Das Gift der Väter - Elke Schweer - E-Book

Das Gift der Väter E-Book

Elke Schweer

4,6

Beschreibung

Drei Jahre nach dem verlorenen Krieg kehrt ein junger Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurück und bleibt bei dem Mädchen, das er zu Kriegszeiten kennen- und lieben gelernt hat. Bald schon muss das Paar heiraten, weil Nachwuchs unterwegs ist. Arbeitslos und ohne Zukunftsperspektive setzt der Vater noch vier weitere Kinder in die Welt. 1958 wird das Familienoberhaupt wieder Soldat, jetzt bei der Bundeswehr. Er schwört ein zweites Mal, dem Vaterland bedingungslos zu dienen. Untergebene und Familienangehörige werden wie willenlose Wesen behandelt, herumkommandieren gehört zum Alltag. Nur das jüngste, vom Vater am meisten geliebte Kind widersetzt sich seinem Drill und flüchtet schon früh in eigene Welten. Um der ständigen Kontrolle, der häuslichen Brutalität und den sexuellen Übergriffen zu entkommen, reißt die Jüngste mit einer Leidensgenossin aus und landet in Spanien/Torremolinos im Drogen- und Prostitutionsmilieu. Durch Interpol gesucht, gefunden und wieder daheim, wird sie zur Strafe vom Vater monatelang eingesperrt. Nach der Volljährigkeit findet sich das stets bevormundete Mädchen nur sehr schwer im eigenen Leben zurecht. Nach Abbrechen der Schule und zwei Ausbildungen gelingt ihr, Dank des fürsorglichen, großen Bruders, eine Ausbildung zur Hebamme. Doch trotz ansehnlichem Beruf bleibt die junge Frau orientierungslos, beziehungsunfähig und wechselt ständig die Wohnungen, bis ein wesentlich älterer Mann in ihr Leben tritt.

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Das Kind hat von tausend Waffen, die wir

Erwachsene in Kunst, Wissenschaft, Erfahrung

usw. finden, keine einzige. Es hat nichts als sein

kleines, unbeschütztes, nacktes Herz, das wir

ebenso leicht erheben, als zu Boden schlagen

können.

Franz Horn

Für Helga

Heute ist ein ganz besonderer Tag. Heute traut er sich.

Fest entschlossen legt er seinem alten Lehrmeister das schwere Schlosser-Werkzeug auf den Tisch und verabschiedet sich auf Nimmerwiedersehen.

Das kurze Stück zur Dorfkneipe gegenüber, die neuerdings als Rekrutierungsbüro dient, rennt der Sechzehnjährige. So aufgewühlt ist er. Stellt sich, um seine noch kindliche Statur zu verbergen, übertrieben aufrecht vor einen der Tische und meldet sich beim örtlichen Kassenwart zum freiwilligen Kriegsdienst. Endlich ist es soweit, endlich ist er alt genug.

Mein Vater.

Sein Vater hat nichts dagegen, dass er in den Krieg zieht, dann gibt es einen Esser weniger. Seine Mutter weint.

Seitdem mein Vater denken kann, träumt er davon, Soldat zu sein. So heldenhaft und mutig wie der eine Onkel väterlicherseits. Der dient dem Führer und Vaterland schon einige Jahre und wird im Dorf und Umgebung gemocht und bewundert. Ja, sogar verehrt.

Der Onkel trägt eine schnieke Uniform mit Abzeichen und durfte diesem elenden Nest den Rücken kehren. Jedes Mal, wenn dieser starke Onkel zu Besuch ist, erzählt er vom herrlich aufregenden Soldatenleben. Mein Vater wünscht sich auch nichts sehnlicher, als weit weg zu sein. Weg von diesem Ort, wo jeder jeden kennt, wo die Leute nur hinterm Rücken reden und sich selbstverständlich und schnell ein Urteil bilden. Über jeden. Auch über ihn. Gleichaltrige hänseln und verspotten ihn. Meist wegen seiner vielen Geschwister, die immer mehr werden und alle in dem kleinen, schäbigen Häuschen Platz finden müssen. „Wie die Karnickel.“

Selbst seine Stärken im Sport helfen da nicht viel, Selbstwertgefühl und Ansehen zu erlangen.

Doch der schlimmste aller Demütiger und Peiniger ist immer noch sein eigener Vater. Der schlägt und beschimpft ihn aus Frust am eigenen Leben anlässlich jeder kleinsten Kleinigkeit.

Auch mit seiner kleinwüchsigen Mutter hat er Probleme. Sie schaut vor lauter Angst und Unterwürfigkeit ihrem Ehemann und Fremden gegenüber ständig auf den Boden, als gäbe es dort eine bessere Welt.

Sie liebt ihren Sohn über alles; darf es nur nicht zeigen, um die Eifersucht ihres jähzornigen Mannes nicht zu wecken. Der kocht jedes Mal vor Wut beim Anblick mütterlicher Liebe gegenüber dem Sohn, nennt beide dann verächtlich „elende Memmen“.

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Seine unglückliche Mutter wurde einst als uneheliches Kind geboren und stammt dazu noch von einem Juden. Der Erzeuger musste damals für das Kind zwanzig Reichsmark Alimente im Quartal zahlen. Mehr konnte er nicht leisten, denn es waren noch drei eigene Kinder zu versorgen. Außerdem musste er der minderjährigen Mutter versprechen, das kleine Mädchen zu sich zu nehmen, sobald es das vierte Lebensjahr erreicht haben würde. Das erübrigte sich Gott sei Dank, denn meine Uroma fand, trotz Kind, einen Mann, dem sie noch neun weitere Kinder schenkte.

Diese außerehelich geborene Mutter wirft einen Schatten auf die ganze Familie und auf die Zukunft meines Vaters. Zum Glück konvertierte ihr leiblicher Vater noch rechtzeitig, vor der Machtergreifung der NSDAP, zum Katholizismus. Deswegen steht in der Geburtsurkunde der Mutter nichts vom Juden-Kind.

Er findet es besonders schlimm, ihre dunklen Haare geerbt zu haben. Auf seine grünen Augen ist er eigentlich stolz, obwohl er lieber blaue hätte.

Sein O-beiniger und unheimlich weißhäutiger Vater pfeift in seltenen Momenten guter Laune durch seine fehlenden Schneidezähne: „Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wiederhaben“, und würde am liebsten selbst in den Krieg ziehen. Wären da nicht die vielen Kinder …

So ein Leben wie der Alte will mein Vater auf keinen Fall. Der verdient doch nichts, obwohl er früher einmal einen anständigen Beruf erlernt hat. Jetzt marschiert er Tag für Tag in den Steinbruch und kann sehen, wie er die Juden und andere Zwangsarbeiter an die Arbeit kriegt. Die stille Mutter schmiert jeden Morgen extra Butterbrote, die der Vater mit zur Arbeit nimmt und angeblich an ausgemergelte Seelen verteilt, selbst aber immer dicker wird. Seine Kinder müssen jeden geschenkten oder hart verdienten Groschen abliefern. Wird auch nur ein Pfennig unterschlagen, gibt es Hiebe.

Nein, mein Vater will Soldat werden. Nur weg. Einen gerechten Sold verdienen und ihn für sich behalten. Eines Tages würde er zurückkommen und alle würden an ihm hochschauen und Respekt haben. Die Formalitäten sind einfacher und schneller erledigt als er denken kann. Der Abschied von der Familie ist kurz und für ihn schmerzlos.

Die einjährige Grundausbildung in Süddeutschland erweist sich als hart, ist aber wegen der Vorfreude auf den großen Einsatz durchaus erträglich. So manche Hänseleien und Erniedrigungen seitens der Vorgesetzten und Kameraden lässt er sich gefallen. Zeigt keine Träne, schöpft eher Mut und Kraft daraus, es ihnen gleich zu tun, sobald sich eine Gelegenheit bietet.

