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1992 - Auf der nordfriesischen Insel Föhr gibt es plötzlich unerklärliche Wahnsinnsanfälle. Professor Brunner, dessen Frau auch betroffen ist, wird in die Untersuchungen einbezogen. Das Profitstreben der Industrie sowie die Vogelstrauß Politik der Landesregierung scheinen zu einer globalen biologischen Katastrophe zu führen.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Für Maria, Magdalena und Marcus
Vorwort
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Epilog
Es ist November 2015 und für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm und trocken. Deshalb mag bei mir noch keine Adventsvorfreude aufkommen. Trotzdem sitze ich in meinem Lieblingssessel mit Glühwein und Keksen. Ich bin versunken in ein Buchmanuskript, das ich vor 22 Jahren verfasst habe und an das ich mich nur noch lückenhaft erinnern kann. Beim Aufräumen bin ich heute zufällig darauf gestoßen.
Damals wollte kein Verlag dieses Buch veröffentlichen. Vermutlich bin ich ein miserabler Schriftsteller. Aber vielleicht hat man die Brisanz, die in diesem Manuskript steckt, nicht erkannt oder gemeint, dass dieses andere nicht interessiere. Egal, das Manuskript ist vor 22 Jahren auf einem Ablagestapel gelandet.
Heute bieten eBooks und Print-on-Demand ganz andere Möglichkeiten. Zum Beispiel lassen sich auch kleinere Auflagen ohne finanzielles Risiko realisieren. Deshalb habe ich beschlossen, dieses Buch nach so vielen Jahren auf diesem Wege zu veröffentlichen. Die Welt soll doch noch alles erfahren!
Etwas Sorge bereitet mir, ob es allen Lesern gelingt, sich in die damalige Zeit zu versetzen. Es war damals vieles anders -heute würde man sagen, primitiver. Es gab noch keine Smartphones, nein, so etwas war damals völlig unvorstellbar. Und eine Videokamera hatten die Größe und das Gewicht von einem Ziegelstein. Der ICE war von der Bahn als sensationeller Fortschritt eingeführt worden und man bezahlte noch in Deutscher Mark. Selbst die Rechtschreibung hat sich zwischendurch geändert (z.B. 'dass' statt 'daß') - dieses ist das einzige, was ich an dem Manuskript angepasst habe.
Damals war der Buß- und Bettag in ganz Deutschland noch ein Feiertag und die Menschen waren in meiner Erinnerung noch viel entspannter…
Der Anfang dieser schicksalhaften Ereignisse lässt sich heute nur noch ungenau rekonstruieren. Wie aus Frachtpapieren hervorgeht, wurde am 15. Januar 1993 eine 31,6Kg schwere Kiste per Bahn von Frankfurt nach Hamburg geschickt. Vermutlich wurde sie beim Ein- oder Ausladen gekippt, gestoßen oder fiel von irgendwo herunter. Jedenfalls muss sie so beschädigt worden sein, dass ein grauer Leinenbeutel, etwa so groß wie ein Wäscheklammerbeutel, unbemerkt herausfiel und im Gepäckwagen liegen blieb.
Wehrend die Kiste in Hamburg entladen wurde, rollte dieser Leinenbeutel mit dem Zug weiter in Richtung Westerland/Sylt. In Niebüll muss jemand den inzwischen herrenlosen Beutel zu einer Sendung gelegt haben, die mit NVAG-Zug und Fähre nach Wyk auf Föhr weiterbefördert wurde. Dort wurde die Fracht auf einen Handkarren umgeladen und in das rote Backsteingebäude der Güterabfertigung geschoben.
Ich kann mir nun gut den Angestellten der Wyker Dampfschiff-Reederei vorstellen, wie er seinen letzten Schluck Kaffee austrinkt, seine goldbraune Dienstjacke überzieht und zum Handkarren geht. Dort nimmt er die Frachtpapiere und beginnt die Sendung zu sortieren. Er wird sicherlich die Stirn gerunzelt haben, als er den überzähligen Beutel bemerkte. Nun, was sollte er mit diesem Beutel machen? Bauer Heine bekam Saatgut und Dünger, da passte dieser Beutel mit Saaterbsen gut dazu. Und wenn dies nicht richtig sein sollte, dann würde sich Heins bestimmt melden.
