit echten Problemen, keine Anzugträger mit scharfen Gesichtszügen, die ihre Verträge am liebsten schon gestern auf dem Tisch gehabt hätten. Ich weiß noch genau, wie ich mit dir zum ersten Mal nach Holsworthy hinuntergefahren und an einem ruhigen sonnigen Samstagnachmittag um den Marktplatz spaziert bin. Deine Augen hatten einen Glanz, der mir verriet, dass dieser Ort unsere Zukunft war. Nun ja, zumindest deine. Während es für mich ein Umzug sein würde, würdest du heimgehen. Du gehörtest hierher, vom ersten Moment an, mit Haut und Haar, während es für mich ... der Platz war, wo ich sein musste, um in deiner Nähe zu bleiben.

Nicht dass ich für seine schönsten Seiten blind gewesen wäre. Hier nahm das Leben einen gemächlicheren Gang, die Landschaft ringsum glich einem Postkartenleporello mit mäandrierenden Wegen und sanften Hügeln. Und die Luft war wie Champagner. Das Ende der Welt hatte seinen eigenen Reiz. Und Stanacombe war wunderschön. »Ein weiß getünchtes Bauernhaus mit Schieferdach und Lehmmauern, direkt hinter der Grenze zu Cornwall; etwas renovierungsbedürftig.« So hatte es im Immobilienprospekt geheißen. Aber ich habe in ihm genau dasselbe gesehen wie du: ein himmlisch einsam gelegenes Fleckchen, mitten zwischen grünen Feldern am Fuß der letzten Erhebung, ehe Cornwall im Westen mit zerklüfteten hohen Granitklippen auf den Atlantik stieß.

Du dachtest, ich würde mich nur zögernd der Arbeit unterziehen, die in Stanacombe gemacht werden musste. Und das tat ich anfänglich auch, aber nach unserem Umzug habe ich es allmählich sogar genossen. Obwohl mich niemand dafür bezahlte, war diese Arbeit wesentlich befriedigender, als in London irgendwelchen Senkrechtstartern nachzujagen. Außerdem verfügten wir nach dem Verkauf des Hauses in Chiswick über einen beruhigenden Batzen Kapital als Rücklage. Und da du die meisten Mandanten deines Vorgängers in Holsworthy mit Charme zum Bleiben überreden konntest, musste ich nicht sofort um jeden Preis wieder Geld verdienen. Aus drei Monaten Renovierung wurden sechs. Das Frühjahr brach an, sauber und frisch und neu, und übersäte die Böschungen am Wegesrand in einer Art und Weise mit Blumen, die für mich bisher zu einer weit zurückliegenden bäuerlichen Vergangenheit gehört hatte. Jetzt war auch mir klar, was du schon die ganze Zeit gewusst hattest: Unser Umzug aufs Land sollte der beste Schritt werden, den wir je gemacht hatten.

Während dieser Monate beschlich uns allmählich ein Gefühl der Zufriedenheit. Offensichtlich vermissten wir unsere Londoner Freunde nicht. Aus der von mir befürchteten Isolation wurde ein geliebtes Gefühl der Abgeschiedenheit. Nicht einmal Matt und Lucy statteten wir, wie versprochen, einen Osterbesuch zum Besichtigen des neuen Hauses ab, in das sie gezogen waren. (Selbstverständlich hätten wir das früher oder später getan. Aber irgendwie schien es nicht dringend zu sein, jedenfalls nicht, so lange es in unserem eigenen neuen Zuhause so vieles zu genießen gab. Das könnte eine Illusion sein, die der Verlust von dir erzeugt hat, aber ich denke nicht. Vergangenen Winter und letztes Frühjahr in Stanacombe haben wir uns noch einmal zutiefst ineinander verliebt. Wenn ich daran denke, wie du neben mir in unserem Schlafzimmer unter dem vorspringenden Dach gelegen hast, dann wirkt die Erinnerung jetzt so klar, so klar und doch so zerbrechlich. Zerbrechlicher, als mir bewusst war.

Was hattest du als Letztes zu mir gesagt? Ich habe versucht, mich zu erinnern, aber die Wörter wollten nicht kommen. Nichts Bedeutsames, nur ein normales Adieu, ein Abschied für einige wenige unwichtige Stunden. Du hattest gesagt, du wärst schon bald wieder zu Hause, um mit der Gartenarbeit anzufangen. Und ich hatte gemeint, wenn du zurückkämst, wäre ich vielleicht nicht da. Das hing davon ab, ob auf einer Möbelauktion in Bideford, zu der ich um die Mittagszeit hinüberfahren wollte, irgendetwas Nützliches zum Aufruf käme. Du nicktest und riefst mir etwas nach hinten über die Schulter zu, während du zur Garage hinausgingst. Ich hörte den Wagen anspringen und auf den Weg hinausfahren, ging zum Fenster und winkte. Ich glaube, du hast zurückgewunken, aber mir schien die Sonne in die Augen, und im grellen Licht konnte ich nur eine flüchtige Bewegung wahrnehmen. Dann warst du fort. Und obwohl ich es nicht wusste, warst du bereits jetzt Erinnerung, während das Motorengeräusch im sanften Morgen verebbte.

Ich habe auf der Auktion einen Klapptisch gekauft, von dem ich annahm, er würde sich in der Diele gut machen. Ich war zuversichtlich, dass er dir gefallen würde, und habe im Büro angerufen, um es dir zu erzählen. Aber Carol meinte, du seist schon weg. Offenbar schon seit zwei Stunden. Ich versuchte, dich zu Hause zu erreichen, bekam aber keine Antwort. Bist im Garten beschäftigt, nahm ich an. Ungefähr eine Stunde später fuhr ich zurück und war gegen sechs in Kilkhampton. Beim New Inn hielt ich an, um etwas zu trinken, und rief dich von dort aus wieder an, da ich dachte, du hättest vielleicht Lust, mir Gesellschaft zu leisten. Die Sonne war reichlich heiß gewesen und hatte dir sicher Durst gemacht, doch inzwischen lag ein erster kühler Abendhauch in der Luft – unsere liebste Tageszeit. Aber noch immer keine Antwort. Ich trank aus und ging.

Du warst nicht im Garten. Nirgendwo im Haus warst du, obwohl dein Auto in der Garage stand und deine Aktenmappe im Arbeitszimmer lag. Außerdem sah es aus, als hättest du dir Tee gekocht. Die Kanne stand kopfüber im Geschirrkorb in der Küche, so wie du sie immer zum Trocknen hinstelltest. Draußen vor der Küchentür stand ein Müllsack voller Gartenabfälle. Also war doch etwas im Garten geschehen. Aber das war's dann auch – sonst keine Spur von dir. Nicht dass du je viele Spuren hinterlassen hättest. Du warst immer peinlich ordentlich. Es gab eine Zeit, da hatte mich das ständig aufgeregt, aber das war lange her.

Daraus schloss ich, du hättest dich zu einem Spaziergang aufgemacht, holte mir noch ein Bier, las die Zeitung und wartete. Als du bis halb acht noch nicht zurück warst, machte ich mir langsam Sorgen. Nichts Konkretes, keine Verzweiflung, nur ein leichtes Gefühl der Beunruhigung. Ich ging nach draußen, den Weg hinunter, und schlug zuerst den Fußweg nach Stowe Woods ein, wo du immer am liebsten nach der Arbeit spazieren gingst. Hätte ich dich vor mir unter den Bäumen auftauchen sehen, wäre in der Erleichterung alles rasch vergessen gewesen, aber so war es nicht.

Im Bewusstsein, dass du mehrere Wege durch die Wälder genommen haben könntest, bin ich dann wieder umgekehrt. Da es außerdem genauso gut möglich war, dass du die andere Richtung zum Duckpool Beach hinunter genommen hattest, war es sinnvoller, wieder nach Hause zu gehen.

Als ich in die Auffahrt einbog, sah ich das Polizeiauto. In diesem Augenblick verwandelte sich meine Beunruhigung in höchsten Alarm. Ich zögerte, ehe ich mit großen Schritten auf den Wagen zuging. Auf dem Fahrersitz saß ein Polizist und sprach in sein Funkgerät. Durchs offene Fenster konnte ich hören, was er sagte: »Keine Reaktion im Haus. Werde jetzt –« Er brach ab, als er mich im Seitenspiegel entdeckte. Dann stieg er aus. Beim Öffnen und Schließen der Tür traf mich ein gleißender Sonnenstrahl aus dem Seitenspiegel. Er war jung und kräftig und hatte die Figur eines Rugbyspielers.

