Neuanfang in St. Ives - Nadine Feger - E-Book

Neuanfang in St. Ives E-Book

Nadine Feger

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Beschreibung

Ein Neuanfang an Cornwalls Küste Nach einem schweren Verlust fällt es Adah auch nach Jahren nicht leicht, wieder Fuss zu fassen. Als sie jedoch vom kritischen Gesundheitszustand ihres Großvaters erfährt, ändert sich ihre Einstellung grundlegend. Ohne lange zu überlegen, beschließt sie, ihn zu unterstützen, und wagt einen Neuanfang in St. Ives. Dort verliebt sie sich nicht nur in die malerische Küstenstadt und Cornwalls wilde Natur, sondern lässt auch Matt in ihr Herz, der die Glasbläserei ihres Großvaters führt. Doch Matt ist von Anfang an gegen sie und macht ihr das Leben schwer.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Nadine Feger

Neuanfang in St. Ives

Cornwall-Roman

Triggerwarnung:Trauerbewältigung und Panikattacken

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 -Adah

Kapitel 2 - Matt

Kapitel 3 - Adah

Kapitel 4 - Matt

Kapitel 5 - Adah

Kapitel 6 - Matt

Kapitel 7 - Adah

Kapitel 8 - Matt

Kapitel 9 - Adah

Kapitel 10 - Matt

Kapitel 11 - Adah

Kapitel 12 - Matt

Kapitel 13 - Adah

Kapitel 14 - Matt

Kapitel 15 - Adah

Kapitel 16 - Matt

Kapitel 17 - Adah

Kapitel 18 - Matt

Kapitel 19 - Adah

Kapitel 20 - Matt

Kapitel 21 - Adah

Kapitel 22 - Matt

Kapitel 23 - Adah

Ein paar Worte zum Schluss

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Impressum

Kapitel 1 -Adah

Erschrocken fahre ich hoch, als das Schrillen des Telefons an mein Ohr dringt. Wer ruft denn kurz vor Mitternacht noch an? Gerade erst bin ich eingeschlafen, nachdem ich mir selbst versprochen habe, mein Leben endlich wieder in den Griff zu bekommen. Mit Erics Tod habe ich meine Zukunft verloren – aber ich will sie mir zurückholen. Er hätte nicht gewollt, dass ich mich von meiner Trauer beherrschen lasse. Immerzu wollte er mich bloß glücklich sehen.

Schlaftrunken taumle ich ins Wohnzimmer und nehme das Gespräch entgegen. »Hallo?«

»Guten Abend. Entschuldigen Sie die späte Störung. Hier ist Matthew Burke. Sind Sie die Tochter von Richard Black?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt nervös.

Sofort läuten sämtliche Alarmglocken in mir. »Die Enkelin. Adah Clarke. Ist etwas passiert?«

»Ihr Großvater hatte einen schweren Herzinfarkt.«

Bestürzt halte ich die Luft an. »Ist er …« Ich wage nicht, es auszusprechen.

»Er lebt, wurde aber in ein künstliches Koma versetzt. Ich … ich weiß, dass Ihre Familie keinen Kontakt mehr zu Richard hat, aber ich dachte, dass Ihre Mutter unter den Umständen vielleicht nach ihm sehen möchte.« Seine Worte machen mir die Dringlichkeit, die darin liegt, durchaus bewusst.

Doch ich bin mir nicht sicher, wie Mum darauf reagieren wird. »Ich werde mit ihr reden. In welchem Krankenhaus liegt mein Grandpa?«

»Im Royal Cornwall Hospital in Truro.«

»Okay. Warten Sie kurz. Ich schreibe mir noch schnell Ihre Nummer ab und schicke Ihnen dann eine Nachricht, damit Sie mich direkt auf dem Handy erreichen können, falls noch etwas ist.«

»In Ordnung.«

»Danke, dass Sie uns Bescheid gegeben haben.« Mit rasendem Herzen verabschiede ich mich und eile auf das Schlafzimmer meiner Eltern zu.

Ich klopfe energisch an und öffne die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten. »Mum, wach auf.«

»Was ist denn los?«, brummt sie verschlafen. Auch mein Dad regt sich neben ihr und setzt sich im Bett auf.

»Gerade eben kam ein Anruf. Grandpa Richard hatte einen Herzinfarkt. Es geht ihm sehr schlecht.« Unwillkürlich kneife ich die Augen zusammen, während ich ihre Antwort abwarte.

»Und deswegen weckst du mich mitten in der Nacht?«, fragt sie vorwurfsvoll.

»Rachel!«, tadelt sie mein Vater.

»Ich … ich dachte, du würdest es vielleicht wissen wollen«, wispere ich. Doch ehrlicherweise habe ich mit solch einer Reaktion gerechnet.

»Lass mich damit in Ruhe, Adah.« Mum dreht sich wieder um und tut so, als sei nichts gewesen. Dass es ihrem Vater alles andere als gut geht, scheint sie nicht im Geringsten zu berühren.

»Das … das ist …« Ich beiße mir auf die Zunge. Es hat offenbar keinen Sinn, mit ihr darüber zu diskutieren. Wutentbrannt verlasse ich das Zimmer und bleibe betroffen auf dem dunklen Flur stehen. Grandpa könnte sterben, und Mum zieht es nicht einmal in Erwägung, zu ihm zu gehen und sich zu verabschieden. Sie hat noch die Chance dazu – ich hätte damals bei Eric alles für eine solche Gelegenheit gegeben. Aber sie ist mir verwehrt geblieben.

Plötzlich öffnet sich die Tür hinter mir, und mein Dad legt seinen Arm um meine Schultern. »Nimm es ihr nicht übel. Du weißt, wie sehr sie daran zu knabbern hat.«

»Aber ist nicht jetzt der beste Zeitpunkt, das alles hinter sich zu lassen? Ich meine, was, wenn er stirbt und sie nicht mehr die Möglichkeit haben, sich zu versöhnen?« Verzweifelt schaue ich ihn an.

»Glaub mir, genau darüber habe ich mir auch schon oft genug den Kopf zerbrochen. Doch sie will nicht mit sich reden lassen.« Ratlos zieht er die Schultern in die Höhe. »Aber vielleicht könntest du nach ihm sehen. Was denkst du?«

»Ich? Aber …« Ich will protestieren, kenne ich meinen Grandpa doch eigentlich nicht. Dann kommt mir aber wieder das Versprechen an mich selbst in den Sinn. »Du hast recht, Dad. Ich mache mich gleich morgen früh auf den Weg.«

Benommen kehre ich in mein Zimmer zurück und sinke aufs Bett. Ich starre aus dem Fenster und spüre, wie sich eine bleischwere Leere auf mich legt. Sie droht mich zu erdrücken, doch ich kann mich diesem Schmerz nicht hingeben. Ich muss funktionieren, jetzt, wo ich gebraucht werde.

Gedankenversunken greife ich nach dem in braunem Leder gebundenen Buch und streiche über den Einband. Dann ziehe ich den silbernen Kugelschreiber aus der Halterung, blättere zur nächsten freien Seite und lasse meinen Emotionen freien Lauf.

TAG 1477 OHNE DICH

Ich bin wütend. Und ich habe Angst. Mein Grandpa hat einen Herzinfarkt erlitten und es sieht nicht gut aus. Was, wenn er es nicht schafft? Darüber darf ich nicht nachdenken. Und Mum tut es anscheinend auch nicht. Du weißt ja, wie sie auf ihn zu sprechen ist. Sie weigert sich sogar jetzt, zu ihm zu fahren. Kannst Du das glauben? Jedenfalls habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich werde nach ihm sehen. Ich weiß nur nicht, ob ich das hinbekomme. Seit Du weg bist, habe ich nichts mehr auf die Reihe bekommen. Und jetzt soll ich ganz allein die Reise nach Cornwall antreten? Aber ich habe mir selbst ein Versprechen gegeben, nicht wahr? Ich muss das schaffen.

In Liebe, Adah

***

Schnell habe ich das Nötigste zusammengepackt. Es ist noch dunkel, aber mir fehlte die Ruhe, um noch länger im Bett liegenzubleiben. Nach einer Tasse Kaffee und einem Toast bin ich bereit aufzubrechen. Nur von meinen Eltern muss ich mich noch verabschieden. Gerade als ich im Begriff bin, einen Zettel zu schreiben, taucht meine Mum in der Küche auf.

»Was wuselst du denn schon um diese Uhrzeit hier herum?«, will sie wissen und mustert mich erstaunt.

»Ich fahre zu Grandpa, da du es ja nicht tun willst.«

»Sprich nicht so mit mir, Adah!« Wut blitzt in ihren Augen auf.

»Einer muss es ja tun. Du hast offensichtlich vergessen, wie sehr ich immer noch darunter leide, dass ich nicht die Möglichkeit hatte, mich von Eric zu verabschieden. Ich lasse nicht noch jemanden einfach so gehen. Und du solltest das auch nicht. Er ist dein Dad. Du musst vergessen, was euch voneinander trennt, und viel mehr an das denken, was euch verbindet.«

Sie schnaubt. »Es gibt rein gar nichts, was mich mit ihm verbindet.«

Kopfschüttelnd schaue ich sie an. Mir fehlt jegliches Verständnis für ihre Haltung. »Ja, weil du dich von deiner Wut beherrschen lässt. Du musst damit aufhören, Mum. Sonst wirst du es womöglich eines Tages bereuen.« Mit diesen Worten verlasse ich die Küche, greife nach meinem Gepäck und laufe hinaus zu meinem Auto.