So oder ähnlich werden die Dinge ihren Lauf genommen haben, die im August die Welt an den Rand eines Abgrundes führen sollten.
Professor Michael Brunner saß auf seiner Terrasse im Liegestuhl und blätterte lustlos in der Wochenendausgabe des Inselboten. Brunner war 39 Jahre alt und Professor für Biochemie. Vor fünf Jahren hatte er einen Ruf nach Hamburg erhalten und war daraufhin von Göttingen dorthin gezogen. Hier hatte er auch vor drei Jahren Alice, inzwischen seine Frau, kennengelernt.
Alice stammte aus einer wohlhabenden und traditionsreichen Hamburger Kaufmannsfamilie. Deshalb konnten sie sich auch dieses kleine Ferienhäuschen leisten, welches sie vor zwei Jahre auf der Insel Föhr gekauft hatten, und auf dessen Terrasse Brunner gerade das Leben genoss.
Dieses Häuschen kam außerdem Brunners Leidenschaft, der Fliegerei, entgegen. Sie hatten sich ein kleines Flugzeug - eine CESSNA 172 - angeschafft mit dem sie in knapp einer Stunde von Hamburg zu der nordfriesischen Insel gelangten. So kam es auch, dass sie die meisten Wochenenden hier waren.
Aber jetzt waren Semesterferien und Professor Brunner hatte sich einen mehrwöchigen Aufenthalt in ihrem Haus auf Föhr gegönnt. Außerdem hatten sie mit dem Wetter Glück gehabt: es reihte sich ein strahlender Sonnentag an den anderen. So gingen sie viel spazieren, baden in der erfrischend kühlen Nordsee oder ruhten sich einfach im Liegestuhl aus.
Auch an diesem Sonntagmorgen hatten sie schon einen ausgedehnten Spaziergang zum Hafen unternommen. Jetzt bereitete Alice das Mittagsessen zu und er vernahm freudig das leise knisternde Geräusch und den angenehmen Geruch von bratenden Schnitzeln, der durch das geöffnete Küchenfenster zu ihm herüberzogen. Während ihm schon das Wasser im Munde zusammenlief, fiel sein Blick unwillkürlich auf seinen in den letzten Jahren leicht rundlich gewordenen Bauch. Alice lästerte häufig darüber, aber das tägliche Jogging bewirkte nur einen noch größeren Appetit und ein gesteigertes Verlangen nach einem Bier, so dass Brunner zwar durchaus ein sportlicher Typ war, aber der Bauch einfach nicht weniger werden wollte.
Ansonsten war Brunners Aussehen eher durchschnittlich. Er hatte keine markanten Gesichtszüge und betonte sein Äußeres auch nicht durch einen Bart. Lediglich zahlreiche hellgraue Haare auf dem Kopf, die sich vom dunkelbraunen Rest deutlich hervorhoben, setzten einen kleinen Akzent. Außerdem kleidete er sich in letzter Zeit modisch, was auf den Einfluss von Alice beruhte.
Während Michael Brunner noch von seinem Schnitzel träumte, kam Alice auf die Terrasse. Alice war ausgesprochen hübsch. Ihr hellblondes, schulterlanges Haar harmonierte gut mit ihren leuchtend blauen Augen. Zudem verstand es Alice ausgezeichnet, durch variieren ihrer Frisur und geschicktes Makeup, ihr Aussehen der Kleidung und Gelegenheit anzupassen. Zwar bezeichnete Brunner ihre Lidschatten und das Rouge manchmal spöttisch als "Kriegsbemalung", doch im Grunde gefiel es ihm recht gut.
"Schatz", sagte sie, "mir geht es irgendwie nicht gut. Ich habe Kopfschmerzen und außerdem ist mir übel."
"Du hättest heute früh auf dem Wyker Fischmarkt vielleicht doch nicht das Krabbenbrötchen essen sollen. Komm, trink einen Whisky, dann wird dir sicher bald besser werden."
