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Ein neues Glück an der Küste Norwegens Livi hat eine schwere Zeit hinter sich. Vor einem Jahr sind ihr Mann und ihre Eltern bei einem Autounfall gestorben. Nun will sie die schmerzhaften Erinnerungen hinter sich lassen und zieht von Oslo nach Bergen. Aber auch die niedliche Hafenstadt am Fjord kann sie nicht von ihrem Verlust ablenken. Als Livi tief in Gedanken vor einem kleinen Atelier steht, wird der Künstler Mattis auf sie aufmerksam. Auch in ihrer Trauer findet er sie wunderschön und bittet darum, sie malen zu dürfen. Dabei lernen sie einander kennen und Mattis beschließt, Livi zu helfen. Hals über Kopf ziehen die beiden gemeinsam in eine WG und gründen im Atelier ein Art & Dine – Mattis gibt Malkurse und Livi bekocht die Gäste. Die Zeichen stehen auf Neuanfang, doch Mattis kämpft ebenfalls mit seiner Vergangenheit. Können die beiden einander retten? Und was passiert, wenn die Liebe in diese ungewöhnliche WG einzieht?
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Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das kleine Atelier am Fjord
Nadine Feger, geboren 1979 in Viersen, lebt mit ihrer Familie in einer beschaulichen Gemeinde am Niederrhein. Schon als Teenager liebte sie das Schreiben und träumte davon, eines Tages Romanautorin zu werden. Ihr Debüt erschien im Juli 2020. Sie liebt Musik, das Reisen und die Natur. Wenn sie nicht gerade schreibt, steckt sie irgendwo zwischen Alltagschaos und Kinderlachen oder sie ist unterwegs, um neue Orte zu erkunden und Inspiration zu sammeln.
Ein neues Glück an der Küste NorwegensLivi hat eine schwere Zeit hinter sich. Vor einem Jahr sind ihr Mann und ihre Eltern bei einem Autounfall gestorben. Nun will sie die schmerzhaften Erinnerungen hinter sich lassen und zieht von Oslo nach Bergen. Aber auch die niedliche Hafenstadt am Fjord kann sie nicht von ihrem Verlust ablenken. Als Livi tief in Gedanken vor einem kleinen Atelier steht, wird der Künstler Mattis auf sie aufmerksam. Auch in ihrer Trauer findet er sie wunderschön und bittet darum, sie malen zu dürfen. Dabei lernen sie einander kennen und Mattis beschließt, Livi zu helfen. Hals über Kopf ziehen die beiden gemeinsam in eine WG und gründen im Atelier ein Art & Dine – Mattis gibt Malkurse und Livi bekocht die Gäste. Die Zeichen stehen auf Neuanfang, doch Mattis kämpft ebenfalls mit seiner Vergangenheit. Können die beiden einander retten? Und was passiert, wenn die Liebe in diese ungewöhnliche WG einzieht?
Nadine Feger
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin August 2021© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.comISBN 978-3-95818-624-8
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Epilog
Danksagung
Leseprobe: Wohin der Fjordwind uns trägt
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Kapitel 1
Für alle verlorenen Seelen
Das Glück wartet auch auf Euch.Irgendwo. Irgendwann.
Leere. Seit Ewigkeiten fühle ich nichts als Leere. Seit einem Jahr, zwei Monaten und neun Tagen, genau genommen. Es war dieser Tag im Dezember, der alles zerstörte. Meine Vergangenheit, meine Gegenwart, meine Zukunft.
Der plötzliche Schneefall hatte mir von Anfang an nicht behagt. Ich hätte sie davon abhalten müssen, ihnen klarmachen, wie leichtsinnig es ist. Doch ich tat es nicht. Sie waren gerade einmal sechs Stunden unterwegs, als die Polizei plötzlich vor meiner Tür stand. Was die Beamten sagten, klang real und surreal zugleich. Das Auto sei von der Straße abgekommen. Keiner von ihnen hätte überlebt. Eine schreckliche Tragödie.
Sie sind fort. Mein Mann, meine Mutter, mein Vater. Und sie haben einen Teil von mir mitgenommen. Übrig geblieben ist bloß eine leere Hülle, die nichts mehr fühlen kann und nichts mehr fühlen will. Von einem Moment auf den anderen hörte meine Welt auf, sich zu drehen.
Doch seit ein paar Tagen spüre ich, wie etwas in mir gegen diesen Zustand ankämpft. Spüre, dass ich wieder mehr sein will als dieser Schatten meiner selbst. Ich will wieder leben. Sie hätten es so gewollt, ganz bestimmt. Ich habe die Chance, die sie nicht mehr haben, deshalb muss ich sie nutzen. Aber das kann ich nicht hier, nicht an dem Ort, wo mich alles an sie erinnert.
Daher trete ich die Reise an, die sie nie beenden konnten. Ich lasse Oslo – und damit meine Vergangenheit – endgültig hinter mir, das Auto voll beladen mit meinen Habseligkeiten, und mache mich auf den Weg nach Bergen. Vierhundertfünfundsechzig Kilometer in gut sieben Stunden.
Anspannung und Angst machen sich in mir breit, sie wachsen in mir mit jedem Kilometer, den ich zurücklege. Je näher ich der Unfallstelle komme, desto mehr ergreifen sie Besitz von mir, lassen mich nahezu in Panik verfallen. Ich spüre eine unsichtbare Hand, die meine Kehle zudrückt. Ich kann da nicht vorbei! Lieber nehme ich einen großzügigen Umweg in Kauf. Es ist mir egal, wie viel Zeit ich dabei verliere.