Er schürzte die Lippen und sagte: »Mr. Sheridan?«

»Ja.«

»Mr. Anthony Sheridan?«

»Ja.«

»Verheiratet mit Marina Sheridan?«

»Was ist hier los?«

»Ich fürchte, es hat –«

»Was ist mit ihr passiert?«

»Ein Unfall, Sir. Wir glauben, bei dem Opfer handelt es sich um Ihre Frau.«

»Was für ein Unfall? Wie schwer ist sie verletzt?«

»Es tut mir außerordentlich Leid, Sir, aber sie ist –«

»Tot.« Das sagte er. Tot. Der Schlusspunkt mitten im Satz. Das Ende, noch ehe man richtig angefangen hat. Man kann darüber reden, es sich vorstellen, es zur Kenntnis nehmen, aber darauf vorbereiten kann man sich nicht. Nicht, wenn weder du noch der Mensch, den du über alles in der Weh liebst, krank oder alt ist. Nicht, wenn alles, was ihr getan habt, eine Zukunft voraussetzt.

Offensichtlich musste man mir den Vorfall mehrmals erzählen, bis ich begriff. Da ich es nicht glauben wollte, konnte ich mich anfänglich nicht dazu zwingen. So viel Angst verbirgt sich hinter unseren Alltagssorgen, Marina, so viel dunkel-drohende Furcht. Wir begraben sie tief, tun so, als sei sie nicht da. Doch dann bricht sie an die Oberfläche, in einem einzigen unerträglichen Augenblick. Und verschlingt uns. Ich war geschockt, natürlich war ich das, aber in erster Linie hatte ich Angst. Vor jeder Stunde und jedem Tag und jeder Woche und jedem Jahr, die ich nun ohne dich zubringen würde.

Ein Pärchen hatte beim Spazierengehen oben auf dem Hennakliff in der Nähe von Morwenstow deine einsame Handtasche gefunden. Sie waren auf dem Pfad nach unten geklettert, in Richtung des südlich gelegenen Flüsschens, und von dort halbwegs weiter auf die Reste des Erdrutsches hinaus, um einen Blick auf den Strand am Fuß der Klippen zu bekommen. Von dort aus hatten sie dich entdeckt, wie du zwischen den Felsen lagst, während rings um dich die auflaufenden Flutwellen donnernd zusammenschlugen. Für sie warst du lediglich ein formlos zusammengeballtes Etwas, das sich vor den schwarzen Felsen und der weißen Gischt abzeichnete. Dein Leben zerschmettert und meines zerstört, unter dem hochragenden Kliff und den windzerzausten Stechginsterbüscheln.

Ich denke jetzt an die Momente, als ich dich als Tote sah: im Leichenschauhaus und in der Aussegnungshalle. Das warst nicht du, nicht wirklich, nicht mehr. Und doch hielt es mich nicht davon ab, zu träumen, du würdest dich langsam aufsetzen, mich anlächeln und alles wieder in Ordnung bringen. Nur ein Traum, mehr war es nicht. Du warst fort und würdest nicht wiederkommen.

Die Polizei glaubte, du hättest Selbstmord begangen. Das konnte ich an der Art erkennen, wie sie sich räusperten und meinem Blick auswichen. Obwohl ich es selbstverständlich besser wusste, gab es keine Möglichkeit, sie davon zu überzeugen. Letztlich war es ein unerklärbarer Unfall. Die Kliffkante ist mit einem Zaun abgesperrt, die Gefahr deutlich sichtbar. Außerdem kanntest du die Gegend. Und dann war da noch die Handtasche. Warum solltest du sie hinlegen? Es sei denn, du wolltest, dass man sie zur leichteren Identifizierung fand und mir dadurch ein wenig Anspannung erspart blieb. Es ergab keinen Sinn.

Außer für mich. Als ich zwei Tage später allmählich wieder zu logischem Denken und Handeln fähig war, ging ich aufs Kliff hinauf. Die Sonne schien strahlend hell, das Blau des Meeres und des Himmels verschmolz zu einem riesigen Ganzen, die Luft war fast berauschend klar. Du liebtest die Klippen, stimmt's? Vielleicht liebtest du sie zu sehr. Ich weiß, wie du genau an jenem Punkt über den Zaun geklettert bist, um noch näher an die Kante zu kommen, während ich weiter oben am Pfad in der Nähe des Übertritts auf einer Bank auf dich gewartet habe. Die Wildblumen hatten es dir angetan. Du konntest all ihre Namen herunterrattern und sie schon nach einem flüchtigen Blick einordnen, während ich noch immer keine Grasnelke vom Leimkraut unterscheiden kann. Und da war mir klar, was passiert sein musste: Du hast an der vordersten Kante ein interessantes Exemplar gesehen, hast deine Handtasche abgelegt, damit sie dir nicht im Wind um die Schulter flappte, hast dich gebückt, um besser sehen zu können, und bist dann entweder ausgerutscht oder hast für einen Moment die Orientierung verloren und einen Schritt in die falsche Richtung gemacht. Und dann ...

Ein steiler Sturz, senkrecht nach unten, 120 Meter tief, oder mehr. Wie ich so in den Windböen dastand, hin und her gerissen zwischen Kummer und Staunen über das enorme Naturwunder dieses hohen grünen Klippenvorsprungs, erkannte ich in dem ganzen Vorfall ein plötzliches Missgeschick beim Herumklettern, nicht mehr und nicht weniger. Ich erkannte es und spürte schmerzlich deinen Verlust, dort, vor dem gähnenden Abgrund aus reiner Luft. Nicht viel hätte es gebraucht, um dir nach ins Nichts zu treten, nur jenen Mut, den ich nicht besaß. Aber die vielen Wenn-doch-nurs klammerten sich wie Hände hartnäckig an mich. Da ich mich noch immer nicht dazu durchringen konnte, an die Tatsache zu glauben, drehte ich mich um und schlüpfte wieder unter dem Zaun hindurch.

Später am Tag kamen Matt und Lucy an. Es war ein trauriges Wiedersehen. Matt tröstete mich, so weit es in seiner sanften verständnisvollen Art lag, während Lucy eindeutig genauso schockiert und verwirrt war wie ich. Du warst immer ein Teil ihres Lebens gewesen. Diesbezüglich war ich lediglich ein Neuzugang. Sie hatte sich darauf gefreut, dich bald wieder zu sehen, doch nun würde es nie mehr dazu kommen. Ihr hattet einander näher gestanden als viele andere Schwestern, eher wie Zwillinge, wie du immer sagtest, trotz eines Abstands von zwei Jahren. Und auf Grund einer Diät, die sie vor kurzem gemacht hatte, sah sie dir jetzt sogar noch ähnlicher als sonst. Es war schwer zu ertragen, wenn man sich beim Anblick ihres Lächelns sofort schmerzhaft an dein Lächeln erinnert fühlte. Nicht dass sie viel gelächelt hätte, geschweige denn geweint. Ihr Kummer erinnerte an eine Art Lähmung, mit deren Hilfe sie im gleichen Maße nach Sinn und Trost zu suchen schien.

Aber es gab keinen Sinn. Das war das Schlimmste daran. Ich konnte ihnen Stanacombe zeigen und unsere einstigen Pläne dafür schildern. Ich konnte sie nach Morwenstow und aufs Hennakliff mit hinaufnehmen, konnte sie nach Bodmin hinunterfahren und draußen vor der Aussegnungshalle warten, während sie hineingingen, um sich von dir zu verabschieden. Aber ich konnte ihnen den Vorfall keineswegs so beschreiben, wie es zutreffend oder angemessen gewirkt hätte. Ich spürte, dass Lucy mir die Schuld an deinem Tod gab, dass sie mir sozusagen vorwarf, ich hätte nicht gut auf dich Acht gegeben. Natürlich hat sie es nicht so formuliert. Sie wusste, dies wäre nicht vernünftig. Genau wie sie hättest auch du jeden Hauch von Beschützermentalität abgelehnt. Trotzdem war der Vorwurf da, in mir genauso wie in ihr.

Gott sei Dank blieben sie zur Beerdigung da und kümmerten sich um eine Menge Vorbereitungen. Nun, um ehrlich zu sein, war es Matt. Lucy und ich waren, außer zu Gesprächen über dich, zu nicht vielem zu gebrauchen. Wir fuhren nach Bournemouth und statteten deiner Mutter einen Besuch ab, aber sie schien nicht im Mindesten zu begreifen, was wir ihr da erzählten. Vielleicht hat Senilität doch etwas Gutes.