Endlich wird er mit einigen anderen Kameraden nach Norddeutschland abkommandiert, und nach einer langen Zugfahrt und einem endlosen Marsch in einer kleinen Dorfschule einquartiert. Die Gegend rechts und links eines sich bis zum Horizont erstreckenden Kanals ist so einsam und öde, dass es deprimierend ist. Er hat sich den Krieg aufregender vorgestellt. Die Männer aus dem Dorf befinden sich fast alle an der Front. Frauen, Kinder und Alte müssen sehen, wie sie die viele Arbeit alleine bewerkstelligen.

Um selbst nicht vor lauter Langeweile umzukommen, hilft mein junger Vater in seiner Freizeit einem kranken Bauern in der Nähe der Schule bei dessen Feldarbeiten. Eines Tages lädt der große, gebrechliche Mann ihn zu sich nach Hause ein. Dort begegnet mein Vater meiner Mutter. Sie ist die einzige Tochter des Bauern und zwei Jahre älter als er. Sie wirkt mit ihren blonden, stramm geflochtenen Zöpfen aber jünger. Ihm gefallen ihre nebelblauen Augen, die, wenn er sie anschaut, schüchtern den Boden suchen. Vielleicht erinnert sie ihn an seine eigene Mutter?

Ihr kleiner Bruder, der noch nicht im Krieg ist, mag den jungen Burschen mit dem komischen Dialekt überhaupt nicht, meint: „Der Kerl hilft dem schwachen Vater doch nur, damit er an unsere Schwester kommt.“

Meine Mutter besucht die Hauswirtschaftsschule in der nächstliegenden Stadt. Wenn sie frei hat, geht sie mit großer Begeisterung zum „Bund Deutscher Mädel“. Diese Aktivität bietet ihr ein Entkommen von der schweren und stupiden Hausarbeit auf dem Hof.

Einmal holt mein Vater meine Mutter einfach aus dem Kochunterricht. Klopft an die Klassenzimmertür und bittet den Lehrer um Erlaubnis, das Mädchen kurz und allein sprechen zu dürfen. Draußen küsst er sie ungefragt auf den Mund und gesteht ihr seine Liebe.

Das junge Paar hat keine Zeit sich richtig kennenzulernen, denn der Marschbefehl für den Trupp aus der kleinen Dorfschule kommt. Wo die Soldaten hingehen, erfährt die Familie nicht. Was alles passiert, auch nicht. Nach Kriegsende wird mein Vater von den Engländern zu drei Jahren Kriegsgefangenschaft verurteilt. Ein Jahr davon verbringt er in Kanada, den Rest in Schottland. Angeblich die schönste Zeit seines Lebens.

1948 kommt ein völlig veränderter Mann in das kleine Dorf am Kanal zurück. Meine Mutter hat wegen der vielen Liebesbriefe aus Schottland auf ihn gewartet. Auf seinem muskulösen Oberarm spannt ein großer Adler seine Flügel, darunter, auf einer wehenden Schleife, schimmert ein fast unleserlicher Satz. Nur das Wort „Frei“ ist zu entziffern. Seine einst hübsch geformte Nase ist hässlich krumm geschlagen.

In den Osten zurück, in seine alte Heimat, will der gereizte, nervöse Mann nicht. Da hat der Russe das Sagen. „Ich krieche doch lieber einem Kapitalisten in den Arsch, als einem Kommunisten zu dienen!“ Das sagt er oft.

Meine Mutter verliert ihren zweitältesten Bruder im Krieg. Er war gerade mal siebzehn. Ihren Vater sperren die Alliierten ein, weil er ein überzeugter Nazi war. Die Familie darf den magenkranken Mann noch wochenlang besuchen und ihm das mitgebrachte Essen durch eine kleine Luke schieben, bis er, wenige Tage nach seiner Entlassung, auf dem Acker neben seinen geliebten Pferden zusammenbricht und stirbt.

Seine Frau, also meine Großmutter, muss Flüchtlinge aus Ostpreußen und Schlesien aufnehmen, die gezwungen sind, sich ihren Lebensunterhalt mit harter Feldarbeit zu verdienen. Ihr ältester Sohn bringt Frau und Kind aus dem Krieg mit und erbt, nach dem Erbfolgegesetz, den Hof. Alle leben auf engstem Raum zusammen. Die Lebensumstände sind sehr schwierig, aber auch aufregend und schön. Bei meiner Mutter dauert es nicht lange, bis mein großer Bruder unter ihrem Herzen strampelt. Das junge Paar muss unbedingt heiraten, bevor es das ganze Dorf weiß.

Die beiden prächtigen Ackergäule meines gerade verstorbenen Großvaters ziehen die Kutsche des Brautpaars, samt Zeugen, zur Kirche. Auf der Hochzeitsfeier spielt der Bräutigam Mundharmonika und Mandoline, was die Herzen der jungen Frauen höher schlagen lässt. Auch das seiner Schwägerin.

Meine Eltern wohnen immer noch in der kleinen Dachkammer auf dem Hof, als Mutter ihren zweiten Sohn bekommt. Vater arbeitet als Tagelöhner bei verschiedenen Bauern in der Umgebung. Allerdings nie lange, weil er „die Arbeit nicht erfunden hat“, wie die Leute sagen. Sein Schwager, der Hoferbe, hat auch längst genug von ihm, er kann es nicht mehr länger mit ansehen, wie der „Schürzenjäger“ sich in seinem Haus breitmacht. Meine Eltern sind gezwungen, sich etwas anderes zu suchen.

Das dritte Kind kommt in einer neuen Bleibe zur Welt. Dieser Junge schielt leider fürchterlich, weswegen mein Vater ihn nicht mag. Später kann er zum Glück operiert werden, muss aber immer eine Brille tragen, was ihm den Name „Brillenschlange“ einhandelt.

Obwohl sich das kriegsgebeutelte Land im Aufschwung befindet, hat mein Vater immer noch keine feste Arbeit. Er selbst macht die trostlose Gegend und die selbstsüchtigen Bewohner dafür verantwortlich, dass aus ihm noch nichts Gescheites geworden ist.

Als das vierte Kind, meine Schwester, zur Welt kommt, wird es wieder zu eng. Nachts muss die Kleine im Kinderwagen in die angrenzende, nachbarliche Schlachterei geschoben werden und tagsüber nach draußen unter einen Apfelbaum. Der Rest der Familie schläft in einem Bett, in das man nur gelangen kann, wenn man ein kleines Schränkchen übersteigt.

Von einem Bekannten bekommt mein Vater den Tipp, sich doch beim Bundesgrenzschutz zu bewerben. Die suchen angeblich Leute, auch ehemalige Soldaten. Er wird genommen.

Jetzt ist endlich mehr Geld und Selbstwertgefühl vorhanden.

Die sechsköpfige Familie zieht in eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, in die obere Etage eines Vier-Familienhauses. Sogar ein Stückchen Garten, in dem meine Mutter, hochschwanger mit mir, eigene Kartoffeln erntet, ist im Mietpreis enthalten.

Mein Vater ist aufgrund seiner neuen beruflichen Tätigkeit seltener zu Hause und deswegen das erste Mal bei der Niederkunft eines seiner Kinder nicht anwesend. Meine Großmutter vom Hof kommt und quartiert sich für ein paar Tage zu meinen Geschwistern in der Stube ein. Als es soweit ist, geht sie der Hebamme zur Hand. Ich erblicke, ohne dass meine Mutter sich groß quälen muss, um genau eine Minute nach halb zehn abends das Licht der Welt. So komplikationslos wie ich zur Welt komme, braucht sich keiner die Nacht um die Ohren zu schlagen. Nur der älteste Bruder hat etwas vernommen, schleicht sich in das Schlafzimmer und darf mich kurz in seinen Armen halten. Die anderen schlafen fest.

Die Oma ruft am nächsten Morgen von einem Nachbarn aus den frisch gebackenen Vater an. Der freut sich, so wie es sich gehört, mit Bier und Schnaps und beantragt tags darauf seinen ihm zustehenden Sonderurlaub. Dann kommt er, um mir einen Namen zu geben.