Erst hundert Kilometer weiter traue ich mich, eine Pause einzulegen. Jetzt, wo ein wenig Druck von mir abfällt, wird mir bewusst, wie sehr jede Faser meines Körpers schmerzt. Ich steige aus und strecke mich. Kalter Wind schlägt mir entgegen und peitscht mir mein blondes Haar ins Gesicht. Mit einem tiefen Atemzug sauge ich die kalte Märzluft in meine Lungen. Das Schlimmste hast du geschafft, rede ich mir ein. Nachdem ich mir ein wenig die Beine vertreten habe, trinke ich einen Schluck Kaffee aus meinem Thermobecher und würge einen Schokoriegel hinunter.
Wie ich den Rest der Fahrt überstehen soll, weiß ich nicht. Ich sehe die Straße nur im Tunnelblick, starre stur geradeaus und lasse die Landschaft unbeachtet an mir vorbeiziehen. Erst als die ersten Häuser von Bergen in mein Sichtfeld rücken, spüre ich, wie sich etwas in mir regt. Mein Puls beschleunigt sich, und ich frage mich, ob ich tatsächlich so etwas wie Vorfreude verspüre. Oder ist es Angst? Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.
Jetzt ist es nicht mehr weit. Es geht ein Stück stadteinwärts, bis eine kurvenreiche Bergstraße hinauf in das Wandergebiet Fløivarden Bivouac führt. Mein Ziel ist der kleine See Revurtjernet, in dessen Mitte auf einem Inselchen das Haus meines verstorbenen Opas thront. All die Jahre habe ich es nie geschafft, ihn zu besuchen, weshalb das hier eine Fahrt ins Ungewisse ist.
Die letzten Kilometer kommen mir endlos vor. Auf den verschlungenen Straßen komme ich nicht besonders schnell voran. Als die Straße eine scharfe S-Kurve macht, verkündet mein Navigationsgerät: »Sie haben Ihr Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich auf der linken Seite.«
Verdutzt schaue ich mich um, sehe weit und breit nur Bäume. Einen See jedoch nicht. Zweifelnd parke ich den Wagen am Waldrand und beschließe, mich ein wenig umzusehen. Als ich unter die noch kahlen Baumkronen trete, fallen mir am Boden fast zugewachsene Fahrspuren auf. Eine Gruppe von Wanderern kommt mir entgegen und grüßt freundlich. Vielleicht können die mir helfen.
»Entschuldigung, ist hier in der Nähe ein See?«
Einer der Männer deutet in die Richtung, in die ich unterwegs bin. »Ist nicht mehr weit. Noch ein Stückchen geradeaus, dann werden Sie ihn sehen.«
»Vielen Dank.«
Nach etwa einhundert Metern lichten sich die Bäume, und der Blick auf den See eröffnet sich mir. Ich beschleunige meine Schritte und erreiche das Ufer. Die Umgebung nehme ich zunächst nicht wahr. Alles, was ich sehe, ist das hübsche norwegische Häuschen mit dem roten Anstrich, welches mir von der kleinen Insel aus entgegenlacht.
»Willkommen zu Hause«, sage ich zu mir selbst. Ich laufe nach rechts am Ufer entlang, bis ich an einen langen Holzsteg gelange, der direkt zum Haus führt. Ein halbhohes Tor versperrt den Durchgang für ungebetene Gäste. Doch augenblicklich kommt mir in den Sinn, dass es ein Leichtes wäre, dieses Hindernis zu überwinden. Unbehagen macht sich bei dem Gedanken, hier oben ganz allein zu leben, in mir breit.
Dennoch kann ich es kaum erwarten, mich im Haus umzusehen. Mit zittrigen Fingern hole ich den Schlüsselbund aus meiner Manteltasche hervor, um auszuprobieren, welcher der Schlüssel zum Tor gehört. Beim dritten Versuch öffnet sich das Schloss, und ich stoße das quietschende Tor auf. Der Steg ist bedeckt mit Schmutz und Laub. Ich atme tief ein und richte meinen Blick wieder auf das Haus. Beim Näherkommen fällt mir auf, dass die Farbe an den Hauswänden abblättert. Die ehemals weißen Fensterläden sind verschlossen. Gleich neben der Haustür steht eine verwitterte Holzbank. Hier wartet einiges an Arbeit auf mich.
Mit klopfendem Herzen wende ich mich der Haustür zu. Dieses Mal erwische ich gleich beim ersten Versuch den richtigen Schlüssel. Neugierig betrete ich den schmalen dunklen Flur, und ein unangenehmer Geruch schlägt mir entgegen. Übelkeit steigt in mir auf, und ich ziehe rasch meinen Schal vor die Nase. Ich knipse das Licht an und bin erfreut, dass es funktioniert.
Auf der linken Seite steht eine Tür offen. Ich spähe in den Raum und entdecke ein kleines Bad mit Dusche. Eine Tür weiter finde ich die Küche. Als ich auch hier das Licht einschalten will, gibt es einen Knall, und die Glühbirne brennt durch. Erschrocken kreische ich auf. Ruhig bleiben, Livi! Es ist nichts passiert.
Vorsichtig durchschreite ich den Raum, um das Fenster und die Fensterläden zu öffnen. Als Licht von draußen hereinströmt, stelle ich zu meiner großen Überraschung fest, dass mich hier eine hübsche weiße Landhausküche erwartet. Ein wunderschöner Büfettschrank sowie ein kleiner Tisch mit vier Stühlen befinden sich ebenfalls in dem Raum.
Neugierig trete ich wieder in den Flur und entdecke schließlich das Wohnzimmer. Sofort öffne ich alle Fenster und lasse Licht und Luft herein. Erst dann schaue ich mich in Ruhe in dem großzügigen Raum um. Hier stehen zwei kleine Sofas mit grauenvollem Blümchenmuster, ein Esstisch mit sechs Plätzen und ein in die Jahre gekommener dunkler Eichenschrank.
Der Schrank weckt meine Aufmerksamkeit. Nicht, weil er mir gefallen würde – nein. Die Fotos, die darauf stehen, ziehen mich magisch an. Als ich näher trete, bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Ich sehe Oma und Opa, wie sie strahlend in die Kamera lächeln. Gleich daneben sehe ich Mama und Papa, wie sie mich als kleines Mädchen auf dem Arm halten. Und ich sehe Kristian und mich. Bei unserer Hochzeit. So glücklich und so lebendig.
