Das Haus Zamis 85 - Catalina Corvo - E-Book

Das Haus Zamis 85 E-Book

Catalina Corvo

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Beschreibung

Mit geübten Griffen legte der Henker der kreischenden Alten den Strick um den Hals. Mit Tritten zwangen die Amtmänner sie auf den Schemel. Wie so oft hatte die Hexe nur ein Jammern übrig. Es mochte daran liegen, dass ihre Zunge unter der Folter gelitten hatte. Für ein umfassendes Geständnis hatte es allemal gereicht.
Mit fachmännischem Blick begutachtete der Hexenjäger erst die eingeschüchterten Bauern, dann das wimmernde Häufchen Elend, das mit zitternden Knien auf dem Schemel stand, während der Pater die letzten Zeilen des letzten Absatzes herunterleierte.
Als das Kreischen in einem kurzen Gurgeln erstarb, löschte der Hexenjäger den Namen von einer langen Liste.
Eine Hexe weniger, aber nichtsdestotrotz hatte die Arbeit des Hexengenerals erst begonnen ...


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Seitenzahl: 134

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Inhalt

Cover

Was bisher geschah

DER HEXENGENERAL

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

mystery-press

Vorschau

Impressum

Coco Zamis ist das jüngste von insgesamt sieben Kindern der Eltern Michael und Thekla Zamis, die in einer Villa im mondänen Wiener Stadtteil Hietzing leben. Schon früh spürt Coco, dass dem Einfluss und der hohen gesellschaftlichen Stellung ihrer Familie ein dunkles Geheimnis zugrundeliegt. Die Zamis sind Teil der Schwarzen Familie, eines Zusammenschlusses von Vampiren, Werwölfen, Ghoulen und anderen unheimlichen Geschöpfen, die zumeist in Tarngestalt unter den Menschen leben.

Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht Coco den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Ihr Vater sieht mit Entsetzen, wie sie den Ruf der Zamis-Sippe zu ruinieren droht. So lernt sie während der Ausbildung auf dem Schloss ihres Patenonkels ihre erste große Liebe Rupert Schwinger kennen. Auf einem Sabbat soll Coco zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an, doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut und verwandelt Rupert Schwinger in ein Ungeheuer.

Seitdem lässt das Oberhaupt keine Gelegenheit aus, gegen die Zamis-Sippe zu intrigieren. So schickt Asmodi den Dämon Gorgon vor, der Wien und alle seine Bewohner zu Stein erstarren lässt – und die Stadt komplett aus dem Gedächtnis der Menschheit löscht. Nur Coco kann im letzten Augenblick entkommen, allerdings hat sie jede Erinnerung an ihre Herkunft verloren ... Nach und nach gewinnt sie diese jedoch zurück, und es gelingt ihr, Gorgons Bann zu brechen und Wien zu retten.

In der Folge baut Michael Zamis seine Kontakte zu den Oppositionsdämonen aus, die sich Asmodis Sturz auf die Fahnen geschrieben haben. Als Cocos Mutter Thekla von Michaels Liaison mit einer Kämpferin des Widerstands erfährt, tötet sie diese. Es kommt zum Bruch mit den Oppositionsdämonen, die Coco ungefragt ein »Permit« verpassen – ein magisches Tattoo in Form eines zweiköpfigen Adlers.

Letztlich einigen sich Asmodi und Nocturno und teilen in der Charta Daemonica die Herrschaftsbereiche unter sich auf. Michael Zamis jedoch wird in eine krötenartige Kreatur verwandelt. Coco bittet um Gnade für ihren Vater und willigt ein, Nocturno zu begleiten – ohne seine wahren Gründe zu kennen. Nocturno glaubt, mit Coco eine »Geheimwaffe« zu besitzen, die ihm zur Rückkehr ins centro terrae verhelfen könnte – was ihm schließlich auch gelingt.