Als ich die Adresse des Krankenhauses ins Navigationsgerät eintippe, fällt mir auf, dass meine Mum am Küchenfenster steht und mich beobachtet. Warum kann sie die Vergangenheit nicht einfach ruhen lassen und über ihren Schatten springen? Ich werde ihre Gründe vermutlich nie ganz verstehen, denn für mich wären sie kein Hindernis. Sie ist einfach viel zu verbohrt, was ihren Vater angeht. Dabei passt das eigentlich nicht zu ihr. Sie hat ein solch großes Herz. Warum ist für ihren Dad dort kein Platz?

Mit einem letzten Blick zu ihr starte ich den Motor. Gut drei Stunden Fahrt liegen vor mir, wenn nichts schiefgeht. Viel Zeit zum Nachdenken, doch das will ich heute nicht. Das habe ich in den letzten Jahren zu viel getan.

Als Eric ging, war ich gerade einmal vierundzwanzig und habe mit ihm all unsere Träume und Pläne begraben. Von diesem Tag an war mir das Leben zu viel. Es machte für mich keinen Sinn, dass ich lebte und er nicht. Ich wollte dort sein, wo er ist.

So kam es, dass meine Eltern mich wieder nach Hause geholt haben. Sie waren extrem besorgt um mich, und diese Sorgen waren, weiß Gott, nicht unbegründet.

Um meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, schalte ich mir einen Podcast an, doch ich höre nicht richtig hin. Immer wieder gleiten meine Gedanken zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her. Ich weiß, dass ich einen Neuanfang brauche. In den letzten vier Jahren war jeder einzelne Tag eine Qual, und so kann und darf es nicht weitergehen. Dessen bin ich mir mehr als bewusst. Aber warum fällt es mir dann so schwer loszulassen?

Und doch sitze ich jetzt im Auto, fest entschlossen für jemand anderen da zu sein, als immer nur für mich – auch wenn es womöglich nur für eine kurze Dauer ist.

Ich habe nichts mehr von diesem Matthew gehört, außer die Antwort auf meine Nachricht, dass er sich melden würde, sollte sich Grandpas Zustand verschlechtern. Das werte ich als gutes Zeichen.

***

Nach mehr als vier Stunden und einem kilometerlangen Stau komme ich endlich am Krankenhaus in Truro an. Ich muss drei Runden über den Parkplatz drehen, bis endlich eine Lücke frei wird. Einen kurzen Moment schließe ich die Augen und atme tief durch, bevor ich aussteige.

»Guten Morgen, ich möchte gerne zu Richard Black«, sage ich der älteren Dame mit der peppigen Kurzhaarfrisur an der Rezeption.

Sie tippt etwas in ihren Rechner ein und lächelt mich dann an. »Mr Black liegt in Zimmer 207 auf der Intensivstation. Sie müssen den Aufzug oder die Treppe in den zweiten Stock nehmen und der Beschilderung folgen. Dort fragen Sie bitte am Empfang nach, ob Mr Black besucht werden kann.«

»In Ordnung. Vielen Dank.« Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch entscheide ich mich für den Aufzug, denn plötzlich kommt es mir so vor, als würden meine Beine mich nicht mehr tragen können. Was erwartet mich wohl? Wird Grandpa überhaupt registrieren, dass ich da bin?

Die Aufzugtür öffnet sich und ich schaue direkt auf einen kleinen Empfangstresen, der momentan jedoch nicht besetzt ist. Rechts daneben befindet sich ein Wartebereich mit ein paar Stühlen und zwei Sofas. Auf einem von ihnen sitzt ein junger Mann, der aussieht, als hätte er die ganze Nacht hier verbracht.

Unsere Blicke streifen sich flüchtig, dann wende ich mich dem Tresen zu, in der Hoffnung, gleich mit jemandem sprechen zu können.

»Das kann noch dauern. Ist wohl gerade ein Notfall eingetreten«, ruft der Mann mir zu.

Seufzend schlendere ich zu dem freien Sofa hinüber und lasse mich darauf fallen. »Sie warten auch schon länger?«, frage ich mein Gegenüber.

Freudlos lacht er auf. »Seit gestern Nachmittag bin ich hier. Mein Ziehvater wurde mit dem Rettungswagen hergebracht.« Er rauft sich sein dunkelbraunes Haar und reibt sich anschließend übers Gesicht. Er wirkt verzweifelt. »Und Sie? Etwas Schlimmes?«

Die Frage erscheint mir vollkommen sinnlos. Wir sind schließlich auf einer Intensivstation. Aber vielleicht möchte er sich einfach nur mit mir unterhalten, um sich abzulenken. »Mein Grandpa hatte einen Herzinfarkt. Ich will nach ihm sehen.«

Ruckartig richtet er sich auf. »Adah? Adah Clarke?«

Überrascht schaue ich ihn an. »Woher … Moment mal. Bist du Matthew?«

»Genau der bin ich.«

Kapitel 2 - Matt

Plötzlich ist die Müdigkeit wie weggeblasen und ich beuge mich neugierig vor. »Ich hatte ja eher mit deiner Mutter gerechnet.«

Adahs Blick wird schlagartig tieftraurig. Mit ihren ozeanblauen Augen und dem langen braunen Haar, das in einem geflochtenen Zopf über ihrer Schulter hängt, wirkt sie so zart und zerbrechlich. Ein paar herausgerutschte Strähnen umrahmen ihr schmales Gesicht. »Ich hatte auch gehofft, dass sie sich dazu durchringt. Aber sie wollte nichts davon hören.«

Ich schnaube. »Das ist echt traurig.« Schnell beiße ich mir auf die Zunge, damit mir nicht herausrutscht, dass ich mit nichts anderem gerechnet habe.

»Ja, ich weiß«, erwidert sie leise. »Deswegen bin ich jetzt hier. Ich wollte ihn nicht im Stich lassen.«

»Dann hättest du dich schon viel eher blicken lassen können«, entgegne ich bissig und verschränkte die Arme vor der Brust. Es ist mir vollkommen unverständlich, warum ausgerechnet jemand wie Richard von seiner Familie hängen gelassen wird.

Sie schaut mich an wie ein verängstigtes Reh, nickt dann aber stumm, als sei sie sich ihrer Schuld bewusst. Wenigstens etwas.

Gerade will Adah etwas sagen, als die Schwester dazwischen platzt.

»Sie können jetzt zu ihm, Mr Burke. Bitte ziehen Sie sich das hier über.« Die untersetzte Frau reicht mir einen Besucherkittel, einen Haarschutz sowie Handschuhe und eine Maske.

»Kann sie auch mit?« Mit dem Kopf deute ich in Adahs Richtung. »Sie ist seine Enkelin.«

»Meinetwegen. Sie haben eine Viertelstunde. Und danach fahren Sie nach Hause. Es bringt niemandem etwas, wenn Sie die ganze Zeit hier sitzen. Wir melden uns, sobald sich etwas verändert, in Ordnung?«

Widerwillig nicke ich. Ich will Richard hier nicht allein lassen, aber ich weiß, dass sie recht hat. »Okay. Danke.«

Nachdem auch Adah ihre Schutzkleidung bekommen hat, ziehen wir uns an und treten in das Krankenzimmer. Schlagartig beginnt mein Herz zu rasen und kalter Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Ihn so zu sehen, angeschlossen an all diesen Geräten, macht mich fertig. Schon gestern habe ich diesen Anblick nicht ausgehalten, und auch heute komme ich absolut nicht damit klar.

Ich versuche, mich auf Adah zu konzentrieren, die sofort auf das Krankenbett zugeht. Sie greift nach Richards Hand, als wäre es für sie das Natürlichste der Welt – dabei ist sie im Prinzip nichts weiter als eine Fremde, die zufällig mit ihm verwandt ist. Aber warum glaube ich dann so etwas wie Zuneigung und Schmerz in ihren Augen zu erkennen? Für mich ergibt das wenig Sinn.

Unwillkürlich gleitet mein Blick nun doch zu Richard, und ich spüre, wie mein Hals enger wird. Als Adah leise mit ihm redet, nutze ich die Gelegenheit, um mich zurückzuziehen.

Draußen auf dem Flur befreie ich mich von der Schutzkleidung und versuche, ruhig durchzuatmen. Ich hocke mich auf den Boden neben der Tür und verharre dort, bis Adah wieder aus dem Zimmer kommt.

Irritiert mustert sie mich. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja … klar. Ich wollte euch beide bloß in Ruhe lassen. Es geht mich nichts an, was du ihm zu sagen hast.« Dass das nur die halbe Wahrheit ist, muss sie ja nicht wissen. Mühevoll rapple ich mich auf und stehe ihr direkt gegenüber.