Plötzlich spielt sich dieser Tag vor meinem geistigen Auge wie ein Film ab. Kristian hatte sich gewünscht, auf einem Schiff zu heiraten. Er liebte alles, was mit Wasser zu tun hatte. Und er liebte Pizza, weshalb diese auf unserem Büfett nicht fehlen durfte. Wir beide sind beinahe vor Glück geplatzt.
Und jetzt gibt es nur noch mich. All diese Menschen auf den Bildern sind einfach weg. Ausradiert aus dem Leben. Tränen brennen in meinen Augen, und die Trauer überwältigt mich wie eine große brechende Welle, reißt mich erbarmungslos mit sich, zieht mich herunter auf den dunklen kalten Meeresgrund.
Ich dachte, ich könnte hier neu anfangen. Doch jetzt wird mir klar, wie naiv ich war. Die Erinnerungen haben mich hierher verfolgt. Sie lassen sich nicht einfach abschütteln. Plötzlich spüre ich einen Fluchtreflex in mir. Ich kann mich gerade noch dazu durchringen, die Fenster zu schließen, dann stürze ich aus dem Haus und renne zum Auto. Ohne nachzudenken, starte ich den Motor, mache eine Kehrtwende und fahre hinab in die Stadt. Hauptsache weg von hier.
Ein Gefühl der Leere verdrängt meine Trauer, und ich heiße es willkommen. Lieber fühle ich nichts, als diesen Schmerz, der mich zerfrisst. Völlig mechanisch folge ich den Anweisungen des Navigationsgeräts und kurve mit meinem grauen VW Golf die Serpentinenstraßen hinunter. Erst als ich am Fuße des Fløyen ankomme, halte ich an und ziehe das Handy aus meiner Tasche, um mir in der Nähe ein Hotel zu suchen. Irgendwo muss ich schließlich schlafen, und ganz gewiss nicht da oben auf dem Berg.
Fündig werde ich im Radisson Blu Royal und buche zunächst für drei Nächte ein Zimmer. Bis dahin bin ich mir hoffentlich darüber im Klaren, wie es weitergehen soll. Ich gebe meinen neuen Zielort ins Navi ein und lasse mich die wenigen Fahrminuten zum Hotel leiten. Unschlüssig hadere ich mit mir, entscheide mich schließlich, zuerst einzuchecken und dann ein wenig durch die Stadt zu laufen, denn ich muss mich unbedingt ablenken. Das Hotel liegt im berühmten Hanseviertel Bryggen mit seinen hübschen bunten Holzhäusern, und so werde ich hier hoffentlich auf andere Gedanken kommen.
Doch letztendlich lasse ich mich von den Touristenmassen mitschieben, lasse mich treiben, ohne auf meine Umgebung zu achten. Ich habe keine Augen für die Schönheit dieses Ortes, denn es ist niemand da, mit dem ich sie teilen kann. Zwischen all den Menschen fühle ich mich so allein wie nie zuvor.
Plötzlich sehe ich etwas, das mich in seinen Bann zieht. Magisch davon angezogen, laufe ich auf eines der Schaufenster zu, remple dabei Menschen an, ohne es zu bemerken. Mein Blick ist gefangen von einem Bild, einem Gemälde, das mein Innerstes eins zu eins widerspiegelt. Ich sehe das wilde, tosende Meer, aufgepeitschte Wellen, die sich mit dem Grau des Himmels vereinen. So düster, so kraftvoll, so voller Wut. Wie ich. Als hätte der Maler in meine Seele geschaut und die ganze Wildheit und den Aufruhr in dieses Bild gesteckt. Und obwohl es nur ein Gemälde ist, wirkt es so real, als könnte ich hineinlaufen, mich in die Wellen stürzen und mich von ihnen mitreißen lassen. Fort von dieser Welt. Fort von diesem Leben, das keines mehr ist.
Erst als sich die Tür des Ateliers öffnet und ein Mann heraustritt, gelingt es mir, den Blick von dem Bild loszureißen. Der Mann sieht aus wie eine etwas ältere Version von Jakob Oftebro. Seine grau melierten Haare fallen ihm wild in die Stirn, und er fährt sich durch seinen ungepflegten Bart, während er mich aus grauen Augen direkt anstarrt. Sein einst beiger Rollkragenpullover ist über und über mit bunten Farbklecksen besprenkelt.
Unbehagen steigt in mir auf. »Ich möchte dieses Gemälde kaufen«, sage ich, um von meiner Verwirrung abzulenken. »Was wollen Sie dafür haben?«
Gedankenverloren drehe ich mich im Ausstellungsraum einmal um meine eigene Achse, um einen Platz für mein neues Gemälde auszuwählen. Plötzlich fällt mein Blick auf eine Frau, schätzungsweise Anfang dreißig, die wie gebannt durchs Schaufenster starrt. Es kann nur das Meeresgetöse sein, das sie so fesselt. Doch mich fasziniert etwas ganz anderes. Es ist der Ausdruck in ihren Augen. So unfassbar traurig und entrückt, so leer und zugleich so überladen mit einer Fülle von Emotionen. Ohne nachzudenken, steuere ich auf die Ladentür zu. Ich muss mit ihr reden, kann sie unmöglich einfach weiterziehen lassen.
Doch als ich direkt vor ihr stehe, fühle ich mich nicht in der Lage, auch nur ein Wort über meine Lippen zu bringen. Zu sehr wirft mich ihr Anblick aus der Bahn. Ihr langes blondes Haar umrahmt in sanften Wellen ihr ungeschminktes schmales Gesicht und lässt das Tiefblau ihrer Augen und den Sturm, der in ihnen tobt, nur umso kraftvoller erscheinen.