Natürlich hattest du als vorbildliche Anwältin in deinem Testament eine Einäscherung vorgesehen. Ich hätte eine Erdbestattung vorgezogen. So hätte ich dich besuchen können, aber du warst immer misstrauisch gegenüber Grabsteinen und Gedenkstätten, nicht wahr? Vielleicht wolltest du aber auch nur nicht, dass ich an deinem Grab Trübsal blies. Ich habe mich nie nach deinen Gründen erkundigt. Ich wollte nicht an deinen Tod denken, nicht einmal als weit entfernte Möglichkeit. Aber nun war er weder weit weg noch eine Möglichkeit. Jetzt war er da. Es war das, womit ich leben musste. Und überleben.

Viele unserer Londoner Freunde kamen zur Beerdigung herunter. Ich war froh, dass sie da waren, obwohl ich es ihnen vermutlich nicht zeigen konnte, froh um deinet- wie um meinetwillen. Die Kirche in Kilkhampton war fast vollständig besetzt. Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Menschen gab, die dich vermissen würden. Du mochtest diese Kirche. Ich erinnere mich an deine Worte. Auch darüber war ich froh. Aber im Krematorium in Bodmin waren nur Matt, Lucy und ich. Es gibt nichts, was ich über diese letzten Augenblicke sagen könnte. Sie gingen vorbei, und das war es dann. Ich versuchte, sie mir innerlich einzuprägen, konnte mir dich aber nur lebendig und lachend vorstellen. Mit dir hatte er nichts zu tun, dieser nüchterne Abgang in die Flammen. Dabei warst du überhaupt nicht anwesend.

Aber auch sonst warst du nirgendwo. Deine Kleider hingen noch im Schrank, im Badezimmer standen deine Cremes und Parfüms. All deine nützlichen Dinge lagen noch immer in der Küchenschublade. Und doch lieferte alles zusammen nur den physischen Beweis für deine Abwesenheit. Nachts wachte ich auf und glaubte für einen Sekundenbruchteil, dein Tod sei nur ein Traum. Aber er war's nicht. Ich war allein.

Zwei Tage nach der Beerdigung fuhren Matt und Lucy heim. Sie beschworen mich, sie zu begleiten, aber ich blieb dabei, dass es für mich besser wäre, wenn ich lernte, ohne dich zurechtzukommen. Nicht dass ich glaubte, ich werde dies je lernen können.

»Du kannst doch nicht hier bleiben wollen«, sagte Lucy. »Tony, das bist nicht du. Hier erinnert alles nur an Marina.« Sie hatte Recht. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn wir schon ein paar Jahre in Stanacombe gelebt hätten. Aber im momentanen Zustand waren wir noch gar nicht ganz eingezogen. Und ohne dich kam ich mir hier wie ein Fremder vor. Andererseits, wo würde ich mich nicht so fühlen? »Lass dich von uns eine Weile umsorgen«, beschwor mich Lucy. »Es wird nicht leicht, mit dieser Situation fertig zu werden.«

Ich versprach, darüber nachzudenken. Einige Tage später wiederholte Lucy ihr Angebot in einem Brief. Da man mir inzwischen einen Termin für die gerichtliche Untersuchung der Todesursache mitgeteilt hatte, schlug ich im Anschluss daran einen Besuch bei ihnen vor. Aber nicht einmal jetzt war ich sicher, dass ich das überhaupt wollte. In Stanacombe war ich dir so nahe wie möglich. Obwohl es nicht mein Zuhause war, war es immer noch deines. Ich half Carol, die Kanzlei in Holsworthy zu schließen, und machte mit dem Renovieren weiter, unterbrochen von langen Spaziergängen auf dem Klippenkamm. Bis ich restlos erschöpft war, so oder so. Ich schleppte mich durch die Tage und wartete sehnsüchtig auf die Nächte, in denen ich schlafend vergessen konnte, dass du nicht neben mir schliefst.

Aber das war nur eine kurzfristige Überlebensstrategie.

Früher oder später musste ich eine Pause einlegen. Und vermutlich erledigte das die gerichtliche Untersuchung für mich. Es war eine kurze, einfache Angelegenheit im Gericht von Bodmin. Der zuständige Beamte bekundete trotz seines geschäftsmäßigen Verhaltens Mitgefühl. Er bat mich, dein mentales Befinden in den Tagen vor deinem Tod zu beschreiben, wodurch er mir die Möglichkeit gab, die fixe Idee eines Selbstmords aus der Welt zu schaffen.

»Meine Frau war manchmal impulsiv«, sagte ich. »Ich befürchte, dies ist die bestmögliche Erklärung für den Vorfall. Sicher hatte sie die Gartenarbeit satt und ist spazieren gegangen. Ich weiß, dass sie wegen der hinreißenden Landschaft schon öfter viel länger als ursprünglich geplant den Klippenpfad entlanggelaufen ist. Vermutlich ist sie auch aus diesem Grund bis ins entfernte Morwenstow gegangen. Wahrscheinlich hat sie sich an den Frühlingsblumen erfreut. Bei unserem Umzug hierher war keinem von uns beiden klar, was für eine Farbenpracht das sein würde. Deshalb war sie so nahe am Abgrund, davon bin ich überzeugt. Aus keinem anderen Grund. Es muss eine ... Fehleinschätzung gewesen sein, ein Unfall. Ein schrecklicher, schrecklicher Unfall.«

Marina, sie ließen mich in meinem Glauben. Tod durch Unfall, lautete das offizielle Urteil. »Es gibt absolut keinen Grund zu der Annahme«, sagte der Beamte, »dass Mrs. Sheridan beabsichtigt hatte, sich selbst das Leben zu nehmen.« Ganz genau. Keinerlei Grund. Und deshalb war ein Unfall die einzig mögliche Erklärung.

»Daran glaubst du allen Ernstes, nicht wahr?«, wollte Lucy auf dem Rückweg nach Stanacombe wissen. »Ich meine, ich hätte Verständnis, wenn du ein ... mögliches Motiv ... für Selbstmord für dich behalten würdest. Hätte ich wirklich.«

»Marina neigte so wenig zum Selbstmord wie du. Dazu war sie nicht der Typ.«

»Wohl wahr, aber eine tödliche Krankheit, oder so etwas?«

»Sie war seit Monaten nicht mehr beim Arzt. Wir hatten es noch nicht einmal geschafft, uns bei einem hier ansässigen anzumelden.«

»Gut. Ich meine ja nur, ich wollte sicher gehen. Ich hatte sie schon geraume Zeit nicht mehr gesehen, und ich, na ja, vermutlich wünsche ich mir, es wäre anders. Du weißt, dass wir gehofft hatten, ihr würdet Ostern zu uns hochkommen.«

»Tut mir Leid, Lucy, dass wir es nicht geschafft haben. Hier gab es so viel zu tun. Ihr seid ja selbst erst umgezogen. Ihr wisst, was das heißt.«

»Ja, aber inzwischen haben wir uns eingelebt. Wirst du zu uns kommen? Tony, du musst hier raus. Musst den Dingen eine andere Perspektive geben.«

»Wahrscheinlich hast du Recht.«

»Genau das hätte auch Marina geraten.«

Und so war es doch auch, oder? Genau deine Empfehlung. Du warst immer realistisch und sensibel zugleich, beides mehr als ich. Schon bald würde ich mir den Kopf über Geld zerbrechen müssen. Über eine Menge Dinge müsste ich mir den Kopf zerbrechen. Und dafür war Stanacombe nicht der geeignete Platz. Also schloss ich mich der allgemeinen Meinung über das, was das Beste für mich sei, an.

An jenem Abend lud ich Lucy zum Essen in ein Dorfpub südlich von Bude ein, wo wir beide, du und ich, nie gewesen waren. Deshalb entschied ich mich dafür. Es war seltsam, mit ihr allein zu sein. Ich konnte mich nicht daran erinnern, es je gewesen zu sein. Mit Matt schon, hauptsächlich in der Zeit vor dir, aber nie mit Lucy. Ich kannte sie als deine Schwester, aus deinen Kindheitserzählungen wie aus eigenem Erleben. Ich kannte sie als eine andere Version von dir, mit ähnlichen Angewohnheiten und Gesten, jedoch mit anderen Stimmungen und Meinungen. Sie war immer aufbrausender als du und meiner Ansicht nach oberflächlicher, weniger reif. Und doch kam mir allmählich der Gedanke, sie hätte sich unversehens geändert. Sie hatte etwas Ernstes an sich, das sich nicht allein auf Trauer zurückführen ließ.