Brunner stand auf, ging ins Haus und kam kurz darauf mit einer Flasche Ballantine's und zwei Gläsern, von denen das eine zur Hälfte mit Eis gefüllt war, wieder auf die Terrasse. Er stellte die Gläser auf den Tisch, goss jeweils einen großen Schluck Whisky hinein und schob das Glas ohne Eis zu seiner Frau hinüber. Sie trank das Glas mit einem großen Schluck aus und blieb wortlos sitzen.
"Du siehst in deinem neuen Kleid sexy aus", begann Brunner das Gespräch. Doch Alice antwortete nicht darauf. Sie nahm plötzlich die Arme hoch und streckte sie langsam aus, bis sie waagerecht vom Körper abstanden, spreizte die Finger auseinander und begann zu stöhnen.
"Meine Hände, meine Hände! Sie werden immer größer und größer."
Brunner war sich nicht sicher, ob dies ein Spaß oder ernst gemeint war; für ihn sahen die Hände jedenfalls ganz normal aus.
"Ich wusste gar nicht, dass ein winziger Schluck Whisky bei Dir solche Wirkung zeigt."
Doch Alice stand mit großen Augen und starrem Blick da.
"Die Hände werden mich umbringen. Eine Axt, eine Axt, schlage mir die Hände ab!"
Plötzlich überkam Brunner die nackte Angst. Er sprang auf und eilte auf Alice zu. Doch bevor er noch die drei Schritte zurückgelegt hatte, die ihn von Alice trennten, rannte sie davon. Nach wenigen Metern stolperte sie und stürzte unter gurgelnden Geräuschen mit ausgebreiteten Armen in das Rosenbeet. Dort blieb sie mit dem Gesicht nach unten regungslos liegen.
Innerhalb einer Sekunde war Brunner neben ihr angelangt. Gottseidank vernahm er ein leises Röcheln: Alice war also noch am Leben. Er beugte sich über sie, hob sie an und zog sie auf die Terrasse. Dort legte er sie nieder und brachte sie in die stabile Seitenlage, wie er es früher einmal im Erste Hilfe-Kursus gelernt hatte.
Alice sah schrecklich aus. An Armen, Beinen und am Gesicht hatten die Rosendornen tiefe Narben gerissen, aus denen jetzt das Blut strömte. Ebenso waren mehrere Blutflecken auf dem Kleid.
Nachdem sich Brunner vergewissert hatte, dass Alice noch atmete, lief er zum Telefon ins Haus und wählte mit zittrigen Fingern die Nummern von Dr. Wilster. Als das Telefon dreimal geklingelt hatte, vernahm er eine freundliche Stimme: "Hier ist der automatische Anrufbeantworter von Dr. Wilster. Herr Doktor ist zurzeit außer Haus. Sie können gleich nach dem Pfeifton eine Nachricht hinterlassen. In dringenden Fällen versuchen sie ihn bitte über sein Autotelefon zu erreichen. Die Nummer lautet 0161244878...."
Brunner legte auf, nahm den bereitliegenden Kugelschreiber und hörte den Anrufbeantworter noch einmal ab um die Funktelefonnummer zu notieren. Danach wählte er das Autotelefon an. Er hatte Glück, Dr. Wilster meldete sich sofort. Brunner schilderte mit hastigen Worten, was sich ereignet hatte.
"Es tut mir leid", sagte Dr. Wilster. "Ich hatte gerade zwei ähnliche Fälle und bin auf dem Weg zu einer Frau, die angefahren wurde. Der Unfallwagen ist unterwegs zu den anderen. Am besten fahren sie ihre Frau mit dem Auto sofort nach Wyk ins Krankenhaus. Ich möchte sie aber heute Abend noch bezüglich dieses eigenartigen Falles sprechen. Ich werde bei ihnen vorbeischauen."
Brunner eilte zu Alice, hob sie an, fasste von hinten unter die Achseln und zog sie so um das Haus herum zum Auto. Dabei schleiften ihre Hacken auf dem Boden. Ein zufälliger Augenzeuge hätte sicher gedacht, hier würde, wie im Fernsehkrimi, eine Leiche beseitigt. Dafür war es allerdings nicht fernsehreif, wie er Alice auf den Rücksitz legte.