Sichtlich verwirrt schaut sie mich an. »Ich möchte dieses Gemälde kaufen. Was wollen Sie dafür haben?«
»Das Bild ist nicht verkäuflich«, entgegne ich bestimmt.
»Wie bitte? Aber das ist doch ein Laden, oder? Und Sie wollen Ihre Bilder nicht verkaufen?«
»Doch … äh, nein.«
»Na, was denn nun?«
»Das Atelier befindet sich noch im Aufbau. Deswegen verkaufe ich nichts.«
»Ist das Ihr Ernst?«
Ich nicke lediglich.
»Ich muss Sie doch irgendwie überzeugen können, mir dieses Bild zu verkaufen.«
Mein Herz macht einen Satz, als ich von einer Idee erfasst werde. Soll ich sie wirklich danach fragen? Einen Versuch ist es wert. »Okay, Sie bekommen es. Unter einer Bedingung.«
»Die da wäre?«
»Ich darf Sie malen.«
»Mich?« Sie weicht einen Schritt zurück und sieht mich an, als wäre ich ein Psychopath.
Beschwichtigend hebe ich die Hände. »Keine Angst. Alles, was ich will, ist Ihr Gesicht. Ihren Blick. Ich muss ihn einfach festhalten.«
Sie schaut mich nach wie vor befremdet an. »Ich weiß nicht.«
»Bitte. Erfüllen Sie einem inspirierten Künstler einen Wunsch.« Ich setze ein Lächeln auf und strecke ihr meine Hand entgegen. »Ich bin Mattis. Mattis Baardsson«
Nun heben sich auch ihre Mundwinkel ein wenig, und ihre Hand legt sich in meine. »Livi Steensen.«
»Und, Livi? Haben wir einen Deal?«
»Meinetwegen.«
»Dann kommen Sie rein.«
»Wie? Jetzt sofort etwa?«
»Natürlich sofort. Wer verspricht mir sonst, dass Sie wiederkommen? Und selbst wenn: Wer garantiert mir, dass Ihr Blick morgen oder übermorgen noch die gleiche Ausstrahlung hat wie jetzt?«
»Okay, Sie haben gewonnen.«
Innerlich mache ich einen kleinen Freudensprung und bitte Livi herein. Neugierig blickt sie sich um und bleibt bei jedem einzelnen Bild einen Augenblick stehen. Eines der Gemälde zeigt den malerischen Pier von Bergen mit seinen bunten Holzhäusern, andere die Natur in all ihren Facetten. Sonnenuntergänge, Wälder, Seen, Blumenwiesen. Ein wenig irritiert schaut sie auf den Schanktisch, der so gar nicht ins Atelier passt. Doch dann wendet sie sich wieder meinen Bildern zu.
Am Gemälde des Sognefjords hält sie inne und mustert es intensiv. »Es ist wunderschön.«
»Waren Sie schon einmal dort?«
Livi schüttelt den Kopf. »Leider nicht. Aber wie es aussieht, sollte ich das unbedingt nachholen.«
»Auf jeden Fall.«
Jetzt sieht sie mich an, nach wie vor völlig verunsichert. »Und wie geht es jetzt weiter?«
»Wir gehen nach oben. Dort habe ich alles, was ich brauche.« In diesem Moment komme ich mir plötzlich dumm vor. Was denkt diese Frau wohl von mir? Sie fühlt sich unwohl, das ist offensichtlich. Aber sie hätte sich ja nicht darauf einlassen müssen. Dennoch hat sie zugestimmt, und ich komme nicht umhin, mir einzugestehen, dass ich mich darüber freue. Ich hoffe nur, dass ich dieser makellos traurigen Schönheit auf der Leinwand überhaupt gerecht werden kann.
Unsicher folge ich Mattis die schmale, steile Treppe hinauf. Das Holz knarrt und ächzt unter unserem Gewicht. In dem schwachen Licht einer einzelnen Glühbirne muss ich gut aufpassen, wohin ich trete.
»Machen Sie hier Urlaub, Livi?«
»Nein, ich wohne jetzt hier. Aber ich bin erst heute angekommen.«
»Oh. Dann willkommen im Herzen der Fjorde.«
»Danke.« Meine Freude hält sich in Grenzen, doch das muss ich ihm ja nicht verraten.
»Da wären wir«, verkündet Mattis oben am Treppenabsatz und macht eine einladende Geste. Vor mir öffnet sich ein großzügiger Raum, dessen dunkle Holzverkleidung ihn kleiner wirken lässt, als er tatsächlich ist. Schwere Deckenbalken und Stützpfeiler lassen die Mansarde urig und gemütlich aussehen. Mehrere Staffeleien verteilen sich im Raum, auf zweien befinden sich bereits fertige Gemälde. Unter einer Dachschräge steht eine Pritsche, daneben befindet sich ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, einem Campingkocher und einigen Dosen Ravioli. Aus einem alten Regal quillt ein Stapel Kleidung unordentlich hervor.
Mattis scheint meine Missbilligung darüber zu bemerken. »Äh, entschuldigen Sie die Unordnung.«
»Schläfst du etwa hier?«
»Seit wann sind wir beim Du?«
»Lenk nicht ab!«
Sichtlich verlegen zieht er die Schultern hoch und nickt. Dann schiebt er einen der Stühle zu mir herüber. »Hier, setz dich.«
Unschlüssig lasse ich mich nieder und öffne den Reißverschluss meines Mantels.
»Lass ihn ruhig an. Es ist etwas kalt hier.«
»Stört das denn nicht? Also … für das Bild, meine ich.«
»Ach was.«
»Warum stellst du nicht einfach die Heizung an?«
Mattis starrt auf den Boden. »Ich spare, wo ich kann.« Dann wendet er sich ab, zieht eine Staffelei heran und rüstet sich mit Pinseln und Farben aus.
Unbehagen macht sich in mir breit. Warum habe ich mich eigentlich darauf eingelassen?