Coco sowie Rebecca und Georg, die sich an Cocos Fersen geheftet haben, finden sich in Wien wieder – doch der Banshee Peter hat Georgs Körper in Besitz genommen. Außerdem hält sich Asmodi nicht an das Versprechen, Michael von seinem Freakdasein zu erlösen. Es sei denn, Thekla erkläre sich bereit, mit ihm eine »zweite Coco« zu zeugen. Thekla geht zum Schein darauf ein. Während eines Schwarzen Sabbats wird Asmodi jedoch vorgeführt. Aus Angst vor seiner Rache flüchten die Zamis zunächst nach Antwerpen. Aber auch dort sind ihnen die Verfolger dicht auf den Fersen. In letzter Sekunde können sie entkommen und erreichen England – bis auf Adalmar, der zunächst verschollen bleibt ...

DER HEXENGENERAL

von Catalina Corvo

»Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebeund verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer,denn sie müssen brennen.«Johannes 15:6

Hadleigh, Suffolk, 1857

Selbst der Mond wandte sich ab und huschte hinter einen bleichen Wolkenschleier, als wolle er sein Antlitz verbergen, um die Taten der Nacht nicht mit ansehen zu müssen. So wurde die Nacht zu einem undurchdringlichen Schleier.

Der alte Tim Leyfield hatte gesagt, dass ein großes Unwetter heranzog. Er spürte das in seinem verstümmelten Bein. Doch genau darum hatte Jane diese Nacht für ihr Vorhaben gewählt. Alle hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert, und jeder würde glauben, dass sie noch einen Tag länger ihre Freundin Mathilda im benachbarten Bungay besuchte. Mathilda hatte sie erzählt, dass sie noch am Nachmittag zu Hause sein wollte.

1. Kapitel

Aber statt in Hadleigh hatte sie den Rest des Tages auf dem Heuboden einer Scheune verbracht. Niemand vermisste sie. Der Gedanke, der beruhigen sollte, versetzte ihr einen kleinen Stich.

Die junge Frau zog den dünnen Wollmantel enger um die Schultern. Dabei lauschte sie dem düsteren Glucksen des Weihers links des Weges und dem Geräusch ihrer Schritte auf dem Uferpfad. Hastig und unsicher stolperte sie über herbstnasses Laub. Immer wieder blieben ihre Füße an den heimtückischen Buchenwurzeln hängen, die wie bösartige Türschwellen in der Dunkelheit lauerten. Sie stürzte, rappelte sich auf und hastete nach kurzer Pause weiter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Jedes Mal, wenn sie stolperte, hielt sie inne wie eine vor Angst gelähmte Feldmaus. Nicht nur, weil sie in den letzten Wochen stets erschöpft war und immer häufiger nach Atem ringen musste, sondern auch aus Furcht vor Verfolgern. Sie spähte hinter sich auf die andere Seite des Weihers. Zum Dorf. Manchmal glaubte sie, leise Schritte zu hören. Ein verräterisches Rascheln hier und dort. Dann wieder nichts.

Wenn ihr nur niemand gefolgt war. Wenn ihr Fehlen hoffentlich nicht aufgefallen war. Ihre Fantasie malte Jane quälende Szenen von Hohn und Spott aus, aber auch von abergläubischer Furcht. Wie sagte ein altes Sprichwort? Wer zum Teufel ging, der landete in der Hölle.

Andererseits, was hatte sie zu verlieren? Alfrod hatte sie bereits verloren und mit ihm ihre Zukunft, alle Pläne, das ganze Leben, das ihr zustand. Und ihre Schönheit war dahin, ihre Jugend. All das. Ihre Gebete waren unerhört verhallt. Nicht einmal in den Augen der Dorfbewohner gab es Gnade. Selbst Mutter, Vater und Evie mieden mittlerweile ihre Gegenwart. Kein Wunder, die schwärenden Ekzeme hatten begonnen, widerlich zu stinken, wie eine faule Kartoffel mitten in einem Sack guter.

Was konnte ihr also noch Schlimmeres passieren? Sie stolperte weiter, den Weiher entlang zum Dorfteich und dort zu dem toten Arm, der stets ein wenig nach Sumpf roch. Dann weiter über die wackelige Holzbrücke, von der niemand wusste, wer sie erbaut hatte, und schließlich den Schafspfad über die Hügelwiesen bis in das Tal, wo das alte Schäferhaus stand. Das Haus des Hexers.