"Das ist mit einer bewusstlosen Frau doch nicht so einfach", dachte Brunner.
Brunner legte die 12 Kilometer, quer über die Insel zum Krankenhaus in Wyk in wenigen Minuten zurück. Als er vor dem Krankenhaus ankam, wurde er von einem Pfleger und einer Krankenschwester mit einer fahrbaren Bahre bereits erwartet. Dr. Wilster hatte offensichtlich gute Arbeit geleistet und das Krankenhaus schon informiert.
Sofort wurde Alice mit gekonnten Griffen auf die Bahre gelegt. Während der Pfleger die Bahre in die Intensivstation schob, führte die Schwester Brunner in die Aufnahme um die Formalien zu erledigen.
Kurz darauf kam auch ein Arzt und befragte ihn nach dem Hergang. Danach musste Brunner noch zwei Stunden warten, bevor er Schutzkleidung überziehen und Alice auf der Intensivstation besuchen durfte. Sie war zwar arg verbunden und verpflastert, aber sie lächelte Brunner bereits wieder entgegen.
Abends saß Brunner in seinem Sessel und dachte über den vergangenen Tag nach. Die letzte Nachricht vom Krankenhaus lautete, dass es Alice schon wieder recht gut ginge. Dies war eine große Erleichterung für ihn.
Ein Klingeln an der Haustür riss Brunner unerwartet aus seinen Gedanken. Er ging zur Tür und öffnete. Dr. Wilster stand davor. Wilster ging allmählich auf die fünfzig zu und man sah ihm an, dass er gerne und gut speiste. Die kurzen dunkelgrauen Haare, die Hornbrille und seine bedächtige Art gaben ihm selbst ohne weißen Kittel das Aussehen eines Arztes. Seine intensiv braune Gesichtsfarbe betonte seine markante Erscheinung. Brunner kannte Dr. Wilster von einigen Besuchen in seiner Praxis sowie von Feiern und Veranstaltungen.
Brunner bat Dr. Wilster hinein und bot ihm einen Whisky mit Soda an.
"Es ist eigenartig", begann Dr. Wilster, "das Ehepaar Mock erkrankte ähnlich wie ihre Frau. Außerdem glaube ich, dass auch die Frau, die heute überfahren wurde, an Halluzinationen gelitten hat."
Dr. Wilster berichtete, dass die Mocks aus Bochum stammten und ihren Urlaub in Nieblum verbrachten, einem kleinen Ort im Süden der Insel. Dort hatten sie eine Ferienwohnung im Haus Seeadler gemietet. Vormittags waren sie nach Wyk gefahren und dort zum Fischmarkt am Hafen gegangen. Sie hatten sich mit den Menschenmassen durch die Stände und Buden gedrängt, ein Bier getrunken und ein paar Dinge gekauft. Gegen Mittag waren sie in ihre Ferienwohnung zurückgekehrt und hatten dort einen Rohkostsalat mit Käse sowie Brot gegessen. Kurz danach bekamen beide starke Kopfschmerzen und nahmen daraufhin Aspirin-Tabletten. Aber die Kopfschmerzen wurden ständig stärker. Frau Mock sah plötzlich Sterne, die sich zu grellen Lichtern vergrößerten und dann gleißend explodierten. Sie schrie vor Schmerzen. Herr Mock wollte loslaufen um Hilfe zu holen. Aber seine Beine schienen nicht zum Körper zu gehören und zu zerfließen. Sie gehorchten ihm nicht mehr. So kroch und schleppte er sich zur Nachbarwohnung und hämmerte dort an die Tür. Er hatte Glück, dass er bei dem schönen Wetter jemanden antraf.
"So wurde die Notrufzentrale alarmiert, die wiederum mich benachrichtigte", schloss Dr. Wilster und trank einen großen Schluck.
"Die Symptome sind ähnlich wie bei Alice", sagte Brunner.
"Halluzinationen wie nach einem synthetischen Rauschgift wie zum Beispiel LSD."