Vielleicht, weil er bei meiner Geburt nicht dabei sein konnte, liebt er mich mehr als seine übrigen Kinder. Er erzählt mir oft und auch den anderen, die Zigeuner hätten mich im Galopp verloren. Lange glaube ich diese Geschichte wirklich, wünsche mir sogar, dass sie wahr ist.

Ich stelle mir vor, wie eine farbenfroh gekleidete, grölende Reiterschar über einen matschigen Acker galoppiert und sich eine schöne, wilde Amazone aus der Gruppe löst, akrobatisch über den Sattel lehnt und ein kleines, schreiendes Bündel einfach auf die feuchte Erde legt, um anschließend mit den anderen johlend davonzupreschen, ohne auch nur das geringste schlechte Gewissen zu haben.

Wie meine anderen Geschwister auch werde ich voll gestillt, was nicht verhindert, dass meine Mutter erneut schwanger wird. Sie kann dieses Kind „nicht halten“, wie sie sich im Kreise ihrer Nächsten ausdrückt. Sie wird im fünften Monat von meinem Vater per Eisenbahn in das nächste Krankenhaus gebracht. Danach kommen keine Kinder mehr.

Auf dem Weg in die Klinik wollen die mit Milch zum Bersten prall gefüllten Brüste meiner Mutter fast platzen. Und während ich, zu Hause bei der Großmutter, erbärmlich nach der Brust schreie, werden diese von meinem Vater im Eisenbahnwagon genüsslich leer getrunken. Auf diese heldenhafte Tat ist er so stolz, dass er sie bei jeder Gelegenheit erzählt.

Vier Wochen ist die fünffache Mutter dann nicht daheim. Ich habe in der Zeit gelernt, aus der Flasche zu trinken, und meine Geschwister, das ohne zu murren ganz aufzuessen, was der Vater ihnen vorsetzt, damit er nicht böse wird und sie bloß nicht schlägt.

Unser Vater bleibt aus unbekannten Gründen nicht beim Bundesgrenzschutz. Vielleicht, weil er sich seinen Traum ein zweites Mal erfüllen will. 1958 geht er zur Bundeswehr, schwört den Eid und steckt fortan in einer schicken Uniform. Mit vor Stolz geschwellter Brust zeigt er unserer Mutter das große Haus mit Garten, das unser neues Zuhause werden soll. Es liegt ganz nah an einem Fliegerhorst. Die startenden und landenden Flugzeuge erfüllen die ansonsten ländlich duftende Luft mit Lärm und abgelassenem Kerosin. Der Vater organisiert auch einen kleinen Gemüseacker direkt an der Landebahn. Wir Kinder müssen dort spielen, solange die Mutter hackt und erntet. Hinterher sind wir ganz klebrig und stinken nach Treibstoff.

In unserer Siedlung leben, bis auf einige Familien mit holländischer Nationalität, nur Angehörige der Deutschen Bundeswehr. Auf dem Flugplatz sieht man die Zeltreihen der englischen Besatzer. Die gelangweilten Soldaten haben immer ein Stückchen Schokolade für die am Zaun stehenden, neugierigen Kinder. Unser Vater spaziert oft sonntags -damit unsere Mutter ungestört kochen kann - mit meiner Schwester und mir auf das Gelände. Wir sind noch klein, tragen lange, fest geflochtene Zöpfe und gleiche Kleidung, wie Zwillinge. Einmal gehen wir drei in eines dieser großen Zelte zu einem bestimmten Soldaten. Seine Kameraden lungern auf ihren Betten herum, spielen Karten oder hören englische Radiosender. Die kümmern sich nicht um uns oder um das, was zwischen meinem Vater und diesem einen Soldaten ausgehandelt wird. Der bietet beiläufig unserem Vater eine Zigarette an.

Erst ist es meine Schwester, die auf Wunsch des Fremden und auf Geheiß meines Vaters ganz nah an den nach Schweiß und Tabak riechenden, unrasierten Mann herantreten soll, um sich von ihm befühlen zu lassen, bevor ich, nach langem Palaver meines Vaters, dass ich nicht käuflich sei und mehr wert sei als die ältere, mich vor ihn hinstellen muss. Er wandert mit seiner kalten, rauen Hand unter mein von der Mutter genähtes Kleid, streichelt meinen flachen Bauch und tastet sich weiter nach unten. Mit der anderen Hand raucht er genüsslich weiter. Danach besuchen wir noch die auf dem Weg liegende Standortsverwaltung und den kleinen Vogelpark daneben. Mit etwas Glück finden wir eine schöne Pfauenfeder, die wir behalten dürfen und begeistert der Mutter zeigen, die mit dem Essen schon auf uns wartet.

Wenn es zu Hause wieder einmal laut ist, weil alle streiten, der Vater brüllt, und die Situation zu eskalieren droht, habe ich, und das schon ganz früh, eine Methode gefunden, oder sich eine Fähigkeit in mir entwickelt, die hilft, mich weit weg von diesen realen Geschehnissen zu bringen. Ich brauche nur meine Handflächen ganz fest aufeinander zu pressen, zu reiben, bis sie heiß werden und schon ist es mir, als läge ich mit dem Bauch auf einem samtig weichen, mollig warmen Tuch und schwebe über Gegenden, die ich nicht kenne und nicht beschreiben kann, die sich aber vertraulich und schön anfühlen. Nach Berichten meiner Geschwister verdrehe ich dabei die Augen; sehe wie eine Irre aus.

Später, so mit vier Jahren, als mein Vater mir das erste Mal ein großes, schweres Arbeitspferd eines Bauern zeigt und dieser mich auch noch hinaufhebt und mich in die Runde führt, liege ich fortan bei meinen Ausflügen nicht mehr auf dem zauberhaften Tuch, sondern galoppiere auf dem Rücken eines herrlichen Pferdes davon. Erst ist es ein weißes Pony mit schöner langer Mähne, dann ein großes Pferd, wild und nur von mir zu bändigen. Diese Ausflüge klappen fast immer und überall, wenn ich sie brauche. Doch allein, auf der kleinen Gästetoilette, funktioniert das noch am besten. Anfangs kommen noch die Geschwister oder der Vater selbst in die Toilette, - abschließen können und dürfen wir nicht - um mich zurückzuholen, indem sie mich grob schütteln. Mein Bruder mit der Brille versucht manchmal, mich an die Eltern zu verpetzen. Die wissen mit meinem „Getue“, wie sie es nennen, nichts anzufangen und lassen mich „machen“.

Wenn der Sohn mit den schlechten Augen wieder einmal den Zorn des Vaters auf sich lenkt, sei es nur, weil er sich vor dem Essen die Hände nicht gewaschen, oder mit schlechter Körperhaltung verträumt schielend geglotzt hat, bekomme meist ich vom Vater den Befehl, dem Kind die Brille abzunehmen, damit sie bei der nun anstehenden Züchtigung nicht zu Bruch geht. Der Rest der Familie steht daneben und muss zuschauen, wie der Vater mit seinem Gürtel den sich durch den Flur wälzenden Jungen „windelweich“ schlägt. Unsere Mutter geht selten dazwischen. Ich erinnere mich nur an ein einziges Mal; wie sie sich hysterisch schreiend zwischen den von Sinnen Dreschenden und dem am Boden liegenden, aus seinen Striemen an Beinen und Rücken blutenden Jungen stellt und schreit: „jetzt ist genug!“

Wir anderen dürfen nicht weinen. Wenn gar nichts hilft und ich nicht mehr hinsehen kann, schlage ich meine Stirn so heftig an den Küchentürrahmen, bis alle Aufmerksamkeit auf mich gelenkt ist und meine Mutter vom Vater angepfiffen wird, das verrückte Mädchen gefälligst hinauszuschaffen. Nach solchen Exzessen, nass geschwitzt und außer Atem, lehnt sich der Vater erschöpft in seine Sessellehne zurück und stöhnt: „Ihr bringt mich noch alle ins Grab.“ Die älteren Brüder hieven den schlaffen, schlanken Kinderkörper in sein Bett und die Mutter kehrt die Scherben eines zerschlagenen Spiegels zusammen. „Wieder sieben Jahre Unglück“, zischt der Vater prustend durch seine schmalen Lippen. Auch für dieses schlechte Omen trägt der unartige Sohn die Verantwortung.