»Wenn du willst, Tony, sag mir ruhig, ich solle mich um meine Angelegenheiten kümmern«, meinte sie, während wir nach dem Essen bei unserem letzten Schluck noch ein bisschen sitzen blieben. »Aber wünschst du dir inzwischen nicht, dass ihr beide, du und Marina, Kinder gehabt hättet? Oder würde das alles nur noch viel schlimmer machen?«

»Ich weiß nicht, darüber habe ich nicht nachgedacht.« Das war wahr. Über Kinder hatten wir noch nicht gesprochen, oder? Seit Jahren nicht. »Vermutlich hätte ich dann jemanden, mit dem ... ich den Verlust teilen könnte.«

»Du kannst ihn mit mir teilen, weißt du. Und mit Matt. Denk daran, wir haben uns auf eurer Hochzeit kennen gelernt.«

»Ich hab's nicht vergessen.«

»Damit meine ich, dass uns dies enger verbindet als ein normales Schwesternpaar samt Ehemännern. Uns alle vier. So ist es die letzten fünfzehn Jahre gewesen. Jetzt hat sich die Situation verändert. Und meiner Meinung nach müssen wir einander helfen, mit dieser Veränderung fertig zu werden.«

Ich versuchte, ihren Worten zuzuhören, aber ihr Hinweis auf unsere Hochzeit hatte mich in Gedanken zeitlich zurückgeworfen. Obwohl ich fest überzeugt gewesen war, dass ich dich heiraten wollte, hatte ich noch immer Befürchtungen gehegt, nicht wegen der damit verbundenen Verpflichtung dir gegenüber, sondern weil ich dadurch mein restliches Leben auf irgendeine besondere Weise verpfändete. In der Nacht davor hatte ich mit Matt darüber gesprochen, und er hatte mir einen guten Rat gegeben: »So lange du dir sicher bist, dass du jetzt das Richtige tust, kannst du den Rest deines Lebens getrost sich selbst überlassen.« Daran hatte ich ihn sechs Monate später erinnert, in der Nacht vor seiner eigenen Hochzeit. Und da saß ich jetzt, fünfzehn Jahre später, mit einer Zukunft vor mir, die ich mir nie hätte träumen lassen. Und nichts war sicher, außer dass sich das Leben garantiert nicht um sich selbst kümmern würde.

»Tony, hörst du mir zu?«

»Entschuldige. Offensichtlich habe ich seit dem Vorfall manchmal Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Erzähl mir von dem neuen Haus. Euer Umzug hat uns überrascht. Was war an dem alten Ort falsch?«

»Nichts, aber AnderTraum besitzt eine ganz eigene Magie.« Während dieser Worte kehrte ein wenig von dem Funkeln in ihre Augen zurück, das seit deinem Tod gefehlt hatte. »Schon vom ersten Augenblick an hat es uns in seinen Bann gezogen.«

»AnderTraum – ein ungewöhnlicher Name.«

»Ein ungewöhnliches Haus. Es stammt aus der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Der Architektenentwurf steckt voller Überraschungen. Aber die größte besteht darin, wie behaglich es wirkt. Als ob's der Ort sei, nach dem ich unbewusst mein ganzes Leben gesucht habe.«

»Ich bin schon neugierig, es zu sehen.«

»Darauf musst du nicht warten. Ich habe ein Foto dabei.« Sie öffnete ihre Handtasche und holte aus einem Reißverschlussfach einen Umschlag. Ich weiß noch genau, was ich dachte: Wie seltsam, ein Bild vom eigenen Haus mit sich herumzutragen, als ob es ein geliebtes Wesen sei. Aber vermutlich hatte sie es nur mitgebracht, um es mir zu zeigen. Sie zog das Foto aus dem Umschlag und gab es mir. »Was hältst du davon?«

Noch nie zuvor hatte ich ein derartiges Haus gesehen. In Höhe und Breite glich es einem eher kleinen Herrenhaus auf seinem eigenen Grund inmitten von Bäumen und Wiesen. Allerdings war dieses hier völlig rund. Das Dach bestand aus einem braunen Schieferkegel, dessen Umrisse von Mansardenfenstern und Kaminen durchbrochen wurden, die aber ihrerseits die Rundform wieder aufnahmen. Es gab weder Giebel noch Erker. Die untere Fensterpartie folgte der Biegung der grau-rosa Steinwände, während Stufen zur Eingangstür hinaufführten, die unter einem Portal lag. Rings ums Haus schien ein Wassergraben zu laufen, obwohl man das aus dem fotografischen Winkel nur schwer beurteilen konnte. Ein Kreis aus Wasser um einen Kreis aus Stein. Die einzig sichtbare Gerade schien die Brücke zu sein, die über den Wassergraben auf das Portal zuführte, aber selbst diese wirkte an dem auf das Haus zulaufende Ende schmaler, was den Wassergraben optisch verbreiterte. Zusätzlich gab es noch zwei weitere Brücken und vermutlich sogar eine vierte, die sich außer Sichtweite hinter dem Haus befand. Alle im selben Abstand außen herum angeordnet. Geometrische Symmetrie und bizarre Architektur prägten den Gesamteindruck. Seine in sich widersprüchliche Geschlossenheit zog den Blick an und verwirrte das Gehirn. Es stand ganz offensichtlich da und war doch gleichzeitig irgendwie nicht vorhanden, wie ein Bühnenbild oder eine Projektion. Ein steinernes Haus im fortgeschrittenen Alter, das sich noch im Hinschauen aufzulösen drohte.

»Etwas ganz anderes, nicht wahr?«, fragte Lucy mit einem Lächeln.

»Das ganz sicher.«

»Es wird dir dort gefallen. Wie uns.«

»Wie habt ihr es gefunden?«

»Purer Zufall. Oder vielleicht auch Schicksal. Falls du ans Schicksal glaubst.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

Ich war mir nicht sicher, damals nicht, aber heute ist das anders. Mittlerweile wirkt sogar das Wort Schicksal zu schwach, um die Art und Weise zu beschreiben, wie uns das Haus und seine innewohnenden Geheimnisse umschlungen haben. Lucy. Und Matt. Und mich. Und auch dich, Marina. Damals hatte ich es noch nicht einmal mit eigenen Augen gesehen. Was du nie tun wirst. Und doch hatte es längst begonnen, uns in seinen Bann zu ziehen.

Am nächsten Morgen fuhr Lucy mit meinem Versprechen im Gepäck weg, ich würde innerhalb weniger Tage folgen. Außerdem nahm sie ein paar von deinen Sachen mit, nachdem ich sie überredet hatte, sie solle sich doch die Kleider aussuchen, die sie brauchen könne. Welchen Sinn hatte es, sie weiter zu horten oder der Hungerhilfe zu spenden, da ihr beide, du und Lucy, dieselbe Kleidergröße und in der Vergangenheit oft genug Röcke und Blusen getauscht hattet? Es schien das einzig Vernünftige zu sein. Unter solchen Umständen wärst du doch auch mit meiner Kleidung nicht sentimental umgegangen, oder?

Aber eines war doch unheimlich: Lucys Wahl fiel genau auf meine Lieblingsstücke. Den lila Gehrock; den kirschroten Blazer; das nagelneue weiße lässige Hemd mit der korallenroten Borte; die eierschalenfarbene Sommerhose; den blassblauen Seidenschal, den ich dir zu unserem ersten Hochzeitstag geschenkt habe. Ich wusste nicht, ob ich froh oder traurig sein sollte. Trotzdem ließ ich sie die Stücke in dem Bewusstsein mitnehmen, dass ich immer an dich denken würde, wenn ich sie in einem davon sähe. Im Bewusstsein, ich könnte weiter träumen, dass du sie noch immer tragen würdest. Falls ich das wollte.

Nachdem Lucy fort war, fuhr ich nach Holsworthy und bat den Immobilienmakler, über den wir vor acht Monaten Stanacombe gekauft hatten, das Haus erneut zum Verkauf anzubieten. Anschließend fuhr ich nach Morwenstow und ging, am Pfarrhaus vorbei, oben aufs Hennakliff, wo ich mich auf die Bank setzte, während drunten der Wind die Brandung zerfetzte und Regenschauer heran und wieder weg fegten, mit Regenbogenfetzen und gebrochenen Lichtkaskaden im Gefolge. Die Luft war klar und feucht und glänzte wie Glas.