»Wie … soll ich mich denn hinsetzen? So vielleicht?« Ich drehe mich ein bisschen nach links und versuche, so aufrecht wie möglich zu sitzen.
»Gut so«, meint Mattis. »Nur …« Er kommt auf mich zu, beugt sich zu mir herunter und macht sich an meinen Haaren zu schaffen. Erschrocken zucke ich zurück, und unsere Blicke treffen sich.
Meine Reaktion verunsichert ihn. »Entschuldige. Ich wollte nur …«
»Ist schon gut«, entgegne ich hastig und nicke ihm auffordernd zu.
Vorsichtig zupft er einige Haarsträhnen zurecht und tritt prüfend einen Schritt zurück. »Jetzt ist es perfekt.«
»Soll ich lächeln?«
»Nein. Bitte nicht. Es ist deine Traurigkeit, die ich einfangen will.« Ohne zu zögern macht Mattis sich ans Werk.
Ich schlucke, fühle mich plötzlich nackt und verletzlich. Wie lange muss er mich beobachtet haben, als ich vor dem Schaufenster stand und mir wünschte, mich einfach von den Wellen davontreiben zu lassen? Hat er meine Gedanken gelesen? Habe ich ihm unbewusst Einblick in meine tiefsten Abgründe gewährt? Das Meer … Wäre ich in diesem Moment dort gewesen, wäre ich hineingelaufen. Einfach so. Meine Gedanken verschwimmen, verändern ihre Form, und ich blende Mattis völlig aus.
Innerlich befinde ich mich plötzlich wieder in Opas Haus und schaue auf die Fotos aus Zeiten, in denen meine Welt noch heil war. Bevor ich von einem Tag auf den anderen allein dastand und nicht nur die Menschen, die ich liebte, sondern auch mich selbst verlor. Still rinnen Tränen über meine Wangen und fallen in schweren Tropfen auf meine Hände, die regungslos auf meinem Schoß verharren.
»Livi, ist alles in Ordnung?« Bestürzung schwingt in Mattis’ Worten mit.
»Es geht schon.« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
»Sollen wir lieber abbrechen? Möchtest du allein sein?«
»Nein. Mach einfach weiter.« Zum ersten Mal seit Langem habe ich das Gefühl, nicht allein sein zu wollen. Die anonyme Gesellschaft dieses Fremden ist mir tausendmal lieber, als in meinem Hotelzimmer zu sitzen und von der tonnenschweren Last meiner Emotionen erdrückt zu werden.
»Bist du sicher?« Mattis zieht seine Stirn in Falten, und ich nicke stumm. Seine Miene entspannt sich kaum, dennoch wendet er sich wieder seinem Kunstwerk zu.
»Möchtest du reden?« Er stellt die Frage, ohne mich anzusehen. Offenbar überfordert ihn mein Gefühlausbruch.
»Ja. Über dich«, antworte ich aus einem Impuls heraus.
»Über mich? Da gibt es nicht viel zu erzählen. Meinen ganzen Lebensinhalt siehst du hier. Ende der Geschichte.« Die Schroffheit in seiner Stimme straft ihn Lügen.
»Das kann doch nicht alles sein.« Das muss ausgerechnet die Frau sagen, die monatelang nur stumm gegen Wände gestarrt hat, erklingt eine Stimme in meinem Kopf.
»Aber es ist so. Das Atelier ist alles, was mir noch geblieben ist.«
»Geblieben wovon?« Meine Neugier ist geweckt und lässt meine eigenen schweren Gedanken in den Hintergrund rücken.
»Wenn ich dir sage, dass ich nicht darüber reden will, nimmst du das dann so hin?«
»Nein.« Wider Willen muss ich kichern. Seit Ewigkeiten habe ich mich für nichts und niemanden mehr interessiert. Jetzt aber will ich wissen, welche Last dieser Fremde mit sich herumschleppt. Vielleicht, weil es mich von mir selbst ablenkt.
»Dachte ich’s mir.«
»Und?« Ich erkenne sein Zögern. Möglicherweise bin ich zu weit gegangen. Wer könnte es besser verstehen als ich, dass jemand sein Innerstes lieber nur mit sich selbst teilt? Also bohre ich nicht weiter nach. Es geht mich auch gar nichts an.
Mattis widmet sich wieder seinem Gemälde. Doch ich sehe, wie es hinter seiner Stirn arbeitet. Seine Mimik spricht Bände. »Ich habe meine Arbeit geliebt …«, sagt er nun, verstummt jedoch mitten im Satz.
»Das Malen?«
»Nein. Das war immer nur ein Hobby für mich.«
»Was hast du stattdessen gemacht?«
»Ich war Vertriebsmanager in einem Elektronikkonzern.«
»Und du hast den Job verloren?«
»Nicht nur den.«
Ich fühle mich schlecht dabei, ihm alles aus der Nase zu ziehen. Vielleicht sollte ich es einfach dabei belassen. Trotzdem kann ich nicht aufhören. »Was ist passiert?«
Er schluckt schwer, schweigt jedoch.
»Du musst es mir nicht erzählen. Ich will nicht irgendwas in dir lostreten. Aber es hilft sicher, wenn du darüber sprichst.« Wie oft habe ich mir diesen Satz anhören müssen. Doch ich habe ihn mit größter Entschlossenheit ignoriert.
»Bist du etwa Psychologin oder so was?«
»Du meine Güte! Nein. Ich bin selbst einer dieser Menschen, die lieber schweigen als reden.« Betreten starre ich auf meine Hände.
»Okay … Ich erzähle dir alles. Aber nur, wenn du mir verrätst, weshalb du so tieftraurig und melancholisch vor meinem Geschäft aufgetaucht bist.«
Erschrocken schaue ich ihn an. »Ich …« Plötzlich rinnen wieder Tränen über meine Wangen.