Der mit der Brille ist und bleibt ein Pechvogel. Wenn er nicht gerade seine Wunden leckt, die der Vater ihm beigebracht hat, kuriert er sein kaputtes Knie, das er sich in regelmäßigen Abständen beim Hinstürzen mit seinem Fahrrad aufschlägt. So schlimm, dass es nicht heilen will. Oder er hat irgendwelche Knochenbrüche, die ihm dann auch Vorteile verschaffen, wie, nicht in die Schule zu müssen, oder seine Aufgaben im Haus nicht erledigen zu müssen.

Jedes Kind unserer Familie hat mindestens eine feste Aufgabe, die es täglich zu erledigen hat. Der große Bruder holt die Milch vom Bauern. Der zweite füllt den

Kohlenkasten auf. Der dritte schafft die Asche raus und fegt die Diele. Meine Schwester deckt den Tisch, wenn vorher der große Bruder ihr das Geschirr aus dem Schrank gereicht hat. Und ich bekomme auch meine Aufgabe. Weil ich meine schönen, neuen, roten Schuhe mit schwarzer Schuhcreme geputzt und dadurch ruiniert habe, droht die Mutter: „Warte nur, bis Papa nach Hause kommt!“ Woraufhin ich vor lauter Angst stundenlang auf der kleinen Fußbank sitze und mir die Hände reibe. Die verfärbten Schuhe vor mir. Meine Mutter vergisst es dann doch, es dem Vater zu erzählen. Erst als am Abendbrot-Tisch mein Platz leer bleibt, fällt es ihr wieder ein. Zur Strafe darf ich, obwohl meine Arme noch nicht stark genug sind und in den riesigen Schiffen förmlich verschwinden, die Dienstschuhe meines Vaters putzen, zwei Paar am Tag und später noch die meiner Brüder.

In meinen ersten Lebensjahren werde ich wegen Ungehorsams oder Fehlverhaltens vom Familienoberhaupt selten geschlagen, dafür aber fürchterlich angebrüllt. Mein Vater hat eine sehr starke und laute Stimme. Die braucht er auch, damit die jungen Rekruten auf dem Kasernenhof ihn hören, wenn er seine Kommandos gibt. Er setzt diese Donnerstimme ebenfalls ein, wenn ich etwas „verbrochen“ habe, damit meine Mutter glaubt, dass die Jüngste nicht ungestraft davon kommt.

Sie droht uns Kindern immer mit dem Vater, und das, so oft und so lange am Tag, bis dieser vom Dienst kommt. Während sie ihm seinen Tee serviert, hört er ihr zu, rührt dabei den Kluntje in seiner kleinen Tasse herum und wird langsam immer wütender auf das Kind, das ihm den Tee vermiest. Mit vor Zorn immer dünner werdenden Lippen schlürft er den zuckrigen Rest aus, und beim Absetzen der Tasse brüllt er nach dem Übeltäter und meist auch nach mir, die ihm das Prügelwerkzeug anreichen soll.

Unsere Mutter dagegen erhebt nie die Hand gegen uns, berührt uns nicht einmal. Im guten, wie im schlechten Sinne. Ich kann mich kaum erinnern, dass sie mich oder eins meiner Geschwister je gestreichelt oder länger als eine Minute im Arm gehalten hat.

Dass ich meines Vaters Liebling bin und von Prügel verschont werde, nehmen meine Geschwister mir übel. Dabei würde ich viel lieber Dresche bekommen oder die ganze Hausarbeit allein machen. Stattdessen muss ich mit ihm seinen sonntäglichen Mittagsschlaf abhalten. Meine Mutter hat nie etwas dagegen, selbst wenn ich sie anflehe, doch bei ihr bleiben zu dürfen, um mit ihr in der Stube zu handarbeiten.

Mein Vater fühlt sich erst richtig zufrieden und glücklich, wenn er seine beiden Töchter in seinen behaarten Achselhöhlen liegen hat. Wir müssen ihn, mit einer Hand, nach seinen Anweisungen streicheln und kraulen. Von unserer anderen, freien Hand, nimmt er den kleinen Daumen und drückt dessen Nagel im Rhythmus seiner Atmung schmerzhaft nach hinten, bis wir es nicht mehr aushalten und anfangen zu jammern. Er hört erst damit auf, wenn seine Atmung ruhiger wird und er endlich einschläft. Wir mögen uns nicht rühren, solche Angst haben wir, er könne vielleicht wieder aufwachen.

Meine Schwester kränkelt oft, fühlt sich schlecht und schlapp, was auch ihre dunklen Augenringe sagen. Sie ist „zu nichts zu gebrauchen“, wie mein Vater meint. Deswegen lässt er sie häufiger in Ruhe und kümmert sich mehr um mich.

Es ist Sommer, die frühe Morgensonne scheint durch die weit geöffneten Sprossenfenster ins elterliche Schlafzimmer. Mein Vater trägt seinen dunklen Anzug noch vom Vortag. Mit am Hals geöffnetem, weißem Hemd und gelockerter, schwarzer Krawatte marschiert er im Zimmer unruhig hin und her. An seinem Gesichtsausdruck, den dünnen Lippen, kann ich erkennen, dass er furchtbar wütend ist. Meine Mutter ist gerade gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Wahrscheinlich wieder auf den Friedhof. Obwohl da keiner von unserer Familie liegt, macht sie das oft. Mein Vater, der mich in der Tür stehen sieht, setzt sich aufs Bett, ruft mich zu sich und meint, indem er gleichzeitig mit seiner flachen Hand auf das weiße Laken klopft: „Setz dich zu mir und tröste deinen Vater.“

Er ist just dabei, meinen Daumennagel zu verbiegen und sich mit meiner ungewollten Mithilfe Trost zu verschaffen, als ein kleines Käuzchen oder ein junger Uhu durch das offene Fenster geflattert kommt. Ich springe sofort aus dem Bett, fange es ein und will es beruhigen. Da entreißt mein Vater es mir grob und jetzt noch ärgerlicher, schleudert er es zurück durchs Fenster und befielt mir, schleunigst wieder ins Bett zu kommen. „Sei schön lieb zu deinem Vater.“

Unsere Bundeswehrsiedlung mit ihren vielen verwinkelten Straßen und schönen, großen Gärten ist das reinste Paradies für die kinderreichen Familien. Das wilde, mit hohen Kiefern und Birken bewaldete Gelände gleicht aber einem Ghetto, denn nur wenige aus der eigentlichen Ortschaft verirren sich hinein und kaum einer hinaus.

In dem alten Spielkasino der englischen Besatzer ist ein Lebensmittelladen eingerichtet, den meine Mutter aber nur mit Bedacht aufsucht, weil er, nach Meinung unseres Vaters, viel zu teuer ist. Da lassen sich mehr die reichen Offiziersfrauen blicken. Und wir Kinder, wenn wir heimlich unser spärliches Taschengeld gegen Bonbons und Kaugummi eintauschen.

Dort kaufe ich mir, ohne nachzudenken, für 21 Pfennig meinen ersten Joghurt, einen mit Blaubeeren. Das Schlimme daran ist, dass der von unserer Mutter selbst hergestellt werden kann, oder für 17 Pfennig anderswo zu bekommen ist. Also eine unnütze Geldausgabe. Das findet auch mein Bruder mit der Brille, der sofort einen reellen Grund sieht, das beim Vater anzuzeigen. Als ich mir einen Löffel aus der Küche hole, um diesen mitgebrachten Joghurt draußen hinter den Büschen zu verspeisen, gerade den metallischen Deckel vom Plastik ziehe, werde ich von der Brillenschlange verpetzt. Die Folge ist, dass der kleine Plastikbecher, samt Inhalt, in Begleitung fürchterlichen Gebrülls, an der verklinkerten Hauswand landet.

