Das Jahr ohne Schlaf - Samantha Harvey - E-Book

Das Jahr ohne Schlaf E-Book

Samantha Harvey

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Beschreibung

Originell, tiefgründig und mit Humor erkundet Samantha Harvey das Mysterium des Schlafs und die fatalen Folgen von Schlaflosigkeit. „Ein Meisterwerk, so gut, dass es mir den Atem verschlägt.“ (Helen Macdonald)

Von einem Tag auf den anderen verliert die Schriftstellerin Samantha Harvey die Fähigkeit zu schlafen. Sie gerät in Panik und versucht alles, um ihre Schlaflosigkeit zu überwinden: Akupunktur, Sanskrit-Gesänge und Ernährungsumstellung, Dankestagebücher und Schlafapparaturen – nichts scheint zu helfen. Das Jahr ohne Schlaf ist ein eindringlicher innerer Monolog über ein Jahr ohne eine der grundlegenden menschlichen Lebensbedingungen. Originell, tiefgründig und mit Humor erkundet Harvey auf ihren nächtlichen Reisen das Erinnern, das Schreiben, Tod und Überlebenswillen und entwirft eine düster-komische Anatomie der Schlaflosigkeit. Ein genresprengendes literarisches Memoir von der Intensität jener Wachträume, die alle Schlaflosen heimsuchen.

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Seitenzahl: 204

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Das ist das Cover von Das Jahr ohne Schlaf

Über das Buch

Originell, tiefgründig und mit Humor erkundet Samantha Harvey das Mysterium des Schlafs und die fatalen Folgen von Schlaflosigkeit. »Ein Meisterwerk, so gut, dass es mir den Atem verschlägt.« (Helen Macdonald)Von einem Tag auf den anderen verliert die Schriftstellerin Samantha Harvey die Fähigkeit zu schlafen. Sie gerät in Panik und versucht alles, um ihre Schlaflosigkeit zu überwinden: Akupunktur, Sanskrit-Gesänge und Ernährungsumstellung, Dankestagebücher und Schlafapparaturen — nichts scheint zu helfen. Das Jahr ohne Schlaf ist ein eindringlicher innerer Monolog über ein Jahr ohne eine der grundlegenden menschlichen Lebensbedingungen. Originell, tiefgründig und mit Humor erkundet Harvey auf ihren nächtlichen Reisen das Erinnern, das Schreiben, Tod und Überlebenswillen und entwirft eine düster-komische Anatomie der Schlaflosigkeit. Ein genresprengendes literarisches Memoir von der Intensität jener Wachträume, die alle Schlaflosen heimsuchen.

Samantha Harvey

Das Jahr ohne Schlaf

Aus dem Englischen von Julia Wolf

Hanser Berlin

Für alle, die nachts wach sind.

Und für die, die ich aufgeweckt habe; es tut mir leid.

Freund:  Woran schreibst du?

Ich:  Weiß nicht, an ein paar Essays. Keine richtigen Essays. Nein, keine Essays. Texte halt.

Freund:  Und worüber?

Ich:  Weiß ich noch nicht so genau. Dies und das. Über Schlaflosigkeit, hauptsächlich. Aber der Tod schleicht sich immer wieder ein.

Freund:  Mäh.

Ich:  Mäh, was?

Freund:  Mäh, morbid.

Ich:  Aber wir werden alle —

Freund:  Noch leben wir.

Ich:  Aber mit jedem Tag, den wir leben —

Freund:  Leben wir.

Ich:  Mitten im Leben sind wir vom Tod —

Freund:  Pff.

Ich:  Mitten im Leben sind wir —

Freund:  Warum schreibst du nicht einfach noch einen Roman?

Ich:  Mein Cousin ist gestorben, allein in seiner Wohnung. Sie glauben, er war schon zwei Tage tot, als sie ihn gefunden haben. Er war noch nicht sehr alt.

Freund:  Oh.

Ich:  Es ist nicht so — ich hab nur — wir standen uns nicht mal sehr nahe.

Freund:  Mies.

Ich:  Ich kann nicht aufhören, an ihn in seinem Sarg zu denken, unter der Erde.

Freund:  Lass das lieber.