»Es hilft sicher, wenn du darüber sprichst.« Wärme schwingt in seiner Stimme mit. Er hat mich mit meinen eigenen Worten geschlagen.
Mühsam zwinge ich mich zu einem Lächeln. »Eins zu null für dich.«
Er nickt zufrieden und greift wieder zu seinem Pinsel. »Also schön. Wie ich schon sagte, ich bin in meinem Job voll aufgegangen. Zu sehr, wie ich später einsehen musste. Jeden Tag habe ich mehr Zeit in der Firma verbracht, als es hätte sein müssen. Ich wollte, nein, ich musste alle Dinge selbst erledigen, anstatt sie auf andere zu verteilen. Damit habe ich mich in der Firma unabdingbar gemacht. Ich hatte immer alles unter Kontrolle. Zumindest dachte ich das. Was ich dabei völlig aus den Augen verloren habe, war meine Familie. Meine Frau, meine beiden Kinder.«
»Du bist verheiratet?«
»Ich war verheiratet.«
»Und wegen des Jobs habt ihr euch getrennt?«
»Ja. Tatsächlich war das der Grund. Ich war so gut wie nie zu Hause. Und wenn doch, haben wir uns genau deshalb gestritten. Marit, meine Frau, bestand darauf, dass ich kürzertrete, um wieder mehr Zeit mir ihr und den Kindern zu verbringen. Und ich Idiot wollte das nicht begreifen. Ich habe weitergemacht wie bisher, habe mir eingeredet, dass ich doch nur so viel arbeite, um ihnen ein schönes Leben zu ermöglichen. Dann hat sie mich vor die Tür gesetzt. Einfach so. Das ist jetzt zwei Jahre her.«
»Und das hast du so hingenommen? Hast du nicht versucht, es wieder geradezubiegen?«
»Anfangs schon. Aber dann wurde alles noch schlimmer. Marit hatte plötzlich einen anderen, irgendeinen feinen Pinkel. Das gab mir den Rest. Ich bin unaufhaltsam in ein Burn-out gerutscht und war schlagartig nicht mehr ich selbst. Ich habe mich so leer gefühlt, so erschöpft – und nicht mehr in der Lage, für irgendetwas zu kämpfen.«
»Und deine Kinder?«
»Isak und Linnea haben unheimlich unter der Trennung gelitten. Und ich hätte verdammt noch mal für sie da sein sollen. Aber sie haben mich überfordert, und ich habe sie immer wieder vor den Kopf gestoßen. Mir war alles egal. Hauptsache, ich hatte meine Ruhe. Da hat Marit die Reißleine gezogen. Sie hat die Scheidung eingereicht und dafür gesorgt, dass ich die Kinder kaum noch zu Gesicht bekomme. Und heute hasse ich mich für das, was ich getan habe. Oder eher nicht getan habe.«
»Wie alt sind deine Kinder?«
»Isak ist jetzt acht, und Linnea ist zehn Jahre alt.« Wehmut liegt in seinem Blick.
»Und du hast sie seit fast zwei Jahren nicht gesehen?«
Mattis nickt betreten.
Sprachlos schaue ich ihm in die Augen und erkenne darin seinen Schmerz. Und seine Wut. Doch plötzlich entdecke ich auch ein Funkeln.
Er springt von seinem Schemel auf, kommt auf mich zu und reicht mir die Hand. »Hallo, ich bin Mattis Baardsson, sechsunddreißig Jahre alt, und habe mein Leben komplett vor die Wand gefahren. Und wer bist du?« Er grinst schelmisch, obwohl nichts an seiner Situation komisch ist.
Mir klar, dass ich jetzt an der Reihe bin. Zeit für ein Ablenkungsmanöver. »Sechsunddreißig? Ich dachte ja …«
»Ja, ja. Ich sehe locker zehn Jahre älter aus mit meinen grauen Haaren. Danke, dass du mich daran erinnerst«, flachst er. »Aber du lenkst ab. Du musst nicht glauben, dass du aus der Nummer wieder rauskommst.«
So ein Mist! Ich kann meiner Stimme nicht trauen, räuspere mich ein paarmal, bevor ich anfange zu sprechen. »Ich bin Livi Steensen, einunddreißig Jahre alt, und ich habe alle Menschen verloren, die ich geliebt habe. Sie sind alle tot.«
Mattis schlägt sich die Hände vor den Mund und schaut mich bestürzt an. »Sie sind … alle tot?«
»Ja.«
»Wie …« Fassungslosigkeit liegt in seinem Blick.
»Ich muss bei meinem Opa anfangen. Er hat hier in Bergen gelebt, in einem Häuschen oben auf dem Fløyen. Seit dem Tod meiner Oma hat er sich dort zurückgezogen. Wir haben ihn kaum noch zu Gesicht bekommen. Irgendwann ging auch er, ganz still und für sich allein.«
»Das tut mir leid.«
»Wenn das denn alles wäre …«
»Erzähl weiter. Wenn dir danach ist.«
»Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser haben?« Ein dummer Versuch, Zeit zu schinden. Dennoch trinke ich dankbar, nachdem Mattis mir ein Glas gereicht hat.
»Nach seinem Tod wollten meine Eltern hierherkommen, um nach seinem Haus zu sehen. Mein Mann hat sie begleitet. Es war ein verschneiter Wintertag. Sie sind niemals angekommen. Ein Unfall …« Ein unkontrollierter Schrei entweicht mir, ohne dass ich mich dagegen wehren kann. Wie von Sinnen springe ich auf, sodass der Stuhl hinter mir krachend auf den Boden fällt. Ich stürze zum Fenster, versuche, ruhig zu atmen, doch ich habe das Gefühl zu ersticken.
Plötzlich steht Mattis dicht hinter mir, seine Hand ruht sanft auf meiner Schulter. »Livi, das tut mir unendlich leid. Kann … kann ich irgendwas für dich tun?«
»Ich denke, ich gehe jetzt besser.« Achtlos schiebe ich mich an ihm vorbei und stürze die Treppe hinunter.