»Du siehst ziemlich fertig aus. Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen oder geschlafen?«

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich bin hier, seit Richard eingeliefert wurde. Gestern haben sie mir nur fünf Minuten mit ihm gegeben. Ich habe gewartet, bis ich wieder zu ihm durfte.« Plötzlich trifft es mich wie ein Schlag. »Oh, verdammt! Barney!«

»Wer ist Barney?«, fragt sie, während sie sich ihrer Schutzkleidung entledigt.

Aufgelöst packe ich mir an den Kopf. »Richards Hund. Er war die ganze Zeit allein. Ich bin so ein Idiot! Wie konnte ich ihn bloß vergessen? Kannst du mich vielleicht nach St. Ives fahren?«

»Sicher.«

»Danke. Ich bin nämlich gestern mit Richard im Rettungswagen hierhergekommen.«

»Dann komm! Wir können ihn ja später noch einmal besuchen.«

Ich nicke und folge ihr schweigend ins Freie. Feiner Regen hüllt mich ein und ich atme erleichtert auf. Doch zum Durchatmen bleibt mir keine Zeit. »Wir sollten uns beeilen. Wahrscheinlich hat der Hund schon ins Haus gemacht.«

»Das ist das kleinste Problem. Vermutlich ist das arme Tier völlig verstört, weil es so lang allein war.« Zielstrebig steuert Adah auf einen schwarzen Mini Cooper zu und bedeutet mir einzusteigen. »Wo müssen wir hin?«

»Barnoon Hill in St. Ives.«

Sie tippt die Adresse in die Navigation ein und startet den Motor.

Eine ganze Weile fahren wir schweigend, und das ist mir mehr als recht. Ich weiß ohnehin nicht, worüber ich mit ihr reden sollte, auch wenn sich viele Fragen an die Oberfläche kämpfen wollen, die jedoch allesamt von Vorwürfen getränkt wären.

Dann aber räuspert sie sich und bricht damit die Stille. »Du hast gesagt, mein Grandpa wäre dein Ziehvater?«

»Mmh«, brumme ich und starre aus dem Fenster. Mir ist nicht nach Small Talk mit ihr.

»Wohnst du bei ihm?«

»Nicht mehr.«

»Okay, also hast du mal bei ihm gewohnt. Wie kam es dazu?«

»Du stellst ziemlich viele Fragen.«

»Tut mir leid. Aber es interessiert mich einfach. Immerhin geht es auch um meinen Grandpa.«

Dein Interesse kommt reichlich spät, denke ich mir im Stillen, doch mir steht nicht der Sinn nach einem unnützen Wortgefecht. »Er hat mich als Sechzehnjährigen von der Straße aufgelesen und mir einen Job angeboten. Zufrieden?«

»Von der Straße? Das … tut mir leid. Wie lang ist das her?«

»Und noch eine Frage.«

»Ich will doch bloß herausfinden, wie alt du bist.« Ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht.

»Das war vor vierzehn Jahren«, gebe ich widerwillig zurück.

»Na, geht doch.«

»Es war an dem Tag, als Penny beerdigt wurde.«

Schlagartig verblasst ihr Lächeln. »Meine Grandma?«

»Mmh.«

»Oh.« Nun verfällt sie wieder in Schweigen und wirkt in sich gekehrt. Bestimmt fünfzehn Minuten vergehen, in denen keiner etwas sagt. Doch dann räuspert sie sich erneut und beginnt, leise zu sprechen. »Ich kann mich noch genau an diesen Tag erinnern. Es war das einzige Mal, dass ich Grandpa gesehen habe. Er sah so … gebrochen aus. Als hätte er sie immer noch geliebt.«

»Dann hast du das Gleiche gesehen wie ich, als ich auf ihn gestoßen bin. Oder er auf mich.«

Ihr Blick huscht kurz zu mir herüber. »War es denn so? Liebte er sie noch?«

»Er hat nie damit aufgehört«, antworte ich, doch ärgere mich im selben Moment. Ich sollte nicht mit ihr über diese Dinge reden.

»Aber … sie waren seit Jahren getrennt. Und soweit ich weiß, hat er meine Grandma verlassen.«

»Und kennst du auch die Gründe dafür?« Ich spüre das heftige Pochen meiner Halsschlagader.

»Nicht so richtig. Ich weiß nur, dass meine Mutter ihm die Schuld an allem gibt. Aber offen geredet wurde über das Thema nie. Zumindest nicht mit mir.«

Ich stoße laut Luft aus. Das war so klar!

»Weißt du mehr darüber?«

»Ja, aber es steht mir nicht zu, dir davon zu erzählen. Das soll er schon selbst machen.« Wenn er noch dazu in der Lage sein wird, füge ich in Gedanken hinzu.

Ihr Blick sagt mir, dass sie das Gleiche denkt wie ich. »Und wo seid ihr beide euch begegnet?«

»Oh, das Interview geht weiter«, stichle ich.

»Entschuldige.« Verkniffen konzentriert sie sich wieder auf die Straße und hakt nicht weiter nach.

Inzwischen haben wir St. Ives erreicht und werden in wenigen Minuten an Richards Haus ankommen. Ich bin gespannt, was uns erwartet, und hoffe, Barney hat nicht das ganze Haus verwüstet. Wobei der alte Streuner dazu kaum noch in der Lage ist.

»Verdammt, wo soll man denn in dieser engen Gasse parken?«, flucht Adah und bleibt mitten auf der Straße stehen.

»Hier gegenüber befindet sich ein Gästehaus. Da kannst du sicher kurz stehen bleiben. Parken ist in St. Ives tatsächlich immer so eine Sache.«

Adah folgt meiner Anweisung und hat den Motor noch nicht abgestellt, da springe ich schon aus dem Wagen.

»Könntest du vielleicht auf mich warten?«, ruft sie mir hinterher und holt eilig zu mir auf.

»Sorry, ich will Barney nicht noch länger warten lassen.« Als ich den Schlüssel im Schloss herumdrehe, höre ich den Hund bereits aufgeregt bellen. Dementsprechend freudig ist der Empfang, den er mir bereitet. Er springt an mir hoch, was er normalerweise nicht tut. »Na, mein alter Freund. Geht es dir gut? Tut mir leid, dass du so lange allein warst.« Liebevoll streichle ich das ergraute Fell des schwarzen Labradors.

Auch Adah beugt sich zu Barney hinunter, der sie neugierig beschnuppert. »Hallo Barney! Du armer Kerl, du bist bestimmt hungrig, hm? Komm, wir geben dir erst einmal etwas zu fressen.«

Der Hund wedelt freudig mit dem Schwanz und stupst Adah mit seiner feuchten Nase an. Offensichtlich mag er sie.

»Weißt du, wo sein Futter steht?«, möchte Adah nun wissen.

»Na klar, ich kümmere mich darum.« Zielstrebig eile ich in die Küche und trete als Erstes in Barneys Hinterlassenschaften. Dabei hätte ich damit rechnen müssen. »So ein Mist!«

»Alles in Ordnung?«, fragt Adah hinter mir.

Als Antwort hebe ich bloß meinen Fuß und ernte ein heiteres Lachen von ihr, sowie einen schuldbewussten Blick von Barney. Genervt streife ich den Schuh ab, um das stinkende Etwas nicht in der ganzen Küche zu verteilen – und stelle den unbeschuhten Fuß mitten in eine Pfütze. »Das darf doch nicht wahr sein!«

Adah kichert umso mehr.

»Ja, lach du nur.«

»Ich schlage vor, ich mache hier schnell sauber und du fütterst Barney in der Zeit. Danach nimmst du eine Dusche und legst dich eine Weile hin.«

»Warum sollte ich? Ich muss dringend mit dem Hund raus.«

»Warum? Weil du ziemlich mitgenommen aussiehst. Mach dir um Barney keine Gedanken. Ich gehe mit ihm eine große Runde.«

Auch wenn ich mich lieber selbst um den Hund kümmern würde, muss ich zugeben, dass sie recht hat. »Okay, meinetwegen. Aber dann mache ich hier sauber, damit er endlich vor die Tür kommt.«

Ein zufriedenes Lächeln erscheint auf Adahs Gesicht. »Also dann, wo finde ich die Leine?«

»Hängt an der Garderobe im Flur. Und denk an seine Leckerlis und die Kackbeutel. Die liegen auf dem Schuhschrank.«

»Kackbeutel. Na klar.«

Ihr entgeisterter Gesichtsausdruck bringt mich wider Willen zum Schmunzeln. Dann verschwindet sie mit Barney ins Freie und ich widme mich dem Chaos.

Kapitel 3 - Adah

Barney stromert unruhig an meiner Seite die Straße entlang. Dabei lässt er keine Gelegenheit aus, alles zu beschnuppern, als hätte er Angst, etwas zu verpassen.

Nach nur wenigen Metern tut sich inmitten der engen Gassen von St. Ives eine grüne Oase vor uns auf. Der Regen hat sich zwischenzeitlich verzogen, ein sanfter Wind hat die Wolken mit sich fortgetrieben. Nun zeigt sich über uns ein strahlend blauer Himmel, und die Sonne bringt das saftige Grün der Bäume zum Leuchten. Es duftet nach Frühling, und eigentlich würde ich diesen Moment jetzt in vollen Zügen genießen. Doch die Sorge um meinen Grandpa hindert mich daran.