Als ich mit der Hand übers Kinn fuhr, merkte ich, dass ich mich an diesem Morgen nicht rasiert hatte. Ich hatte es einfach vergessen, und Lucy war zu höflich gewesen, um mich darauf aufmerksam zu machen. Die Trauer hatte mich unordentlich und vergesslich gemacht. Du hättest mir erklärt, ich sollte mich in Schale werfen. Für Schlamperlook hattest du nie viel übrig. »Na los«, konnte ich dich beinahe sagen hören, »bleib nicht untätig hier sitzen, jetzt, wo ich nicht mehr da bin.« Du hättest das viel besser bewältigt als ich, Marina, wärst dir viel sicherer gewesen, was du tun solltest.

Mehrere Stunden blieb ich dort und starrte auf den Drahtzaun, den du überschritten hattest. Unter den Windböen hing er mal schlaff durch und spannte sich dann wieder an. Alles wirkte so brutal sinnlos, so willkürlich, so niederträchtig, egal, wer oder was als Bestimmung hinter derartigen Dingen stand. Warum durfte ich dich überhaupt haben, wenn ich dich dann doch nur auf solche Weise verlieren sollte?

Damals geschah es, dass ich zum allerersten Mal fühlte, wie sich in mir leiser Ärger regte, weil du mich auf eine so dumme Art und Weise verlassen hast. Beim Bewundern von Frühlingsblumen zu Tode stürzen. »Um Himmels willen«, sagte ich laut, »warum konntest du nicht einfach besser aufpassen?« Natürlich bekam ich keine Antwort, weder von dir noch von sonst woher.

Kaum war ich wieder in Stanacombe, begann ich zu packen. Ich hatte keine genaue Vorstellung, wie lange ich fortbleiben würde oder ob ich je wieder käme. Ich wollte lediglich für einen Käufer das Feld räumen. Als ich am anderen Morgen abfuhr, verriet mir mein Instinkt, dass ich für immer wegging.

In Holsworthy hielt ich an, um dem Immobilienmakler die Schlüssel vorbeizubringen. Dabei stieß ich auf Carol, die gerade über den Marktplatz ging. Sie hatte einen Job im Golfclub gefunden und wollte schnell noch vor Arbeitsbeginn ihre Einkäufe erledigen. Ihr erzählte ich, dass ich fortginge und Stanacombe zum Verkauf stünde.

»Hoffentlich wird alles gut für Sie, Mr. Sheridan«, sagte sie.

»Das hoffe ich auch.«

»Es wird schon werden, da bin ich sicher«, fügte sie zum Abschied hinzu.

Selbstverständlich war ich meiner Sache nicht sicher, aber ich bin ja von Natur aus mit Optimismus gesegnet. Jedenfalls hast du das immer behauptet. Ein Teil von mir glaubte, die ganze Sache hätte bereits ihren Tiefstpunkt erreicht, und dieser Teil hatte Recht. Nur eines wusste ich nicht: Wie schlecht die Lage wirklich war. Aber das sollte ich noch herausfinden, ob ich wollte oder nicht. In AnderTraum.

Kapitel 2

Matt und Lucys Grund für einen Umzug nach Leicestershire schien mir hinreichend logisch. Da Pizza Prego zu einer landesweiten Franchise-Kette expandierte, war es für Matt sinnvoll, einen Standort zu finden, von dem aus er problemlos jeden Teil des Landes bereisen konnte. Während deine nicht nur spöttisch gemeinte Andeutung darauf hinauslief, es ginge ihm mehr darum, seiner Leidenschaft für die Fuchsjagd frönen zu können. Obwohl du eigentlich wissen musstest, dass diese erst nach ihrem Umzug so richtig zum Durchbruch kam. Eine allgemeine Begeisterung für das feudale Landleben war trotzdem von Anfang an bei Matt vorhanden gewesen. Allerdings hast du immer bezweifelt, ob Lucy diese Begeisterung teilte. Nach einem offenen Gespräch von Schwester zu Schwester hast du angedeutet, sie hätte vom Leben im Marktflecken Bosworth die Nase voll. Hinter dem Umzug nach Rutland, den die beiden mitten während unserer Vorbereitungen zum Wegzug aus London verkündeten, steckte deiner Vermutung nach eine Maßnahme, um sie erneut durch Einrichten und Dekorieren beschäftigt zu halten. Außerdem hatte sie auch ihre Enttäuschung über nicht erfüllte Kinderwünsche eingestanden, ohne aber darauf einzugehen, ob es sich dabei um ein physisches Problem handelte oder nicht. Mir ist klar, dass du deswegen nicht so sehr nachgehakt hast, damit der Kontakt zu unserer eigenen freiwilligen Kinderlosigkeit nicht allzu schmerzhaft auffiel.

Du weißt doch noch, wie beide ihr neues Heim mit einer merkwürdigen Scheu behandelten, als sie zu Weihnachten nach Stanacombe herunter amen. Sie meinten lediglich, wir würden bei seinem Anblick überrascht sein. Inzwischen weiß ich, warum. AnderTraum hatte mit meiner bisherigen vagen Vorstellung vom üblichen Landhausstil nichts gemein. Es existierte nur einmal, so, wie es dastand.

Abgesehen von der Architektur, lag es außerdem an einem merkwürdigen Platz, obwohl der Architekt wenigstens daran nicht Schuld gewesen war. Der Rutlandsee entstand vor zwanzig Jahren, als man östlich von der Kreisstadt Oakham mehrere Täler für ein Wasserreservoir geflutet hatte. Die Anhöhe zwischen den beiden Tälern blieb als Halbinsel erhalten, die sich, vom westlichen Ufer aus, fast zur Gänze quer durch den See zieht. Am Nachmittag meiner Ankunft fuhr ich von Oakham aus durch Wäldchen und glitzernde Seeblicke hinauf. Ich erreichte das Dorf Hambleton, eine nostalgisch-pittoreske Ansammlung alter Steinhäuser, und folgte dann nach Lucys Anweisungen einem schmalen Weg zwischen Schafweiden und gelegentlichen Ausblicken auf den See nach Osten, bis ich die Abzweigung nach AnderTraum erreichte.

Unsichtbar für seine Umgebung, lag es versteckt hinter einer von Dickicht überwucherten Erhebung. Obwohl mich die Fotografie auf den Anblick vorbereitet hatte, löste er doch fast einen Schock aus. Mitten im ländlichen Rutland stand eine Art Trompe-l'oeil-Objekt, dessen kunstvollste Augentäuschung darin bestand, dass es sich ganz und gar nicht um eine Täuschung handelte. Zwischen den Bäumen war ein Teil vom See sichtbar, der das Haus umrahmte und so seinerseits irgendwie zur Inszenierung beitrug. Der See wirkte echt, war es aber nicht. Das Haus wirkte, als sei es gar nicht da, obwohl es ohne Zweifel vorhanden war.

Matt erwartete mich schon. Er hatte mit meiner Ankunft gerechnet, noch ehe Lucy von ihrer Tennisstunde zurück war. Er machte auf mich einen bekümmerten oder sogar besorgten Eindruck, was vielleicht mit der Aussicht auf meinen unbegrenzten Besuch zu tun hatte, obwohl ich eigentlich nicht so recht an diesen Grund glaubte. Dafür reichten die Wurzeln unserer Freundschaft zu weit zurück. Ich grübelte, ob er geschäftliche Probleme hätte. Wenn ja, wollte er mich vermutlich nicht damit belasten.

Zuerst redeten wir, als ob alles wie immer sei, als wärst du noch immer am Leben und die letzten Wochen nie geschehen. Er machte mit mir draußen eine Besichtigungstour, wobei er die Gelegenheit genoss, einem erstmaligen Besucher die kuriosen Besonderheiten dieses Ortes zu enthüllen. Bald war klar, dass er nichts von der Fotografie wusste, die mir Lucy gezeigt hatte. Meinem Eindruck nach wusste er nicht einmal, dass sie das Foto mit sich herumtrug.