Aus dem rußgeschwärzten Schornstein dampfte Rauch. Im Dorf sparten die meisten Familien das Holz und wagten noch nicht zu heizen, aber er hatte wohl keine finanziellen Sorgen. Ja, er nahm gutes Geld für seine Hilfe. Und manchmal auch ein wenig mehr, wie der alte Lowell anmerkte, sobald das Gespräch auf den Hexer von den Hügeln kam. Den »Cunning Man«, wie man ihn in ganz Suffolk nannte.

Es war der alte Name, den seinesgleichen von jeher auf den Inseln für sich beanspruchte. »Cunning People«. Zauberer und Hexen. Aber sie waren nicht nur schlau, diese gotteslästerlichen Heiden, sie waren auch boshaft. Jeder wusste, dass eine grausame Verderbtheit in den verbotenen Künsten steckte. Dennoch ... wenn man nichts mehr zu verlieren hatte?

Trotz allem zitterte Janes Faust, und sie verharrte zögernd vor dem dunklen Holz des alten Fachwerkhäuschens. In der Zwischenzeit hatte sich der Wind gelegt. Selbst hier, am Hang des grasbedeckten Weide-Hügels, wehte kein Lüftchen mehr. Es war stiller als in einem Grab. Jane glaubte, das Gras zu hören, wie es unter ihren Füßen leise seufzte. Ihr eigener zurückgehaltener Atem erschien ihr laut wie ein Blasebalg. Ihre Knie bebten längst. In der Totenstille lag eine Warnung, zugleich aber auch eine gespannte Erwartung.

Verschwinde, drohte der schweigende Hügel. Oder ich verschlinge dich.

Oder tu endlich, weswegen du herkamst, raunte unhörbar die sternenlose Nacht.

Im nächsten Augenblick knarrte die Tür. Jane erstarrte. Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre ihr eine Flucht unmöglich gewesen. Eine zehrende Schwäche griff nach ihr wie ein Kavalier, der sie in einen langsamen, anmutigen Tanz zog. Kerzenschein lockte aus dem Inneren der Hütte. Und zugleich begegnete ihr der Blick der strahlendsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte.

Er war klein. Kleiner, als sie gedacht hatte. Jane hatte sich den Hexer vom Hügel immer größer vorgestellt. Mit struppigem Bart und stechendem Blick, wie einer der mythischen Riesen, die nach alter Sage die Steinkreise erschaffen hatten, um darin mit Dämonen und anderen Ungetümen zu tanzen.

Aber so sah der Gesuchte ganz und gar nicht aus. James Cunning Murrell war klein und stämmig, hatte wettergegerbte Haut wie ein Bauer, der tagein, tagaus sein Feld bestellte, und den milden, aber auch durchdringenden Blick eines vornehmen Lords.

Einige fiebrige Herzschläge lang musterte er Jane schweigend, dann lud er sie mit einer Geste ein, sein Haus zu betreten.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sein eigentümlicher Blick wischte jeden Widerspruch fort wie ein bedeutungsloses Staubkorn. Janes Verstand wehrte sich. Und doch wollte ein stärkerer, ursprünglicher Teil ihrer Seele diesem unscheinbaren Mann in sein dunkles, geheimnisvolles Reich folgen. Ehe sie sich versah, fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Das Geräusch ließ sie zusammenzucken. Doch schnell fing sie sich wieder und sah sich neugierig in der Wohnstube um.

Er lebte in erstaunlich bescheidenen Verhältnissen. Die einfache, bäuerliche Einrichtung unterschied sich kaum von denen seiner Kunden. Hübsche Schnitzarbeiten und ein paar Jagdtrophäen hätten auch in jedes andere Landhaus gepasst. Ebenso wie der eichene Kleiderständer neben der Tür. Daran hingen der dunkle Mantel und der vornehme Hut, ohne die Meister Cunning Murrell angeblich nie ausging, ebenso wie der schwarze Regenschirm, den er gerüchteweise stets bei sich trug.

Aber da waren auch die Masken. Wie stumme, mürrische Beobachter waren sie über dem Kamin angebracht. Von der Decke baumelte eine Hasenpfote. Ein Fuchsschädel auf der Fensterbank starrte nach draußen. Die Augenhöhlen des Fuchses lagen weit auseinander. Vielleicht etwas zu weit.