Wie er im Krankenbett lag, so blass und regungslos – allein der Gedanke daran schnürt mir die Kehle zu. Inständig bete ich, dass er sich wieder von seinem Herzinfarkt erholt. Ich möchte ihn nicht auch noch verlieren, auch wenn ich Grandpa kaum kenne. Aber daran will ich etwas ändern, wenn ich noch kann.

Auch Matts Worte geistern mir unaufhörlich im Kopf herum. Er hat mich damit getroffen, aber die Wahrheit tut manchmal eben weh. Ich hätte mich schon viel eher um meinen Grandpa kümmern können – ganz gleich, wie Mum darüber denkt. Schließlich bin ich erwachsen und treffe meine eigenen Entscheidungen.

Deshalb wohnst du auch noch bei deinen Eltern, sagt eine gehässige Stimme tief in mir drin. Seit Erics Tod fühlte ich mich nicht mehr in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen. Und trotzdem bin ich nun hier.

»Das ist ein guter Schritt, oder?«, frage ich Barney, der mich bloß verständnislos anschaut.

Wir schlendern durch die gepflegte Parkanlage, wo der betörende Duft der Frühlingsblüher die Luft erfüllt. Doch noch ein anderer Geruch mischt sich darunter – der salzige Duft des Meeres. Sofort verspüre ich Lust nach mehr und bin dankbar über die Tatsache, dass Matthew noch eine Weile Ruhe braucht.

»Sollen wir ans Wasser gehen, Barney? Was meinst du?«

Als Antwort erhalte ich ein kurzes, zustimmendes Bellen.

Lächelnd streichle ich über sein Fell. »Dann wollen wir mal.«

Wir verlassen den blühenden Garten über ein schmales Seitentor und schlendern den Lifeboat Hill hinunter, wo sich hübsche kleine Läden und Restaurants aneinanderreihen. Ich folge der Beschilderung Richtung Hafen und finde mich wenig später an einer belebten Promenade wieder. Menschen tummeln sich vor den Schaufenstern der Geschäfte oder sitzen entspannt in der Sonne vor den Cafés und Restaurants. Der Blick auf das Hafenbecken zieht mich sofort in seinen Bann. Etliche Boote liegen auf dem Trockenen, nur um den Kai steht ein wenig türkisblaues klares Wasser. Dahinter eröffnet sich die endlose Weite des Meeres. Eine Weile bleibe ich mitten auf dem Gehweg stehen und lasse mich von der Schönheit dieses Ortes verzaubern.

Erst Barneys leises Winseln bewegt mich zum Weitergehen. Plötzlich scheint er es sehr eilig zu haben und zieht an der Leine, mit einer Kraft, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte.

»Wo willst du denn hin?« Nur mit Mühe kann ich mit Barney mithalten. Als der Hund abrupt vor einem großen steinernen Haus stehenbleibt, wird mir auch der Grund für seine Eile klar. »Blacks Glass Factory«, lese ich auf dem Schild über der Tür. »Ist das Grandpas Fabrik?«, frage ich Barney, der mir selbstverständlich eine Antwort schuldig bleibt. Doch ich kann eins und eins zusammenzählen, denn ich erinnere mich, dass meine Mum mir mal von der Glasbläserei erzählt hat. Neugierig schaue ich ins Schaufenster und entdecke verschiedene Glasfiguren, Vasen und dekorative Teller. Zu gern würde ich hineingehen und durch die Regale stöbern. Ich hoffe, mir bald alles in Ruhe ansehen zu können.

Ob Matt auch hier arbeitet? Er hat mir erzählt, dass mein Grandpa ihm Arbeit gegeben hat. Ich werde ihn später auf jeden Fall danach fragen. Und wir sollten ein Schild in die Tür hängen, dass der Laden eine Zeit lang geschlossen sein wird.

»Na komm, Barney. Grandpa ist nicht hier. Er kommt hoffentlich bald wieder nach Hause. Bis dahin kümmern Matt und ich uns um dich.«

Mit verträumtem Blick und dem Hund dicht an meiner Seite, schlendere ich weiter die Promenade entlang und komme mir dabei beinahe so vor, im Urlaub zu sein. Jedenfalls wäre St. Ives der perfekte Ort dafür.

Warum bin ich nicht viel eher hierhergekommen? Warum musste erst etwas Schlimmes passieren, damit ich diese Reise antrete? Wut über mich selbst steigt in mir auf und vertreibt die positive Energie, die ich nur Sekunden zuvor noch in meinem Inneren verspürt habe. Die letzten vier Jahre, in denen ich nur mit mir selbst beschäftigt war, gelten nicht als Vorwand. Auch vorher hätte ich längst herkommen und meinen Grandpa kennenlernen können. Aber ich habe es nicht getan.

Als würde Barney diesen Umschwung in mir spüren, leckt er meine Hand ab und schaut mich aus treuen Augen an.

Unwillkürlich muss ich lächeln. »Du hast ja recht. Schlechte Laune kann gerade keiner von uns gebrauchen. Ich werde mich zusammenreißen! Versprochen.« Entschlossen schlage ich den Weg hinunter ins Hafenbecken ein und setze mich in den weichen Sand. Barney legt seinen Kopf auf meinen Schoß und lässt sich kraulen, während ich das bunte Treiben um uns herum beobachte.

Ich sehe Pärchen, die Hand in Hand durch den Sand spazieren, fröhliche Kinder, die die fantasievollsten Sandburgen bauen, eine Frau im Bikini, die sich tatsächlich ins Wasser traut, obwohl es mit Sicherheit eiskalt sein muss. Ein jeder von ihnen wirkt zufrieden, vollkommen mit sich selbst im Einklang. Ich wünschte, das auch von mir selbst behaupten zu können. Ob mir das je wieder gelingen wird?

Noch lange bleiben wir hier sitzen, und ich merke, wie ich innerlich ein wenig zur Ruhe komme. Die frische Luft tut mir gut, ebenso wie dieser Ort. Erst als ich Hunger verspüre, machen wir uns wieder auf den Weg zu Grandpas Haus.

Ob Matthew noch schläft? Ich traue mich nicht zu klingeln, weil ich befürchte, ihn zu wecken. Dummerweise habe ich nicht daran gedacht, ihn nach einem Schlüssel zu fragen. Ratlos starre ich auf die Tür, neben der ein Schild mit der Aufschrift Crystal Cottage hängt, da gibt mein Handy einen Signalton von sich. Es ist eine Nachricht von Matthew.

Das Krankenhaus hat angerufen.

Sie werden bei Richard die

Aufwachphase einleiten.

Erleichtert atme ich auf. Das ist ein gutes Zeichen, schätze ich. Und jetzt brauche ich auch keine Sorge mehr haben, Matthew aufzuwecken.

Nur ein paar Wimpernschläge nachdem ich geklingelt habe, öffnet er die Tür. »Ach, da seid ihr ja. Hast du die Nachricht schon gelesen?«

»Ja, gerade eben. Das heißt, er ist stabil, oder?«

Er nickt. »Es kann allerdings dauern, bis er aufwacht. So genau kann man das nicht vorhersehen.«

»Das dachte ich mir schon.« Ich schiebe mich an ihm vorbei ins Haus, wo Barney direkt zum Wassernapf läuft und sich erfrischt. Lächelnd bleibe ich im Türrahmen zur Küche stehen und beobachte ihn dabei. »Soll ich uns etwas kochen, Matthew? Und danach können wir wieder zum Krankenhaus. Was meinst du?«

»Ich hab’ keinen Appetit«, brummt er hinter mir. »Und nenn mich um Himmels willen Matt.«

Ich drehe mich zu ihm um und mustere ihn kritisch. Er ist kreidebleich. »Okay, Matt. Aber du solltest wirklich etwas essen.«

»Ich will nichts, wie gesagt. Wenn du Hunger hast, dann koch dir gern etwas.« Damit macht er auf dem Absatz kehrt und verschwindet durch die Tür, hinter der ich das Wohnzimmer vermute.

»Dann eben nicht«, murmle ich und beginne, in den Küchenschränken nach verwertbaren Lebensmitteln zu suchen. Viel geben Grandpas Vorräte nicht her, abgesehen vom Kühlschrank, der von Joghurt quasi überquillt. Immerhin ist alles da, was ich für ein perfektes Sandwich brauche. So brate ich Bacon in der Pfanne und verteile diesen anschließend mit Salat und Tomaten auf geröstetem Toast.

Ich setze mich mit meinem Teller an den kleinen Tisch in der Küche, und Barney legt sich neben mich auf den Holzboden. Gerade als ich im Begriff bin, in mein Sandwich zu beißen, erscheint Matt in der Küche.

»Das sieht gut aus«, meint er mit einem flüchtigen Blick auf meinen Teller und nimmt sich etwas zu trinken aus dem Kühlschrank.

Schnell lege ich mein Sandwich ab und schiebe den Teller auf den freien Platz mir gegenüber. »Ich mache noch mehr. Bediene dich ruhig.«

Er antwortet nicht, setzt sich jedoch hin und greift beherzt zu, während ich die Pfanne erneut erhitze.