»Ist eher Lucys Spielwiese als meine«, sagte er zur Erklärung, während wir die flechtenübersäte Mauer rings um den Wassergraben umkreisten. »Bin mir nicht sicher, ob ich's gekauft hätte, aber sie bestand darauf. Weißt du, ich musste deshalb die Jagdgesellschaft wechseln.«

»Das Leben kann ganz schön fies sein, stimmt's?«

Er grinste mich an, ehe sein Grinsen erfror. »Für dich aber wirklich. Lucy hat's natürlich ziemlich mitgenommen. Wie mich auch, aber für dich ...«

»Erzähl mir vom Haus, Matt, es hat mich neugierig gemacht. Und Neugierde lenkt mich von Marina ab – eine Zeit lang.«

»Na schön, es ist das einzige bekannte Werk irgendeines kauzigen englisch-französischen Architekten, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg gewirkt hat. Emile Posnan. Er hat es für einen reichen Einsiedler namens Basil Oates gebaut. Oates ist in den Dreißigerjahren gestorben. Seither gab's mehrere Besitzer, von denen dein lieber Freund der letzte ist. Alles ist tatsächlich so, wie du's siehst. Kreisrund, oder wenigstens teilweise. Die Räume werden zum Mittelpunkt hin schmaler. Jedes Fenster ist leicht konvex; die meisten Türen im Innern leicht konkav. Der Bau muss ein Vermögen gekostet haben. Jedenfalls kostet der Erhalt garantiert ein kleines, ist's aber schätzungsweise wert.«

»Weil Lucy es mag?«

»Ganz genau. Ich versuche, dafür zu sorgen, dass sie glücklich ist.«

»Wie gerne würde ich immer noch versuchen, Marina glücklich zu machen.«

»Kann ich mir gut vorstellen.« Er drückte meine Schulter. »Wenn ich irgendetwas ... Also, Tony, betrachte dies als dein Zuhause. Bleib, so lange du willst. Zimmer gibt's im Überfluss. Du weißt, wir möchten dir helfen.«

»Weiß ich doch. Und dieses Bewusstsein hilft.«

»Möchtest du mal einen Blick hineinwerfen?« Er zwinkerte mir zu. »Noch verrückter.«

Wir gingen wieder zur Hauptbrücke zurück und überquerten den Wassergraben. Als Matt die Vordertür öffnete, sah ich, was er mit konvex und konkav gemeint hatte. Die Tür war so schwach gekrümmt, dass man es erst beim Zurückschwingen bemerkte. Zwangsläufig war sie perfekt eingepasst und ordnete sich dem Gesamtkonzept unter. Dasselbe galt vermutlich auch für den Türrahmen. Posnan musste seine Schreiner an den Rand des Wahnsinns getrieben haben.

Drinnen wurde jede Perspektive durch die alles überlagernde Kreisform sofort verzerrt. Ein kurzer Korridor, der sich en route verengte und dadurch länger wirkte, führte zu einer zentralen Eingangshalle, von der aus sich eine Treppe wie ein elegantes Schraubengewinde in einer einzigen Wendel zur umlaufenden Galerie im ersten Stock emporschwang und von dort aus in einer weiteren Wendel zum zweiten. An den übrigen Viertelkreispunkten der Halle waren Türen eingefügt. Die linke führte zu einem Salon, geradeaus ging's in ein Esszimmer und nach rechts in eine Bibliothek, die man zu Matts Büro umgebaut hatte. Jeder dieser großen Räume glich einander in Grundriss und Proportion und war mit raumhohen Fenstertüren ausgestattet, die auf die jeweiligen Brücken über den Wassergraben hinausführten und einen weiten Rundblick auf den Garten boten. Vom Esszimmer aus kam dann noch der später hinzugefügte Blick auf den Rutlandsee hinzu. Unmittelbar darunter lag die durch eine Wendeltreppe und einen Speiseaufzug verbundene Küche. Ein kurzer Tunnel verband die Küche mit einem kreisförmig gepflasterten Hof, in dem ich bei meiner Ankunft über die Auffahrt gelandet war. Dahinter lagen, von geschwungenen Mauern und Rhododendronhecken verborgen, eine Garage und Stallungen, wo die Rundform dem zweckmäßigen Rechteck Platz gemacht hatte. Matt vertrat die These, Oates wäre der Geduldsfaden oder sein Geldbeutel oder beides gerissen, ehe sich Posnans Konzept noch im hintersten Winkel des Besitzes hatte austoben können.

Damit blieb aber noch immer das Haus an sich übrig, als Tribut an seine Phantasie vom Kreis. Im ersten Stock gab es drei Schlafzimmer, jedes mit eigenem Ankleidezimmer und Bad – eine seinerzeit unerhörte Extravaganz. Offensichtlich war Oates ein pingeliger Einsiedler gewesen. Da allerdings zu Beginn des letzten Jahrhunderts sogar ein Einsiedler eine Dienerschaft benötigte, gab es im zweiten Stock die kleinen Mansardenzimmer, in denen sich derzeit die noch unausgepackten Sachen von Matt und Lucy türmten sowie einige kostenlose Dreingaben, die der frühere Besitzer zurückgelassen hatte.

»Duncan Strathallan, ein bissiger alter Schotte«, meinte Matt, während wir vorsichtig in ein verstaubtes Zimmer voller Überseekoffer und verschiedenem Haushaltsmüll spähten. »Ich hatte ihn gebeten, die Sachen wegzuräumen, aber es sieht so aus, als müssten wir das für ihn erledigen.«

»Hat er hier allein gelebt?«

»Meinst du, noch ein Einsiedler? Nicht ganz. $o weit ich weiß, war hier jahrelang seine Familie zu Hause. Am Schluss war er allerdings ganz allein. Anscheinend war er glücklich, dass er wieder in den hohen Norden kam.«

Von den obersten Räumen hatte man den weitesten Blick, zwischen Ulmen und Eichen hindurch, die aussahen, als wären sie schon lange vor der Idee des Hauses da gewesen, und schaute links und rechts über den Rutlandsee auf eine leicht gewellte, ländliche Gegend.

»Oates hatte nach Norden hin einige Morgen Land besessen«, meinte Matt. »Strathallan hat es verkauft, und danach wurde es geflutet. Jetzt ragt nur noch das Haus heraus. Natürlich schneidet uns der See den Weg ab. In Luftlinie sind es bis zur Al nur zehn Kilometer, mit dem Auto über dreißig. Aber dadurch haben wir unsere Ruhe und können vor der Haustür angeln.«

»Erst jagen, heute angeln. Demnächst geht's zum Tontaubenschießen.«

»Du meinst, ich hätte mich in den Landadel eingekauft, stimmt's?«

»Ach, meiner Meinung nach ist das schon vor Jahren passiert. Du hattest doch schon als Student einen auffälligen Hang zu Tweed.«

»Was ich hatte, Tony, war guter Geschmack. Wie du je Marina überreden konntest, deine Caritas-Garderobe zu übersehen, werde ich nie –« Er brach ab. Wir schauten einander an. Vermutlich waren wir beide schockiert, dass wir vorübergehend in unsere alten Witzchen und Wortgeplänkel abgeglitten waren.

»Mach dir nichts draus, Matt. Ich möchte nicht, dass du jedes Wort auf die Goldwaage legst.«

»Aber auch so ...«

»Muss ich mich mit den Ereignissen abfinden. Ich bin jetzt ganz auf mich allein gestellt, wie der arme alte Strathallan.«

»Ganz und gar nicht, das kann ich dir versichern.«

»Gut, dann lassen wir's doch mal dabei bewenden.«

Wir wechselten ein zaghaftes Lächeln und begaben uns wieder nach unten, wobei mir meine Wortwahl innerlich nachhallte. Ein Sichabfinden setzte Überwindung voraus. Aber wen sollte ich überwinden?

Als Lucy heimkam, tranken wir im Garten Tee, während der warme Nachmittag nahtlos in einen schwülen Abend überging. Anschließend spazierten wir nach Hambleton zum Pub, um einen Schluck zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen. Ich kann mich nicht erinnern, worüber wir uns unterhielten. Wahrscheinlich tasteten wir uns gemeinsam zu einem zwanglos-lockeren Beisammensein vor. Weder Matt noch Lucy vermieden es, von dir zu sprechen. Allerdings war auch von anderen Dingen die Rede.

Angesichts des Todes ist das Alltagsleben banal und tröstlich zugleich. Es geht weiter, auch wenn man es nicht glauben mag. Sogar wenn man es nicht will.