Jeden Abend Punkt zehn ertönt über Lautsprecher vom Fliegerhorst her eine melancholische Trompetenmusik. Der Zapfenstreich. Spätestens dann müssen die jungen Soldaten in der Kaserne auf ihren Stuben sein. Und für uns Kinder zu Hause bedeutet diese Melodie, dass es schon sehr spät ist.

Manchmal kommt unser Vater abends, nach dem Zapfenstreich, mit fremdem Besuch in unser Zimmer und krabbelt mit seiner Hand unter unsere Bettdecken, kitzelt und zwickt uns, bis wir beiden Mädchen jaulend, weil hundemüde, aufwachen. Er stellt uns stolz diesen Leuten vor, meist Männern, und wir müssen uns von denen „drücken“ und ein „Gute-Nacht Küsschen“ gefallen lassen. Dann dürfen wir weiterschlafen.

Tagsüber, wenn es nicht gerade stürmt oder schneit, wird draußen gespielt. Das müssen wir, damit unsere Mutter mit ihren Freundinnen in aller Ruhe „kaffeesieren“ oder allein stricken kann.

In unserem schönen Ghetto gibt es Kinder in allen Altersgruppen. Ich habe eine Menge gleichaltriger Freunde. Da ist das blonde Mädchen von schräg gegenüber, das ich sehr mag. Es hat keinen richtigen Vater, weil dieser Frau und fünf Kinder verlassen hat und anscheinend spurlos verschwunden ist. Die Mutter sitzt immer in der Küche, trinkt Kaffee aus hellblauen Camping-Plastiktassen und raucht eine Zigarette nach der anderen. Manchmal schläft sie mit der Kippe in der Hand am Tisch ein und versengt sich die ungekämmten, schwarz gefärbten Haare. Man kann es im ganzen Haus riechen und wir Kinder rütteln sie dann wach. Die ständige Abwesenheit ihres Ehemannes ist für uns Kleinen eine geheimnisvolle Sache. Unser Vater meint: „Der ist schlau, hat sich ins Ausland versetzen lassen, nach Amerika, damit die Blagen ihm nicht die Haare vom Kopf fressen.“

Jedes Mal, wenn wir drüben spielen, zeigt die Freundin mir im Kleiderschrank den in einen schwarzen Instrumentenkoffer eingebetteten Kontrabass ihres Vaters und wird dabei tieftraurig. Er hat ihn immer noch nicht abgeholt. Sie glaubt, eines Tages wird er kommen und ihn und sein blondes Mädchen mitnehmen.

Ich habe eine Babypuppe, so groß wie ein echter Säugling, aus hartem Plastik, mit aufgemalten Haaren und hellblauen, gläsernen, starren Augen. Meine blonde Freundin von gegenüber kommt mit ihrer Puppe und deren Anziehsachen oft zu uns. Wir spielen dann Vater, Mutter, Kind. Die Mutter, manchmal sie, manchmal ich, wickelt und füttert die Kleinen und der Vater schlägt sie auf den Hintern, wenn sie böse sind und das sind sie meistens. Dann wollen sie nicht aufhören zu schreien. Wir beiden Freundinnen imitieren das Babygeschrei so laut und lange, bis meine Mutter ins Zimmer kommt und uns ermahnt: „Wenn nicht gleich Ruhe herrscht, schicke ich deine Freundin nach Hause.“

An meinem fünften Geburtstag vermisse ich meine blonde Freundin, da denke ich schon, der Vater ist vielleicht gekommen. Der Grund aber ist, ihre Mutter hat kein Geschenk für mich gekauft. Deswegen traut sie sich nicht zu kommen. Von ihrem Haus aus beobachtet sie, wie wir Topfschlagen spielen und kommt dann doch. In der Hand hält sie, in Zeitungspapier eingewickelt, die alten vergilbten Mullwindeln ihrer Babypuppe. Mein schönstes Geschenk.

Auf der anderen Straßenseite wohnt der süße Junge mit dem Mecki-Haarschnitt, der von seiner Mutter auch in Gegenwart von uns Kindern „mein Scheißerle“ genannt wird. Dabei ist er nur ein paar Monate jünger als ich. Seine wesentlich ältere Schwester, ein richtiger Hippie mit schönen, strubbeligen, schwarzen Haaren raucht schon Zigaretten und trägt verwaschene Jeans. Die Kinder aus unserer Familie dürfen keinen Kontakt zu ihr haben, noch nicht einmal in Gegenwart unseres Vaters von ihr reden. Sie ist kein Umgang für uns und ihr Vater ein erbärmlicher Schlappschwanz, weil er sich nicht durchsetzen kann. Mein großer Bruder, der schon gut Gitarre spielt, findet seine Gründe, diesem attraktiven Mädchen das Spielen beizubringen. Unser Vater hat gleich Angst, ihre „schlampige“ Art könne auf ihn abfärben oder noch schlimmer, ein „Verhältnis“ könne bei diesen Treffen herauskommen und verbietet es ihm ganz einfach. Daraufhin trifft mein Bruder sich heimlich mit ihr. Als mein Vater dahinterkommt, schlägt er ihn und nimmt ihn zur Strafe mit auf den Fliegerhorst, wo ihm der Militärfriseur einen besonders kurzen Pott-Schnitt verpasst. Mein großer Bruder schämt sich so sehr, dass er sich nur mit Mütze nach draußen wagt und vorläufig freiwillig auf das Mädchen verzichtet.

Hinten im Garten, versteckt unter langen Ästen, Gestrüpp und Erde haben die beiden großen Brüder eine etwa zweimal drei Meter große, unterirdische Bude gegraben. Da kommt keiner hin, auch unsere Eltern nicht. Steigt man die sechs bis acht Stufen hinab, riecht es widerlich nach modriger, feuchter Erde. Wir Mädchen vermuten dort jedesmal einen Mörder, der nur auf uns wartet. Selbst am helllichten Tag finde ich es in der Nähe des Eingangs schon unheimlich. Meine Brüder rauchen dort heimlich ihre Zigaretten oder verstecken sich vor dem Vater, wenn der ihnen eine Arbeit auftragen oder sie wegen irgendetwas strafen will. Er selbst steigt nie in die Höhle.

Meine Schwester und ich ahmen den großen Brüdern so ziemlich alles nach. Auch wir paffen schon sehr früh. Einmal sind es selbst gedrehte Zigaretten aus Wellpappe, die von der Verpackung unseres ersten Kühlschranks stammt. Später in Klopapier eingewickelte Kastanienblätter, die eine ähnlich verheerende Wirkung haben.

In dieser Höhle, die mit Brettertisch und Baumstamm-Hockern ausgestattet ist, spielen wir unsere kindlichen Doktorspiele. Wegen der gruseligen Atmosphäre dort kommen uns diese noch verwegener vor. Meine liebe Freundin und ich ziehen dem Jungen mit dem Mecki-Schnitt die Hose herunter und untersuchen sein kleines Genital mit einem Grashalm, indem wir versuchen, das untere, dicke Ende des Halms in seine Harnröhre zu schieben. Der Junge fängt an zu weinen, und damit er bloß nicht davonläuft und uns womöglich verpetzt, darf er uns auch näher betrachten. Danach fühle ich mich elendig wie eine Schwerverbrecherin. In diesem Erdloch belehrt mich ein Nachbarjunge auch über den wahren Unterschied zwischen einem Katholiken und einem Protestanten. Er ist selbst Katholik und fühlt sich aus diesem Grunde mir gegenüber haushoch überlegen. Er erklärt mir, dass nur sie, die wahren Katholiken, beim Beten, Handfläche auf Handfläche, den lieben Jesus Christus darin halten, und, dass dies bei Andersgläubigen leider nicht der Fall sei.