»Livi, warte doch!« Ich höre die Sorge in Mattis’ Stimme, doch ich laufe einfach hinaus auf die Straße. Ich hätte ihm niemals davon erzählen sollen.
Noch lange bin ich gestern Abend durch die schmalen Gassen der Altstadt geirrt, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Ich lief einfach so lange weiter, bis mich völlige Erschöpfung übermannte. Erst dann hatte ich das Bedürfnis, mich in meinem Hotelzimmer zu verkriechen. Noch in meinem Mantel, ließ ich mich aufs Bett fallen und war erleichtert, als der Schlaf mich zu sich zog und sich die bittere Realität in Rauch auflöste. In meinen Träumen kann ich immer noch glücklich sein.
Doch jetzt, an diesem regnerischen grauen Morgen, ist alles wieder so präsent wie am Abend zuvor. Ich hätte in Oslo bleiben sollen. Es war ein Fehler, hierherzukommen. Ich dachte, es könnte meine Wunden heilen, aber ich wurde eines Besseren belehrt.
Was wird denn jetzt aus dir, Livi?, frage ich mich selbst, vorwurfsvoll und ratlos. Und dann muss ich komischerweise an Mattis denken. Ob er sich auch jeden Tag diese Frage stellt? Ob er sich genauso verloren fühlt wie ich? Aber was interessiert mich das eigentlich?
Abgrundtief traurige Augen starren mich aus dem halb fertigen Gemälde an. Ich kann nicht aufhören, sie anzuschauen und mir vorzustellen, was Livi durchgemacht hat. Obwohl sie mir fremd ist, zerreißt es mir das Herz. Zum ersten Mal seit Langem ertrinke ich nicht mehr in Selbstmitleid. Verdammt, es gibt Menschen, die viel Schlimmeres durchmachen als ich.
Ein dumpfes Klopfen dringt wie durch einen Nebel zu mir hindurch. Ich brauche eine Weile, um zu registrieren, dass jemand unten gegen die Tür hämmert. Hastig sprinte ich die Treppe hinunter. Als ich in den Verkaufsraum komme und sehe, wer vor der Tür steht, macht mein Herz einen kleinen Satz. Hektisch schließe ich auf.
»Livi! Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du noch einmal wiederkommen würdest.« Aber ich hatte es gehofft. Diesen Gedanken möchte ich jedoch nicht laut aussprechen.
»Ich dachte, du möchtest das Bild vielleicht noch zu Ende malen.« Sie sieht schlecht aus. Noch schlechter als gestern. Erst heute fällt mir auf, wie bleich und ausgemergelt sie wirkt.
»Ja. Das würde ich gern.«
»Tut mir leid, dass ich einfach so abgehauen bin.«
»Mir tut es leid. Ich hätte dich nicht dazu drängen sollen, mir davon zu erzählen.«
»Du hast mich nicht gedrängt. Außerdem ändert es ja auch nichts. Sie sind nicht mehr da, ganz gleich, ob ich dir davon erzähle oder es für mich behalte. Ich will es nur einfach nicht wahrhaben«, entgegnet sie tonlos.
»Das verstehe ich. So etwas …« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. »Jetzt komm doch erst mal rein. Bei dem Sauwetter müssen wir uns ja nicht hier draußen vor der Tür unterhalten.«
Livi nickt und schiebt sich an mir vorbei. Wie ferngesteuert bewegt sie sich durch den Raum und dann die Treppe hinauf. Schnell folge ich ihr, doch einholen kann ich sie nicht mehr. Keine Chance für mich, auch nur ein bisschen von diesem heillosen Chaos zu beseitigen. Trotz meiner wenigen Habseligkeiten bin ich absolut unfähig, Ordnung zu halten. Mist! Ich trage noch denselben farbverschmierten Pullover wie gestern. Peinlicher geht’s gar nicht.
Doch Livi würdigt mich keines Blickes, genauso wenig schenkt sie ihrer Umgebung Beachtung. Sie hebt den Stuhl auf, der gestern umgestürzt ist, und setzt sich hin, als wäre sie nie weg gewesen.
Mir fehlt der Mut, mit ihr zu reden – zu groß ist die Sorge, etwas Falsches zu sagen und sie wieder zu vertreiben. Also mache ich einfach dort weiter, wo ich gestern aufgehört habe. Etwa eine Stunde vergeht, bis ich den finalen Pinselstrich ziehe. Ich stehe auf, trete einen Schritt zurück und begutachte mein Werk. Immer wieder richte ich meinen Blick auf Livi, die regungslos wie eine Statue dasitzt und keine Miene verzieht. Mein Gemälde spiegelt Livis Emotionen genauso wider, wie ich es mir vorgestellt habe. Eine Mischung aus Seligkeit und Melancholie durchschwemmt mich. Niemals ist mir ein so makelloses Abbild von einem Menschen gelungen. Und nie hat jemand mein Innerstes allein durch seinen Blick so sehr berührt. »Es ist perfekt!«
Ohne etwas zu entgegnen, erhebt Livi sich und kommt auf mich zu. Als ihr Blick auf das Bild fällt, schimmern Tränen in ihren Augen.
»Gefällt es dir?« Als sie zögert, werde ich unsicher.
»Es ist wunderschön …«
»Aber?«
»Aber die Frau, die ich darauf sehe, ist nicht die, die ich sein möchte. Sie ist nichts weiter als eine leere Hülle. Die Livi von damals existiert nicht mehr.«
»Das glaube ich nicht. Ich glaube nur, dass du deine Seele hinter dicken steinernen Mauern einbetoniert hast. Aber Mauern kann man einreißen.«
»Dort wird nichts zu finden sein. Außer Kälte.«
»Das werden wir ja sehen«, murmle ich.
»Wie bitte?«
»Schon gut. Hast du eigentlich schon etwas gegessen heute?«
Sie schüttelt stumm den Kopf.