In jener Nacht geschah etwas Seltsames. Als ich am nächsten Morgen aufwachte – Sonnenschein stahl sich durch meine Schlafzimmervorhänge, und draußen tönte ein schriller Morgenchor ohne die gewohnten Möwenschreie –, dämmerte mir, dass ich zum ersten Mal seit deinem Tod nicht von dir geträumt hatte. Erst jetzt wurde mir klar, wie viel ich tatsächlich von dir geträumt hatte. Gehörte dies zum Loslassen? Ich kam ins Grübeln. War dies einer von vielen Meilensteinen entlang der Straße, die mich von dir fortführte? Wenn ja, dann wollte ich das nicht. Allerdings zählte mein Wollen nicht. Die Zeit ist eine Straße, auf der es kein Innehalten gibt, geschweige denn eine Umkehr. Du hattest diese Straße verlassen, während ich noch immer auf ihr weilte.

Am Abend zuvor war auch der Name der Haushälterin gefallen, Nesta Worthington. Heute Morgen stieß ich zum ersten Mal auf sie. Sie entpuppte sich nicht als das Klischee aus meiner Vorstellungswelt. Mit ihrem vornehmen Akzent und der schicken Kleidung wirkte sie eher wie die Hausherrin als wie eine angestellte Hilfe. Da Matt nach Leicester gefahren war und Lucy nach einer morgendlichen Joggingrunde im Bad war, blieb es Mrs. Worthington überlassen, mir beim Frühstück in der Küche Gesellschaft zu leisten. Und von einem stummen Frühstück hielt sie eindeutig nichts.

»Mein Mann ist letztes Jahr gestorben«, fing sie von sich aus an. »Dadurch habe ich erst herausgefunden, wie arm ich wirklich war und wie sinnlos es ist, unbequemen Tatsachen aus dem Weg zu gehen. Lucy hat mir erzählt, dass Sie eine sehr glückliche Ehe hatten. Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust aussprechen.«

»Mrs. Worthington, waren Sie denn glücklich verheiratet?«

»Früher schon, aber am Ende nicht mehr. Im Laufe der Zeit hatte sich auch das letzte Quäntchen Liebe erschöpft. Vielleicht haben Sie in dieser Hinsicht Glück.«

»Glauben Sie?«

»Ich sagte lediglich, vielleicht. Beachten Sie meine Worte nicht allzu sehr. Lucy wird Ihnen erklären, dass meine Gespräche immer Hausarbeit gleichen: gründlich, aber nicht immer geschickt. Dem Porzellan darf ich nicht in die Nähe kommen. Trotzdem möchte ich noch eines sagen, was man sich durchaus merken sollte. Durch den Tod eines nahe stehenden Menschen erfährt man, wie es wirklich um die Dinge bestellt ist. Und das ist nicht unbedingt so, wie man gedacht hat. Ein Trauerfall kann grausam sein, aber die Erkenntnis noch grausamer.«

Lucy hatte für mich am heutigen Tag eine Fahrt durch die Umgebung geplant, wogegen ich nichts einzuwenden hatte. Es war warm, und sie trug dein weißes Hemd und die eierschalenfarbene Hose, die sie aus Stanacombe mitgenommen hatte. Obwohl ihr klar gewesen sein musste, dass es mir aufgefallen war, verlor sie darüber kein Wort.

Sie fuhr mich um den Rutlandsee, wobei sie zur Besichtigung der Kirche von Normanton anhielt, die als Überbleibsel abgeschieden auf einer kleinen Landzunge stand. Dann ging's durch stilles Ackerland nach Süden, nach Kirby Hall, einem riesigen verlassenen Herrenhaus aus Elisabethanischer Zeit. Dort wanderten wir unter kläglichem Pfauengeschrei durch dachlose Hallen und leere Innenhöfe.

»Damit möchtest du mich also aufheitern?«, fragte ich, während wir über die Rasenflächen hinausgingen und einen Blick zurück auf das steinerne Skelett aus Kaminsäulen und Dachgiebeln warfen.

»Offen gestanden, ja«, erwiderte Lucy mit einem ironischen Lächeln. »Hierher komme ich immer, wenn ich mir ins Gedächtnis rufen muss, was im Leben wirklich zählt.«

»Und wie kommt es dazu?«

»Nun, das alles ist Vergangenheit, oder? Die Menschen, die Macht, sogar der Verputz. Wahrscheinlich dachten sie, es würde ewig so bleiben, aber letztlich läuft alles darauf hinaus: eine von der Denkmalspflege verwaltete Ruine. Als Mahnung an uns, wie sinnlos jedes Vorausplanen ist.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das die Aufgabe der Denkmalspflege ist.«

»Dann sollte sie es werden. Lebe im Augenblick. Das ist die Lektion, Tony. Unterstreicht das nicht Marinas Tod? Gibt es denn nicht Dinge, die ihr beide für morgen, fürs nächste Jahr aufgeschoben hattet? Dinge, von denen du dir heute aus tiefstem Herzen wünschst, ihr hättet sie einfach getan? Bevor es zu spät war.«

»Viele Dinge.« Ich wandte den Blick ab. Ich hatte Angst, sie würde die Tränen in meinen Augen aufsteigen sehen.

»Ich sage das nicht, um dich zu verletzen.« Sie umarmte mich. Gemeinsam standen wir da und betrachteten die hohle Schale von Kirby Hall. »Ich sage das, weil es wahr ist. Matt und ich führen ein Leben, um das uns die meisten Leute beneiden würden: reich, ungebunden und sicher. Und doch denke ich manchmal, es sei zu sicher, zu risikofrei. Einer der letzten Sätze, die Marina zu mir während des Gesprächs über euren Umzug nach Westen gesagt hatte, war, dass sie versuche, spontaner zu sein. Verlieren wir sie nicht alle im Älterwerden? Die Spontaneität?«

»Vermutlich schon.«

»Aber das müssen wir nicht.« Sie küsste mich auf die Wange. »Oder?« Dann ging sie mit raschen Schritten über den Rasen zur Ruine zurück.

Langsam folgte ich hintendrein. Ich ließ sie vorausmarschieren und schaute zu, wie sie mit wachsender Entfernung dir immer ähnlicher wurde, und überlegte insgeheim, was dein Tod in ihr ausgelöst hatte. Obwohl ich mir den Gedanken kaum gestatten konnte, kam es mir fast so vor, als wäre etwas erlöst worden, als wäre etwas, das zuvor gefangen war, nun endlich befreit und würde gerade erst die Flügel ausbreiten.

Der nächste Halt auf Lucys Rundfahrt war in Stamford vorgesehen, direkt auf der anderen Seite der A1. Eine reizende alte Stadt, an der die Zeit anscheinend spurlos vorübergegangen war, wenigstens die letzten Jahrhunderte. Bei unserem Rundgang konnte ich mir leicht ausmalen, wie begeistert du über das Kopfsteinpflaster und die Schaufenster aus den Dreißigerjahren gewesen wärst. In dieser Hinsicht machte es der Anblick neuer Orte noch schlimmer, als wenn ich mich an alte Lieblingsplätze geklammert hätte. Ich wollte liebend gerne den Spaß an Neuentdeckungen mit dir teilen und konnte es doch nicht. Und wo blieb, ohne. dieses Teilnehmenkönnen, der Spaß?

In einer der ehemaligen Poststationen aßen wir zu Mittag. Das Bier, das ich trank, hatte eine seltsame Verwirrung zur Folge, die dazu führte, dass ich nach und nach meine Sinneswahrnehmungen in Frage stellte. Die Identität aller Dinge wirkte so unsicher – der Rutlandsee, AnderTraum, ja sogar Lucy. Die Orte machten den Eindruck, als gäbe es sie nicht. Und bei Lucy schien es sich um einen Menschen zu handeln, der so gar nicht sein konnte.