Murrell, der Cunning Man, ließ Jane keine Zeit, sich allzu genau umzuschauen. Er winkte sie in die Küche. Auch dort war alles unerwartet gewöhnlich. Nur der große Kessel über dem offenen Herd hatte etwas Hexenhaftes. Ebenso der würzige, schwere Kräuterduft, der aus dem dampfenden Kesselinhalt aufstieg. Leise blubberte das Gebräu vor sich hin.

Mit sanften und geschmeidigen Gesten servierte der Hexer einen kräftigen Darjeeling. Prüfend ließ die junge Frau einen Schluck über die Zunge gleiten. Der Geschmack war intensiv, und der Tee offenkundig teuer und rein. Murrell hatte sich ihr gegenüber an einen winzigen Küchentisch gesetzt. Der Blick der blauen Augen ruhte auf ihr. Im Licht einer tönernen Öllampe flackerten diese Augen unheimlich. Wie ein gezähmter Blitz, schoss es Jane durch den Kopf. In Murrells Augen wohnte eine unverständliche, unheimliche Kraft. Mit jeder Sekunde, die verstrich, fuhr diese Kraft in Janes Körper. Spürbar wie ein Kribbeln, eine kühle Berührung.

»Also ...«, begann Jane und geriet ins Stocken. »Ich bin hier ... verzeihen Sie die Störung. Es ist nur ...«

»Ich weiß, warum du hier bist«, unterbrach Murrell ihr zusammenhangloses Gemurmel. »Ich sehe es auf deiner Haut. Der nächste Ausbruch steht kurz bevor, nicht wahr?«

Jane duckte sich unwillkürlich. Seine Worte saßen wie ein gut platzierter Schlag.

»Du willst, dass es aufhört«, stellte er nüchtern fest.

Sie nickte stumm.

»Verständlich, wer würde das nicht wollen. Sie müssen dir unwahrscheinliche Schmerzen bereiten, deine Knochen. Und deinen Anblick kannst du kaum noch ertragen. Du hast bereits begonnen, alle Spiegel in deiner Umgebung zu zerschlagen. Deine Fingerknöchel beweisen es. Aber du konntest noch auf eigenen Füßen herlaufen, also hast du es seit etwa drei Monaten. Drei Schübe, nicht wahr? Der vierte würde dich vermutlich bettlägerig machen. Also?«

Jane öffnete den Mund, aber sie bekam kein Wort heraus. Es war noch nicht einmal Zauberei notwendig gewesen, sie stumm zu machen. Seine rücksichtslose Beobachtungsgabe hatte genügt. »Sie kennen die Krankheit?«, würgte sie schließlich hervor.

Seine schmalen Lippen brachten ein dumpfes Lachen hervor, das wie ein verzerrtes Echo des Kessels klang.

»Krankheit? Du leidest an keiner Krankheit.«

»Aber meine Knochen«, brach es endlich aus Jane heraus. Sie begriff nicht, wie er ihren Zustand leugnen konnte. »Ich spüre, wie es zieht, als säße in mir ein Tier, das an meinen Eingeweiden nagt.«

Sein Lachen endete abrupt. Auf sein Gesicht stahl sich ein Ausdruck der Faszination. Er neigte sich zu ihr hin.

»Ja, man sieht schon die ersten Zeichen des nächsten Anfalls. Er wird dich scheußlich verunstalten. In eine Bestie verwandeln.«

»Bitte helfen Sie mir.«

»Du meinst, bevor es erneut geschieht?«

Er spielte mit ihr. Janes Augen brannten von Tränen, die sie mit letzter Kraft niederkämpfte. Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu. »Bitte.«

Er maß sie mit kühlem Blick wie ein Stück Vieh auf dem Markt. »Alles hat seinen Preis.«

Auf diese Forderung war sie vorbereitet. Hastig zog sie die kleine Geldbörse mit ihrem Ersparten und kratzte mit bebenden Fingern blinkende Pennystücke und sogar ein paar Pfundnoten zusammen. »Hier, das ist alles, was ich habe.« Sie streckte es ihm hin.

Er aber nahm das Geld nicht einmal zur Kenntnis, würdigte es keiner Beachtung. »Ich will vor allem eins. Ich will deinen nächsten Anfall sehen und deinen Körper in allen Einzelheiten studieren. Dann erst wirst du Heilung erfahren.«

Jane schlug die Hände vor den Mund. Entsetzt starrte sie ihn an, in der unsinnigen Hoffnung, dass er sich nur einen Scherz erlaubte.