Dafür haben die Katholiken es auf dem Schulhof nicht leicht. Deren Revier ist wesentlich kleiner und von dem der evangelischen Schüler durch einen dicken weißen Wandfarbe-Strich, den der (verrückterweise) gemeinsame Hausmeister regelmäßig auffrischt, getrennt. Wehe, es setzt nur ein Katholik seinen Fuß über die Linie, dann gibt es Ärger.

Mein Vater sagt immer „Katholiken stinken“.

Jeden Samstagabend werden wir entweder gründlich gewaschen oder gebadet, bekommen frische Wäsche an und wenn wir Glück haben, ein „Betthupferl“ vor dem Schlafengehen.

Wenn gebadet wird, muss das Wasser auf dem Küchenherd erhitzt und ins Badezimmer geschleppt werden. Die Wanne wird nie mehr als ein Viertel voll. Erst darf unser ältester Bruder, der meist nicht so schmutzig ist, in das frische Wasser steigen, bevor die beiden anderen Jungens zusammen dran sind und noch einmal heißes Wasser nachgeschüttet wird. Anfangs steht noch eine mittelgroße Zinkwanne vor der großen Badewanne, in der meine Schwester und ich sitzen. Als wir nicht mehr hineinpassen, müssen wir in das Dreckwasser unserer Brüder, obwohl wir Mädchen genau wissen, dass der Bruder mit der Brille hineingepinkelt hat.

Das ist aber immer noch besser, als sich von unserem Vater mit eiskaltem Wasser vor dem Waschbecken, auf einem Hocker stehend, waschen lassen zu müssen. Der geht, ohne Rücksicht auf irgendwelche Wunden oder Kratzer, die wir tragen, ausgesprochen rabiat vor. Mit dem von Kernseife schäumenden Waschlappen wird jede Körperöffnung so tief wie nur möglich gereinigt, was zur Folge hat, dass uns hinterher alles brennt und wehtut. Nach dieser Prozedur hat das Leiden aber noch kein Ende. Es müssen noch die langen Haare von uns Mädchen gekämmt und zu strammen Zöpfen geflochten werden. Das ist ausschließlich Aufgabe unserer Mutter, die anscheinend nie Lust dazu verspürt, dies eher als Last empfindet. Auch sie nimmt überhaupt keine Rücksicht auf unser Gejammer. „Stellt euch nicht so an!“

Manchmal gehen unsere Eltern Samstagabend, gleich nach der Badeaktion, noch aus und wir Kinder sind allein. Einmal löst der große Bruder mir meine frisch geflochtenen Zöpfe und dreht die noch nassen Haare auf Lockenwickler und föhnt sie trocken.

Voller Vorfreude auf das Ergebnis versuchen wir die stacheligen Rollen aus meinen zerzausten Haaren zu bekommen, was nicht gelingt. Wir müssen sie vorsichtig rausschneiden. Mir sieht man es anderntags sofort an, das etwas mit meiner Frisur nicht stimmt. Nach einem strengen Verhör und unter Androhung einer „gehörigen Tracht Prügel“ verrate ich meinen Bruder, der vor meinen Augen eine schallende Ohrfeige bekommt.

Offen tragen dürfen wir Mädchen unsere Haare nie. Das gehört sich nicht. Das machen nur schlechte Mädchen, Schlampen. An den Abenden, an denen die Eltern weg sind, lasse ich meine Haare manchmal wild hängen, weil der große Bruder das so schön findet. Ich selber verspüre keine Freude dabei, nur ein schlechtes Gewissen und furchtbare Angst.

Der acht Jahre ältere Bruder, der meine Locken so liebt, hat mich besonders ins Herz geschlossen. Er verspricht, immer bei mir zu bleiben.

Die beiden älteren Brüder bekommen Musikunterricht auf dem Akkordeon. Sie selbst haben sich das Instrument nicht ausgesucht. Mein Vater mag es. Einmal in der Woche kommt der Musiklehrer mit seiner Isetta vorgefahren, einen kleinen Anhänger hinter sich herziehend, in dem die Noten und sein Instrument liegen. Im ganzen Haus ertönt sein Emta, Emta, Emta im Takt und wir anderen müssen mucksmäuschenstill sein.

Der Bruder mit der Brille soll kein Instrument lernen. „Das ist rausgeschmissenes Geld. Der hat doch keine Ausdauer.“ So bleibt dem Jungen vorerst nur die Rolle des Zuhörers. Doch der schaut sich das Grundwissen bei den anderen ab und bringt sich den Rest des Akkordeonspielens selbst bei. Bald überbietet er die beiden großen Brüder mit seinem Können. Der Ältere, der „darf“, findet das Akkordeon bald langweilig und denkt immer häufiger an seine Gitarre. Der Vater steht diesem „rebellischen“ Instrument anfänglich äußerst skeptisch gegenüber, ist dann aber doch mächtig stolz auf ihn, als dieser damit beginnt richtig loszulegen und noch dazu schön singt. Wenn Besuch kommt, zu Weihnachten oder an Geburtstagen, wird musiziert und der Vater wünscht sich endlos die Polka „Die tanzenden Finger“ oder den „Schneewalzer“. Der große Bruder gibt dem kleinen mit der Brille sein Akkordeon, damit dieser mitspielen kann.

Unser Vater betont immer: „Ich mache noch anständige Menschen aus euch!“ Unter anderem legt er sehr viel Wert auf gute Essmanieren. Früh schon müssen wir mit Messer und Gabel essen, am Tisch kerzengerade sitzen, beim Kauen den Mund geschlossen halten und den Teller stets ratzekahl leeressen. Ich kann mich erinnern, dass ich den riesigen Haufen Steckrüben-Eintopf mit Speck vor mir nicht runterbekomme und mein Vater bis zum Zapfenstreich versucht, mir den kalten Brei einzuflößen. Vergebens.

Mein geliebter großer Bruder ist Linkshänder und hat so seine Schwierigkeiten, mit Messer und Gabel zu hantieren. Er wechselt sofort die Hand, wenn er sich unbeobachtet fühlt.

Auch bei ihm muss der Vater letztendlich passen, trotz Nackenschlägen, Gebrüll und Geheul.

Für ein gut erzogenes Kind gehört es sich auch, andere Leute höflich zu grüßen.

Bei uns in der Nachbarschaft wohnt ein alleinstehender, älterer Herr, der einen hohen Posten bei der Standortverwaltung inne hat. Er geht jeden Tag an unserem Haus vorbei. Wenn wir Kinder draußen spielen, bleibt er immer stehen und schaut uns eine Weile zu. Einmal bin ich so in Gedanken versunken, dass ich diesen Mann nicht sehe und nicht grüße. Am nächsten Tag spricht er meinen Vater an und beschwert sich. Er will, dass ich mich bei ihm entschuldige. Mein Vater pfeift mich auf zwei Fingern herbei, nimmt mich auf seinen Arm und reicht mich an den ekeligen Mann weiter. Ich soll ihn umarmen und ganz lieb um Entschuldigung bitten und ihm auch ein Küsschen geben. Der widerliche Mann drückt mich ganz fest an sich, dass ich kaum Luft bekomme. Dabei kneift er mich fürchterlich in den Po, dass ich zu schreien anfange. Während ich heule, küsst der Mann mich einmal, zweimal und noch einmal, dann lässt er mich endlich runter. Auf dem Heimweg schimpft mein Vater mit mir. „Was für ein unartiges Kind du doch bist!“

Auf dem großen Wendehammer vor unserem Haus haben sich die Kinder der deutschen Soldaten versammelt, um die Kinder der Holländer mit Steinen zu attackieren. Die Geschosse fliegen hin und her. Mein Bruder mit der Brille traut sich nicht, die großen ausländischen Jungen zu bewerfen, und sucht sich in der allgemeinen Raserei ein unproblematischeres Ziel, nämlich uns Mädchen. Aus ziemlich großer Entfernung holt er zum Wurf aus und schleudert mir einen kinderfaustgroßen Stein an den Kopf. Er trifft mich haarscharf über dem Auge. Ich falle um und komme kurze Zeit später blutüberströmt wieder zu mir. Der mit der Brille schreit, „das war ich nicht, das war ich nicht“, aber alle wissen genau, dass er es war, verpfeifen ihn aber nicht, weil sie wissen, was ihm blüht. Ich laufe allein zu meiner Mutter ins Haus. Sie sieht mich und fängt fürchterlich an zu schimpfen. Sie weiß überhaupt nicht, was sie mit mir machen soll und kocht erst einmal den Tee für den Vater zu Ende. Das Blut tropft auf meine Bluse und sammelte sich auf meinem Rock. Sie schreit mich an, ich soll aufhören zu heulen. Als der Vater endlich kommt, bin ich völlig blass. Ohne vorher seinen Tee zu trinken, nimmt er mich auf den Arm und rennt mit mir zum Doktor, der auch in unserer Siedlung wohnt. Der versorgt die klaffende Wunde mit fünf Klammern und einem dicken Verband. Ich bekomme die erste Spritze in meinem Leben.