Als ich mich mit einem frischen Sandwich zu ihm setze, ist sein Teller bereits leer. Es fällt mir schwer, ein Schmunzeln zu unterdrücken.

»War wohl doch nötig«, meint er schulterzuckend.

»Willst du noch mehr?«

»Wenn du so fragst …«

»Dann ist es ja gut, dass ich vorgesorgt habe.« Ich stehe wieder auf und hole zwei weitere Sandwiches, die ich vorsorglich gleich mit vorbereitet habe.

»Danke.« Sofort greift Matt wieder zu, und auch ich komme endlich zum Essen.

»Was hat das Krankenhaus eigentlich genau gesagt?«, frage ich zwischen zwei Bissen.

»Nur, dass sich sein Zustand stabilisiert hat und die Medikamente nun schrittweise reduziert werden können. Wie schon gesagt, wir brauchen etwas Geduld. Aber möglicherweise wird Richard schon bald auf Ansprache und Berührungen reagieren. Von der künstlichen Beatmung wird er dann auch entwöhnt.«

»Sollen wir denn nachher zu ihm fahren?«

Matt senkt den Blick und starrt auf seinen leeren Teller. Plötzlich kommt es mir so vor, als würde er sich unbehaglich fühlen. »Ich … ach, verdammt. Eigentlich muss ich in die Glasbläserei. Es müssen noch ein paar Aufträge abgearbeitet werden.«

Damit wäre meine Frage, ob er auch in Grandpas Werkstatt arbeitet, beantwortet. »Kannst du nicht einfach ein paar Tage geschlossen lassen?«

»Den Laden vielleicht schon. Aber die Aufträge warten und sind zum Großteil termingebunden.«

»Verstehe.« Nachdenklich ziehe ich die Stirn kraus. »Wie wäre es, wenn du dich um die Aufträge kümmerst und ich zu Grandpa fahre? Wer weiß, ob er überhaupt heute schon ansprechbar sein wird. Ich kann dir ja Bescheid geben, wenn sich etwas tut.«

»Ja, das wäre perfekt. Dann ist Barney auch nicht wieder die ganze Zeit allein. Ich nehme ihn mit in die Werkstatt.«

»Da wollte er vorhin schon unbedingt hin.«

»Ihr wart dort?«

»Mmh. Schließlich musste ich die Zeit rumbekommen, damit du dich ausruhen konntest. Und so sind wir irgendwann am Hafen gelandet, wo Barney mir den Laden quasi gezeigt hat.«

»Wahrscheinlich hat er gehofft, Richard dort zu finden.«

»Gut möglich.« Mein Blick fällt auf den Hund, der sich zwischenzeitlich aufgesetzt hat und uns beobachtet, als wisse er genau, dass wir von ihm sprechen. »Ist Grandpa denn noch jeden Tag in der Glasbläserei? Er müsste doch längst Rentner sein.«

»Ist er eigentlich auch. Meistens sitzt er vorn im Laden. Nur ab und an stellt er selbst noch ein paar Figuren her, aus reiner Liebhaberei. Aber ich fürchte, er muss in Zukunft deutlich kürzer treten. Das wird ihm nicht gefallen.« Unvermittelt erhebt Matt sich vom Tisch und bedeutet Barney, ihm zu folgen. In der Tür dreht er sich noch einmal kurz zu mir um. »Du meldest dich, wenn was ist?«

»Klar.«

»Okay. Bis dann. Und … danke.« Matt lässt mich allein zurück. Bevor ich anfange, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, warum er sich so eigenartig verhält, beginne ich, die Küche aufzuräumen. Danach mache ich mich wieder auf den Weg nach Truro.

***

Als ich an Grandpas Krankenbett trete, befindet er sich im gleichen Zustand wie heute Morgen. Ich ziehe mir einen Stuhl heran, setze mich zu ihm und umfasse seine schlaffe kalte Hand mit meiner.

»Du musst wieder auf die Beine kommen, Grandpa. Hörst du?«, sage ich in die Stille hinein. »Ich weiß, dass ich mich all die Jahre nie um dich gekümmert habe, aber das wird sich nun ändern. Ich will für dich da sein – wenn du das auch willst. Und ich möchte deinen Teil der Geschichte hören und endlich verstehen, was damals vorgefallen ist. Aber ganz gleich, was es war, gehörst du zu meiner Familie. Und es tut mir unendlich leid, dass ich dich das nie habe spüren lassen.« Während ich rede, wollen sich Tränen ihren Weg ins Freie erkämpfen, doch ich will jetzt keine Schwäche zeigen. Grandpa braucht jemanden, der für ihn stark ist. Seine Hand zuckt plötzlich und seine Augenlider flattern. Das ermuntert mich weiterzureden. Aber es geschieht nichts weiter, und es vergeht Stunde um Stunde, ohne dass er aufwacht.

Als mich die Müdigkeit übermannt, kauere ich mich auf dem Stuhl zusammen und erwache erst wieder beim Morgengrauen. Doch Grandpa ist immer noch nicht zu sich gekommen. Vielleicht hilft es, wenn Matt kommt.

Umständlich quäle ich mich aus dem Stuhl und beschließe, meinem eingerosteten Körper ein wenig Bewegung zu gönnen. Leise verlasse ich das Zimmer und schleiche aus dem Gebäude, um mir in der kühlen Morgenluft die Beine zu vertreten.

Ich ziehe mein Handy aus der Handtasche und tippe eine Nachricht an Matt ein.

Bist du schon wach?

Sofort ruft er an. »Endlich meldest du dich mal. Was ist mit Richard?«

»Gestern dachte ich kurz, er würde aufwachen, aber es war nur ein kurzer Moment, dann hat er wieder tief und fest geschlafen. Ich dachte, es wäre gut, wenn du kommen könntest. Vielleicht braucht er ja dich, um aufzuwachen.« Einen Moment höre ich nichts weiter als ein Knacken in der Leitung.

»Meinst du?«, fragt Matt dann.

»Einen Versuch ist es wert, denke ich.«

Wieder scheint er zu zögern. »Okay. Ich mach mich auf den Weg«, sagt er nun.

TAG 1478 OHNE DICH

Ich sitze an Grandpas Bett und schaue ihm beim Schlafen zu. Er sieht so bleich und zerbrechlich aus, mehr tot als lebendig. Aber die Ärzte sagen, er kommt wieder auf die Beine. Hätten sie das doch bloß auch über Dich sagen können … Hört dieser Schmerz eigentlich niemals auf?

In Liebe, Adah

***

Eine gute Stunde vergeht, bis die Tür des Krankenzimmers langsam geöffnet wird. Matt tritt ein und wirkt noch genauso mitgenommen wie gestern, wenn nicht sogar noch mehr.

»Guten Morgen. Du siehst beschissen aus. Hast du nicht geschlafen?« Besorgt mustere ich ihn.

»Herzlichen Dank auch. Ich war fast die ganze Nacht in der Werkstatt und habe die Aufträge abgearbeitet. Und du siehst übrigens auch nicht viel besser aus.«

Mir fällt auf, dass Matt Grandpa bislang keinen Blick geschenkt hat. Seine Haut wirkt aschfahl und kleine Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Sofort springe ich vom Stuhl auf. »Hier, setz dich. Ich hab’ das Gefühl, als würdest du jeden Moment schlapp machen. Soll ich dir einen Kaffee besorgen?«

»Ich brauch nichts. Es ist nur … ich hasse Krankenhäuser einfach.« Schwerfällig sinkt er in den Stuhl und reibt sich über sein unrasiertes Gesicht.

Hassen kommt mir untertrieben vor. Es scheint ihn regelrecht krank zu machen hier zu sein. Ist es seine Sorge um Grandpa? Ich kann es nicht genau ausmachen. Schließlich kenne ich Matt nicht.

Unentschlossen schaue ich ihn an. »Ich werde mir auf jeden Fall jetzt einen Kaffee holen. Und du willst wirklich nichts?«

Er schüttelt bloß den Kopf.

»Okay, dann bis nachher. Rede ein bisschen mit ihm. Ich bin mir sicher, dass er es hören kann«, sage ich und lasse ihn mit Grandpa allein zurück. Doch ich frage mich, ob das eine so gute Idee ist. Matts Zustand erscheint mir sehr bedenklich.

Aber warum kümmert mich das eigentlich so sehr?

Kapitel 4 - Matt

Die Tür fällt hinter Adah ins Schloss, und es fühlt sich an, als würde sich eine eiskalte Hand um meine Kehle legen. Das Gefühl zu ersticken versetzt mich in Todesangst, und die beklemmenden Schmerzen in meiner Brust verschlimmern diesen Zustand nur umso mehr. Ich will hier raus, und doch bin ich nicht in der Lage, mich vom Fleck zu bewegen. Die Wände dieses grauenhaften Krankenzimmers rücken immer näher und drohen, mich zu erdrücken. Mit aller Macht versuche ich, mich auf meine Atmung zu konzentrieren, jedoch fällt es mir immens schwer. Bleib ruhig, verdammt, rede ich mir selbst zu. Aber es bringt nichts. Die Panik hat mich fest im Griff, und es kommen Erinnerungen hoch, die ich am liebsten tief vergraben halten möchte.