»Es beginnt«, sagte er dumpf. »Ich spüre bereits, wie deine Knochen zu arbeiten beginnen. Also zieh dich aus.«

Adalmar (Gegenwart)

Später konnte Adalmar nicht mehr sagen, was ihm den entscheidenden Hinweis gegeben hatte. War es eine Bewegung am Rande seines Blickfelds? Ein Aufblitzen irgendwo? Seine magischen Sinne, die ihm verrieten, dass eine nicht zu unterschätzende magische Kraft im Begriff war, sich zu manifestieren? Vielleicht auch der eine Herzschlag in vollkommener Stille, der jedem großen Ereignis vorausging? Oder eine Mischung aus allem?

Noch bevor seine sinnliche oder übersinnliche Wahrnehmung die Lage überhaupt analysiert hatte, meldete sich ein stärkerer, ursprünglicher Sinn für Gefahr. Jene leichte Gabe zur Präkognition, die er stets leugnete, denn sie reichte nicht für hellsichtige Visionen. Nicht einmal mit magischer Unterstützung. Was nützte ihm also ein verkümmertes Talent? Adalmar war nie stolz gewesen auf eine so niedere Fähigkeit, die sich jeder bewussten Kontrolle entzog. Er war keine zugedröhnte Pythia und kein weibischer Hermaphrodit.

Dennoch handelte Michael Zamis' Sohn im Reflex, als seine Intuition ihn warnte. Unbewusst hatte er den Moment vorhergeahnt, und so fiel es ihm leicht, ohne nachzudenken in den schnelleren Zeitablauf zu wechseln.

Die Welt um ihn herum blieb stehen. Er jedoch rannte. Der schnellere Zeitablauf war nicht sein stärkster Zauber, war es nie gewesen. Sein Vater, aber auch Georg und sogar Coco beherrschten die Disziplin um Längen besser. Darum hatte Adalmar schon früh gelernt, den Mangel durch Fleiß auszugleichen. Er hatte sich schnell so viele andere Zauber angeeignet, dass es weder seinem Vater noch seinen Geschwistern einfiel, seine magische Kraft infrage zu stellen. Und so hatte Adalmar stets die Tatsache verborgen, dass er ausgerechnet diesen mächtigen, speziellen Zauber nicht gut ausführen konnte.

Außerdem war da noch etwas Unbekanntes im Spiel. Von irgendwoher kam ein Sog, aber er zerrte nicht an Adalmars Körper oder seinem Geist, sondern ausschließlich an seiner Zaubermacht. Wie eine Welle, ein Vakuum, ein unsichtbarer Strudel. Adalmar spürte, wie seine Kräfte erlahmten und sein Zauber brach, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Zum Glück hatte er sich gerade rechtzeitig weit genug entfernt. Er wollte sich nicht vorstellen, was es bedeutete, näher am Zentrum dieser Anti-Kraft zu sein.

So reichte es immerhin für einen unüberlegten Sprung über die Reling und ein paar Schwimmzüge außerhalb des gefährlichen Bereichs der Schiffsschraube. Dann lief die Zeit wieder normal. Die Fähre dampfte weiter.

Keine zwei Atemzüge später hagelte es Metall.

Die Stärke der Explosion verblüffte Adalmar trotz aller Vorahnungen doch. Wer immer das getan hatte, musste das ganze Schiff vermint haben. Oder ein Zauber, der mit dem seltsamen Sog zu tun hatte? Die namenlose Macht, dieser bezwingende Diebstahl seiner magischen Energie, beunruhigte ihn weitaus stärker als das Gleißen und der Knall.

Was von dem Schiff noch übrig war, versank schnell in den dunklen Fluten. Auch der Schwimmer spürte den kalten Sog der Tiefe. Mit wässrigen Fingern griff die Nordsee nach seiner Kleidung. Kälte kroch unter seine Haut. Hastig murmelte Adalmar einen Zauber, der ihn mit der Energie des Feuers verband. Die magische Hitze half ihm, schneller und besser gegen die Wellen anzuschwimmen. Dennoch bedurfte es magischer Ausdauer, um den Weg zum Ufer zu schaffen.