Ich:  Wenn ich daran denke, steigt eine Trauer in mir auf, die so groß ist, so rein, als würde ich um all die Leute trauern, die ich noch verlieren werde. Als wäre sein Tod ein Tor zum Tod aller Menschen. Was hält die Schlupfwespen und Aaskäfer davon ab, die Augen meiner Mutter zu fressen? Eben bin ich noch das Kind, das von ihr in den Schlaf gewiegt wird, mit ihr Sardinen auf Toast isst oder Roald Dahl liest, das mit ihr zur Schule läuft oder von ihr mit einem Schwamm abgewaschen wird, weil der Ausschlag so brennt, und im nächsten Moment stelle ich mir vor, wie ihre Darmbakterien ihre Organe auffressen und sie verwest. Und dann bekomme ich vor lauter Trauer keine Luft mehr.

Der Tod meines Cousins hat alle anderen Tode heraufbeschworen.

All die künftige Trauer nimmt mir den Atem.

Freund:  [ist gegangen]

*

Mitternacht:

Ins Bett und hinlegen. Kopf aufs Kissen.

Wieder raus aus dem Bett. Abergläubisch die verstreuten Klamotten vom Boden pflücken, um sie grob zusammenzulegen und wegzuräumen — eine von unzähligen kleinen Routinen, die vor einer schlaflosen Nacht schützen sollen. Eine von unzähligen kleinen Routinen, die ich in dem Aberglauben, dass abergläubische Handlungen nur die Chancen auf Schlaf mindern, als Aberglauben abtue. Doch letztlich lassen sie sich nicht ignorieren. Was sein muss. Einzuschlafen ist längst keine natürliche Handlung mehr, sondern ein Akt schwarzer Magie.

Zurück ins Bett und lesen, Erzählungen von William Trevor. Bald stellt sich Schläfrigkeit ein, wie etwas, das von hinter der nächsten Ecke ruft. Ein scharfer, stechender Schmerz auf meinem Scheitel; meine Kopfhaut wird mit Nadelstichen traktiert. Die Lampe ist ausgeschaltet, und das Zimmer liegt mehr oder weniger im Dunkeln. Ein seltsames Knarren ertönt von wer weiß woher.

Das Herz beginnt mit seinem Bumm-Bumm-Bumm, ein stolperndes Trommeln in einer Brust, die sich nun mit Atem füllt. Atme, atme. Und jetzt, da es dunkel ist, kommen sie hervor, alle, die Heiligen und die Horrorgestalten, da sind sie.

Nach der Vorstellung der mittelalterlichen Ars Moriendi umdrängen sie das Totenbett eines Mannes, Heilige und Dämonen, wetteifern um seine Seele. Die Dämonen versuchen, ihn in die Verzweiflung zu treiben — da ist ein affenähnliches Wesen mit Hörnern und dem Gesicht eines Mannes auf seinem Bauch, es hält einen Dolch; ein hundeähnliches Wesen mit einem einzelnen Geweih, hämischem Grinsen und lockendem Finger; ein Dämon mit Widderkopf blickt dem Mann über die Schulter; eine Satyr-ähnliche Kreatur mit krummer Nase leckt sich die Lippen. Komm mit uns in den Tod, sagen sie. Entsage deinem Glauben und komm mit uns.

Und dann ein Bild des gleichen Mannes, der Satyr ist neben das Bett gefallen, das Bein eines anderen Dämons ragt unter dem Bett hervor. Maria Magdalena und der heilige Petrus stehen neben seinem Kissen, Petrus hält den Schlüssel zum Himmel in den Händen. Hinter ihnen wird Jesus gekreuzigt, sein Kopf ist nach hinten über den Querbalken des Kreuzes gesackt, und am Kopfende des Bettes ist der Hahn der Erlösung Petri zu sehen, jener Hahn, dessen Krähen Petrus aus seiner Verleugnung Christi erweckte und ihn veranlasste, Buße zu tun. Komm mit uns, sagen der Hahn, Petrus und Christus — hier ist deine Rettung, komm mit uns ins Himmelreich.