Doch plötzlich geistern Adahs Worte durch meinen Sinn. Rede mit ihm. Ich atme mehrmals durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Rede mit ihm.

»Richard …«, keuche ich. »Ich bin’s, Matt.« Ich kann meiner Stimme nicht trauen und ringe erneut nach Luft. »Adah … Adah hat gesagt, du kannst es bestimmt hören, wenn wir mit dir reden. Du weißt, dass ich nicht der größte Redner bin, aber ich will, dass du mir jetzt zuhörst. Du musst wieder gesund werden, hörst du? Ich habe sonst niemanden. Du kannst dich nicht einfach aus dem Staub machen. Das kannst du vergessen.« Mit jedem Wort spüre ich, wie ich ruhiger werde, was mich ermuntert weiterzureden. »Du bist sicher genauso überrascht wie ich, dass Adah jetzt hier ist, was? Immerhin ist überhaupt jemand von deiner Familie hergekommen, wobei ich eigentlich gehofft hatte, es würde deine Tochter sein und nicht bloß deine Enkelin. Offenbar scheint es Adah ja zu kümmern, wie es dir geht. Aber was ich beim besten Willen nicht verstehen kann, ist, warum sie sich in all den Jahren zuvor nicht schon bei dir gemeldet hat. Ich will ihr ja nichts unterstellen, aber irgendwie kommt mir das komisch vor.«

Ich beiße mir auf die Zunge und ärgere mich über mich selbst. Wenn Richard mich wirklich hören kann, sollte ich nicht so freimütig meine Bedenken über Adah äußern. Nicht in seinem Zustand. »Wie auch immer, sie ist hier, und das freut mich vor allem für dich. Also sieh zu, dass du ein bisschen Zeit mit ihr verbringen kannst, und wach gefälligst wieder auf, okay?« Ich wechsle das Thema und erzähle ihm von Barneys Sauerei in der Küche und von den Aufträgen, die ich letzte Nacht abgearbeitet habe. Ich bin erstaunt, plötzlich wieder vollkommen ruhig zu sein – und das, obwohl ich immer noch in diesem erdrückenden Krankenhauszimmer sitze.

Auch wenn ich es nicht gern zugebe, bin ich Adah dankbar für diesen kleinen unscheinbaren Rat, der mir gerade den Arsch gerettet hat. Es kostet mich nun weniger Kraft, hier bei ihm zu sitzen und darauf zu hoffen, dass er aufwacht. Ich muss bloß das Piepsen der Geräte ausblenden, dann geht es.

Als Adah den Raum betritt, nehme ich ihre Anwesenheit erst wahr, als sie mich leise anspricht. »Fühlst du dich wieder besser?«

Überrascht wende ich mich ihr zu. »Wie bitte?«

»Ob es dir wieder besser geht? Du siehst nicht mehr so blass aus wie vorhin, als ich dich hier zurückgelassen habe. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.«

Sie hat sich Sorgen gemacht? Um mich? Ja, klar … »Mir geht es gut. Ich musste mich nur ein wenig akklimatisieren. Mehr nicht.«

»Zum Glück«, murmelt sie kaum hörbar. »Hat er sich gerührt?«, fragt sie nun mit Blick auf Richard.

»Nein. Leider nicht. Könntest du … wäre es in Ordnung, nach St. Ives zu fahren und dich um Barney zu kümmern? Ich würde gern noch hierbleiben, falls er aufwacht.«

»Na klar, das mach ich gern. Aber du meldest dich, wenn sich etwas ändert. Versprochen?«

»Logisch.« Ich überreiche ihr den Schlüssel zu Richards Haus und sie nimmt ihn mit einem müden Lächeln entgegen.

Bevor sie sich abwendet, drückt sie sanft Richards Hand. »Dann bis später.«

»Bis dann.« In diesem Moment bin ich tatsächlich dankbar, dass sie hier ist. Ansonsten müsste ich mich nämlich schon bald wieder auf den Weg machen, um den Hund zu versorgen. Womöglich wäre ich dann im entscheidenden Moment nicht an seiner Seite. Ich würde nicht wollen, dass Richard aufwacht und niemand wäre bei ihm. All die Jahre war er nämlich immer für mich da, und nun kann ich endlich etwas zurückgeben.

Ich rede weiterhin mit ihm und lese aus der Daily Mail vor, als mir nichts mehr einfällt. Zwischendurch kommt mehrfach eine Krankenschwester herein, um sich seines Zustands zu vergewissern. Aber nichts weiter passiert.

Am frühen Nachmittag überlege ich, ob ich mir nicht endlich mal etwas zu essen organisieren soll, und ich wünschte, ich hätte mir heute Morgen wenigstens eine Kleinigkeit von Adah mitbringen lassen. »Ich lass dich nur ungern allein, Richard, aber mein Magen hängt mir in den Kniekehlen. Ich werde mir etwas in der Cafeteria besorgen. Du siehst aus, als könntest du auch etwas vertragen«, flachse ich. Langsam erhebe ich mich von meinem Platz, da sehe ich Richards Augenlider flattern und seine Mundwinkel zucken.

»Dann bring mir gefälligst was mit«, murmelt er benommen.

Perplex starre ich ihn an und benötige einen Moment, um zu realisieren, dass er wirklich aufgewacht ist. »Richard! Du bist wach! Gott sei Dank. Du hast mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt, weißt du das?«

Er nickt kraftlos und sucht nach meiner Hand.

Sofort ergreife ich die seine und mahne ihn zur Ruhe. »Mach ganz langsam. Du solltest dich jetzt nicht anstrengen. Ich rufe kurz eine Schwester, okay?« Schnell drücke ich den Notfallknopf.

»Was ist überhaupt passiert?« Er spricht so leise und undeutlich, dass ich Mühe habe ihn zu verstehen.

»Was passiert ist? Du hattest einen Herzinfarkt. Du bist in der Werkstatt einfach zusammengebrochen.«

»Ich bin müde«, wispert er.

»Dann schlaf ruhig. Du musst dich richtig erholen. Das braucht Zeit.«

Schon ist er wieder weg, und ich lasse mich auf den Stuhl sinken. Der Hunger ist vergessen.

Alarmiert stürmt die Schwester ins Zimmer. »Was ist passiert?«

»Er ist aufgewacht, nur ganz kurz. Jetzt schläft er wieder.«

»War er ansprechbar?«

»Wir haben ein paar Worte miteinander gewechselt. Aber ich glaube, er war nicht so ganz bei sich.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, das ist völlig normal. Es kann ein paar Tage dauern, bis er wieder richtig zu sich kommt.«

Ich nicke bloß. Aus welchem Grund auch immer hatte ich gehofft, er würde aufwachen und ich könnte ihn mit nach Hause nehmen. Dabei war ich mir eigentlich darüber im Klaren, dass es nicht so einfach sein würde. Nur das zu akzeptieren, fällt mir schwer.

»Dann besorge ich mir jetzt mal etwas zu essen.«

»Tun sie das. Es wird sicher eine Weile dauern, bis er die Augen wieder aufmacht.«

Verdrossen verlasse ich den Raum und streife die Schutzkleidung ab. Anstatt durch die endlos langen Flure laufe ich übers Außengelände zum Restaurant und rufe Adah währenddessen an.

Es dauert eine Weile, bis sie abhebt. »Matt? Gibt es etwas Neues?« Sie hört sich ziemlich verschlafen an.

»Habe ich dich geweckt?«

»Schon gut. Erzähl, was ist los?«

»Er ist aufgewacht.«

»Das ist ja wunderbar!«

»Na ja, aber er ist direkt wieder eingeschlafen. Immerhin haben wir ein paar Worte miteinander gesprochen. Richard war allerdings völlig neben der Spur.«

»Das war zu erwarten. Aber er ist wach geworden. Das ist ein gutes Zeichen. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er wieder vollständig zu sich kommt.«

»Mmh«, brumme ich ins Handy.

»Wir müssen Geduld haben, Matt. Er wird schon wieder.«

Wir? Das hört sich in meinen Ohren falsch an. »Ja, ich weiß«, antworte ich dennoch.

»Soll ich dich ablösen?«, fragt sie, und wahrscheinlich meint sie es nur nett. Doch trotzdem sträubt sich alles in mir dagegen.

»Brauchst du nicht. Ich wäre gern bei ihm, wenn er noch einmal zu sich kommt. Ich besorge mir schnell was zu essen, dann gehe ich wieder zu ihm.«

»Immerhin denkst du auch an dich selbst. Bringt ja nichts, wenn du auch noch zusammenklappst.«

»Das wird schon nicht passieren.«

»Okay, dann …«

»Bis später mal.« Mit diesen Worten beende ich das Gespräch und verspüre den Anflug eines schlechten Gewissens. Was ist, wenn sie wirklich aus aufrichtigem Interesse an Richard hier ist? Augenblicklich verwerfe ich diesen Gedanken wieder.

Im Restaurant bestelle ich mir eine Cola und zwei Sandwiches. Während ich mein Essen hinunterschlinge, muss ich wieder an Adah denken. Denn im Vergleich zu ihren sind diese Sandwiches der reinste Mist. Aber um den größten Hunger zu stillen, reichen sie vollkommen aus. Ich beeile mich, um schnellstmöglich wieder zu Richard zu können.