Mein Vater will immer wieder wissen, wer das getan hat. Denjenigen will er „totschlagen“. Ich sage nichts. Für einige Zeit bin ich das Zentrum der Anteilnahme in meiner Familie, ja, der ganzen Siedlung, weil jeder mit mir Mitleid hat.

Vater wird bei der Bundeswehr befördert und hat jetzt seine eigene Sekretärin. Eine blonde, vornehme junge Dame, auf die meine Mutter mit einigem Recht eifersüchtig ist. Sie kommt auch zu uns nach Hause, dann ist unser Vater mit ihr allein im Wohnzimmer. Mutter sitzt währenddessen mit uns Kindern zusammen und handarbeitet, oder sie geht, wenn es tagsüber ist, ein paar Häuser weiter zu ihrer Freundin und, wenn die nicht zu Hause ist, auf den Friedhof.

Einmal sitzen wir wieder in der Küche beisammen, als das Fräulein da ist. Ich muss auf die Toilette und finde die Toilettentür verschlossen. Seltsame Geräusche dringen da aus dem Klo. Mein Vater ist gar nicht in der Stube, so warte ich im Flur. Dann kommen beide zusammen aus dem kleinen Raum. Ich kann das nicht verstehen und schaue ganz verdutzt. Die hübsche Dame wirkt verstört und will sofort gehen. Vorher öffnet sie ihre Handtasche, nimmt ihr Portemonnaies heraus und gibt mir ein Fünfmarkstück. Mein Vater meint: „Da hast du aber Glück gehabt.“ Als ich das große Geldstück, es füllt meinen kompletten Handteller aus, der Mutter zeige, wird sie wütend und weint den ganzen Abend.

Immer wenn die Sekretärin zu unserem Vater kommt, bringt sie nur mir etwas mit. Einmal ist es ein kleines schwarzes Babypüppchen aus Plastik, mit einer weißen Perlenkette und einem kurzen Baströckchen. Ich zeige es meinen Geschwistern in der Küche, die ganz neugierig und neidisch sind. Da nimmt mein zweitältester Bruder, der mich sonst nie ärgert, das Köpfchen der Puppe und zerquetscht es vor meinen Augen zwischen seinen Fingern. Ich bin so traurig, dass ich mich gar nicht mehr beruhigen kann. Um es wieder gutzumachen, versucht der Bruder, das Köpfchen mit einer Nadel auszubeulen, aber es gelingt ihm nicht. Meine Mutter probiert es dann mit kochendem Wasser, aber auch das geht nicht. Ganz im Gegenteil: das dunkle Köpfchen mit den Kulleraugen wird ganz weich und immer unförmiger. Der Bruder mit der Brille jauchzt nur so vor Schadenfreude. Ich trauere noch tagelang dem kleinen Püppchen hinterher.

Mein Vater kann seine Eltern und Geschwister nach dem Krieg nur noch wenige Male, unter widrigen Umständen, im Osten besuchen. Als Angehöriger der Bundeswehr darf er gar nicht mehr hin, weil er ein Geheimnisträger ist. Wir Kinder fragen uns, was das wohl für Geheimnisse sind, woraufhin unser großer Bruder meint: „Das sind die vielen versteckten Waffen auf dem Fliegerhorst, von denen die „da drüben“ nichts wissen dürfen.“

Die Mauer wird gebaut. Als die älteste, in der „Zone“ lebende, sehr geliebte Schwester meines Vaters unerwartet früh an Asthma stirbt und auch noch unserer Mutter die Einreise in die DDR, zwecks Teilnahme an der Beerdigung, verweigert wird, schreit der Vater vor Zorn, weint herzzerreißend und randaliert in der Küche. Wir alle bekommen fürchterliche Angst. „Ja, das ist der Iwan! Unmenschlich! Barbarisch! Alle gängeln und unterdrücken!“

Eines Tages kommt er mit einer Bauanleitung für Sportarmbrüste nach Hause. Er will zwei davon bauen. Man muss auf alles gefasst sein, damit man sich und seine Familie verteidigen kann, wenn der Russe erst einmal vor der Tür steht. Nächtelang sitzt er in der Küche und werkelt. Mit welcher Inbrunst, Hingabe und Ausdauer er bei der Sache ist! Als die Waffen und Pfeile mit den kleinen Widerhaken fertiggestellt sind, zimmert er aus einer Spanplatte eine Zielscheibe. Die stellt er an einer alten Birke zum Nachbargrundstück hin auf. An einem Sonntag, in aller Herrgottsfrühe, weckt er seine beiden älteren Söhne, um ihnen draußen im Garten Schießunterricht zu erteilen. Das geht nicht ohne Geschrei und Nackenschläge vom Vater und ohne Gejammer der Kinder ab. Die erst Zwölf - und Dreizehnjährigen schaffen es bei bestem Willen nicht, den Bogen zu spannen. Der jüngere hat sich die Finger geklemmt und weint, woraufhin der Vater ihn einen Idioten schimpft. Der große Bruder verfehlt die Schießscheibe so weit, dass der Pfeil beim Nachbarn landet und er sich hinüberschleichen muss, um ihn vergeblich zu suchen. Die katholische Familie, mit der der Vater immer mal wieder irgendwelche Wortgeplänkel über den Zaun hat, bringt den Pfeil erst Wochen später herüber, mit dem Hinweis, dass man bei weiteren Grenzverletzungen mit der Polizei aufmarschieren würde.

Die Familie meines Vaters ist durch den Krieg zerrissen. Ein jüngerer Bruder wandert mit seiner Frau nach Amerika aus, wo er es auch zu „etwas bringt“, wie mein Vater stolz meint.

Seine kleine Schwester, die er kaum kennt, setzt sich kurz vor dem Mauerbau noch schnell in den Westen ab und landet in Düsseldorf bei Henkel, der großen Waschmittelfabrik. Sie muss mit siebzehn Jahren heiraten, weil Nachwuchs unterwegs ist. Ihr kaum älterer Ehemann, der sich eine Zigarette an der anderen ansteckt, fährt mit seinem ersten Auto ein Kind tot und kann nicht mehr fröhlich sein. Meine junge, hübsche Tante ist das reinste Nervenbündel. Der schreiende Säugling, ihr unglücklicher Ehemann und die eintönige Fabrikarbeit, alles zerrt an ihrem Gemüt. Sie wollen in die USA auswandern, neu anfangen.