Ich schließe die Augen und versuche, an der Schläfrigkeit festzuhalten, die hinter den Synkopen meines Herzens immer noch ruft. Das Herz ein zäher Klumpen Fleisch, von Angst durchflutet. Fünfzig Minuten vergehen; es ist fast eins. Wenn Schlaf kommt, wäre er für gewöhnlich jetzt schon da; und wenn er jetzt noch nicht da ist, kommt er wahrscheinlich gar nicht mehr. Schweiß, die erste Ahnung von Panik wie ein Unwetter, das in der Ferne zu hören ist, nur die Ahnung eines dumpfen Donnerns. Noch ist Zeit zum Schlafen, das Unwetter könnte ausbleiben.

Petrus schwebt mit dem Schlüssel über mir, Nimm ihn, sagt er, er wird dich hinüberbringen. Ich strecke meine Hand aus, und der Teufel schreitet ein — bedeutet doch der Wunsch nach Schlaf gleichzeitig dessen Verweigerung; je mehr du ihn willst, desto weniger kommt er. Irgendwo in der Dunkelheit wird das Wort Gier geflüstert. Du bist zu gierig nach Schlaf. Jesus sackt zurück, tot, mit offenem Mund starrt er zur Decke. Das Wort Komm wird geflüstert, und ich weiß nicht, aus welcher Ecke. Heilige oder Dämonen? Ich weiß es nicht.

Hab Vertrauen, höre ich. Hab Hoffnung.

Verlier den Glauben, höre ich. Lass die Hoffnung fahren.

Herz bummbummbumm, Kopfhaut angespannt. Jetzt quillt mein kleines Zimmer über. Immer lauter das Wummern meines Herzens. Die aufgewühlte Luft. Die Flügelschläge der Harpyie, Krallen ausgefahren, Wangen eingefallen vor Hunger. Petrus, der sich an mein Kissen heranschleicht.

Auf der Seite liegend halte ich meinen Kopf umschlungen. Die Schläfrigkeit verschwindet, zieht sich auf einen winzigen Punkt zurück wie das Bild eines alten Fernsehers, wenn man ihn ausschaltet. Dann ist da nur noch Leere und Finsternis; die gähnende Weite einer durchwachten Nacht.

*

Mein Cousin liegt neben uns in der Kirche in einer versiegelten Kiste, die leichenblasse Haut poliert, Augen und Lippen zugeklebt. In seinen Arterien, durch die einst das Blut pulsierte, stockt nun die Einbalsamierungsflüssigkeit. Seine nicht sichtbaren Körperöffnungen wurden verstopft. Sein Körper ist übersät mit den Nähten der Obduktion. Der Schädel wurde mit einer Handsäge aufgeschnitten und wieder zugenäht, Organe entfernt und wieder eingesetzt — das Herz etwas zu weit links, die Lungenflügel etwas schief (schwer, sie wieder genau so hinzulegen, wie sie waren), Zunge und Luftröhre fehlen. Haare gewaschen und gekämmt. Hemd zugeknöpft.

Auf seiner Brust Michael Palins Bücher Von Pol zu Pol und Himalaya.

Zu meiner Rechten wimmert meine Tante leise mit geschlossenem Mund. So könnte das Geräusch klingen, das einem entfährt, wenn sich jemand auf deinen Brustkorb setzt.

Mein Cousin wurde mit einer Fehlbildung im Gesicht geboren, die Geschwulst wurde entfernt und hinterließ eine grässliche Narbe auf seiner Wange, die wir aber, da wir ihn gut kannten, bald gar nicht mehr wahrnahmen. Im Verlauf der Jahre verblasste die Narbe und wurde glatter. Von Geburt an hatte er Pech, erst die Geschwulst, dann auch noch Epilepsie, leichte und schwere Anfälle. Aber er hat sich in sein glückloses Leben mit stillem Elan gestürzt. In seiner kurzen Zeit auf dieser Erde ist er viel gereist. An die entlegensten Orte ist er gefahren, und für gewöhnlich allein. Er liebte Byron Bay, er nahm sein Fahrrad nach Australien mit, und erst vor Ort wurde ihm klar (warum eigentlich erst da?), dass das Land zu groß war, um es mit dem Fahrrad zu bereisen.