Dort angekommen finde ich ihn schlafend vor, wie zu erwarten. Der Gedanke, noch viele weitere Stunden in diesem Raum verbringen zu müssen, bereitet mir Unbehagen. Aber wenigstens habe ich nicht mehr das Gefühl, es hier nicht aushalten zu können.

Ich erzähle Richard von dem miesen Essen und davon, dass mein Rücken streikt, weil dieser Stuhl alles andere als bequem ist. Doch mit jedem Wort merke ich, wie die Müdigkeit Oberhand gewinnt, und ich nehme diese Tatsache demütig an. Ich beuge mich nach vorn und bette meinen Kopf neben Richard auf der weichen Matratze.

***

Eine Berührung an meinem Arm holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Orientierungslos raffe ich mich auf und stelle fest, dass es bereits dunkel ist. Verwirrt schaue ich zu Richard, der mich mit müdem Blick beobachtet.

»Richard, du bist wieder wach.«

»Wer ist denn das?«, fragt er leise und deutet mit dem Kinn auf eine Stelle rechts vom Bett.

Ich drehe mich um und entdecke Adah zusammengekauert auf dem Boden hocken, schlafend, den Kopf auf den angewinkelten Knien.

»Adah!« Irgendwas macht dieser Anblick mit mir, und das gefällt mir nicht.

»Adah?« Ich sehe Richard die Verwirrung an.

»Deine Enkelin.«

»Meine … Enkelin?« Hinter seiner Stirn scheint es zu arbeiten. »Rachels Tochter? Ich verstehe nicht. Was macht sie hier?«

»Ich habe sie angerufen, nachdem … Sie ist hier, um nach dir zu sehen.«

»Das gibt’s ja gar nicht«, murmelt er, und ein schwaches Lächeln erscheint auf seinem erschöpften Gesicht. »Dann hat sich der Herzinfarkt immerhin gelohnt.«

»Rede nicht so einen Unsinn. Ist dir bewusst, dass du dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen bist?«

»Und wenn schon. Mich hätte niemand vermisst.«

»Ich hätte dich verdammt noch mal vermisst, genauso wie Barney.« Mein Blick fällt wieder auf Adah. »Und sie offensichtlich auch«, füge ich widerwillig hinzu.

»Könntest du …« Richard zeigt auf Adah.

»Soll ich sie wecken?«

Er nickt bloß, und ich komme seiner Bitte nach.

Langsam erhebe ich mich und gehe vor ihr in die Hocke. »Wach auf, Adah.« Sie zeigt keinerlei Regung. »Adah, hörst du?«, versuche ich es lauter. Nichts. Erst als ich sie sanft rüttle, regt sie sich.

»Matt?« Schlaftrunken schaut sie mich an.

»Richard ist wach.« Ich rücke ein Stück zur Seite und gebe den Blick auf ihn frei.

Schlagartig wirkt Adah hellwach und springt auf. Mit zwei langen Schritten ist sie bei Richard und greift nach seiner Hand. »Grandpa! Ich bin so froh, dass du aufgewacht bist.«

Ich stelle mich auf die andere Seite des Bettes und beobachte sie aus dem Augenwinkel.

»Wie … wie fühlst du dich?« Tränen schimmern in ihren Augen.

»Wie ein junges Reh«, murmelt Richard lächelnd. »Oder eher wie ein angeschossenes. Aber das tut nichts zur Sache. Es ist schön, dass du da bist.« Er mustert sie aufmerksam und sein Blick wird traurig. »Du siehst deiner Mutter so ähnlich, Liebes.«

Adah nickt. »Es tut mir leid, dass ich sie nicht dazu bringen konnte hierherzukommen.«

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Hauptsache, du bist hier.« Richards Blick wandert zwischen Adah und mir hin und her. »Ihr zwei seht müde aus. Fahrt nach Hause und ruht euch aus. Matt, sei so gut und richte Adah das Gästezimmer her. Und dann sehen wir uns morgen wieder. Bis dahin bin ich bestimmt auch nicht mehr so tüdelig.«

»Bist du sicher? Wir können auch bleiben«, meint Adah.

»Geht nur, und hört auf, euch Sorgen zu machen. Ich brauche nur noch eine große Mütze Schlaf, dann bin ich wieder ganz der Alte.« Mit einer schwachen Handbewegung scheucht Richard uns aus dem Zimmer.

Nur widerwillig löse ich mich von ihm. »Also gut. Bis dann.« Ich trotte an Adah vorbei, hinaus aus dem Zimmer, und atme erst einmal tief durch.

Draußen auf dem Flur schließt sie zu mir auf und mustert mich kritisch. »Geht es dir gut?«

»Ja, ja. Nur ein wenig müde. Mehr nicht.«

»Vielleicht solltest du dein Auto stehen lassen und mit mir fahren. Dann kannst du die Augen zumachen.«

»Nee, muss nicht sein. Geht schon.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher.«

»Okay, dann … sehen wir uns an Grandpas Haus?«

»Mmh«, brumme ich und wende mich ab. Hätte Richard dieses Gespräch mitgehört, würde er mich mit Sicherheit schräg anschauen. Er würde wollen, dass ich nett zu ihr bin und sie nicht gleich wieder vergraule. Ich weiß auch nicht, warum es mir so schwerfällt. Vielleicht, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass sie ihn enttäuschen wird? Dass sie in ein paar Tagen wieder wegfährt und sich nicht mehr blicken lässt?

Im Gehen drehe ich mich noch einmal zu ihr um, und Adah steht noch auf derselben Stelle und schaut mir hinterher – als würde sie sich vergewissern wollen, ob ich wirklich in der Lage bin zu fahren. Oder wer weiß, was sonst noch in ihrem Kopf vorgeht … So genau will ich das eigentlich gar nicht wissen.

Ich setze mich hinters Steuer und fahre los. Doch Adah kann ich aus meinen Gedanken nicht abschütteln. Vielleicht sollte ich ihr eine Chance geben. Um Richards willen.

Kapitel 5 - Adah

Erschöpft sitze ich in Grandpas Wohnzimmer und streichle Barneys Fell, während Matt im Gästezimmer das Bett für mich bezieht. Das Angebot, mich selbst darum zu kümmern, hat er abgelehnt – als würde er es als Pflicht sehen, weil Grandpa ihn darum gebeten hat. Aus reiner Gefälligkeit tut er es nämlich mit Sicherheit nicht. Seine Abweisung ist mir nicht entgangen, auch wenn ich mich frage, was ich ihm getan haben mag.

Als Matt in der Tür erscheint, blickt Barney auf und wedelt mit dem Schwanz. »Dein Zimmer ist fertig. Wenn du raufkommst, die zweite Tür links. Das Bad ist direkt gegenüber. Am Schlüsselbrett hängt ein Hausschlüssel mit einem gelben Anhän-ger. Den kannst du nehmen, falls du mal rausgehst. Ich nehme Barney mit zu mir, dann kann ich gleich noch eine Runde mit ihm drehen.«

»Das kann ich doch übernehmen.«

»Brauchst du nicht. Komm Barney! Wir gehen.« Matt hat bereits die Leine in der Hand, und der Hund trottet gemächlich zu ihm hinüber, bleibt dann jedoch stehen und dreht sich zu mir um, als würde er erwarten, dass ich mitkomme.

Ich stehe auf und kraule ihn noch einmal hinter den Ohren. »Ich bleibe hier und passe aufs Haus auf, in Ordnung?«

Als Antwort erhalte ich ein leises Winseln, dann richte ich mich auf und schaue direkt in Matts dunkle Augen. Für einen Wimpernschlag bringt mich sein Blick aus der Fassung. »Also dann … gute Nacht, Matt.«

»Gute Nacht.« Matt klickt die Leine in Barneys Halsband und verlässt das Haus, ohne mich noch einmal anzusehen.

Ich wünschte, er hätte mir Barney hiergelassen, denn schlagartig fühle ich mich rettungslos verloren, allein in diesem fremden Haus. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal vollkommen auf mich selbst gestellt und weit weg von zu Hause war. Es muss weit vor Erics Tod gewesen sein, in einer fernen Zeit, die mir vorkommt, als hätte es sie nie gegeben. Das Leben davor erscheint mir bloß noch wie eine blasse Erinnerung, die ich Tag für Tag etwas mehr verliere. Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich einmal war – und der werde ich auch nicht mehr sein. Damit habe ich mich inzwischen abgefunden.

Aber wer sagt, dass nicht ein neuer Mensch aus dir werden kann?, fragt diese Stimme in meinem Kopf, die von Mal zu Mal lauter wird und mich dazu drängen will, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen.

»Immerhin bin ich jetzt hier. Das ist doch schon mal ein Anfang, oder?« Meine Stimme klingt dumpf in dieser bleiernen Stille.

Unsicher umfasse ich den Knauf des Geländers und steige langsam die Stufen nach oben. Die Tür zum Gästezimmer steht offen, ebenso wie die zum Bad. Zwei weitere Türen sind verschlossen, und ich frage mich, welche Zimmer sich dahinter verbergen. Doch ich gebe meiner Neugier nicht nach, sondern betrete nun den kleinen Raum, den Matt für mich hergerichtet hat.