»Dachte ich mir schon. Warte hier. Ich ziehe mich kurz um, dann gehen wir frühstücken.«
»Wer sagt, dass ich das will?«
»Das Knurren deines Magens hat es mir gerade verraten. Also, keine Widerrede!«
»Meinetwegen.«
Zehn Minuten später gehen wir die Treppe zum Ausstellungsraum hinunter. Ich führe Livi am Tresen vorbei durch eine Tür in die alte Küche, die lediglich durch eine weitere Tür vom Restaurant nebenan getrennt ist.
Sichtlich erstaunt hält sie inne. »Wow, was ist das denn hier?«
»Die Küche gehörte früher zum Kruttønne, dem angrenzenden Restaurant. Bevor es das Atelier gab. Seit dem Umbau gibt es nebenan eine neue, modernere Küche, und diese hier hat ausgedient. Komm, hier entlang.«
»Das musst du mir aber genauer erzählen.«
»Mache ich gleich. Jetzt suchen wir uns aber erst mal ein gemütliches Plätzchen.« Ich führe Livi ins Restaurant an einen der kleinen schweren Holztische direkt am Fenster. Warme graue Lammfelle liegen auf den Stühlen und machen sich gut zum rustikalen Stil des Restaurants. Als wir uns setzen, sehe ich Hedda schon auf uns zukommen. Ihr brauner Zopf wippt bei jedem Schritt hin und her.
Sie beugt sich zu mir herunter und gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Guten Morgen, Mattis. Du hast dich aber schon lange nicht mehr hier drüben blicken lassen.«
»Ja, ja. Ich weiß.« Beschämt winke ich ab und werfe Livi einen Blick zu. »Das ist Livi. Sie ist neu hier in der Stadt, und ich wollte ihr zeigen, wo man das beste Frühstück bekommt.«
Hedda lächelt verschmitzt. »Das ist ja schön. Freut mich, Livi! Willkommen in Bergen. Dann werde ich euch mal etwas Gutes bringen. Kaffee für euch beide?«
»Gern«, antwortet Livi.
»Für mich sowieso«, erwidere ich.
Hedda entfernt sich vom Tisch, und Livi schaut mich fragend an. »Bist du hier Stammgast?«
»So in etwa. Hedda ist die Frau meines besten Freundes Erik. Wir kennen uns seit der Schulzeit. Den beiden gehört das Restaurant.«
»Und dann hast du ihnen ein Stück davon abgeluchst, um dein Atelier eröffnen zu können.«
»Nicht ganz. Nach der Trennung von Marit wusste ich nicht, wohin. Hedda und Erik hatten ein Herz, und ich konnte bei ihnen das Gästezimmer in Beschlag nehmen. Aber ich war ein furchtbarer Gast.«
»Das ist noch milde ausgedrückt.« Als Hedda mir ins Wort fällt, zucke ich zusammen. Ich habe nicht bemerkt, dass sie mit einer Kanne Kaffee an den Tisch gekommen ist.
Zerknirscht schaue ich sie an. »Ich weiß.«
Neckisch tätschelt Hedda meine Schulter und verschwindet wieder. Livis Blick ist plötzlich voller Leben. Wie gebannt starrt sie mich an, als würde sie darauf brennen, mehr zu erfahren.
»Na ja, auf jeden Fall wurde es Hedda irgendwann zu viel, und sie meinte, ich könne nicht ewig bei ihnen bleiben. Erik sah das anders. Deshalb flogen ganz schön oft die Fetzen zwischen den beiden. Ich wollte nicht schuld daran sein und hatte vor, mir etwas anderes zu suchen. Aber ich habe von Krankengeld gelebt. Damit kann man nicht viel reißen.«
»Wem sagst du das«, murmelt Livi.
»Du etwa auch?«
»Eine Weile. Bis ich alles andere geregelt hatte. Längere Geschichte. Jetzt will ich aber erst einmal wissen, wie es bei dir weiterging. Wie kam es zu der Sache mit dem Atelier?«
»Hedda und Erik hatten großes Pech. Das Restaurant gehörte nicht immer ihnen allein. Sie hatten es gemeinsam mit einem Kollegen von Erik aufgezogen, den er noch aus seiner Lehrzeit kannte. Doch der hatte irgendwann keine Lust mehr und stieg aus dem Restaurant aus. Sie haben dann einen anderen Koch eingestellt, doch der taugte nichts. Irgendwann haben die beiden entschieden, den Laden zu verkleinern und allein weiterzumachen.«
»Und so wurde die Küche frei, und du bist zu deinem Atelier gekommen.«
»Genau. Es war in dem Moment für alle die beste Lösung. Auch wenn ich ihnen so gut wie nichts an Miete zahlen kann.«
»Na ja, das Atelier ist ja auch gerade erst im Aufbau. Aber deine Gemälde sind herausragend. Bestimmt werden die Leute dir schon bald den Laden einrennen.«
»Ehrlich gesagt, möchte ich das gar nicht.«
»Wie bitte?« Verständnislos schaut sie mich an.
»Ich bin nicht der Typ dafür, meine Gemälde öffentlich zu zeigen.«
»Das meinst du nicht ernst.«
Meine Kehle wird plötzlich ganz trocken. Da hilft auch der große Schluck Kaffee nicht, den ich in mich hineinkippe. Ein Schulterzucken muss als Antwort reichen.
»Mattis, warum willst du diese Bilder irgendwo verstecken? Sie müssen gesehen werden. Du musst gesehen werden. Wovor hast du Angst?«
Ich wage es nicht, ihr in die Augen zu schauen. »Ich weiß es nicht«, flüstere ich.
Fassungslos starre ich Mattis an, doch er weicht meinem Blick aus. Mir ist vollkommen unbegreiflich, weshalb er seine wundervollen Gemälde nicht für die Öffentlichkeit zugänglich macht.