Thailand, Indonesien, Myanmar, Singapur, Kanada, Mosambik, Russland, Mexiko, Kuba, Brasilien, Japan, fast ganz Europa (ich erfinde das alles, ich erinnere mich nicht an die Länder, die in der Trauerrede genannt wurden, zu sehr war ich damit beschäftigt, den Sarg zu meiner Rechten zu betrachten und zu denken: Da drinnen liegt er, tot). Wenn er ein freies Wochenende hatte, oder eine Woche Urlaub, stieg er in ein Flugzeug irgendwohin, oder er stieg auf sein Fahrrad und fuhr stundenlang, und eines Samstags, als ich in einer Buchhandlung in Rye, nicht weit von seinem Wohnort, eine Lesung hatte, sagte er, er würde mich mit dem Fahrrad besuchen. Später schrieb er mir, es tue ihm leid, er habe es einfach nicht geschafft. Das war das letzte Mal, dass wir Kontakt miteinander hatten. Mein Onkel hat ihm am Tag nach seinem Tod eine SMS mit einem Witz geschickt und sich Sorgen gemacht, als er keine Antwort erhielt. Ich frage mich oft, ob es auf der Welt etwas Traurigeres gibt als diesen ungelesenen Witz auf dem Handy eines Toten. Ein Facebook-Post zeigt eine Karte mit der Strecke seiner hundert Kilometer langen Radtour, die er an dem Tag, an dem er wahrscheinlich gestorben ist, allein zurückgelegt hat. Bei der Beerdigung sah ich ihn als Kind vor mir, an der niedrigen Mauer im Garten unserer Oma, ich sah sein breites Lächeln, und ich sah ihn tot in seinem Bett liegen — nicht mit dem Gesicht nach unten, wie man ihn fand, sondern mit dem Gesicht nach oben, und auf seiner Wange, die weiß Gott wie oft gegen einen Küchenboden oder ein Stuhlbein geschlagen war, kräuselte die Narbe leicht die Haut.

Die Epilepsie konnte ihn jederzeit umbringen — er hat in ständiger Gefahr gelebt — wenn sein Kopf auf den Asphalt oder gegen den Badewannenrand knallte, wenn er Rad fuhr, seine Zunge verschluckte oder einen Anfall erlitt und nicht wieder zu sich kam.

Wie ist es, dem Tod so oft so nahe zu sein? Aber er ist ihm immer wieder von der Schippe gesprungen.

Dieses eine Mal hat es ihn dann aber doch erwischt, und in Sachen Tod reicht das ja vollkommen aus.

*

Verdacht auf chronische Post-Brexit-Insomnie (PBI) — Fallstudie:

Patientin, 43 Jahre alt, hat immer gut geschlafen. Das Einschlafen sei ihr stets leichtgefallen, berichtet sie, ebenso wie das Durchschlafen, in der Regel etwa acht Stunden pro Nacht. Selbst in stressigen und schwierigen Zeiten sei ihr Schlafrhythmus mehr oder weniger diesem Muster gefolgt.

Ihre Schlafprobleme haben nach ihrem Umzug in eine Wohnung an einer Hauptverkehrsstraße begonnen, so die Patientin, wo sie oft früh morgens vom Verkehr geweckt wurde. Nach mehreren Monaten führte dies zu Schlafstörungen. Zu diesem Zeitpunkt habe sie aber noch nicht an Schlaflosigkeit gelitten, erklärt sie, sondern nur etwas unruhiger geschlafen.

Über einen Zeitraum von mehreren Monaten schwankten ihre Schlafstörungen. Ab Juni 2016 waren sie vom Ärger über das Ergebnis des Europäischen Referendums begleitet, was zu ruhelosen Wachphasen führte. Im Herbst jenes Jahres wachte sie nicht nur wegen des Verkehrs früh auf, ihr fiel es auch schwer, zur Schlafenszeit einzuschlafen. Während dieser Zeit machten ihr Ärger und Frust über den Verkehr zu schaffen, außerdem ärgerte sie sich über die sich abzeichnende Unsinnigkeit der Politik und ertappte sich dabei, wie sie mit den vorbeifahrenden Autos, Lastwagen, Lieferwagen und Bussen »stritt« (Wortwahl der Patientin). Ihr war bewusst, wie sinnlos diese Streitigkeiten waren, und so versuchte sie mit verschiedensten Methoden (wie etwa Achtsamkeitsmeditationen, buddhistischen Mantras und Affirmationen liebender Güte), den Lärm nicht nur zu akzeptieren, sondern ihn auch (mithilfe von Ohrstöpseln, weißem Rauschen und Alkohol in Mengen, die die empfohlene Tagesdosis leicht überschritten) besser zu ertragen. Doch das alles half nur begrenzt, die Patientin berichtet von unerwünschten Fantasien von Massenkarambolagen, Erdbeben und kosmischen Zwischenfällen, die zu einer vorübergehenden oder dauerhaften Sperrung der Straße führen könnten.