Unter der Dachschräge steht ein weißes Metallbett, an dessen Kopfteil eine rosafarbene Blumengirlande angebracht ist. Und sofort weiß ich: Das ist Mums altes Zimmer. Sie hat mir davon erzählt. Mein Unbehagen legt sich augenblicklich, zumindest ein bisschen, denn irgendwie kann ich Mum in diesem Raum spüren. Ich setze mich auf die weiche Matratze und lasse meine Finger sacht über die angestaubten Stoffblüten gleiten.

Warum hat Grandpa sie hängen lassen, nach allem, was vorgefallen ist? Ist Mum ihm doch wichtiger, als sie glaubt?

Neugierig sehe ich mich um, betrachte den weißen, in die Jahre gekommenen Kleiderschrank, den schmalen Schreibtisch und den wuchtigen Sessel mit dem geblümten Kissen, der den Raum dominiert. Letztendlich bleibt mein Blick am Türrahmen hängen, der mit Daten und Strichen versehen ist. Ich springe auf und betrachte ihn genauer. Ganz unten steht in Großbuchstaben RACHEL geschrieben. Jedes Jahr wurde eine Markierung hinzugefügt. Der letzte Strich ist vom 7. Juni 1991. Da war Mum achtzehn. Es muss also kurz vor der Trennung meiner Großeltern gewesen sein, denn Mum war gerade volljährig, als sie mit Grandma und meinen beiden Onkeln Oliver und Archie nach Bristol gezogen ist. Ohne Grandpa.

Ich stelle mich in den Rahmen und halte meine Hand über den Kopf, dann drehe ich mich vorsichtig, um zu sehen, wie der Größenunterschied zwischen meiner jugendlichen Mum und mir ist. Viel scheint sie seitdem nicht mehr gewachsen zu sein. Ich überrage sie um rund zehn Zentimeter, und das stimmt relativ genau mit dem letzten Strich überein. Meine Größe habe ich definitiv von Dad.

Noch immer erstaunt es mich, dass Grandpa dieses Zimmer anscheinend so belassen hat, wie es einmal war, was meine Neugier nun doch entfacht. Ich trete in den Flur, öffne eine der beiden verschlossenen Türen und stolpere direkt in Grandpas Schlafzimmer. Doch das war nicht der Raum, nach dem ich gesucht habe. Gerade will ich das Zimmer wieder verlassen, als mir ein Foto auf dem Nachttisch auffällt. Es zeigt meine Großeltern in jungen Jahren – und offenbar glücklich. Ich trete näher heran und betrachte es eingehend. In Grandpas Augen spiegelt sich ehrliche, aufrichtige Liebe wider. Irgendwann muss sich das geändert haben, denn schließlich hat er seine Familie im Stich gelassen. Aber warum steht dann dieses Bild noch da, nach all den Jahren? Das ergibt für mich absolut keinen Sinn. Ist das so eine Art Selbstgeißelung?

Kopfschüttelnd wende ich mich ab und laufe schnurstracks auf die verbleibende Tür zu. Das muss das Zimmer meiner Onkel sein. Ich erinnere mich, dass Onkel Archie immer und immer wieder die Wände bemalt hat und es dann auf seinen Bruder schieben wollte. Grandpa hat diese Stellen mehrfach neu gestrichen, doch eines Tages hat er es aufgegeben und den Jungs gesagt, sie müssten damit leben. Nach und nach wurde das Kunstwerk immer größer. Mum hat mir mal Fotos davon gezeigt. Archie hat echt Talent. Nicht ohne Grund hat er heute eine Galerie in Bristol. Deshalb kann ich es kaum erwarten, seine Kinderkunst in Wirklichkeit zu sehen. Doch als ich die Tür öffne, werde ich enttäuscht. Ich stehe in einem nahezu leeren Raum mit weißen Wänden. Nur ein paar Kisten stehen in einer Ecke. Keine Möbel, keine Kunst. Das Einzige, was an meine beiden Onkel erinnert, sind die Striche im Türrahmen.

Frustriert wende ich mich ab und gehe zurück in Mums altes Zimmer. Ich krame meinen Pyjama aus dem Koffer und beschließe, mir ein Bad zu gönnen. Aber entspannen kann ich mich nicht. Meine Gedanken stehen nicht still. Mehr denn je will ich erfahren, was damals wirklich zwischen meinen Großeltern vorgefallen ist. Ob ich Grandpa einfach danach fragen kann? Sofort verwerfe ich diesen Gedanken wieder. Der Zeitpunkt ist denkbar schlecht. Matt weiß mit Sicherheit Bescheid, doch ich denke, aus ihm werde ich nichts herausbekommen. Ich werde wohl Geduld brauchen. Und Taktgefühl. Doch ich will die ganze Wahrheit wissen.

Tag 1478 ohne Dich

Ich bin es wieder. Grandpa ist aufgewacht. Ich kann Dir nicht sagen, wie erleichtert ich bin. Jetzt bin ich allein in seinem Haus und stehe vor einigen Rätseln. Es ist, als hätte ich mich auf eine Zeitreise begeben, kurz davor, einem Geheimnis auf die Schliche zu kommen. Manches scheint noch wie früher zu sein, wenn ich mich an Mums Erzählungen zurückerinnere. Anderes aber scheint nie existiert zu haben, und ich kann mir keinen Reim darauf machen, warum das so ist. Ob ich Grandpa danach fragen soll, was damals wirklich geschehen ist? Oder würde ich damit womöglich alte Wunden aufreißen? Es könnte ihm in seinem Zustand schaden, und das bereitet mir Sorgen. Gleichzeitig lässt es mir keine Ruhe. Du wüsstest jetzt, was zu tun wäre. Könnte ich Dich doch bloß fragen.

In Liebe, Adah

***

Nach einer halbwegs erholsamen Nacht begebe ich mich zuerst einmal zum nächstbesten Supermarkt, denn der Kühlschrank ist nahezu leer, und ohne ein vernünftiges Frühstück bin ich zu nichts zu gebrauchen. Unwillkürlich frage ich mich, ob Matt womöglich noch etwas benötigt. Er ist in den vergangenen Tagen mit Sicherheit auch nicht zum Einkaufen gekommen. Ob ich ihm schreiben soll? Oder ob ihn das nervt? Egal, ich lass es drauf ankommen.

Hey Matt! Ich bin gerade im

Supermarkt und habe mich gefragt,

ob Du auch etwas brauchst. Soll

ich Dir irgendwas mitbringen?

Brauchst du nicht.

»Na, die Antwort kam aber prompt«, murmle ich mir selbst zu.

Okay. Falls Dir doch etwas

einfällt, sag einfach Bescheid.

Gemächlich schiebe ich den Einkaufswagen durch die Regalreihen und befülle ihn mit Obst, Gemüse, Toast, Hundefutter für Barney, und wonach mir sonst noch der Sinn steht. Gerade reihe ich mich an der Kasse ein, als mein Handy in der Jackentasche vibriert.

Ich könnte doch eine

Kleinigkeit gebrauchen.

Na dann, schieß mal los.

Ungefähr zwei Minuten beobachte ich die drei kleinen Punkte im Messenger, die darauf hinweisen, dass Matt gerade eine weitere Nachricht eintippt. Kurz darauf ploppt eine beachtliche Einkaufsliste mit knapp zwanzig Dingen im Chatverlauf auf.

»Das nennst du also eine Kleinigkeit«, brumme ich und starte grinsend eine zweite Runde durch den Laden. Nachdem ich wenig später bezahlt und die Einkäufe im Kofferraum verstaut habe, frage ich nach, wohin ich ihm die Sachen bringen soll.

Bin in der Werkstatt.

Ich wohne oben drüber,

falls Du es noch nicht weißt.

Okay. Na toll, da kann ich nicht einmal in der Nähe parken. Aber was soll’s. Ich hab’ ihm meine Hilfe angeboten, also muss ich damit leben. Ich starte den Motor und hoffe, wenigstens auf dem Pier einen Parkplatz zu ergattern. Um diese Uhrzeit könnte ich vielleicht Glück haben. Und tatsächlich finde ich noch eine freie Lücke, in die ich mich gekonnt hineinmanövriere. Von dort aus sind es etwa dreihundert Meter bis zur Glasbläserei. Ich hole Matts Einkäufe aus dem Kofferraum hervor und bin froh, dass er nicht noch mehr gebraucht hat.

Als ich an der Ladentür ankomme, habe ich bereits lange Arme. Ich stelle die Tüten ab und klopfe an die Tür. Eine Klingel gibt es nicht. Und gehört werde ich offensichtlich auch nicht, weder beim ersten noch beim zweiten Klopfen. Also rufe ich Matt kurzerhand an. Wieder nichts.

»Das darf doch nicht wahr sein.« Erneut klopfe ich lautstark und sehe, wie Barney in den Laden getrottet kommt. Wenigstens einer, der mich hört. Leider nützt mir das auch nichts, denn schließlich kann der Hund mir nicht die Tür öffnen.