"Ja, aber es gibt auch Pflanzen, die solche Gifte enthalten. Ich denke nur an den Fliegenpilz. Wir sollten versuchen, die Gemeinsamkeiten aus den beiden Fällen herauszuarbeiten."
"Unbedingt", sagte Dr. Wilster und trank einen weiteren Schluck. "Es gibt vermutlich sogar noch einen weiteren Fall, nämlich den Tod von Frau Krüger."
Dr. Wilster begann zu berichten, was er von Frau Krüger wusste.
Anneliese Krüger hatte ihr gesamtes Leben auf Föhr verbracht. Sie war 81 Jahre alt und seit 21 Jahren Witwe. Kurz nach dem Tod ihres Mannes war sie in eine kleine Einliegerwohnung am Rande von Wrixum umgezogen, wo sie recht zurückgezogen lebte. Sie war bei der Zubereitung ihres Mittagsessens gewesen als sie plötzlich aus der Haustür und auf die Straße rannte. Dort lief sie Hans Henning vor das Auto, wurde durch die Luft geschleudert und schlug mit dem Kopf auf der Straße auf. Sie war sofort bewusstlos und starb wenig später auf dem Weg ins Krankenhaus. Herr Henning war vom Frühschoppen gekommen und in Richtung seines Hauses gerast, wo seine Frau seit 12 Uhr mit dem Mittagsessen auf ihn wartete.
"Ich musste Herrn Henning später auf Anordnung der Polizei eine Blutprobe abnehmen. Ich hatte dabei schon den Eindruck, dass er mehr als nur zwei Bier getrunken hatte. Herr Henning wurde von der Polizei verhört und die Kriminalpolizei aus Husum wird morgen kommen."
Dr. Wilster stand auf, ging zum Fenster, stützte sich mit beiden Armen auf die Fensterbank und schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit.
"Somit wäre die Schuldfrage leicht zu klären. Aber ich fürchte, dass sich die Kriminalpolizei um die wahre Ursache nicht kümmern wird. Man wird einfach sagen, dass Frau Krüger unvorsichtig auf die Straße gelaufen und Herr Henning betrunken Auto gefahren sei. Und beim Ehepaar Mock wird man sich vermutlich überhaupt keine Gedanken machen oder allenfalls denken, dass sie irgendeine Art Lebensmittelvergiftung hatten. Schließlich sind sie ja beide inzwischen wieder wohl auf. Es ist praktisch nichts passiert."
"Sie meinen also, Dr. Wilster, dass auch Frau Krüger Halluzination hatte und deshalb auf die Straße gelaufen ist?"
"Ja, dies würde gut ins Schema der beiden anderen Fälle passen: Mittagszeit, Halluzination, Weglaufen! Warum sollte Frau Krüger sonst heute Mittag über die Straße gehen? Sie wollte zu Hause essen und bereitete ihr Mahl zu."
"Dann lassen sie uns jetzt versuchen, Gemeinsamkeiten zu finden."
Brunner goss Dr. Wilster und sich eine neue Portion Whisky ein und füllte das Glas mit Soda aus einem Siphon auf.
"Die erste Gemeinsamkeit ist, dass es jeweils um die Mittagszeit passierte", bemerkte Brunner.
"Richtig", stimmte Dr. Wilster zu, "aber Herr und Frau Mock hatten gegessen, während Frau Krüger sowie ihre Frau das Mittagsessen noch zubereiteten.
Daran kann es also nicht gelegen haben. Trotzdem ist es auffällig, dass sowohl Familie Mock als auch sie auf dem Fischmarkt waren. Was haben sie denn dort gegessen oder getrunken?"
"Wir haben hauptsächlich umhergeschaut, sofern das bei dem Gedränge möglich war. Am ASTRA-Stand haben wir ein Bier getrunken und Alice hat ein Fischbrötchen gegessen. Ach ja, dann haben wir beim Gemüsestand noch frische Erbsen für das Mittagsessen gekauft."
"Auch die Mocks hatten Gemüse gekauft. Aber sie hatten ihr Mittagsessen doch noch nicht gegessen."
"Das ist schon richtig, allerdings nascht Alice immer Erbsen beim Auspulen."