Im Oktober des fraglichen Jahres waren ihre Schlafprobleme zu dem geworden, was sie nun als Schlaflosigkeit bezeichnete — Schwierigkeiten beim Einschlafen und Durchschlafen. Sie begab sich in ein buddhistisches Schweige-Seminar. Das Geräusch des gegen ihr Fenster schlagenden Windes und die durchdringende Stille hätten ihr zwar großen Trost verschafft, berichtet sie, aber keine Verbesserung ihres Schlafes zur Folge gehabt. Tatsächlich bemerkte sie hier zum ersten Mal, und selbst wenn sie in ruhige und entspannte Tätigkeiten vertieft war, eine anhaltende Panik.

Bei ihrer Rückkehr aus dem Retreat, erinnert sie sich, habe ihr bei einer Begegnung an der Bushaltestelle ihr Nachbar von nebenan vom Tod seines Untermieters erzählt. Die Patientin kannte diesen Mann nicht sonderlich gut, hatte ihn aber noch eine Woche zuvor gesehen, wie er die Mülltonnen rausstellte. Zwar hinterließ die Trauer über seinen Tod keine bleibenden Spuren, sie war aber doch echt und erinnerte die Patientin daran, »wie schnell uns Menschen entrissen werden«. Später an diesem Tag erreichte sie die Nachricht von der Trennung ihrer Schwester und deren Partners, sie habe Schock und Trauer empfunden, berichtet sie, sowohl für ihre Schwester und den Partner als auch für deren drei kleine Kinder. Einige Tage später erfuhr sie vom Tod ihres Cousins, der erst zwei Tage nach seinem Ableben in seiner Wohnung gefunden worden war. Wiederum einige Tage später wurde bei der Partnerin ihres Vaters Demenz diagnostiziert. Ein oder zwei Wochen nach der Beerdigung ihres Cousins erfuhr sie, dass ihr Vater von einer Leiter gestürzt war, sich das Bein kompliziert gebrochen hatte und ein Jahr lang nicht würde laufen können.*1

Ihre Schlafprobleme verschärften sich in den folgenden Wochen. Obwohl es im Dezember desselben Jahres aus ungeklärten Gründen zu einer kurzfristigen Besserung kam, kehrte die Schlaflosigkeit im Januar zurück und verschlimmerte sich von diesem Zeitpunkt an stetig. Die Patientin berichtet von vielen Nächten mit nur zwei oder drei Stunden Schlaf, nicht immer am Stück, und von Nächten ganz ohne Schlaf. Während dieser Zeit versuchte sie, in anderen Räumen des Hauses zu schlafen, so entfernte sie beispielsweise den Schreibtisch aus ihrem Arbeitszimmer, um dort ein provisorisches Schlafzimmer einzurichten. Das verschaffte ihr eine Pause vom Lärm, brachte aber nicht ihren Schlaf zurück. Schlafmittel — sowohl rezeptfreie (Nytol, Sominex, Dormisan-Tropfen, CBD-Öl, Magnesiumpulver, Passionsblume, Hopfenstrobeln, Melatonin, 5-HTP) als auch rezeptpflichtige (Zopiclon, Diazepam, Mirtazapin) — waren wenig hilfreich.