»Wir haben eine Einladung zum Tee bei einer Freundin, die ich seit dem Umzug hierher gewonnen habe«, kündigte Lucy an. »Du hast doch nichts dagegen, oder?«

»Natürlich nicht.«

»Sie heißt Daisy Temple und lebt in einem hinreißenden alten Haus in Harringworth. Falls du dich erinnerst, wir sind auf unserem Weg nach Kirby Hall durchgefahren. Das Welland-Viadukt?«

»Ich erinnere mich.« Eigentlich war es eher das Viadukt, eine schnurgerade Eisenbahnbrücke aus der Viktorianischen Epoche, deren rote Ziegelböden ein Tal südlich des Rutlandsees überspannten, an das ich mich erinnerte, als an das Dorf, das in ihrem Schatten lag. »Wie bist du ihr begegnet?«

»Ihre Schwester hatte vor dem Krieg in AnderTraum gelebt. Ich habe mich mit ihr in Verbindung gesetzt, weil ich auf die Geschichte des Hauses neugierig war. Nesta hatte die familiäre Beziehung erwähnt. Wir haben uns angefreundet, trotz des Altersunterschieds. Daisy ist über achtzig, aber hier oben« – Lucy tippte sich an die Stirn – »alterslos.«

»Und hat sie dir denn irgendetwas Interessantes über AnderTraum erzählt?«

»Könnte man so sagen. Eigentlich sollte ich dich diesbezüglich vorwarnen, obwohl die Geschichte sicher nicht beim Tee zur Sprache kommt. Sie ist wohl kaum ... Nun ja, für Daisy ist das Thema immer noch schmerzhaft, selbst nach all den Jahren. Verständlicherweise.«

»Worum handelt es sich denn?«

»Ihre Schwester wurde dort ermordet.«

»Ermordet?« Ich setzte mein Glas ab und schaute sie an. »Wirklich?«

»Ja, wirklich. Ann Milner hieß sie. Getötet von ihrem eigenen Mann, James Milner. Er wurde dafür gehängt.«

»Wann ist das passiert?«

»Im Herbst 1939, vor fast sechzig Jahren. Damals war Daisy ein fröhliches junges Ding.«

»Habt ihr das vor dem Hauskauf gewusst?«

»Nein. Matt ist deswegen auf die Palme gegangen. Meinte, der Makler hätte uns das mitteilen müssen. Einfach lächerlich. Warum sollte der Makler etwas sagen, was ihm wahrscheinlich den Verkauf vermasseln würde?«

»Hätte es das denn?«

»Meiner Ansicht nach hätte Matt vielleicht Fracksausen bekommen, wenn er's gewusst hätte.«

»Aber du nicht?«

»Nein. Warum sollte ich?«

»Vermutlich aus den üblichen Gründen: Aberglaube, Angst vor Gespenstern.«

»Vor denen fürchte ich mich nicht.«

Ein merkwürdiger Ausdruck: Vor denen fürchte ich mich nicht. Als ob es sie wirklich gäbe. Allerdings kam er mir zu diesem Zeitpunkt nicht merkwürdig vor.

»Außerdem«, fuhr Lucy fort, »ist der Mord nicht direkt im Haus passiert.«

»Wo dann?«

»In der Gartenlaube.«

»Ich habe keine Gartenlaube gesehen.«

»Konntest du auch nicht. Sie stand in einem versunkenen Garten nördlich vom Haus. Ein Zickzackweg führte am Rhododendronwall entlang hinunter. Inzwischen ist der Weg überwuchert, da es weder Garten noch Laube mehr gibt, und die Rhododendren wachsen bis ans Wasser.«

»Die Landschaft hier in der Gegend befindet sich wirklich ständig im Wandel, findest du nicht?«

»Meinst du das wörtlich oder im übertragenen Sinne?«

»Vermutlich beides. Aber, sag mal, was steckte denn hinter dem Mord?«

»Meiner Ansicht nach ein Ehekonflikt. Schau, wenn du die anzüglichen Details wissen möchtest, die eigentlich alles andere als anzüglich sind, kann ich dir darüber einen Zeitschriftenartikel geben. Eine der Sonntagsbeilagen hatte die Geschichte aufgegriffen, als damals in den Siebzigerjahren die Pläne für das Reservoir laut wurden. ›Mordschauplatz im Wasser versenkt.‹ So ähnlich. Die Milners hatten exotische Verbindungen. Sie machten den Mord scheinbar interessanter, als er in Wirklichkeit war.«

»Wie bist du über diesen Artikel gestolpert?«

»Ich fand ihn unter dem Gerümpel, das Strathallan zurückließ. Vermutlich war dies seine Art, Witze zu machen. Um uns mitzuteilen, dass er uns im Dunkeln gelassen hatte. Möchtest du ihn sehen?«

»Sehr gern. Du hast mir den Mund wässrig gemacht.«

»O. k. Sobald wir zu Hause sind, werde ich ihn für dich ausgraben. Unter einer Bedingung.«

»Dass ich Daisy gegenüber kein Wort davon erwähne?«

»Das hatte ich sowieso angenommen.«

»Nein, würde ich auch nie.«

»Siehst du. Also, das ist nicht die Bedingung. Es geht um Matt. Er muss nicht erfahren, dass ich Strathallans Hinterlassenschaft durchwühlt habe. In solchen Sachen ist er sehr altmodisch. Wie überhaupt in einer Menge Dinge.« Sie lachte. »Also, kann ich mich auf deine Diskretion verlassen?«

»Wenn du das für nötig hältst.«

»Tu ich.«

»Na schön, geht in Ordnung. Ich werde Matt nicht einen Ton davon sagen.«

»Gut.«

Und so nahm ich, ohne viel nachzudenken oder die Bedeutung abzuwägen, Teil am Betrug meines Freundes. Selbstverständlich handelte es sich um eine äußerst geringfügige Sache. Aber wie hätte Matt gesagt? Was als Kleinigkeit beginnt, muss nicht zwangsläufig eine solche bleiben.

Im Vergleich zu AnderTraum war Maydew House eher ein konventionell-elegantes Gebäude, obwohl es mit dem gleichen grau-rosa Stein und dem bräunlichen Schiefer gebaut worden war. Es handelte sich um einen annähernd quadratischen Landsitz mit nur wenigen Giebeln am Rande von Harringworth, wo das Dorf allmählich in die Felder überging. Ringsherum standen massige alte Kastanienbäume. Wahrscheinlich hatte ich gepflegte Rasenflächen und eine geharkte Kiesauffahrt erwartet, aber der Garten war ein einziges Dickicht, und das Haus brauchte dringend einen neuen Anstrich. Und was Daisy Temple anbelangt, so entsprach auch sie nicht exakt meiner Erwartung.

Als auf unser Läuten keine Reaktion erfolgte, brachte mich Lucy ein Stück weiter ums Haus, wo von Efeu und Glyzinien überwucherte Stallungen und Nebengebäude standen. Aus einer schief hängenden Tür drang Musik heraus, die ich aus deiner Schostakowitsch-Phase vage wieder erkannte. Nach Betreten einer staubigen Werkstatt sahen wir eine zierliche hagere Frau mit kurzen eisengrauen Haaren, die in Latzhose und Karohemd vor einer Werkbank auf einem Hocker saß und nachdenklich an einer Tonbüste herumknetete.

»Daisy«, rief Lucy.

Die alte Frau schaute sich um. Sie hatte verblüffend blitzblaue Augen und ein friedliches, gewinnendes Lächeln. »Ach, meine Liebe«, sagte sie, »du bist zum Tee gekommen.«

»Hast du's vergessen?«

»Ganz und gar nicht.« Sie schaltete den Kassettenrecorder aus, stand auf und wischte sich mit einem Tuch den Ton von den Fingern. »Ich habe mich nur im Tag geirrt. Sie müssen Lucindas Schwager sein«, fuhr sie fort, wobei sie näher trat, um mich zu begrüßen. »Besser, Sie schütteln mir nicht die Hand. Trotzdem freut es mich wirklich sehr, Sie kennen zu lernen.«

»Ganz meinerseits, Miss Temple.« Zu meiner Überraschung hatte sie Lucy mit vollem Namen angesprochen, was sonst niemand für nötig befand. Noch überraschter war ich allerdings über die Büste, die auf dem Tisch stand.

»Bitte, nennen Sie mich Daisy. Mir kommt es vor, Tony, als würden wir uns kennen, obwohl wir einander noch nie begegnet sind. Lucinda hat mir so viel von Ihnen erzählt. Und natürlich auch von Ihrer verstorbenen Frau. Es hat mir sehr Leid getan, als ich von ihrem Tod erfuhr.«

»Danke.«

»Wenn ich Ihren Gesichtsausdruck richtig deute, habe ich den Eindruck, als ob Lucinda Ihnen nicht erzählt hat, dass sie mein jüngstes Modell war.«

»Nein, hat sie nicht. Noch nicht einmal, dass Sie Bildhauerin sind.«

»Gut. Dann sind Sie wenigstens nicht in der Erwartung aufgetaucht, einen Michelangelo vorzufinden. Ich arbeite in einem kleineren Maßstab, als sich einige Leute anscheinend vorstellen können.«

»Und das nicht zum Nachteil. Sie ist ausgezeichnet.«

»Ist sie, nicht wahr?«, meinte Lucy.

»Selbstverständlich ist sie noch nicht fertig«, sagte Daisy und warf rasch noch einen prüfenden Blick auf das Werkstück. »nimmt aber schon ordentlich Form an.«