"Hierin könnte eine Gemeinsamkeit liegen, denn auch Frau Krüger hat Erbsen für ihr Mittagsessen zubereitet. - An welchem Stand haben sie denn die Erbsen gekauft?"
"Das war gleich am Anfang des Fischmarktes, auf der linken Seite, der zweite oder dritte Stand. So ein ganz einfacher Marktstand, eine Art Kastentisch auf Holzböcken. Der Händler war ein älterer Mann mit einem grünen Hut."
"Vermutlich war es dann Bauer Heins. Das könnte auch das fehlende Bindeglied zu Frau Krüger sein. Denn Frau Krüger wohnt nur 100 Meter von Heins entfernt und kauft dort ihr Gemüse."
"Aber es haben mehrere Leute Erbsen gekauft, warum sind die nicht alle erkrankt? Oder sollte es daran liegen, dass nur rohe Erbsen giftig sind und das Gift durch das Kochen zerstört wird?"
Dr. Wilster nickte. "Es ist in der Tat auffällig, dass alle erkrankten Personen Erbsen zubereitet haben. Somit haben wir eine erste Hypothese: die Erbsen waren vergiftet, zum Beispiel mit einem Schädlingsbekämpfungsmittel. Wir sollten morgen früh Heins besuchen und versuchen, dies zu klären."
Dr. Wilster und Brunner verabredeten sich für den nächsten Morgen. Danach trank Dr. Wilster sein Glas aus und verabschiedete sich.
Professor Brunner saß an diesem Abend noch lange in seinem Sessel und dachte über die Ereignisse des vergangenen Tages nach. Er merkte dabei gar nicht, wie er langsam einschlief.
Am nächsten Morgen holte Dr. Wilster Brunner verabredungsgemäß gegen 9 Uhr ab. Mit der für die Einheimischen typisch überhöhten Geschwindigkeit fuhr Dr. Wilster die wenigen Kilometer bis zum Anwesen von Bauer Heins.
Es war ein kleines, romantisches Bauernhaus im Inselstil. Die Außenwände waren niedrig und aus roten Backsteinen gemauert, denen man das Alter und das raue Klima ansah. Die Fenster waren klein, mit weißen Holzrahmen, das Reetdach relativ hoch und dominant. Lediglich im Eingangsbereich gab es einen dachhohen, oben spitz zulaufenden Erker mit der Tür und einem Fenster darüber. Aus dem Mauerwerk ragten kunstvoll geschmiedete Armierungen. Dies Haus erweckte bei jedem Betrachter den Eindruck, dass es bereits unzähligen Stürmen und Unwettern getrotzt hatte und trotzt seines Alters auch in Zukunft noch widerstehen würde.
Dr. Wilster klopfte kurz an die große, dunkelrote, zweiteilige Tür und trat dann, ohne eine Antwort abzuwarten, ein.
"Heins, bist du zu Hause?"
Brunner folgte ihm zögernd in die kleine dunkle Diele. In jeder Wand des rechteckigen Raumes befand sich eine grüne Tür, die durch die deutlichen Gebrauchsspuren sehr rustikal aussahen.
"Kann man denn nicht mal in Ruhe scheißen! Ich komm gleich", hörte man eine entfernte Stimme schimpfen.
Brunner konnte nicht feststellen, aus welcher Richtung Heins geantwortet hatte und wartete gespannt, durch welche der drei Türen er wohl kommen würde. Während der nächsten fünf Minuten passierte allerdings nichts, außer dass Dr. Wilster ständig nervöser auf- und abstapfte. Dann endlich vernahmen sie schlurfende Schritte und Heins kam durch die linke Tür auf sie zu.
Brunner schätzte Bauer Heins auf gut sechzig, obwohl ihn seine sonnengebräunte Haut jünger erscheinen ließ. Auffallend war, dass Heins auch im Haus einen dunkelgrünen Cordhut trug.
Brunner überlegte noch, ob Heins wohl mit dem Hut auch auf die Toilette ging, als Heins sie ansprach.
"Wie komm ich zu der Ehre ihres Besuches, Herr Doktor?"