Die Patientin hat viele Behandlungsmethoden ausprobiert, von einer CBT-Schlafklinik über Akupunktur, Achtsamkeitskurse zur Stressreduktion, von Dankbarkeitstagebüchern hin zu Techniken der Schlafrestriktion, Nahrungsergänzungsmitteln, dem Verzicht auf Koffein und Zucker. Außerdem hat sie ein Schlafgerät getestet, das mit Alpha-, Beta- und Thetawellen die verschiedenen Schlafphasen nachahmt. Darüber hinaus experimentierte sie mit den Schlafenszeiten und suchte nach neuen Wegen, sich während der Stunden, in denen sie wach war, zu beschäftigen und beruhigen. Sie habe Französisch gelernt, berichtet sie, Mosaike angefertigt, Solitär gespielt, Puzzles gelegt, ihre Atemzüge gezählt, Folgen von In Our Time, dem Tate Podcast und The Allusionist gehört, eine Hörbuchfassung von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Soul Music von Radio 4, Online-Schlafhypnose-Meditationen, eine CD mit Vogelstimmen, Folgen von Poldark und The Crown, Sanskrit-Gesänge und Top of the Pops.*2

Ihr Ziel habe nicht länger darin bestanden, einzuschlafen, berichtet sie weiter, sondern darin, nicht in Panik zu geraten. In manchen Nächten habe sie sieben Stunden lang im Dunkeln gelegen und in Dreierschritten von tausend rückwärtsgezählt, oder auf Französisch oder Deutsch von hundert rückwärts. Sanskrit-Verse, die sie eher als Laute denn als Worte erfassen konnte, habe sie auch mitgesungen, und ihre, wie sie vermutete, friedlichen Botschaften als beruhigend empfunden.

Anhaltende Gefühle in diesen Wochen und Monaten seien Wut, Einsamkeit, Verzweiflung und Angst gewesen. Sie habe unter wiederkehrenden Vorstellungen von ihrem Cousin in seinem Sarg unter der Erde gelitten, begleitet von Herzrasen und Panik. Der Tod bestimmte immer wieder ihre Gedanken, zusammen mit der Sorge — ausgelöst durch einen Traum —, dass die Reise in den Tod furchterregend und einsam sein würde, ein »Höllenritt in einem finsteren Gefährt«. Der Gedanke, dass ihr Cousin diese Reise durchlitten hatte, verstörte sie, außerdem begann sie, sich auszumalen, wie ihre nächsten Angehörigen starben.*3 Darüber hinaus habe sie den Verdacht gehegt, berichtet sie, an letaler familiärer Insomnie zu leiden, einer extrem seltenen Erbkrankheit, die zum vorzeitigen Tod führt.*4

In den Nächten holten sie bestimmte Kindheitserinnerungen wieder ein, Ereignisse wie den Weggang ihrer Mutter und den Tod ihres Hundes durchlebte sie von Neuem, und diese Erlebnisse gingen mit Trauer und Wut einher. Ähnliche Gefühle hegte sie hinsichtlich des Brexit-Referendums, das sie als Absage an viele der Werte verstand, die sie einst mit ihrem Land verbunden hatte und die ihr ein Gefühl nationaler Zugehörigkeit, von Stolz und Identifikation vermittelt hatten.*5

Die Panik, die sie während des Retreats im Herbst zuvor verspürt hatte, führte nun nachts zu heftigen Attacken, bei denen sie hyperventilierte, Krämpfe erlitt, sich mit den Fäusten gegen den Kopf oder den Kopf gegen eine Wand schlug. Dieses Verhalten sei die Folge eines zunehmenden Schlafmangels gewesen, berichtet sie.

Der Patientin wurde es während dieser Monate unmöglich, ein geregeltes Arbeits- und Sozialleben aufrechtzuerhalten; sie konnte nicht mehr ausdauernd und kohärent arbeiten. Sie sah ihre Freunde selten und war stark auf die Unterstützung ihres Partners angewiesen. Mittlerweile fand sie in etwa drei oder vier Nächten der Woche gar keinen Schlaf mehr, in den übrigen Nächten schlief sie nur phasenweise. Regelmäßig war sie vierzig oder fünfzig Stunden am Stück wach. Zu den körperlichen Symptomen der Schlaflosigkeit gehörten Verwirrung, Gedächtnisverlust, Herzklopfen, starke Kopfschmerzen, Haarausfall, Augenentzündungen und Taubheitsgefühle in den Händen.