Sie liefern ihren sechs Monate alten Jungen einfach bei uns ab, um ungestört das Geld für die Überfahrt in die Staaten zu verdienen. Das bedeutet, dass ich mit vier Jahren mein Gitterbettchen hergeben muss. Meine Schwester und ich sollen von nun an zusammen in einem Bett schlafen. Sie in Richtung Kopfende, ich Richtung Fußende. Anfangs gibt es noch viel Gezanke, weil wir uns mit den Beinen immer in die Quere kommen. Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit ist es nur noch schön. Wir haben ein wunderbares Spiel erfunden. Dabei nimmt jeder den Fuß des anderen in die Hände und wiegt ihn wie ein kleines Baby. Derjenige, dem das Baby gehört, macht passende Geräusche zu den Bewegungen, wie albernes Sprechen, Lachen oder Weinen und der andere liebkost und streichelt den kleinen Fuß so, wie unsere Mutter es nie mit uns macht. Aber der Clou ist, dass beide Füße gleich heißen, nämlich „Guy“. Jeder von uns hat seinen kleinen Guy. Wir binden ihm Kopftücher um, wickeln ihn liebevoll ein und haben ihn irre lieb. Jahrelang spielen wir mit unserem „Guy“. Auch noch, als ich mein eigenes großes Bett habe.

Meist bin ich es, die zur Schwester ans Fußende krabbelt und sich den kleinen „Guy“ schnappt. Eines Tages ist meine Schwester der Spielerei überdrüssig, fühlt sich zu alt für solche Kinderspiele und entreißt mir ihren lieben, kleinen Guy mit einem Ruck und betont nochmals, dass es jetzt genug sei. Ich bin sehr bedrückt und traurig über ihren Entschluss und mache voller Hoffnung den Vorschlag, doch wenigstens hin und wieder dieses Spiel noch zu spielen. Es ist vorbei. Was bleibt, ist, dass wir uns für immer und ewig gegenseitig „Guy“ nennen.

Unseren kleinen, neuen Mitbewohner aus Düsseldorf schieben wir in meinem alten Kinderwagen durch die Siedlung und erzählen allen Leuten, dass es unser neuer Bruder ist. Es dauert nicht lange, da sagt er auch „Mama“ zu unserer Mutter. Als meine nervöse Tante aus Düsseldorf kommt, um ihn abzuholen, will der Kleine gar nicht mit. Wir weinen herzzerreißend mit ihm, als er in das große Auto gepackt wird und die für uns fremden Leute mit ihm davonfahren.

Unsere Großeltern aus der „Ostzone“ schicken jedes Jahr zu Weihnachten ein großes Paket, in dem unter anderem immer ein Hefestollen, ein sogenanntes „Schittchen“, liegt. Da unsere „Oma Thüringen“ gut häkeln kann, schickt sie auch jedes Mal selbstgehäkelte Topflappen und Untersetzer mit, von denen noch heute welche vorhanden sind. Für uns Mädchen gibt es einmal eine Porzellanpuppe, die so künstlich-strohiges Haar hat, dass ich mit ihr nicht schmusen mag, sie aber aus Ehrfurcht vor der unbekannten Oma zu meiner geliebten Babypuppe geselle. Für die Brüder gibt es Gesellschaftsspiele und Bücher, die sie kaum anrühren.

Mir schicken die Großeltern zum Geburtstag ein eigenes Paket. Der kleine Karton liegt schon Wochen vorher im Kleiderschrank meiner Eltern. Als es endlich soweit ist, meine Geschwister auf dem Weg zur Schule und der Vater zum Dienst sind, setze ich mich auf den Küchentisch und warte auf eine liebevolle Gratulation meiner Mutter. Stattdessen schreit sie mich an: „Was treibst du dich in aller Herrgottsfrühe schon in der Küche rum, Mädchen, sieh zu, dass du fix wieder ins Bett kommst!“ Dabei tritt ihr linkes Auge hervor und schaut ganz böse, wie es das immer tut, wenn sie ungeduldig oder verärgert ist. Da erinnere ich sie leise weinend: „Aber Mama, ich habe heute Geburtstag und da ist doch das Päckchen von Oma und Opa!“ „Hör auf zu heulen!“ Sie läuft hastig in ihre Schlafkammer und bringt das Paket, ohne ihre Arbeit wirklich zu unterbrechen. Es sind kleine braune Cowboystiefelchen drin, so klein und zierlich, dass ich überlege, wem die wohl passen könnten, bis meine Mutter keift: „Kuck sich das einer an! Die in der Zone haben wohl keine Ahnung, was für ein großes Mädchen du schon bist. Mein Gott!“ Sie nimmt die Stiefelchen und wirft sie in die Ecke. Dann schickt sie mich zurück ins Bett, damit sie endlich ihre Arbeit machen kann.

Ein anderes Mal schicken die Großeltern uns zu Weihnachten einen dreiteiligen Holzdackel, dessen Glieder mit Eisenscharnieren verbunden sind, sodass er schlangenförmig wackelt, wenn man ihn hinter sich herzieht. Mein Vater, der seine Neugier nicht länger im Zaum halten kann, packt das Paket aus der Zone schon zwei Tage vor dem Fest aus und zieht mit uns Kindern samt Wackeldackel lachend durch die Siedlung. Als meine Mutter uns und ihren Mann mit dem hinter ihm ratternden Holzdackel auf der Straße erblickt, gerät sie richtig in Hysterie und keift, dass ihre Stimme sich überschlägt: „Der kann auch gar nichts für sich behalten! Und? Was wollen wir jetzt zu Weihnachten schenken? Dann gibt es halt nix!“

Am Heiligabend ist die Stimmung immer noch getrübt und es gibt wirklich wenig.

Meine Schwester und ich schauen vor einem Weihnachten - ich mag wohl fünf gewesen sein - in den Kleiderschrank unserer Eltern und entdecken zwei Puppenbettchen aus Apfelsinenkisten. Unsere Mutter hat die ovalen Kisten mit gelbem Stoff bespannt und auch passende Kissen und Decken dazu genäht. Bis zum Fest schleichen wir Mädchen bei jeder Gelegenheit ins elterliche Schlafzimmer und schauen nach den kleinen Bettchen und, ob vielleicht noch ein Geschenk hinzugekommen ist.

Das Wissen um die Puppenbettchen verdirbt uns langsam die Vorfreude und bereitet zudem ein fürchterlich schlechtes Gewissen. Wir schämen uns unserer Neugierde wegen und glauben, dass die Eltern bereits Bescheid wissen, es uns an der Nasenspitze ansehen können. Die fragen auch öfter: „Habt ihr vielleicht etwas zu verheimlichen?“

Dann, als es endlich soweit ist und wir Kinder unsere Geschenke auspacken dürfen, fällt uns „das Freuen“ wirklich schwer.

Mein Vater nimmt mich später, nach dem Essen und dem Ständchen der Brüder, auf den Schoß.

„Kraule deinen Papa. Du machst das so gut.“

Er verbiegt mir den Daumennagel. Das ist unangenehm. Trotzdem fühle ich mich erleichtert, mit meinem Dienst, dem artigen Stillhalten, die Schuld begleichen zu können. Damit alles wieder gut ist.

Mein zweitältester Bruder darf, mit Genehmigung des Vaters, zwei Hauskaninchen halten, die er hinter dem Haus, in einem großen, selbstgezimmerten Stall unterbringt.

Eines Tages gelingt es dem Bruder, ein Wildkaninchen, das sich in die unterirdische Bude verirrt hat, einzufangen und er sperrt es zu den anderen beiden in den Stall. Einige Wochen später kommen die ersten Jungen zur Welt. Mit einem Freund tauscht er einige Exemplare aus und schon bald sind es an die siebzig Tiere im Stall. Trotz Anbau fallen immer wieder welche durch die Lücken der Bodenbretter, weil die hoppelnde Menge keinen Platz hat.

Alleine vermag der Bruder die Nager nicht einzufangen, also müssen wir Geschwister mithelfen. Unser Vater schmeißt uns eine zeitlang jeden Morgen, in aller Herrgottsfrühe, aus dem Bett, damit wir die Tiere noch vor der Schule einsammeln. Die zwei, drei dicksten Exemplare wandern gleich, ausgeblutet und abgezogen, bei unserer Mutter in der Küche. Bis irgendwann keines mehr da ist.