Sie behauptet, sie habe einen Zusammenbruch erwartet und dieser Zusammenbruch wäre ihr sehr willkommen gewesen. Wenn dieses unlösbare Problem sich zuspitzte, würde sie womöglich daran zerbrechen, so ihre Annahme, wäre dann aber auch davon befreit. Gleichzeitig bezweifelte sie stark, dass sie einen Zusammenbruch erleiden würde, und vermutete, es fehle ihrem Wesen an der nötigen Entschlossenheit, einen solchen herbeizuführen — eher sei sie die Art von Person, die Schmerz und Leiden, solange es irgendwie ging, ertrage.

Dieses Gefühl, berichtet sie, wurde durch die Tatsache verstärkt, dass sie sich nachts zunehmend animalisch fühlte. Wie ein wildes Tier im Käfig sei sie auf und ab gegangen, habe Laute der Verzweiflung von sich gegeben und an ihren Haaren gezogen, ein Verhalten, das nicht ihrem bewussten Dasein zu entspringen schien, sondern einem wilden Teil ihrer selbst, der unterhalb oder jenseits des Bewusstseins lag. Tagsüber funktionierte sie hingegen weiterhin relativ normal, zwar war sie erschöpft und bedrückt und ihre Leistungsfähigkeit eingeschränkt, doch ihr Verstand und ihre Vernunft waren intakt, ihre Wut stark vermindert (wenn auch nicht ganz verschwunden), und sie verspürte weder den Wunsch, sich gegen den Kopf zu schlagen, noch sich oder anderen Schaden zuzufügen.

Sie habe nicht verstanden, berichtet sie, woher das Wilde nachts kam und wohin es tagsüber verschwand. Sie fürchte sich vor dieser Wildheit, wünsche sich aber manchmal auch, von ihr überwältigt zu werden. Die Patientin beschreibt eine starke Sehnsucht danach, ins Krankenhaus eingeliefert und unter Medikamente gesetzt zu werden oder einen vollständigen und lähmenden Zusammenbruch zu erleiden und von geliebten Menschen umsorgt zu werden. Sie könne sich in der Szene selbst gar nicht mehr sehen, berichtet sie, wegen all der Menschen, die sie umgeben und sich um sie kümmern. Auch verfüge sie über keinerlei Autonomie, verspüre keine Wünsche oder Bedürfnisse, so sehr, sagt sie, füge sich ihr Dasein der überwältigenden Kraft ihrer Fürsorge.

*

Paul, mein lieber Cousin,

dieser Brief fällt mir nicht leicht. Ich schreibe Dir, damit Du weißt, was Du laut Google von Deinen ersten Tagen, Wochen und Monaten im Reich der Toten zu erwarten hast. Ich schreibe, um Dich vor Enttäuschungen hinsichtlich Deines Schicksals zu bewahren. Ich wünschte, Du könntest mir antworten.

Eine Leiche in einem Sarg unter der Erde braucht ein halbes Jahrhundert, um zu Staub zu zerfallen (ist das eine gute Nachricht? Irgendwie schon, dachte ich). Der Oberschenkelknochen, auf den Du Dich bis vor einigen Tagen, als Du auf die Fahrradtour gegangen bist, so sehr verlassen hast, wird sich auch unter der Erde wacker schlagen und der Zersetzung seines wunderbaren Stamms, seines sanft verwurzelten Kniespreizers standhalten; er wird seine feine Krümmung bewahren, selbst wenn das Mark schon porös ist und der Knochen brüchig. Wie eine verblassende Röntgenaufnahme liegt er in der Finsternis, wo ihn nichts mehr zerbrechen kann, und zerfällt langsam, ja, natürlich zerfällt er, aber er ist immer noch da. Für ganze fünfzig Jahre wird Deine materielle Existenz fortbestehen.

Und doch — Dein Gesicht. Das Gesicht mit dem Narbengewebe, das sich über Deine Wange zieht; diese kleine Stelle, an der sich Deine Oberlippe in eine akkurate Falte fügt, um eine Brücke zwischen Deinen Nasenlöchern zu bilden; dieser schöne Moment, wenn Du plötzlich voller Neugier aufblickst und die Jahre verschwimmen und Du wieder wie ein Kind aussiehst. Dein Gesicht und seine Millionen Augenblicke des Lebens werden in sich zusammenfallen und verrotten, und nach ein paar Wochen wird es schwer sein, Dich in diesem Leichnam wiederzuerkennen.

Schon vor der Beerdigung haben Deine Organe angefangen zu verwesen. Der Vorgang hat wahrscheinlich eingesetzt, noch während Du auf Deinem Bett lagst, in den Tagen, bevor man Dich gefunden hat. Autolyse: Selbst-Auflösung. Die Bakterien in Deinem Darm haben begonnen, tote Zellen zu fressen, und ein grünlicher Fleck hat sich auf Deinem Bauch ausgebreitet. Die Bakterien sind in den Magen vorgedrungen, die Brust, die Oberschenkel, die Beine …

Schon ein merkwürdiges Wunder, dieses Leben, und wie es die ganze Wildheit des Todes in sich trägt: Die Bakterien sind nicht erst zum Zeitpunkt Deines Todes zum Leben erwacht, sie waren immer schon da, wollten Dich immer schon auffressen. Und Deine Zellen haben immer schon die Enzyme enthalten, die nun Deine Verwesung vorantreiben. Nur Dein Überlebensdrang hat all das zuvor verhindert. Wusstest Du das? Hast Du den leidenschaftlichen Krieg in Dir verspürt, der Dich am Leben gehalten hat?

Und dann ist der Krieg geführt, die Schlacht geschlagen, und der Prozess Deines De-Existierens beginnt. Bakterien schwärmen in Dir umher, und während sie Dich verdauen, stoßen sie Gase aus, die Dich aufgehen lassen wie Teig, und an Deinem vierten oder fünften Tag als Toter beginnst Du zu stinken, und Du wirst zu einer dynamischen, sich bewegenden Masse. Methan, Ausdünstungen, Schwellungen, Verwandlungen, Deine Zunge entgleitet dem Mund, Flüssigkeiten Deiner Nase, Eingeweide dem Rektum; ein Aufblühen, eine Explosion in Zeitlupe, die Geschäftigkeit der ältesten, effizientesten und ehrwürdigsten Aufräumaktion des Lebens.

Was für ein unwahrscheinliches Teamwork, was für ein unermüdlicher, disneyhafter Elan. Wisch-wasch-wusch, hei-ho, hei-ho, der Optimismus und die Synchronizität einer Zwergenarmee, ein Hauch von Zauberstaub, ein Todesgesang, eine Transformation und Bibbidi-Babbidi-Busch, sieh da, die Finger, noch nicht lange blau, verfärben sich bereits ins Schwärzliche. Die Explosion endet in der gleichen langsamen Abfolge, in der sie begonnen hat, die Gase versiegen, und der Körper fällt in sich zusammen, ein Höhepunkt ist erreicht, ein Erschlaffen des Fleisches, die ersten Truppen ziehen sich zurück, und wir begeben uns in die nächste Phase, nach nur etwa fünfzehn Tagen Tod, falls wir nicht einbalsamiert wurden: schwarze Fäulnis. Um die Blutergüsse herum wird das Fleisch breiig, der Körper liegt in einer Pfütze aus Flüssigkeit, die Aaskäfer kommen, die Maden, die parasitären Wespen …

Doch Du bist einbalsamiert, Dir passiert das nach fünfzehn Tagen also nicht. Noch nicht, mein lieber Cousin. Du liegst sicher in der ewigen Nacht Deines Sargs, fern von allen, die Du je geliebt hast (und außerstande, jemals zu Ihnen zurückzukehren), Dein Schädel in zwei Teile zersägt.

Paul, mein Cousin Paul.

Am Ende der Webseite, die mir all dies über Deinen unvermeidlichen Abstieg in die schwarze Fäulnis verrät, steht der Aufruf:

Wenn Sie seelische Probleme haben, wenden Sie sich an BetterHelp für eine Online-Therapie.

Sie sind es wert!

*

»Ich erkläre Ihnen jetzt den Schlafzyklus. Haben Sie schon mal davon gehört?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Ich zeichne Ihnen ein Diagramm.«

»Ich fühle mich nur so …«

»Besorgt.«

»Und wütend.«

»Wut bringt einen nicht weiter, wenn man schlafen will.«

»Ich weiß.«